Professor Dr. Tobias Bonhoeffer Direktor am Max-Planck

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Sendung vom 24.2.2016, 20.15 Uhr
Professor Dr. Tobias Bonhoeffer
Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie
im Gespräch mit Sabrina Staubitz
Staubitz:
Grüß Gott und herzlich willkommen, liebe Zuschauer, beim alpha-Forum.
Wir konzentrieren uns heute vor allem auf den Kopf: Wie können wir
unserem Gehirn auf die Schliche kommen? Wie funktionieren Lernen
und Vergessen? Wie entsteht das Gedächtnis? Ich jedenfalls stelle mir
unseren heutigen Gast als glücklichen Menschen vor, weil er sich
tagtäglich mit diesen Fragen auseinandersetzen darf. Herzlich
willkommen, Herr Professor Dr. Tobias Bonhoeffer. Sie sind Hirnforscher
und Direktor der Abteilung Synapsen, Schaltkreise und Plastizität am
Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Herzlich willkommen und schön,
dass Sie da sind.
Bonhoeffer:
Vielen Dank für die Einladung, ich freue mich, dass ich hier sein darf.
Staubitz:
Es gibt ja einen relativ aktuellen Schlager mit dem Titel "Herz über Kopf".
Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen, aber es geht darin mehr oder weniger
darum, dass dieser junge Mann, der das singt, hin und her gerissen ist
zwischen diesen beiden "Entscheidungsabteilungen". Wie ist das denn
bei Ihnen als Hirnforscher? Ist da automatisch eher der Kopf der
Entscheider?
Bonhoeffer:
Vielleicht ein bisschen mehr, es ist aber nicht so, dass ich keine oder
weniger Gefühle hätte. Wobei ich als Hirnforscher bei diesem Songtitel
sofort einwerfen würde: Das, von dem die Menschen sagen, es passiere
im Herzen, passiert selbstverständlich auch im Gehirn. Es fühlt sich nur
so an, als würde das im Herzen entschieden. Aber Gefühle entstehen
selbstverständlich ebenfalls nur im Gehirn. Bei mir ist es jedenfalls nicht
so, dass ich mir tagtäglich, wenn ich Gefühle habe, denke: "Ach, das sind
ja nur irgendwelche Schaltungen im Gehirn, irgendwelche Botenstoffe,
die da ausgeschüttet werden." Stattdessen kann ich mich genauso
freuen, mich genauso verlieben, genauso ärgern wie jeder andere
Mensch auch.
Staubitz:
Jetzt haben Sie mir meine nächste Frage eigentlich schon
weggenommen, aber ich hake da trotzdem noch einmal nach. Ihre Frau
ist Biologin und Sie sind Neurobiologe: Wenn sich zwei solche Menschen
unterhalten, ist das dann eine relativ nüchterne, prosaische
Angelegenheit? Oder gibt es da tatsächlich auch Liebesbriefe,
emotionale Ausbrüche zwischendurch?
Bonhoeffer:
Ja, das gibt es natürlich. Ich glaube, das stellen sich viele Leute falsch
vor, dass man als Wissenschaftler nur so völlig kopfbetont wäre und
keine Gefühle hätte. Nein, das ist überhaupt nicht so: Man ist ein ganz
normaler Mensch. Natürlich befasst man sich beruflich damit und wenn
Sie mir eine Frage stellen, wie es bei mir mit dem Herzen und den
Gefühlen aussieht, dann denke ich mir natürlich sofort: Das geschieht ja
eigentlich nicht im Herzen, sondern auch das passiert im Gehirn. Aber
das beeinflusst natürlich nicht mein tägliches Leben. Mein tägliches
Leben sieht diesbezüglich genauso aus wie das von anderen Leuten.
Staubitz:
Wenn Sie einen Wutanfall bekommen, dann denken Sie sich nicht:
"Okay, da wird jetzt gerade Adrenalin ausgeschüttet und deswegen
reagiere ich jetzt so"?
Bonhoeffer:
Wutanfälle habe ich zwar relativ selten, das ist einfach in meiner
Persönlichkeit begründet. Es ist aber einfach so, dass ich wütend werden
kann, leider. Aber dafür kann ich mich auch wie jeder andere Mensch
über alle Maßen freuen. Das heißt, ich denke mir da nicht immer sofort:
"Ach, das ist ja nur mein Gehirn." Das ist also überhaupt nicht so.
Staubitz:
Das beruhigt mich ein bisschen. Wann haben Sie denn das letzte Mal so
richtig gestaunt darüber, was unser Gehirn alles kann?
Bonhoeffer:
Eigentlich passiert mir das tagtäglich. Auch hier ist es so, dass man sich
das nicht dauernd bewusst macht, aber es ist schon so. Man muss sich
ja nur einmal ganz banale Sachen vor Augen führen. Angenommen, ich
fahre mit dem Fahrrad durch den Englischen Garten und werde dabei
von meiner Frau, die ebenfalls auf dem Fahrrad fährt, begleitet. Wir
können uns dabei unterhalten, das ist überhaupt kein Problem, und wenn
plötzlich …
Staubitz:
Das spricht auf jeden Fall für Ihre Fitness.
Bonhoeffer:
Und wenn plötzlich ein Ast auf dem Weg liegt, dann können wir dem
ganz einfach ausweichen. Aber das, was dabei im Gehirn passiert, ist
fürchterlich kompliziert. Es ist alleine schon kompliziert, auf dem Fahrrad
das Gleichgewicht zu halten. Dann kommt hinzu, dass wir gleichzeitig
sprechen, also Sprache verstehen und interpretieren und selbst etwas
Vernünftiges sagen. Und dann weichen wir im letzten Moment auch noch
einem Ast aus, der vor uns in der Fahrbahn liegt. Das sind unglaubliche
Leistungen unseres Gehirns, die wir uns nicht ständig bewusst machen,
weil wir das halt schlicht können, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Aber wenn man mal wirklich darüber nachdenkt, dann stellt man fest,
dass das doch ziemlich unglaublich ist. Alleine, dass ein Roboter Fahrrad
fahren kann, ist bis heute technisch fast unmöglich, weil das halt einfach
unglaublich schwierige und komplexe Informationsverarbeitungen sind,
die da vonstattengehen müssen.
Staubitz:
Auch wenn wir beide hier so relativ entspannt sitzen und miteinander
plaudern – ich hoffe, das gilt auch für Sie, aber Sie machen mir
zumindest ganz den Eindruck –, sind um die 100 Milliarden Nervenzellen
in unserem Gehirn mit Millionen von Impulsen beschäftigt, die in jedem
Moment unseres Gesprächs zu verarbeiten sind. Dass das so ist,
machen wir uns natürlich nicht bewusst.
Bonhoeffer:
Ja, absolut nicht. Die Leistung besteht darin, dass jeder von uns beiden
die Sprache verstehen muss, dass jeder das Gesicht des anderen
beurteilen muss …
Staubitz:
Interpretieren?
Bonhoeffer:
Ja, ich muss interpretieren, wie Sie sich gerade fühlen, wie die Frage an
mich gemeint ist usw. Das passiert aber alles unterbewusst und
deswegen denken wir, dass da eigentlich nichts dabei ist. Aber wenn
man es sich genau überlegt, ist da schon sehr, sehr viel dabei: Das ist
einfach unglaublich kompliziert. Das Schöne an meinem Beruf ist, dass
es mich noch immer vollkommen fasziniert, wie so ein relativ kleines
Organ in unserem Schädel das alles kann und zumindest in vielerlei
Hinsicht immer noch besser ist als jeder Computer, der so groß ist, dass
er ganze Räume ausfüllt.
Staubitz:
Das führt mich bereits zur nächsten Frage, d. h. Sie machen es mir
wirklich einfach. Man kann sich ja, wenn man Hirnforscher ist, mit allen
möglichen Themen und Bereichen im Gehirn beschäftigen. Sie
interessiert vor allem, wie das Lernen funktioniert oder eben auch das
Vergessen. Was macht für Sie gerade bei diesem Thema das besondere
Faszinosum aus?
