Sendung vom 24.2.2016, 20.15 Uhr Professor Dr. Tobias Bonhoeffer Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie im Gespräch mit Sabrina Staubitz Staubitz: Grüß Gott und herzlich willkommen, liebe Zuschauer, beim alpha-Forum. Wir konzentrieren uns heute vor allem auf den Kopf: Wie können wir unserem Gehirn auf die Schliche kommen? Wie funktionieren Lernen und Vergessen? Wie entsteht das Gedächtnis? Ich jedenfalls stelle mir unseren heutigen Gast als glücklichen Menschen vor, weil er sich tagtäglich mit diesen Fragen auseinandersetzen darf. Herzlich willkommen, Herr Professor Dr. Tobias Bonhoeffer. Sie sind Hirnforscher und Direktor der Abteilung Synapsen, Schaltkreise und Plastizität am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Herzlich willkommen und schön, dass Sie da sind. Bonhoeffer: Vielen Dank für die Einladung, ich freue mich, dass ich hier sein darf. Staubitz: Es gibt ja einen relativ aktuellen Schlager mit dem Titel "Herz über Kopf". Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen, aber es geht darin mehr oder weniger darum, dass dieser junge Mann, der das singt, hin und her gerissen ist zwischen diesen beiden "Entscheidungsabteilungen". Wie ist das denn bei Ihnen als Hirnforscher? Ist da automatisch eher der Kopf der Entscheider? Bonhoeffer: Vielleicht ein bisschen mehr, es ist aber nicht so, dass ich keine oder weniger Gefühle hätte. Wobei ich als Hirnforscher bei diesem Songtitel sofort einwerfen würde: Das, von dem die Menschen sagen, es passiere im Herzen, passiert selbstverständlich auch im Gehirn. Es fühlt sich nur so an, als würde das im Herzen entschieden. Aber Gefühle entstehen selbstverständlich ebenfalls nur im Gehirn. Bei mir ist es jedenfalls nicht so, dass ich mir tagtäglich, wenn ich Gefühle habe, denke: "Ach, das sind ja nur irgendwelche Schaltungen im Gehirn, irgendwelche Botenstoffe, die da ausgeschüttet werden." Stattdessen kann ich mich genauso freuen, mich genauso verlieben, genauso ärgern wie jeder andere Mensch auch. Staubitz: Jetzt haben Sie mir meine nächste Frage eigentlich schon weggenommen, aber ich hake da trotzdem noch einmal nach. Ihre Frau ist Biologin und Sie sind Neurobiologe: Wenn sich zwei solche Menschen unterhalten, ist das dann eine relativ nüchterne, prosaische Angelegenheit? Oder gibt es da tatsächlich auch Liebesbriefe, emotionale Ausbrüche zwischendurch? Bonhoeffer: Ja, das gibt es natürlich. Ich glaube, das stellen sich viele Leute falsch vor, dass man als Wissenschaftler nur so völlig kopfbetont wäre und keine Gefühle hätte. Nein, das ist überhaupt nicht so: Man ist ein ganz normaler Mensch. Natürlich befasst man sich beruflich damit und wenn Sie mir eine Frage stellen, wie es bei mir mit dem Herzen und den Gefühlen aussieht, dann denke ich mir natürlich sofort: Das geschieht ja eigentlich nicht im Herzen, sondern auch das passiert im Gehirn. Aber das beeinflusst natürlich nicht mein tägliches Leben. Mein tägliches Leben sieht diesbezüglich genauso aus wie das von anderen Leuten. Staubitz: Wenn Sie einen Wutanfall bekommen, dann denken Sie sich nicht: "Okay, da wird jetzt gerade Adrenalin ausgeschüttet und deswegen reagiere ich jetzt so"? Bonhoeffer: Wutanfälle habe ich zwar relativ selten, das ist einfach in meiner Persönlichkeit begründet. Es ist aber einfach so, dass ich wütend werden kann, leider. Aber dafür kann ich mich auch wie jeder andere Mensch über alle Maßen freuen. Das heißt, ich denke mir da nicht immer sofort: "Ach, das ist ja nur mein Gehirn." Das ist also überhaupt nicht so. Staubitz: Das beruhigt mich ein bisschen. Wann haben Sie denn das letzte Mal so richtig gestaunt darüber, was unser Gehirn alles kann? Bonhoeffer: Eigentlich passiert mir das tagtäglich. Auch hier ist es so, dass man sich das nicht dauernd bewusst macht, aber es ist schon so. Man muss sich ja nur einmal ganz banale Sachen vor Augen führen. Angenommen, ich fahre mit dem Fahrrad durch den Englischen Garten und werde dabei von meiner Frau, die