Bundesverband e.V. Schriftenreihe Theorie und Praxis 2009 Eingliederungshilfe – hat Zukunft! AWO Leitthesen zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe und Psychiatrie Bundesverband Eingliederungshilfe - hat Zukunft! AWO Leitthesen zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe und Psychiatrie Bundesverband Eingliederungshilfe – hat Zukunft! „Behinderung entsteht, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen auf einstellungsund umweltbedingte Barrieren stoßen, die sie an der vollen, wirksamen und gleich- berechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindern.“ So der Wortlaut der UN-Konvention der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte behinderter Menschen. Behinderung wird damit als ein sich verändernder Zustand beschrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstellung und der Umwelt entsteht und die gleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teilnahme an der Gesellschaft behindert. 2 Noch immer ist unsere gesellschaftliche Wirklichkeit von der Ausgrenzung behinderter Menschen geprägt. Folglich gilt es, für die gleichberechtigte Teilhabe, für die Autonomie behinderter Menschen einzuste hen. Dies beinhaltet den Respekt vor der Unterschiedlichkeit und die Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen als Teil der gesellschaftlichen Vielfalt. Die AWO steht mit ihrem Leitbild uneingeschränkt dafür ein, behinderte Menschen in ihrer Forderung nach einer gleichberechtigten und uneingeschränkten Teilhabe an der Gesellschaft zu stärken. Hierzu gehört insbesondere die Schaffung eines eigenen Leistungsgesetzes für behinderte Menschen. Die AWO legt Leitthesen vor, die ihr Handeln zur Verwirklichung der gleich­ berechtigten und uneingeschränkten Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gemeinschaft bestimmen. Eingliederungshilfe – als gesellschaftlicher Auftrag Der individuelle Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe ist eine große Errungenschaft für behinderte Menschen. Damit die Eingliederungshilfe jedoch ein gesamtgesellschaftlich und gemeinsam akzeptiertes Gut wird, bedarf es eines Konsens darüber, dass behin­ derte Menschen ein selbstverständlicher Teil unseres Gemeinwesens sind. Gemäß ihrer Grundsätze Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit misst die AWO den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Menschen umgeht, die ausgegrenzt oder von Ausgrenzung bedroht sind. Für behinderte Menschen bedeutet dieses Postulat eine umfassende Würdigung ihrer besonderen Lebenslagen in allen gesell- schaftlich relevanten Bereichen. Es muss selbstverständlich werden, dass alle Personen und Institutionen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen, bei ihren Entscheidungen alle Menschen, also auch behinderte Menschen, selbstredend einbeziehen. Das heißt: Mitsprache bei allen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen. Es gilt, gemeinsam mit den Betroffenen ihre Interessen durchzusetzen, um eine umfassende Teilhabe auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ermöglichen - dies auch unter dem Blickwinkel interkultureller Öffnung. Für die AWO heißt der Auftrag: Soli­ darisches Handeln und Unterstützung behinderter Menschen bereitet den Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Eingliederungshilfe - ein Leben lang Eine Behinderung kann jeden von uns treffen. Ist eine Behinderung eingetreten, so beeinflusst sie das Dasein eines Menschen meist sein Leben lang. Ihre benachteiligenden Auswirkungen können sich mitunter verringern, oft ist es aber schon ein großer Fortschritt, wenn mit allen Möglichkeiten der Prozess einer Verschlechterung verlangsamt und so Lebensqualität verbessert wird. Daraus folgt für uns, dass die Eingliederungshilfe als individueller Auftrag und Anspruch so lange wie notwendig bestehen bleibt. Eingliederungshilfe ist nur dann endlich, wenn sie nicht mehr benötigt wird, um einem behinderten Menschen die Möglichkeit zu sichern, selbstbewusst und selbstbestimmt inmitten der Gesellschaft zu leben. Für die AWO ist eine an das Lebensalter geknüpfte Begrenzung von Ein­ gliederungshilfe inhuman und daher nicht akzeptabel. 