Bonhoeffer:
Das ist schwierig zu sagen. Es war auch bei mir so, wie das bei vielen
Menschen häufig der Fall ist im Leben: Ich habe am Anfang sogar Physik
studiert, wie Sie in der Vorbereitung auf unser Gespräch wahrscheinlich
irgendwo gelesen haben.
Staubitz:
Selbstverständlich!
Bonhoeffer:
Ich bin dann erst über die Artificial Intelligence, also über die künstliche
Intelligenz sozusagen in Richtung Hirnforschung gedriftet. Und wenn
man erst einmal angefangen hat, mit so einem Thema intensiv zu
arbeiten, fasziniert einen das mehr und mehr, sodass man dabei bleibt.
Aber das hätte eben auch irgendein anderes Thema sein können.
Nichtsdestotrotz, das Lernen fasziniert mich ungeheuer, weil ich nun
einmal glaube, dass das eine der fundamentalsten Eigenschaften
unseres Gehirns ist.
Staubitz:
Wir können praktisch gar nicht anders bzw. unser Gehirn kann quasi
nicht anders?
Bonhoeffer:
Ja, wir können nicht anders und würden ohne dies auch lange nicht so
gut funktionieren. Stellen Sie sich nur einmal einen Menschen vor, der
nicht lernen kann: Da geht dann praktisch überhaupt nichts mehr. Es gibt
ja diesen berühmten Fall – ich weiß nicht, ob Sie von dem mal gelesen
haben – des Herrn H.M.
Staubitz:
Das ist dieser Mann, der sich nichts mehr merken konnte.
Bonhoeffer:
Genau. Da dieser Mann schwere Epilepsie hatte, wurde bei ihm
beidseitig der Hippocampus entnommen. Damals, in den 50er Jahren,
hat man nämlich gedacht, dass damit die Epilepsie behandelbar wäre.
Das stimmte durchaus, aber das Problem war, dass sich dieser Mann
nach der Operation nichts Neues mehr merken konnte. Das war für
diesen Menschen sehr dramatisch: Er konnte sich nicht merken, ob er
gerade einkaufen gegangen ist. Wenn man kurz aus dem Raum
rausging, in dem er sich befand, und dann wieder zurückkam, wusste er
nicht mehr, dass er vor 20 Sekunden gerade noch mit einem gesprochen
hatte. Da ging also sozusagen alles kaputt. Interessanterweise war es
aber so, dass all die alten Dinge, die er sich vor dieser Operation gemerkt
hatte, noch vorhanden waren, die neuen jedoch nicht mehr.
Staubitz:
Er hat sich also an seine Familiengeschichte erinnern können.
Bonhoeffer:
Er wusste z. B. noch alles ganz normal über seine Kindheit.
Staubitz:
Auch in motorischer Hinsicht war alles normal: Er konnte Fahrrad fahren
usw., er konnte motorisch noch all das, was er vorher auch gekonnt
hatte.
Bonhoeffer:
Ja. Aber hier gibt es doch einen interessanten Unterschied: Er konnte
auch neue motorische Sachen lernen. Es gibt nämlich verschiedene
Arten von Gedächtnis. Das eine Gedächtnis ist das eher prozedurale
Gedächtnis, das wir für die Motorik brauchen. Dieser Mann konnte z. B.
nach der Operation noch lernen, in Spiegelschrift zu schreiben. Denn das
ist halt eine weitgehend motorische Fähigkeit. Aber er konnte sich keine
neuen Gesichter merken, keine neuen Telefonnummern, keine neuen
Vokabeln in irgendeiner Fremdsprache wie meinetwegen Latein.
Staubitz:
Gut, Latein braucht man vielleicht nicht unbedingt, aber andere Sachen
wären doch ganz praktisch, wenn man sich die merken könnte.
Bonhoeffer:
Genau. Alles, was man klassischerweise mit Lernen verbindet, konnte er
nicht mehr: Er konnte sich nicht mehr hinsetzen und neue Dinge, Fakten,
Sachen büffeln, also lernen. Das ging einfach nicht mehr bei ihm. Für
diesen Mann war das Leben wirklich zerstört und er konnte auch nicht
mehr alleine leben. Wie sind wir auf ihn gekommen? Über Ihre Frage,
warum mich das Gedächtnis so fasziniert: Das Gedächtnis ist etwas, was
nicht nur für uns als Individuen ganz, ganz fundamental ist, sondern das
ist auch für die Gesellschaft absolut fundamental. Wenn der einzelne
Mensch sich nichts merken könnte, dann könnte sich auch die
Gesellschaft nichts merken, denn dann gäbe es keine Kultur.
Staubitz:
Dafür gibt es heute die Cloud: Da können wir alle möglichen
Informationen hineingeben und sie dort abspeichern.
Bonhoeffer:
Ja, aber selbst dann muss man wissen, dass diese Informationen dort
sind und welche Informationen dort sind. Das ist immer das Problem
dabei. So ganz ohne das Speichern im eigenen Gehirn geht es halt da
auch nicht.
Staubitz:
Ich habe in diesem Zusammenhang jetzt noch zwei Fragen, die mir quasi
unter den Nägeln brennen. Sie haben davon gesprochen, dass es
verschiedene Arten von Gedächtnis gibt: ein Gedächtnis für das
motorische Lernen, ein kontextabhängiges Gedächtnis und eines, das für
das Erlernen von Vokabeln und solche Dinge notwendig ist.
Bonhoeffer:
Also, das ist kompliziert.
Staubitz:
Logisch ist das kompliziert.
Bonhoeffer:
Es gibt da erstens mal das sogenannte deklarative Gedächtnis. Das
brauchen wir zum Erlernen von Vokabeln, Telefonnummern, Gesichtern,
Ereignissen usw. Deklaratives Gedächtnis heißt es, weil man diese
gelernten Dinge irgendwie beschreiben kann. Es gibt darüber hinaus
aber auch noch das prozedurale Gedächtnis, bei dem man Prozeduren
lernt. Das kann z. B. das Erlernen von Spiegelschrift sein, das kann das
Fahrradfahren, das Skifahren usw. sein. Das sind zwei
Gedächtnisformen – auch das hat man übrigens durch diesen Patienten
zum ersten Mal so richtig kapiert –, die wirklich völlig verschieden sind.
Das deklarative Gedächtnis war bei diesem Mann sozusagen kaputt.
Staubitz:
Und diese beiden Gedächtnisse befinden sich auch in unterschiedlichen
Hirnarealen?
Bonhoeffer:
Die sind in unterschiedlichen Gehirnarealen: Das war nämlich genau die
Folgerung, die man aus diesem Patienten H.M. ziehen konnte.
Staubitz:
Der arme Kerl. Aber wenigstens hat man durch ihn etwas gelernt.
Bonhoeffer:
Genau. Das andere Gedächtnis hat bei ihm noch funktioniert, wobei man
aber sagen muss, dass einem das am Ende nicht so fürchterlich viel
bringt. Wenn er nicht mehr hätte Fahrrad fahren lernen können, wäre das
nicht so schlimm gewesen, wie dass er sich einfach all die Ereignisse, die
um ihn herum passiert sind, nicht mehr merken konnte.
Staubitz:
Das heißt, in der Forschung ist man mittlerweile so weit, zu wissen, in
welchen verschiedenen Gehirnbereichen das Lernen und das
Gedächtnis stattfinden.