ebenfalls auf dem Fahrrad fährt, begleitet. Wir können uns dabei unterhalten, das ist überhaupt kein Problem, und wenn plötzlich … Staubitz: Das spricht auf jeden Fall für Ihre Fitness. Bonhoeffer: Und wenn plötzlich ein Ast auf dem Weg liegt, dann können wir dem ganz einfach ausweichen. Aber das, was dabei im Gehirn passiert, ist fürchterlich kompliziert. Es ist alleine schon kompliziert, auf dem Fahrrad das Gleichgewicht zu halten. Dann kommt hinzu, dass wir gleichzeitig sprechen, also Sprache verstehen und interpretieren und selbst etwas Vernünftiges sagen. Und dann weichen wir im letzten Moment auch noch einem Ast aus, der vor uns in der Fahrbahn liegt. Das sind unglaubliche Leistungen unseres Gehirns, die wir uns nicht ständig bewusst machen, weil wir das halt schlicht können, ohne darüber nachdenken zu müssen. Aber wenn man mal wirklich darüber nachdenkt, dann stellt man fest, dass das doch ziemlich unglaublich ist. Alleine, dass ein Roboter Fahrrad fahren kann, ist bis heute technisch fast unmöglich, weil das halt einfach unglaublich schwierige und komplexe Informationsverarbeitungen sind, die da vonstattengehen müssen. Staubitz: Auch wenn wir beide hier so relativ entspannt sitzen und miteinander plaudern – ich hoffe, das gilt auch für Sie, aber Sie machen mir zumindest ganz den Eindruck –, sind um die 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn mit Millionen von Impulsen beschäftigt, die in jedem Moment unseres Gesprächs zu verarbeiten sind. Dass das so ist, machen wir uns natürlich nicht bewusst. Bonhoeffer: Ja, absolut nicht. Die Leistung besteht darin, dass jeder von uns beiden die Sprache verstehen muss, dass jeder das Gesicht des anderen beurteilen muss … Staubitz: Interpretieren? Bonhoeffer: Ja, ich muss interpretieren, wie Sie sich gerade fühlen, wie die Frage an mich gemeint ist usw. Das passiert aber alles unterbewusst und deswegen denken wir, dass da eigentlich nichts dabei ist. Aber wenn man es sich genau überlegt, ist da schon sehr, sehr viel dabei: Das ist einfach unglaublich kompliziert. Das Schöne an meinem Beruf ist, dass es mich noch immer vollkommen fasziniert, wie so ein relativ kleines Organ in unserem Schädel das alles kann und zumindest in vielerlei Hinsicht immer noch besser ist als jeder Computer, der so groß ist, dass er ganze Räume ausfüllt. Staubitz: Das führt mich bereits zur nächsten Frage, d. h. Sie machen es mir wirklich einfach. Man kann sich ja, wenn man Hirnforscher ist, mit allen möglichen Themen und Bereichen im Gehirn beschäftigen. Sie interessiert vor allem, wie das Lernen funktioniert oder eben auch das Vergessen. Was macht für Sie gerade bei diesem Thema das besondere Faszinosum aus? Bonhoeffer: Das ist schwierig zu sagen. Es war auch bei mir so, wie das bei vielen Menschen häufig der Fall ist im Leben: Ich habe am Anfang sogar Physik studiert, wie Sie in der Vorbereitung auf unser Gespräch wahrscheinlich irgendwo gelesen haben. Staubitz: Selbstverständlich! Bonhoeffer: Ich bin dann erst über die Artificial Intelligence, also über die künstliche Intelligenz sozusagen in Richtung Hirnforschung gedriftet. Und wenn man erst einmal angefangen hat, mit so einem Thema intensiv zu arbeiten, fasziniert einen das mehr und mehr, sodass man dabei bleibt. Aber das hätte eben auch irgendein anderes Thema sein können. Nichtsdestotrotz, das Lernen fasziniert mich ungeheuer, weil ich nun einmal glaube, dass das eine der fundamentalsten Eigenschaften unseres Gehirns ist. Staubitz: Wir können praktisch gar nicht anders bzw. unser Gehirn kann quasi nicht anders? Bonhoeffer: Ja, wir können nicht anders und würden ohne dies auch lange nicht so gut funktionieren. Stellen Sie sich nur einmal einen Menschen vor, der nicht lernen kann: Da geht dann praktisch überhaupt nichts mehr. Es gibt ja diesen berühmten Fall – ich weiß nicht, ob Sie von dem mal gelesen haben – des Herrn H.M. Staubitz: Das ist dieser Mann, der sich nichts mehr merken konnte. Bonhoeffer: Genau. Da