3 Bundesverband Eingliederungshilfe – Inklusion schafft Chancen Krippe, Kindertagesstätte und Hort für alle Kinder: diese Vision beinhaltet, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen jedes Kind optimale Anreize für seine individuelle Entwicklung in der sozialen Gemeinschaft erhält. Inklusion bedeutet: gemeinsames Leben von Anfang an statt Ausgrenzung und nachfolgende Eingliederung. Inklusion schafft Chancengleichheit und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen. Ausgrenzungen hingegen führen zu Parallelgesellschaften mit all ihren negativen Folgen. Für die AWO bedeutet dies: Mit Inklusion verbindet sich die Forderung gemein­ samen Lebens und Lernens aller Men­ schen von Anfang an. Gemeinsames Lernen von behinderten und nichtbehinderten Menschen in Schule, in beruflicher Ausbildung und im Studium, gemeinsames Arbeiten in einem Betrieb, gemeinsames Leben in einem Ort, in einer Region stärken Verantwortungsgefühl, Gemeinsinn und Zivilcourage. Dies sind entscheidende Bausteine für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Eingliederungshilfe – nicht ohne Selbstbestimmung und Autonomie Solange Zugänge zum gesellschaftlichen Leben durch Ausgrenzung versperrt bleiben, wird auch die Möglichkeit eingeschränkt sein, ein selbstbestimmtes Leben mit Teilhaberechten zu führen. Die Diskriminierung behinderter Menschen in der Arbeitswelt und im Wohnen, in der Kultur und Bildung ebenso wie in der Freizeitgestaltung zeigt, wie weit wir noch immer von Lebensformen entfernt sind, die Selbstbestimmung und Auto- 4 nomie ermöglichen. Abhängigkeit und Fremdbestimmung prägen das Leben behinderter Menschen in großem Maße. Für die AWO gilt: Wir verwirklichen Selbstbestimmung und Autonomie be­ hinderter Menschen durch den Abbau von Barrieren, die ihrer Partizipation am gesellschaftlichen Leben entgegen­ stehen. Eingliederungshilfe – nur mit Teilhabe und Mitbestimmung Das Leben und die Entwicklung in unserer Gesellschaft basieren auf der aktiven und mitgestaltenden Rolle jedes Einzelnen. Zweierlei wird damit sichergestellt: die Lebendigkeit eines Gemeinwesens ebenso wie solidarische Verantwortung im bürgerschaftlichen Sinne. Beides sind Garanten für die Schaffung demokratischen Bewusstseins und somit Bausteine unseres Gesellschaftssystems. Die Einschränkung der Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben begrenzt ebenfalls ihre Möglichkeiten der Mitbestimmung. Solange verhindernde Strukturen im Gemeinwesen wirksam sind, bleiben gesellschaftliche Werte unseres Systems partiell gefährdet. Dem gilt es entgegen zu wirken. Als Bürger müssen behinderte Menschen an allen gesellschaftlichen Prozessen aktiv und selbstbestimmt teilhaben können. Im Einzelfall ist ein Stellvertreter von ihnen selbst zu bestimmen. Für die AWO heißt das: weit über gesetzlich bestehende Möglichkeiten hinaus muss behinderten Menschen ein selbstverständliches Recht auf Mitbe­ stimmung eingeräumt werden. „Nichts ohne sie, nichts über sie“ kennzeichnet zukünftig das verbandliche Handeln der AWO in all ihren Diensten und Angeboten. 5 Bundesverband Eingliederungshilfe – und Arbeit Die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben hat eine große Bedeutung. Bis heute allerdings besteht noch eine große Kluft zwischen Anspruch und hinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder erwerbstätig sein können, die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Wirklichkeit der Arbeitswelt behinderter Menschen. Ihre produktive, materiell relevante Arbeit zeigt sich allerdings in den vielen tausend Beschäftigungsverhältnissen in Werkstätten, Integrationsbetrieben, auf ausgelagerten Arbeitsplätzen in Betrieben und Verwaltungen sowie in genossenschaftlichen Verbünden. Arbeit ist mehr als wirtschaftliche Existenzsicherung. Arbeit schafft soziale Kontakte, gibt Anerkennung und steigert das