Bonhoeffer:
Genau. Es ist wie immer in der Forschung: Man versteht zwar bei
Weitem noch nicht alles, aber man hat gerade mit Bezug auf diese Frage
eine relativ gute Idee. Ich hatte ja vorhin den Hippocampus schon
genannt: Er sitzt beidseitig ganz tief im Gehirn drin und er stellt eine ganz
wichtige Struktur dafür dar. Es gibt noch ein paar andere Strukturen, die
diesbezüglich wichtig sind, und dann gibt es noch die gesamte
Großhirnrinde, die allerdings bis heute noch recht wenig verstanden ist:
Das ist diese zwei Millimeter dicke graue und gefaltete Substanz, die
sozusagen das Hirn umschließt. Darin wird vermutlich auch sehr viel
gespeichert und wahrscheinlich kommt das alles vom Hippocampus in
die Großhirnrinde. Sie ist also ebenfalls sehr wichtig bei diesem Prozess.
Aber es sind auch noch andere Gehirnteile mit beteiligt, z. B. diejenigen
für das emotionale Gedächtnis usw.
Staubitz:
Welche Verfahren es da gibt, um das alles herauszufinden, darauf
können wir später vielleicht noch zu sprechen kommen. So weit ich es
als Laie beurteilen kann, haben Sie neben vielen anderen
Entdeckungen, die Sie schon gemacht haben, eine ganz spannende
Entdeckung gemacht: Sie hängt mit der Frage zusammen, was mit einer
Nervenzelle passiert, wenn sie etwas "lernt". Könnten Sie uns Laien
erklären, wie das funktioniert?
Bonhoeffer:
Ich werde es versuchen. Wenn etwas gespeichert werden soll – wo auch
immer, d. h. das muss jetzt nicht im Gehirn sein –, dann muss sich
irgendwas verändern. Wenn man im Computer etwas speichert, dann
muss man dazu z. B. die Magnetisierung auf der Festplatte ändern.
Wenn man auf einem Blatt Papier etwas speichern will, indem man
etwas aufschreibt, bleiben Tintenpartikel auf dem Papier. Irgend etwas
muss also geändert werden, damit das nachher wieder ausgelesen
werden kann. Die Frage lautet daher: Was wird im Gehirn geändert,
damit etwas nachher wieder ausgelesen werden kann? Was da geändert
wird, haben wir eben zuerst mit gezeigt. Gut, das war wie immer, das war
eine Gruppe von Leuten …
Staubitz:
Sie dürfen zwischendurch ruhig mal ein bisschen angeben.
Bonhoeffer:
Wie auch immer. Wir waren jedenfalls als Erste mit dabei, zu zeigen,
dass sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die
sogenannten Synapsen, tatsächlich ändern. Sie ändern sich aber nicht
nur funktionell, indem sie ein bisschen stärker oder ein bisschen
schwächer werden, ohne, dass man das sehen könnte. Nein, sie
machen wirklich kleine Auswüchse: Diese sind allerdings wirklich sehr
klein, denn das spielt sich auf der Ebene von eintausendstel Millimeter
ab. Sie machen so eine Art von kleinen Knöpfchen, um sich mit einer
anderen Nervenzelle zu verbinden. Genau das konnten wir sehen mit
unseren modernen Techniken, auf die ich jetzt aber nicht näher eingehen
muss. Wir konnten jedenfalls ins Gehirn hineinschauen mit diesen beiden
Photonenmikroskopen und konnten wirklich sehen, wie solche
Veränderungen passieren beim Lernen. Das erzähle ich immer wieder
gerne, denn das war für mich wirklich so ein Heureka-Moment. Es ist ja
schon lange postuliert worden, dass es eigentlich so sein müsste, d. h. es
haben viele Leute gedacht, dass es wahrscheinlich so ist. Aber keiner
konnte das wirklich beweisen. Wir haben dieses damals sehr, sehr
moderne Mikroskop genommen und konnten dabei zum ersten Mal mit
der nötigen Auflösung, also Feinheit, in das Gehirngewebe schauen. Und
plötzlich passiert das vor einem! Da passiert etwas, was sozusagen die
Grundlage jeder Informationsspeicherung im Gehirn ist. Das war schon
ein toller Moment. Wir haben ja vorhin von Gefühlen gesprochen …
Staubitz:
Sind Sie denn so ein Ekstase-Typ? Können Sie in so einem Moment in
die Luft springen? Wie äußert sich Ihre Freude, Ihr Enthusiasmus bei so
einer wahnsinnig wichtigen Entdeckung?
Bonhoeffer:
In die Luft springen würde ich nicht, weil sonst das ganze Experiment
hinüber wäre, denn wir arbeiten da ja mit ganz feinen Elektroden usw.
Staubitz:
Das heißt, Sie müssen Ihre Ekstase nach innen verlagern.
Bonhoeffer:
Es war schon so, dass wir uns in diesem Moment abgeklatscht haben
usw. Da entstand in uns wirklich das wahnsinnig tolle Gefühl, jetzt etwas
gesehen zu haben, wonach alle gesucht haben, ohne es gefunden zu
haben. Uns war klar, dass das wirklich etwas ganz, ganz Wichtiges ist.
Das war schon ein sehr emotionaler Moment.
Staubitz:
Sie haben nicht nur emotionale Momente, sondern tolle Erkenntnisse in
einem Buch mit herausgegeben. Sie schreiben darin natürlich auch mit
einem Kollegen zusammen über Ihr eigenes Themenfeld. Mich würde
jetzt interessieren – ich stelle diese Frage natürlich mit einem gewissen
Hintergedanken –, für welche Zielgruppe Sie sich dieses Buch eigentlich
vorgestellt hatten?
Bonhoeffer:
Da bin ich mal gespannt, was der Hintergedanke dabei ist. Mein
Mitherausgeber war Peter Gruss, er war damals der Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft. Ich erinnere mich gar nicht mehr, ob er mich oder
ich ihn angesprochen habe, auf jeden Fall war es so, dass wir ein Buch
machen wollten, weil in den letzten 10, 15 Jahren immer klarer geworden
ist, dass die Hirnforschung eines der spannendsten Forschungsgebiete
ist. Das ist wirklich das, was man auf Englisch "last frontier" nennt: Da
geht es um die letzten noch vorhandenen Grenzgebiete, über die man
erstaunlich wenig weiß, obwohl uns diese Dinge unmittelbar betreffen.
Wir haben also gesagt: "Gut, geben wir mal ein Buch mit meinetwegen
15, 17 Kapiteln heraus, in dem ausschließlich Fachleute über ihr eigenes
Gebiet schreiben." Selbstverständlich haben wir versucht, diese
Fachleute anzuhalten, so zu schreiben, dass dieses Buch viele
Menschen lesen können; vielleicht verstehen sie nicht jeden Artikel, aber
zum Großteil sollen sie es schon verstehen können. Ich hoffe natürlich,
dass das im Großen und Ganzen gelungen ist. Man darf aber nicht
vergessen, dass es für Wissenschaftler häufig schon sehr schwierig ist,
das eigene Fachchinesisch abzulegen und wirklich so zu schreiben, dass
der Text auch für interessierte Laien verständlich ist und die wichtigsten
Sachen rüberkommen.
Staubitz:
Ich kann nur sagen, dass Ihnen das weitestgehend gelungen ist: Ihr
Kapitel habe ich mit großem Genuss gelesen. Bei manchen anderen
Kapiteln war ich doch ein wenig überfordert, wie ich zugeben muss: Da
kommt einem schon ein sehr spezifischer Fachjargon entgegen. Ich kann
Ihnen ja mal einen kleinen Auszug davon vortragen, und diese Stelle war
in diesem Kapitel noch mit die harmloseste: "Eine mechanische
Frequenzzerlegung des Schalls führt unter aktiver Verstärkung durch die
äußeren Haarsinneszellen der Basilarmembran zur Depolarisierung der
inneren Haarsinneszellen, die durch graduell sich verändernde
Transmitterausschüttung den Hörnerv aktivieren." Und in diesem Satz
findet sich noch nicht einmal Formel! (lacht)
Bonhoeffer:
Also, die gute Nachricht ist: Zumindest ich verstehe, was damit gemeint
ist. Aber Sie haben schon recht, das mit der Verständlichkeit ist einfach in
manchen Kapiteln besser und in manchen schlechter gelungen. Das liegt
einfach in der Natur so eines Buches, bei dem man am Ende doch nur
der Herausgeber ist. Andernfalls hätte ich dieses Buch alleine schreiben
müssen, was ich aber vermutlich nicht gemacht und geschafft hätte. Aber
letztlich wollten wir doch viele Menschen damit erreichen. Sie haben
gesagt, dass Sie an manchen Stellen überfordert gewesen seien: Nun,
fordern wollten wir die Leserinnen und Leser schon. Vielleicht sind
bestimmte Stellen für Sie in der Tat mehr als schwierig, während sie
meinetwegen für einen Biologielehrer doch gut verständlich sind. Es ist
bei solchen Büchern eben immer schwierig, das gesamte Spektrum gut
abzudecken. Vielleicht haben wir es geschafft, vielleicht haben wir es
auch nicht geschafft. Aber wir haben uns immerhin bemüht.
