Betriebliche Gesundheitsförderung Dr. Dieter Breithecker „Verhaltensverführungen“ zur Unterstützung körperlicher und mentaler Haltungswechsel Ein Raum für alle Sinne Damit Mitarbeiter sich am Arbeitsplatz wohl fühlen und ihre körperlichen und geistigen Potenziale entfalten können, muss ihr Arbeitsraum auch zu einem Lebensraum werden – einem Raum, der dem intrinsischen Bedürfnis nach rhythmischen Wechseln von Statik und Dynamik, von Anspannung und Entspannung einen angemessenen Rahmen bietet. 30 DIE SÄULE 3/2013 Betriebliche Gesundheitsförderung Der Begriff Rhythmisierung orientiert sich an der Forschung zum Biorhythmus. Diesbezüglich sind wir zum einen tagezeitabhängigen Bio-Rhythmen – Aufmerksamkeits-, Anspannungs- und Entspannungsphasen – unterworfen, zum anderen aber auch periodischen Leistungsschwankungen, die bei jedem Menschen auch durch die technisch-funktionale Ausstattung und Gestaltung des Arbeitsraums bzw. durch arbeitsabhängige physische, kognitive und emotionale Anforderungen beeinflusst werden. Raumverhältnisse und die dadurch geprägten Verhaltensweisen stellen direkte Einflussfaktoren auf körperliche, geistige und seelische Wechselwirkungsmechanismen dar. Aus Sicht der Anthropogenese gibt es immer eine Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum. „Auch Räume sind Wesen, können heilen, erleben, befrieden, stimulieren oder krank machen und verderben“ (W. Mahlke). Der Raum darf nicht als Ort für lineares Abarbeiten von Aufgabenstellungen betrachtet werden, sondern er ist auch ein „heimlicher“ Verhaltensverführer. „Auch Räume sind Wesen, können heilen, erleben, befrieden, stimulieren oder krank machen und verderben.“ Sind die Sinne in der Balance, ist der Mensch in der Balance Wohlbefinden und zufrieden stellende geistige Leistung sind eher sichergestellt, wenn unser Sinnessystem uns mit möglichst natürlichen Sinnesreizen versorgt. Immer mehr Raumkonzepte tragen deshalb der Bedeutung von Aspekten wie Tageslicht, Farben, Design, Akustik und Klima Rechnung. Auf der Grundlage „Befinden sich die Sinne in der Balance, befindet sich der Mensch in der Balance“ steht hier aber eine eher vernachlässigte Sensorik im Fokus einer zeitgemäßen Büroplanung – eine Sensorik, die ihre Sinneszellen im Körper millionenfach verteilt hat (Sinne in Gelenken, Muskeln, Sehnen und im Innenohr): das vestibulär-propriozeptive Sinnessystem, kurz Tiefensensibilität genannt. Sie ist in der Lage, Informationsdaten des Köpers zu lesen und zu verwerten, wie u. a. die Lage unseres Körpers im Raum oder den SpanDIE SÄULE 3/2013 nungszustand der Muskulatur. Diese Sinne werden aber nur stimuliert, wenn sich der Mensch bewegt. Zahlreiche Studien belegen die Bedeutung dieser Sensorik für körperliche, geistige und psychische Wechselwirkungsfunktionen. Im Zuge moderner bildgebender Verfahren konnten Wissenschaftler in den letzten Jahren die interaktive Verflechtung von körperlichen und geistigen Prozessen nachhaltig belegen. Vor allem freiwillige und intuitiv durchgeführte Bewegungen erhöhen die Neurotransmitterkonzentrationen (Serotonin, Dopamin) und haben nicht nur einen nachhaltigen Effekt auf unsere Gefühlslage, sondern auch auf die exekutiven Funktionen. Exekutive Funktionen werden den höheren geistigen Leistungen zugeordnet. Sie sind notwendig um Handlungen zu planen, Denkprozesse zu organisieren und Aufmerksamkeit zu steuern (Kubesch 2005). Bewegung ist nicht gleich Bewegung Aktuelle Appelle nach mehr Bewegung im Bürobereich werden zwar deutlich wahrnehmbarer, deren Umsetzung konzentriert sich aber zumeist auf organisierte Bewegungspausen bzw. Funktionsgymnastik. Bewegung ist aber mehr: Sie gehört phylogenetisch betrachtet zu unserer Natur und zu unserem täglichen Sein. Das ist das Prinzip der Evolution und es gilt noch heute. Sitzend hätte der Mensch in der Vergangenheit wohl kaum sein Überleben garantieren können. Sitzend und vor allem stillsitzend wird aber der Mensch in der Gegenwart und Zukunft multiple Krankheitsbilder selbst mit zu verantworten haben. Es ist in einem komplexen System nicht nur der Rücken, der leidet; so werden u. a. die Zunahme von Übergewicht, Diabetes Typ 2, Stoffwechselstörungen, Depressionen sowie bestimmte Krebserkrankungen im Zusammenhang mit langen Sitzzeiten diskutiert. Unser über Millionen von Jahren hinweg entwickeltes komplexes System muss auch in Zeiten veränderter Lebensumstände räumlichen Bedingungen ausgesetzt sein, die es fordern. An Bewegungsmangel sowie Arbeitsplatzanforderungen mit überwiegend sitzender Tätigkeit bei einseitiger „sensorischer Kost“ (Reizüberflutung von