Selbstwertgefühl. Deshalb muss die Teilhabe von behinderten Menschen am Arbeitsleben sichergestellt werden. Die bisherigen Förderprogramme im Arbeitsbereich und der Ausbau vorhandener Strukturen haben nicht erreicht, allen behinderten Menschen, die aufgrund der Art oder Schwere ihrer Be- Behinderte Menschen erhalten mit Instrumenten wie dem des Persönlichen Budgets neue Chancen, um am Arbeitsleben teilzunehmen. Voraussetzung ist die Offenheit aller am Arbeitsmarkt betei­ ligten Akteure. Kleine ebenso wie große Unternehmen müssen sich dem gesellschaftlichen Auftrag der Arbeit für behinderte Menschen als grundlegendem Bestandteil von Eingliederungshilfe öffnen. 6 Die AWO ruft zu einem Pakt für Arbeit und Beschäftigung für behinderte Men­ schen auf. Alle Akteure am Arbeitsmarkt müssen sich intensiver als bisher enga­ gieren. Eingliederungshilfe – als Teil eines Ganzen In unserem Sozial- und Gesundheitssystem werden Menschen immer wieder mit ungeregelten Zuständigkeiten verschiedener Leistungsträger - Träger der Sozialhilfe, Krankenversicherung und Pflegeversicherung - konfrontiert. Behinderte Menschen, die auch Pflegeleistungen benötigen, werden immer wieder in Pflegeeinrichtungen vermittelt, obwohl sie dort relativ weniger behindertenpädagogische Förderangebote erhalten. Faktisch bedeutet dies ein Verwehren von Leistungen der Eingliederungshilfe. Leistungsberechtigte ebenso wie Fachleute sprechen von Verschiebebahnhöfen. Damit muss nach Überzeugung der AWO endlich Schluss gemacht werden. Sofern behinderte Menschen Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB XI haben, sollten ihnen diese auch außerhalb der stationären Pflegeeinrichtungen in dem Umfang zur Verfügung stehen, den sie auch bei der Pflege in der eigenen Häuslichkeit erhielten. Und dies muss auch im Umkehrschluss gelten: Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben und behindert sind, müssen Zugang zu passgenauen Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. der Fälle in unserem Leistungssystem nicht gefolgt. Die Besorgnis der einzelnen Kostenträger, eventuell zuviel zum Vorteil des anderen auszugeben, ist immer noch handlungsleitend. Insgesamt stehen den Sozialsystemen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung. Verbesserungsmöglichkeiten se­ hen wir bei der Leistungsgerechtigkeit im Einzelfall. Dazu müssen sich die Sozialleistungsträger den mit dem SGB IX benannten Zielen endlich ernsthaft stellen und bereit sein, sie über ihren eigenen Tellerrand hinaus weiterzuentwickeln. Die AWO hält eine grundlegende Klärung im Zusammenspiel von Eingliederungs­ hilfe, Krankenversicherung und Pflege für dringend notwendig. Es muss sicher­ gestellt werden, dass jeder behinderte Mensch die ihm wegen seines individu­ ellen Bedarfs zustehende Pflegeleistung erhält. Ebenso muss jeder Pflegebe­ dürftige Zugang zu der ihm wegen ei­ ner Behinderung zustehenden Leistung erhalten, egal in welcher Wohn- und Lebenssituation er sich befindet. Dem Ansinnen des SGB IX, die Hilfen aufeinander abzustimmen, sie miteinander zu ergänzen und sie zielgerichtet einzusetzen, wird in der überwiegenden Zahl 7 Bundesverband Eingliederungshilfe – so hat sie Zukunft! Die AWO lädt alle an unserem Sozialleistungssystem Beteiligten zu einem konstruktiven Dialog ein. Die AWO stellt sich mit Engagement und Kompetenz den Zukunftsaufgaben, die mit einer neuen Sichtweise von Eingliederungshilfe im Sinne von Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen und gesellschaftlicher Verantwortung zugleich verbunden sind. Die AWO wird mit ihren vielfältigen Diensten und Einrichtungen prozesshaft dafür Sorge tragen, dass behinderte Menschen nicht weiter von Isolation und Ausgrenzung betroffen sind, sondern dass ihre Belange in allen Lebenslagen Berücksichtigung finden. AWO Bundesverband e. V. Heinrich-Albertz-Haus Blücherstr. 62/63 10961 Berlin Tel.: 030 26 30 9 - 0 Fax: 030 26 30 9 - 32 59 9 [email protected] / www.awo.org Fotos: © G Mediabuzz Ltd., Hamburg/London Berlin, im Mai 2009 awo.org