Staubitz:
Nachdem ich dieses Buch gelesen und zumindest z. T. verstanden habe,
habe ich mir gedacht, dass damit ganz schön viele neue Impulse auf
mein Gehirn eingeströmt sind. Das heißt, da sind viele neue
Verbindungen geschaffen worden – dafür war dieses Buch auf alle Fälle
gut. Ich habe jedenfalls verstanden, dass unser Gehirn sozusagen eine
Umbaumaschine ist. Es gibt im Gehirn immer eine Reaktion auf äußere
Reize und selbst unser Gespräch hier verändert unser Gehirn bereits –
wenn auch nur in einem kleinen Bereich.
Bonhoeffer:
Und bei den Zuschauern ist es hoffentlich genauso.
Staubitz:
Wir können nur hoffen, dass sich am Ende unseres Gesprächs, also
nach knapp 45 Minuten, doch ein paar neue Synapsen miteinander
verbunden haben.
Bonhoeffer:
Da bin ich mir fast sicher: Irgendwas wird sich definitiv geändert haben –
selbst dann, wenn sich die Zuschauer nicht irgendetwas Spezifisches
gemerkt haben, haben sie sich vielleicht doch Ihr Gesicht oder meines
gemerkt oder irgendetwas anderes. Denn irgendetwas bleibt ganz sicher
hängen. Es ist so, wie Sie das vorhin gesagt haben: Es gibt ungefähr 100
Milliarden Nervenzellen und es gibt ungefähr noch 10000-mal mehr
Verbindungen. Irgendwelche Dinge haben sich innerhalb dieser 45
Minuten also ganz sicher verändert. Aber es ist schon so, wie Sie das
gesagt haben: Das Gehirn ist eine gigantische Umbaumaschine, vor
allem in der Kindheit und in der Jugend, wie wir alle wissen, denn in
dieser Zeit ist unser Gehirn noch viel plastischer: Da wird unglaublich viel
umgebaut bzw. zuerst einmal aufgebaut. Ein Baby kommt ja sozusagen
relativ unfertig auf die Welt, was das Gehirn betrifft. Natürlich sind die
groben Verbindungsstränge bereits gelegt, aber dass ein Baby die
Sprache und das Gehen erst noch lernen muss, ist uns allen klar. Dass
ein Baby erst noch Sehen lernen und Hören lernen muss, ist vielleicht
nicht allen klar. Das heißt, unser Gehirn ist, wenn wir auf die Welt
kommen, nur groß verschaltet. Die ganze Feinabstimmung im Gehirn
geschieht dadurch, dass aus der Umwelt Informationen auf uns
einprasseln – seien es über das Sehen visuelle Informationen oder über
das Hören Hörinformationen usw. – und dann im Gehirn das
Nervensystem entsprechend aufgebaut wird. Da werden zuerst einmal
neue Verbindungen, also Synapsen hergestellt und es werden zweitens
auch ganz viele Sachen abgebaut, denn das gehört genauso dazu. Das
heißt, das Gehirn wird quasi geschärft: Manche Dinge werden verstärkt,
während andere abgeschwächt oder ganz abgebaut werden. Das Ganze
stimmt natürlich auch noch für uns Erwachsene, wenn auch in
geringerem Maße: Auch bei uns Erwachsenen wird noch ganz schön
umgebaut im Gehirn.
Staubitz:
Das stimmt mich ja wieder ein bisschen hoffnungsfroh, denn das heißt,
dass man auch mit zunehmendem Alter noch was lernen kann. Ich kann
mir noch eine neue Fremdsprache aneignen, ich kann noch
Motorradfahren lernen usw.
Bonhoeffer:
Ja, absolut.
Staubitz:
Da ist also noch kein Ende der Fahnenstange erreicht.
Bonhoeffer:
Genau, und das wissen wir auch alle. Wir wissen aber auch alle, dass
das nicht mehr ganz so leicht geht wie bei den Kindern. Ich habe Kinder,
die jetzt 12 und 13 Jahre alt sind, d. h. sie sind bereits über die
plastischste Phase hinaus. Aber wenn ich sehe, wie sie sich die
Lateinvokabeln hineinprügeln können, dann muss ich zugeben, dass ich
das so nicht mehr machen könnte. Das jugendliche Gehirn ist einfach
noch viel, viel umbau- und lernfähiger. Aber das ist biologisch relativ
einfach zu erklären: In diesem Lebensalter ist einfach alles noch
plastischer in unserem Gehirn und kann leichter umgebaut werden. Bei
uns Erwachsenen geht das nicht mehr so leicht. Aber man kann
selbstverständlich auch als Erwachsener noch Neues lernen – sonst
wäre das Leben ja schrecklich.
Staubitz:
Darf ich mal eine ganz einfache Frage stellen? Ist Gedächtnis und
Erinnerung eigentlich das Gleiche? Ich habe nachgelesen, dass die
Erinnerung eine ziemlich fragile Geschichte ist: Wir legen uns da nämlich
oft Sachen auch ganz schön zurecht, um unser Selbstbild
aufrechterhalten zu können. Sind also Gedächtnis und Erinnerung das
Gleiche?
Bonhoeffer:
Natürlich kann man das psychologisch auch auseinandernehmen, aber
ich würde ansonsten schon sagen, dass das sozusagen das gleiche
biologische Phänomen ist: Da werden im Gehirn bestimmte
Veränderungen gemacht, die dann später wieder ausgelesen werden.
Oder man versucht zumindest, diese Dinge wieder auszulesen, denn
das gelingt eben nicht immer. Denken Sie nur daran, wie oft wir sagen:
"Sein Name liegt mir auf der Zunge! Wie hieß er noch mal? Wie hieß er
nur? Gleich kommt's mir!" Das heißt, da ist im Gehirn ganz sicher noch
etwas gespeichert, denn sonst könnten wir z. B. so einen Namen später
ja nicht "ausspucken". Aber das Wiederauslesen funktioniert in diesem
Moment einfach nicht oder nicht so gut. Ob man das aber Gedächtnis
oder Erinnerung nennt, ist eher ein semantisches Problem.
Staubitz:
Es macht ja einen Unterschied, ob ich plötzlich aus der "hintersten
Schublade" meines Gehirns eine längst vergessene Lateinvokabel
hervorziehen kann oder ob ich mich an Erlebtes erinnere. Denn in der
Erinnerung meint man ja, dieser Vorgang hätte genau so, wie man ihn
erinnert, stattgefunden. Aber wir Menschen sind in der Auslegung
dessen offenbar ziemlich kreativ. Wenn sich zwei Menschen nach zehn
Jahren über das gleiche Erlebnis unterhalten, dann haben sie das in der
Regel jeweils völlig anders in Erinnerung.