Auge und Ohr) ist unsere Genetik ebenso wenig angepasst wie an einseitige, repetitive motorische und kognitive Arbeitsabläufe. Die gesundheitswirksame Bedeutung von „artgerechten“ Arbeitsplatzverhältnissen beruht auf der anthropologischen Vorannahme, dass der Mensch eine komplexe Körper-Geist-Psyche-Einheit ist. Wie bisher verdeutlicht, sollten körperliche, geistige 31 Betriebliche Gesundheitsförderung und psychische Wechselwirkungsfunktionen nicht längere Zeit linearen Herausforderungen ausgesetzt sein. Søndergaard et al. (2010) konnte zeigen, dass sich DisKomfort beim Sitzen nicht über die Betrachtung einzelner diskreter Werte (z.B. ein bestimmter Gelenkwinkel) abbilden lässt (lineare Betrachtung). Ebenso konnte die häufig vertretene Meinung, dass sich variables Sitzen (Empfehlung zu häufigerem Wechsel der Sitzpositionen) zwangsläufig positiv auswirkt, nicht bestätigt werden. Es zeigte sich sogar, dass eine größere Sitzvariabilität mit größeren Dis-Komfort Werten verbunden sein kann – ein Ergebnis, zu dem auch Fenety und Walker (2002) kommen. Ein geringer Dis-Komfort spiegelt sich hingegen in hohen Komplexitätswerten (nichtlineare Betrachtung) des Sitzens wider (Søndergaard et al. 2010). Um Rückenschmerzen und anderen büroarbeitsplatzbezogenen psycho-somatischen Krankheiten bzw. Symptomen entgegenzuwirken, sind daher Verhältnisse erforderlich, die das menschliche Sinnessystem vielseitig anregen. Eine erweiterte Sicht bezieht somit die Alltagsmotorik sowie die spontan-intuitiven Bewegungen und deren Wechselwirkungen mit kognitiven sowie sozial-emotionalen Funktionen mit ein. Ein derart verstandener „Embodyment“ als Grundlage wertschöpfender Besprechungen Um das körperliche und geistige Wohlbefinden des Individuums sicherzustellen, muss der Arbeitsraum „heimliche Verhaltensverführungen“ anbieten. Bewegungsbegriff ist ganzheitlich ausgerichtet und als Mensch-Raum-Beziehung im Sinne einer Dialoggestaltung aufzufassen, die mit dem Rhythmisierungsbedarf des Menschen in Balance steht. Haltungswechsel zur Stärkung der inneren und äußeren Haltung 32 Konkret bedeutet dies für den Büroalltag: Nicht nur von Mitarbeitern wird heute mehr Mobilität und Flexibilität erwartet. In gleichem Maße muss dies auch für das Arbeitsumfeld gelten. Um das körperliche und geistige Wohlbefinden des Individuums sicherzustellen, muss der Arbeitsraum heimliche Verhaltensverführungen anbieten, die dem innewohnenden Bedarf an regelmäßigen selbstorganisierten inneren und äußeren Haltungswechseln Rechnung tragen. Hierzu gehören u. a. DIE SÄULE 3/2013 Betriebliche Gesundheitsförderung - - - - „Alles Leben ist Bewegung“ Der sozial anerkannte Ort des Rückzugs und der Entspannung Bürostühle und Stehhilfen bzw. mobile Hockerelemente, die intuitive Sitzhaltungswechsel während Einzelarbeit oder Teamgesprächen ermöglichen, Sitz-/Stehpulte (Stehmatten für ermüdungsfreieres dynamisches Stehen, Stehtheken für den Informationsaustausch oder Kreativgespräche, Konferenzräume mit Stehtischen und Hochstühlen, Lounge-Bereiche und akustisch abgegrenzte Bereiche für den individuellen Rückzug, Entspannung oder Privatgespräche, Räume für einen regenerierenden „Powernap“ und für körperliche Aktivität oder entspannendes Spielen (diese definierten Räume geben dem Mitarbeiter die Gewissheit/Sicherheit, dass sein Bedürfnis soziale Anerkennung genießt), Anordnung von Drucker, Kopierer etc. an zentralen Punkten zur Förderung der Bewegung. länger sitzenden ArbeitskollegInnen. Beide Gruppen wiesen eine vergleichbare Schlafzeit auf. Das durch Arbeitsplatzverhältnisse ermöglichte intuitive, spontane Bewegungsverhalten kann sich kalorisch hochgerechnet somit in einigen Kilo Gewichtsdifferenz pro Jahr niederschlagen. Verhältnisse „verführen“ zu Verhaltensweisen! Nach dem Prinzip „Kleinvieh macht auch Mist“ lohnt es sich, den Büroalltag aktiv zu gestalten. Im Rahmen komplexer kleiner Aktivitäten können nämlich täglich auch viele Kalorien „gesammelt“ werden. Dies konnte u.a. Levine und Mitarbeiter (2006) mit ihrer im Wissenschaftsjournal „Science“ veröffentlichten Studie zu Alltagsaktivitäten, die mit Handlungsroutinen des täglichen Lebens verbunden waren – sog. NEATs (Non Exercise Activity Thermogenesis) – belegen. Alltagsaktivere haben demzufolge bis zu 350 kcal pro Tag mehr verbraucht als ihre bis zu 169 Minuten am Tag DIE SÄULE 3/2013 Literaturhinweise beim Verfasser Bilder: VS Möbel GmbH & Co. KG, Tauberbischofsheim Kontakt Dr. Dieter Breithecker Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung Mathias-Claudius-Straße 14 65185 Wiesbaden [email protected] 33