Bonhoeffer:
Genau, das liegt einfach daran, dass man das anfangs zwar gleich erlebt
hat – es kann aber auch sein, dass man auch das schon verschieden
erlebt hat –, dieses Erlebte im Laufe der Jahre aber immer wieder
herausholt aus dem Gedächtnis. Man erinnert sich daran, erzählt es
vielleicht jemanden und dabei nimmt das Ganze eventuell andere
Formen an. Es ist ja z. B. bei der Polizeiarbeit gut bekannt, dass
Zeugenaussagen mit sehr, sehr viel Vorsicht zu genießen sind – und
zwar nicht deswegen, weil die Zeugen bestimmte Dinge mit Absicht
falsch darstellen würden, sondern weil man sich einfach an andere
Sachen und teilweise auch an falsche Sachen erinnert. Dazu kann
sicherlich jeder ein Beispiel aus dem eigenen Leben anführen, weil jeder
schon erfahren hat, dass man bestimmte Dinge anders erlebt hat als
andere, die mit dabei waren. Selbst Menschen, die einem sehr vertraut
sind, haben solche Dinge womöglich ganz anders in Erinnerung. Was bei
uns eingespeichert ist, bleibt nicht so, wie es einmal eingespeichert
worden ist, wenn man es immer wieder mal herausholt und darüber
spricht. Es wird erzählt und es werden meinetwegen Verbindungen zu
anderen Erlebnissen hergestellt usw. Am Ende übrig bleibt dieses
ursprüngliche Ereignis sozusagen nur im Licht und unter dem Einfluss
des immer wieder Hervorholens und Erzählens bestehen: Die
Erinnerung, die man aktuell hat, stimmt daher nur teilweise mit dem
überein, wie es wirklich gewesen ist.
Staubitz:
Das macht ja auch eine gute Anekdote aus: Sie wird im Laufe der Jahre
immer toller.
Bonhoeffer:
Genau, sie wird dann immer noch übertriebener.
Staubitz:
Warum sind diese Fähigkeiten bei uns Menschen eigentlich so ungleich
verteilt? Der eine kann sehr, sehr gut Vokabeln lernen, der andere kann
sich Namen toll merken und wieder andere haben andere Fähigkeiten.
Warum funktionieren also unsere Gehirne so unterschiedlich? Hat das
am Ende auch mit der Intelligenz zu tun?
Bonhoeffer:
Ja, am Ende hat das mit der Intelligenz zu tun, aber es ist natürlich so,
dass das Gehirn nur ein Organ ist wie andere Organe auch. Sie könnten
mich ja z. B. auch fragen, warum Usain Bolt so viel schneller laufen kann
als irgendjemand anders.
Staubitz:
Nun, in der Leichtathletik wollen wir vielleicht gar nicht so genau wissen,
warum jemand so schnell laufen kann.
Bonhoeffer:
Gut, das kommt noch dazu, d. h. das Beispiel war vielleicht nicht ganz so
geglückt. Aber es ist einfach so, dass die Menschen verschieden sind:
Die einen sind halt besonders sportlich begabt, andere sind besonders
musisch begabt und wieder andere können sich besonders viel merken.
Und unsere Körper sind eben auch alle verschieden – und das Gehirn ist
nun einmal auch ein Körperteil und daher ebenfalls verschieden. Auch
innerhalb des Gehirns ist es so, dass es Unterschiede gibt: Der eine ist
halt eher musisch begabt, während sich der andere vielleicht Zahlen
besser merken kann, und manche können womöglich beides. Ich finde
es jedenfalls nicht erstaunlich, dass das verschieden ist. Ich fände es
eher erstaunlich, wenn das bei allen gleich wäre, denn die Menschen
sind nun einmal verschieden: im Hinblick auf ihr Aussehen, auf ihre
Muskeln, auf ihrer Körpergröße usw. Und das Gehirn ist eben auch
verschieden von Mensch zu Mensch.
Staubitz:
Es wird ja auch immer behauptet, das männliche und das weibliche
Gehirn würden komplett unterschiedlich funktionieren. Es gibt aber wohl
massive wissenschaftliche Zweifel daran, ob das wirklich so große
Unterschiede sind.
Bonhoeffer:
Das ist natürlich eine sehr aufgeladene Fragestellung und deswegen
muss man da schon sehr vorsichtig sein, damit man nichts Falsches
sagt. Aber ich glaube, es kommt hier wirklich darauf an, wie man das
sieht, ob man also sagt, die Gehirne von Mann und Frau sind
verschieden, oder ob man sagt, sie sind gleich. Das ist das gleiche
Problem wie bei einem halb eingeschenkten Wasserglas: Für den einen
ist es halb voll, für den anderen halb leer. Es ist ja völlig klar, dass sich die
Gehirne wie auch die anderen Organe unserer Körper unterscheiden. Es
wäre daher äußerst erstaunlich, wenn das männliche und das weibliche
Gehirn völlig gleich wären. Aber das allermeiste ist doch gleich und die
Fähigkeiten sind im Wesentlichen gleich. Es gibt natürlich schon auch
Ausschläge in die eine und in die andere Richtung. Die Frage ist also, ob
man auf das Verschiedene abhebt oder auf das Gleiche. Denn es gibt ja
in der Tat einzelne Sachen, bei denen Frauen besser sind als Männer
und umgekehrt. Im Großen und Ganzen sind wir diesbezüglich aber
gleich. Es wäre jedoch unbiologisch, wollte man sagen, die Gehirne von
Männern und Frauen wären völlig gleich. Denn ich kann mir nicht
vorstellen, wie es sein kann, dass die Gehirne absolut identisch sind,
wenn doch alle anderen Organe unterschiedlich sind zwischen Männern
und Frauen.
Staubitz:
Um Ihr Buch auch mal als Genuss hervorzuheben: Was ich sehr
spannend fand, ist, dass für uns Menschen auch das Vergessen so
wahnsinnig wichtig ist. Warum ist es für uns Menschen so essenziell,
dass wir aussortieren und vergessen können?
Bonhoeffer:
Obwohl das Gehirn natürlich ganz anders funktioniert als ein Computer,
hat es doch ein ähnliches Problem. Wenn irgendwann die Festplatte voll
ist, wenn also irgendwann das Gehirn voll ist, dann können wir gar nichts
mehr zusätzlich speichern und können auch vor allem das Wichtige und
das Unwichtige nicht sortieren. Es ist also schon sehr, sehr wichtig, dass
Sachen, die nicht mehr gebraucht werden, irgendwann auch
rauskommen aus dem Gehirn, damit wieder Freiraum geschaffen
werden kann für neue Sachen. Das ist wirklich wichtig. Es gibt nämlich
Menschen, die das Problem haben, dass sie sich unglaublich gut Sachen
merken können, dass das aber richtiggehend zu einem Nachteil für sie
wird, weil sie eben nicht mehr sortieren können, was wichtig und was
unwichtig ist. Sie haben einfach diesen Wust von Informationen in ihrem
Gehirn abgespeichert und wissen dann eben nicht mehr, was das
Entscheidende ist und was nicht.
Staubitz:
Insofern kann das Vergessen auch mal ein Segen sein.
Bonhoeffer:
Absolut, man muss halt einfach Freiraum schaffen für etwas Neues. Aber
man darf natürlich nur Sachen vergessen, die nicht mehr wichtig sind
oder werden können. Wenn man den Menschen mal unter evolutionären
Gesichtspunkten betrachtet, dann sieht das so aus: Diejenigen Sachen,
die sehr wichtig sind, bleiben ein Leben lang erhalten. Alles, was mit
einem Schreck oder einem großen Glücksgefühl assoziiert ist, ist
eingebrannt für immer, das vergisst man nie mehr. Wenn man mal fast
von einem Löwen gefressen wurde, dann muss man sich dringend
merken, unter welchen Umständen das passiert ist, damit man genau
diese Umstände künftig vermeidet. Bei großen Glücksgefühlen war es
und ist es genauso: Man versucht, diese immer wieder herzustellen.
Deswegen spielen starke emotionale Umstände eine wesentliche Rolle
dabei, ob man etwas vergisst oder nicht und wie fest etwas im Gehirn
verankert ist.
Staubitz:
Je mehr Gefühl also mit einer bestimmten Situation verbunden ist, umso
größer und stärker ist die Verankerung dieser Situation im Gedächtnis.
Bonhoeffer:
Ja, wenn z. B. massiv Adrenalin ausgestoßen wird bei einem Erlebnis –
das gilt aber für andere Botenstoffe genauso – dann wird dieses Erlebnis
wirklich fest in unserem Gedächtnis verankert, und zwar ein Leben lang.
Jeder von uns weiß z. B., wo er an jenem 11. September 2001 gewesen
ist, weil dieses Ereignis eine unglaublich starke emotionale Komponente
hatte. Ich kann mich z. B. genau daran erinnern, was ich gemacht habe
und wo ich war, als die Berliner Mauer gefallen ist: Ich war da gerade in
den USA und ich weiß noch genau, wo ich stand und wer mir das gesagt
hat usw. Das hat einfach mit dieser starken emotionalen Komponente zu
tun.
Staubitz:
Ich muss jetzt auch mal ein bisschen angeben: Ich habe nämlich ein
neues Wort gelernt, das Wort "Extinktionslernen". Bedeutet das noch ein
bisschen mehr als "vergessen"? Gelernt habe ich jedenfalls, dass das
eine schwere Sache ist, das ist gar nicht so einfach.
Bonhoeffer:
Es gibt eben genau dieses Lernen mit einer starken emotionalen
Komponente. Genau das kann aber auch zu einem Problem werden:
Wenn jemand z. B. einen Verkehrsunfall erlebt hat, dann kommt ihm die
Erinnerung daran immer wieder …
Staubitz:
Das ist dann so etwas wie ein Trauma.
Bonhoeffer:
Genau, da gibt es dann dieses bekannte posttraumatische
Stresssyndrom. Wenn so etwas passiert, gibt es eben Möglichkeiten, mit
denen man versuchen kann, so etwas zu "entlernen", damit dieses
schlimme Erlebnis nicht mehr dauernd von sich aus wiederkommt, damit
man nicht jede Nacht davon träumt usw. Aber ganz wird man die
Erinnerung daran natürlich nicht wegbekommen, was ja auch nicht
unbedingt notwendig ist. Das ist jedenfalls eine Form von
Extinktionslernen und es ist von der Psychologie her sehr wichtig, besser
zu verstehen, wie so etwas funktioniert, damit man den Menschen, die
unter solchen Sachen leiden, besser helfen kann.
Staubitz:
Für mich als Mutter ganz interessant ist im Hinblick auf das Verlernen
auch Folgendes. Es ist wohl herausgefunden worden, dass es ein
pädagogischer Irrweg sei, die Kinder das Schreiben zuerst einmal rein
nach Gehör lernen zu lassen. Diese Lernform sagt ja, dass die Kinder die
Wörter ruhig zuerst einmal ein Jahr lang falsch schreiben dürfen, weil sie
dann in der zweiten Klasse schon noch lernen, dass man "und" nicht mit
"t" schreibt usw. Aber man hat jetzt herausgefunden, dass das
Vergessen der Falschschreibung dann noch einmal ein ganz neuer
Lernvorgang ist.
Bonhoeffer:
Ich muss sagen, dass Sie mich da auf dem linken Fuß erwischen, denn
ich bin kein Pädagoge, sodass ich das jetzt beurteilen könnte …
Staubitz:
Sie wollen sich da also nicht so weit aus dem Fenster lehnen.
Bonhoeffer:
An sich würde ich mich da schon gerne aus dem Fenster lehnen und
wäre gerne bei Ihnen diesbezüglich, denn ich habe ja auch selbst Kinder.
Mein Gefühl sagt mir, dass die Kinder wesentlich besser bedient sind,
wenn sie das gleich lernen. Aber wie gesagt, ich bin kein Pädagoge und
kann das eben nicht fundiert beantworten. Da kann ich nur von meinem
Gefühl als Vater sprechen.
Staubitz:
Aber wir können ja durchaus ein wenig in diesem Bereich des Lernens
bleiben. Sie erforschen ja auch solche Dinge wie virtuelles Lernen, also
Lernen über das Internet. Das ist ja etwas, was mittlerweile sehr, sehr
häufig stattfindet. Funktioniert das denn genauso gut wie in einer
normalen Präsenzsituation mit dem Lehrer vor der Klasse usw.? Sind Sie
hier schon zu Ergebnissen gekommen?
Bonhoeffer:
Es wäre schön, wenn wir das bereits wüssten, aber das ist nicht so –
noch nicht. Auf jeden Fall ist das eine der Fragen, die mich im Moment
sehr stark interessieren. Das ist ein Forschungszweig, den wir ehrlich
gesagt gerade erst aufbauen: Uns interessieren hier die sozialen Aspekte
des Lernens. Eine Frage lautet da z. B., ob wir vom Fernsehen oder vom
Computer genauso gut lernen können wie von Angesicht zu Angesicht.
Eine Frage ist aber auch: Lernt ein Kind von seinem Vater oder von
seiner Mutter besser als vom Lehrer, weil bei den Eltern die emotionale
Bindung höher ist? Oder lernt es genau aus diesem Grund womöglich
sogar schlechter? All das ist natürlich auch schon psychologisch
untersucht worden, aber ich würde das gerne auch biologisch verstehen.
Ich hoffe daher, dass wir, wenn wir das biologisch besser verstehen,
dann wesentlich besser dran sind und den Pädagogen auch besser
helfen können. Wir können dann ja womöglich auch Fragen beantworten
wie: Soll die Schule besser um acht oder um zehn Uhr morgens
anfangen?
Staubitz:
Unbedingt erst um zehn Uhr!
Bonhoeffer:
Ich sehe das ja auch so. Aber vielleicht findet man heraus, dass besser
der komplette Vormittag frei sein und die Schule erst am Nachmittag
stattfinden sollte, weil man da dann besser lernen kann? Das sind aus
meiner Sicht ganz, ganz interessante Fragen. Es gibt natürlich Studien
dazu, aber nicht in der Tiefe, wie ich sie mir wünschen würde, sodass
man wirklich mal biologisch versteht, wie z. B. Lernen und Schlafen
miteinander interagieren. Da gibt es nun erste Anfänge, das
herauszufinden, aber das ist alles noch relativ wenig. Wie ist das Lernen
in einer virtuellen Umgebung? Schlechter oder womöglich sogar besser,
denn auch das könnte ja der Fall sein? Braucht man für das Lernen noch
einen auditorischen Reiz, also einen Hörstimulus oder sind z. B. Gerüche
wichtig? Was bestimmt das Lernen alles? Das ist wirklich ein ganz weites
und offenes Gebiet, das ich unglaublich interessant finde.
Staubitz:
Ich z. B. bilde mir ein, dass ich mich besser konzentrieren kann, wenn so
ein leichter Zitrusduft in der Luft um mich herum ist. Aber ich denke, das
muss wohl jeder für sich herausfinden.
Bonhoeffer:
Das habe ich bei mir selbst noch nie beobachtet, aber solche Sachen
finde ich natürlich äußerst interessant. Diese Sachen rund ums Lernen
sind deshalb so interessant, weil sie z. B. etwas über die Interaktion mit
der Gesellschaft aussagen: Lernen und Gesellschaft sind natürlich ganz
eng miteinander verwoben.
Staubitz:
Sie haben im Vorgespräch den mir bis dahin völlig unbekannten Begriff
"translationale Forschung" gebraucht: Heißt das, dass man bei Ihrer
Forschung zu Ergebnissen kommt, die im Transfer für die gesamte
Gesellschaft wichtig sein können?
Bonhoeffer:
Genau. Das ist etwas, was ich nicht müde werde zu betonen:
Translationale Forschung ist ein ganz wichtiger Begriff in diesem
Zusammenhang. Normalerweise ist es ja so, dass die Öffentlichkeit
wünscht – und die Öffentlichkeit bzw. die Gesellschaft bezahlt ja auch
unsere Forschung –, dass wir Hirnforscher hauptsächlich Krankheiten
heilen, also Parkinson, Alzheimer, Autismus, Depression, Schizophrenie
usw.
Staubitz:
Da muss ich aber dennoch kurz mal dazwischenfragen: Besteht denn die
Hoffnung, dass die eine oder andere Erkenntnis, die Sie gewinnen,
tatsächlich helfen könnte bei diesen Krankheiten?
Bonhoeffer:
Da bin ich mir absolut sicher. Wann das der Fall sein wird, kann ich Ihnen
natürlich nicht sagen. Denn aus meiner Sicht ist es so, dass man das
Gehirn bzw. Teile des Gehirns zuerst einmal verstehen muss, bevor man
sozusagen an die Fehlfunktionen herangehen kann. Um aber zur
translationalen Forschung zurückzukommen: Sie wird fast immer so
verstanden, dass die Ergebnisse der Grundlagenforschung translatiert
werden, also übertragen werden in die Medizin, in Fragen der
Gesundheit. Aber es gibt aus meiner Sicht eben noch eine weitere Form
der translationalen Forschung: Das ist diejenige, über die wir vorhin
gesprochen haben, nämlich die Forschung, die in die Gesellschaft hinein
Auswirkungen hat. Das Lernen verstehen zu wollen, um später einmal
die Schulen besser machen zu können, ist ganz klar tanslationale
Forschung. Dieser Begriff wird zwar normalerweise nicht so verstanden,
aber das ist für unsere Gesellschaft ganz, ganz wichtig – genauso wie
auch die Gesundheit ganz wichtig für unsere Gesellschaft ist. Ich will
nicht sagen, dass das eine besser oder schlechter ist, sondern ich glaube
lediglich, dass das Verstehen des normalen Gehirns einen ungeheuer
großen Nutzen für unsere Gesellschaft bedeuten kann. Diese Ansicht ist
jedoch unterrepräsentiert und ich würde gerne dabei helfen, das zu
ändern.
Staubitz:
Ich stelle fest, dass wir beide wohl ganz schön schnell sprechen, weil wir
in diesen 45 Minuten einfach so viele verschiedene Dinge unterbringen
wollen. Ich empfinde diese Forschung jedenfalls als ungeheuer
spannend und ich kann nur hoffen, dass unsere Zuschauer noch vor den
Geräten sitzen und uns gut folgen können. Mir macht es jedenfalls große
Freude, darüber mit Ihnen zu sprechen. Darf ich eine fast schon private
Frage an Sie richten? Sie haben in verschiedenen Interviews immer mal
wieder erwähnt, dass es Ihnen ein großes Anliegen ist, nicht nur ein guter
Forscher zu sein, sondern auch ein anständiger Mensch. Was meinen
Sie genau damit? Was bedeutet das für Sie?
Bonhoeffer:
Auch das ist eine schwierige Frage. Es ist jedenfalls richtig, dass ich
darüber schon mehrmals gesprochen habe: Für mich ist das wichtig.
Irgendwann kommt ja leider Gottes auch mal der Zeitpunkt, an dem man
Revue passieren lässt, wie das eigene Leben denn eigentlich so
gewesen ist: Was habe ich getan, was habe ich geleistet? Da ist es mir
natürlich wichtig, dass ich als Forscher etwas geleistet habe, wenn ich
das mal so formulieren darf, dass ich also einen Beitrag für die
Gesellschaft geleistet habe. Ich möchte das jedoch nicht, und das ist der
Punkt, den Sie ansprechen, um jeden Preis erreichen. Mir ist es wichtig,
dass ich am Ende in den Spiegel schauen und sagen kann: "Ja, das war
okay so." Das ist mir schon sehr, sehr wichtig und das ist auch das, was
ich mit "ich möchte ein anständiger Mensch sein" gemeint habe. Am
Ende ist das wirklich das Wichtigste für mich.
Staubitz:
Wir wollen heute in dieser Sendung ja nicht zu sehr psychologisieren,
aber ich hatte bei der Vorbereitung auf diese Sendung diesbezüglich
natürlich schon eine ganz bestimmte Assoziation im Hinblick auf Ihren
Namen. Der Name Bonhoeffer steht ja nicht nur für mehrere
Generationen von hervorragenden Wissenschaftlern, sondern auch für
diesen sehr hartnäckigen und auch sehr opferreichen Widerstand gegen
das NS-Regime. Kann es sein, dass man da auch so ein bisschen ein
Erbe mitbekommt diesbezüglich, eine Haltung, die von Generation zu
Generation weitergegeben wird?
Bonhoeffer:
An ein Erbe, das über die Gene geht, glaube ich in diesem
Zusammenhang eher nicht.
Staubitz:
Deswegen habe ich auch von Haltung gesprochen.
Bonhoeffer:
Genau, und Erbe kann ja auch vieles bedeuten. Es ist so, dass meine
Eltern, dass insbesondere mein Vater, der halt diesen Namen
"Bonhoeffer" trägt, immer versucht hat, das von uns Kindern etwas
wegzuhalten: Er wollte nicht, dass wir uns irgendwie im Licht eines
berühmten Namens sonnen. Insofern habe ich mich eigentlich erst später
als Erwachsener damit etwas genauer beschäftigt. Nichtsdestotrotz ist es
einfach so, dass Dietrich Bonhoeffer der Onkel meines Vaters gewesen
ist. Mein Vater ist im Dritten Reich aufgewachsen und hat sicherlich über
seinen Vater, also über den Bruder von Dietrich Bonhoeffer, viel davon
mitbekommen. Er hat das dann auch ganz bestimmt in unsere Erziehung
übertragen. In diesem Sinne gibt es schon eine Erbe, d. h. da gibt es
etwas, das über die Generationen hinweg weitergetragen wird: Es ist
wichtig, anständig zu sein. Das war natürlich damals im Dritten Reich viel,
viel schwieriger als heute. Dass mir das deshalb so wichtig ist, ist
schwierig zu sagen, ich kann jedenfalls nicht ausschließen, dass es mit
meiner Familiengeschichte zu tun hat. Wenn ich versuche, in mich selbst
hineinzuschauen, dann kann ich für mich selbst schon sagen, dass es für
mich sehr, sehr wichtig ist, ein anständiger Mensch zu sein. Das ist für
mich eine fundamentale und grundsätzliche Lebenseinstellung. Wie
diese aber genau zustande kommt, weiß ich nicht. Vielleicht ist das
einfach auch nur so in mir drin.
Staubitz:
Ich hatte ja am Anfang versprochen, dass wir auch noch über die
Methoden sprechen werden. Es gibt wohl zwei Methoden, die heute auf
dem Gebiet der Hirnforschung sehr wichtig sind. Da gibt es zum einen
die Kernspinresonanztomografie: Dadurch kann man Gehirnareale
genau beobachten, die aktiv sind, die sozusagen feuern, wenn man z. B.
eine Entscheidung fällt oder man gerade Mitgefühl hat. Zweitens gibt es
den Bereich, in dem Sie selbst viel machen, nämlich dass man mit
genetischen Methoden sozusagen Farben … Da muss ich mich jetzt
wirklich sehr kompliziert ausdrücken …
Bonhoeffer:
Ich werde Sie verbessern, wenn es falsch ist, aber bis jetzt war alles
richtig.
Staubitz:
Ihre Methode sieht jedenfalls so aus, dass Sie im Gehirn von Mäusen
sehen können, welche einzelnen Nervenzellen gerade aktiv sind, weil
diese in Hunderten von verschiedenen fluoreszierenden Farben
aufleuchten.
Bonhoeffer:
Normalerweise sind das nicht Hunderte von verschiedenen Farben,
sondern das ist eine Farbe; meistens sieht das irgendwie grün aus. Aber
ich würde zuerst einmal gerne auf die funktionelle Kernspintomografie zu
sprechen kommen. Das ist so, wie Sie das gesagt haben – für genaue
Details haben wir hier ohnehin nicht die Zeit. Man kann bei dieser
Methode einen Menschen in so eine große Röhre schicken, wie man sie
für den normalen Kernspin auch verwendet. Einige Zuschauer haben
das ja vielleicht selbst schon erlebt.
Staubitz:
Vielleicht in anderen Zusammenhängen.
Bonhoeffer:
Genau, denn das wird für die Diagnostik verwendet. Bei uns ist es so,
dass dem Menschen, der in dieser Röhre liegt, bestimmte Denkaufgaben
gegeben werden oder es werden ihm meinetwegen auf einem
Videomonitor bestimmte Szenen vorgespielt, die Mitgefühl erregen. Wir
schauen dann, wo dabei jeweils mehr Aktivität im Gehirn stattfindet. Der
große Vorteil ist, dass wir solche Dinge bei ganz normalen Menschen
machen können. Der große Nachteil, jedenfalls aus unserer Sicht, ist halt,
dass das Bild, das wir dabei bekommen, relativ grobkörnig ist. Das
Kleinste, was man dabei sehen kann, ist ein Würfel von vielleicht ein
Millimeter mal ein Millimeter mal ein Millimeter. Das mag einem Laien
womöglich als sehr klein erscheinen, aber selbst in so einem kleinen
Würfel befindet sich eben die schiere Menge von um die 10000
Nervenzellen. Uns interessieren eben feinere Strukturen: Wir wollen die
einzelne Nervenzelle sehen und nicht eine Menge von einzelnen
Nervenzellen. Wir wollen sehen, wie sie im Verbund zusammenarbeiten,
wenn sie, wie wir das nennen, feuern, wenn sie also aktiv sind, wie dabei
die eine Nervenzelle die andere beeinflusst, wie sich alle gegenseitig
beeinflussen usw. Dafür kann man die Methode der genetischen
Veränderungen nehmen. Da werden spezielle Farbstoffe in der
Nervenzelle immer dann sichtbar, blitzen also auf, wenn die Nervenzelle
feuert. Dadurch wiederum kann man mit den entsprechenden
Mikroskopen sehen, wie die Maus denkt oder wie die Maus sich etwas
merkt, wenn ich das mal sehr vereinfacht ausdrücken darf. Genau diese
Technik benutzen wir, um wirklich ins Gehirn zu schauen und um uns
dabei Verbindungen anzuschauen und zu sehen, wie diese sich ändern,
wenn etwas gelernt wird.
Staubitz:
Es ist verblüffend, was da bereits alles möglich ist. Ich glaube, das
Mäusegehirn konnte man schon sozusagen kartieren. Es gibt nun auch
dieses Human Brain Project der Europäischen Kommission: Das ist recht
ambitioniert, denn dabei möchte man eben auch das menschliche
Gehirn bis ins letzte Detail hinein vermessen. Dazu möchte ich Ihren
Kollegen Moritz Helmstaedter zitieren: "Das ist, als würde man sagen,
'ich will nun zum Mond und habe dafür auch schon mal eine Leiter an
den Baum gelehnt'. Nur weil die Richtung stimmt, heißt das noch lange
nicht, dass ich auch zum Mond komme." Ist es tatsächlich so vermessen,
sich das vorzunehmen?
Bonhoeffer:
Da kommen wir ein bisschen in eine wissenschaftspolitische Diskussion
hinein, die ich hier aber nicht zu sehr ausführen möchte.
Staubitz:
Die Kürze der Sendezeit lässt das leider nicht zu.
Bonhoeffer:
Es gibt verschiedene Brain Projects, also Gehirnprojekte, in den USA, in
Europa, in China, in Japan und in ein paar anderen Ländern. Gerade das
europäische Gehirnprojekt "Human Brain Project" hat relativ viel Kritik
einstecken müssen, weil da doch relativ viele Vereinfachungen
vorgenommen wurden. Und Leute wie Moritz Helmstaedter, den ich gut
kenne, meinen, dass das einfach zu simpel gestrickt ist und wir das so
am Ende nicht schaffen werden. Ich glaube, was Moritz am meisten
fürchtet – und ich persönlich auch, wie ich sagen muss –, ist, dass durch
dieses Projekt, das letztlich eine Milliarde Euro kostet …
Staubitz:
Oh Gott!
Bonhoeffer:
Genau. Um dieses Geld zu bekommen, wurden bereits relativ große
Versprechen gemacht. Meine Befürchtung ist einfach, dass diese
Versprechen am Ende nicht eingehalten werden können. Die
Wissenschaftler – in erster Linie natürlich diejenigen von diesem Human
Brain Project, aber darüber hinaus auch wir alle als Neurowissenschaftler
– stehen halt doch ziemlich blöd da, wenn am Ende, wenn also nach
zehn Jahren nicht das herauskommt, was am Anfang versprochen
worden ist. Diese eine Milliarde Euro ist bis jetzt allerdings noch nicht
ganz verteilt. Ich wäre jedenfalls beim Projektantrag wesentlich
vorsichtiger gewesen. Ich sage nicht, dass alles, was diese
Wissenschaftler machen, keinen Sinn hat, aber ich habe das Gefühl,
dass ihre Versprechen zu vollmundig waren. Ich glaube, genau das treibt
eben auch den Moritz um, wenn er diesen Vergleich mit der Leiter und
dem Mond anführt.
Staubitz:
Ich habe jedenfalls ein bisschen gelacht, als ich das gelesen habe. Wir
sind bereits in der letzten Minute unseres Gesprächs angelangt. Ich
muss jetzt noch unbedingt loswerden, dass Sie für ein Genie doch relativ
untypisch praktisch veranlagt sind. Sie können nämlich Kühlschränke
selbst reparieren, Lederjacken selbst nähen, Schmuck selbst herstellen
usw. Sind Sie das lebendige Beispiel dafür, dass man alles lernen kann?
Bonhoeffer:
Zuerst einmal würde ich das mit dem Genie in Abrede stellen. Aber es ist
einfach so, dass ich ein fundamentales Interesse an der Welt habe und
vor allem auch am Gehirn. Das Herstellen von Lederjacken oder
Schmuck hat mich halt auch immer interessiert, das wollte ich auch
probieren. Und so habe ich eben einfach mal angefangen, das zu
machen. Ich habe das auch bis zu einem bestimmten Punkt
weitergetrieben, bis ich es wieder habe bleiben lassen und etwas Neues
ausprobiert habe. Aber ich bin eben auch deshalb Wissenschaftler
geworden: weil ich einfach an vielen Sachen Interesse habe und mal
dieses und mal jenes ausprobieren möchte, weil ich erforschen möchte,
wie bestimmte Sachen funktionieren.
Staubitz:
Ich stelle mir auch Ihre Frau als einen glücklichen Menschen vor, wenn
sie nebenbei vom eigenen Mann nicht nur Schmuck geschenkt
bekommt, sondern wenn dieser Schmuck auch noch von ihm selbst
gemacht wird. Das ist doch großartig. Ich wiederum freue mich sehr
darüber, dass wir ein so tolles und spannendes Gespräch geführt haben.
Vielen Dank, dass Sie heute zu uns gekommen sind.
Bonhoeffer:
Es hat auch mir großen Spaß gemacht, vielen Dank.
Staubitz:
Liebe Zuschauer, das war's schon wieder mit dem alpha-Forum, zu Gast
war bei uns heute Professor Dr. Tobias Bonhoeffer. Ich hoffe, auch Sie
hatten einigermaßen Spaß an diesem Gespräch und auch bei Ihnen hat
sich dadurch die eine oder andere Synapse neu verdrahtet oder
verstärkt. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen.
© Bayerischer Rundfunk
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