dieser Mann schwere Epilepsie hatte, wurde bei ihm beidseitig der Hippocampus entnommen. Damals, in den 50er Jahren, hat man nämlich gedacht, dass damit die Epilepsie behandelbar wäre. Das stimmte durchaus, aber das Problem war, dass sich dieser Mann nach der Operation nichts Neues mehr merken konnte. Das war für diesen Menschen sehr dramatisch: Er konnte sich nicht merken, ob er gerade einkaufen gegangen ist. Wenn man kurz aus dem Raum rausging, in dem er sich befand, und dann wieder zurückkam, wusste er nicht mehr, dass er vor 20 Sekunden gerade noch mit einem gesprochen hatte. Da ging also sozusagen alles kaputt. Interessanterweise war es aber so, dass all die alten Dinge, die er sich vor dieser Operation gemerkt hatte, noch vorhanden waren, die neuen jedoch nicht mehr. Staubitz: Er hat sich also an seine Familiengeschichte erinnern können. Bonhoeffer: Er wusste z. B. noch alles ganz normal über seine Kindheit. Staubitz: Auch in motorischer Hinsicht war alles normal: Er konnte Fahrrad fahren usw., er konnte motorisch noch all das, was er vorher auch gekonnt hatte. Bonhoeffer: Ja. Aber hier gibt es doch einen interessanten Unterschied: Er konnte auch neue motorische Sachen lernen. Es gibt nämlich verschiedene Arten von Gedächtnis. Das eine Gedächtnis ist das eher prozedurale Gedächtnis, das wir für die Motorik brauchen. Dieser Mann konnte z. B. nach der Operation noch lernen, in Spiegelschrift zu schreiben. Denn das ist halt eine weitgehend motorische Fähigkeit. Aber er konnte sich keine neuen Gesichter merken, keine neuen Telefonnummern, keine neuen Vokabeln in irgendeiner Fremdsprache wie meinetwegen Latein. Staubitz: Gut, Latein braucht man vielleicht nicht unbedingt, aber andere Sachen wären doch ganz praktisch, wenn man sich die merken könnte. Bonhoeffer: Genau. Alles, was man klassischerweise mit Lernen verbindet, konnte er nicht mehr: Er konnte sich nicht mehr hinsetzen und neue Dinge, Fakten, Sachen büffeln, also lernen. Das ging einfach nicht mehr bei ihm. Für diesen Mann war das Leben wirklich zerstört und er konnte auch nicht mehr alleine leben. Wie sind wir auf ihn gekommen? Über Ihre Frage, warum mich das Gedächtnis so fasziniert: Das Gedächtnis ist etwas, was nicht nur für uns als Individuen ganz, ganz fundamental ist, sondern das ist auch für die Gesellschaft absolut fundamental. Wenn der einzelne Mensch sich nichts merken könnte, dann könnte sich auch die Gesellschaft nichts merken, denn dann gäbe es keine Kultur. Staubitz: Dafür gibt es heute die Cloud: Da können wir alle möglichen Informationen hineingeben und sie dort abspeichern. Bonhoeffer: Ja, aber selbst dann muss man wissen, dass diese Informationen dort sind und welche Informationen dort sind. Das ist immer das Problem dabei. So ganz ohne das Speichern im eigenen Gehirn geht es halt da auch nicht. Staubitz: Ich habe in diesem Zusammenhang jetzt noch zwei Fragen, die mir quasi unter den Nägeln brennen. Sie haben davon gesprochen, dass es verschiedene Arten von Gedächtnis gibt: ein Gedächtnis für das motorische Lernen, ein kontextabhängiges Gedächtnis und eines, das für das Erlernen von Vokabeln und solche Dinge notwendig ist. Bonhoeffer: Also, das ist kompliziert. Staubitz: Logisch ist das kompliziert. Bonhoeffer: Es gibt da erstens mal das sogenannte deklarative Gedächtnis. Das brauchen wir zum Erlernen von Vokabeln, Telefonnummern, Gesichtern, Ereignissen usw. Deklaratives Gedächtnis heißt es, weil man diese gelernten Dinge irgendwie beschreiben kann. Es gibt darüber hinaus aber auch noch das prozedurale Gedächtnis, bei dem man Prozeduren lernt. Das kann z. B. das Erlernen von Spiegelschrift sein, das kann das Fahrradfahren, das Skifahren usw. sein. Das sind zwei Gedächtnisformen – auch das hat man übrigens durch diesen Patienten zum ersten Mal so richtig kapiert –, die wirklich völlig verschieden sind. Das deklarative Gedächtnis war bei diesem Mann sozusagen kaputt. Staubitz: Und diese beiden Gedächtnisse befinden sich auch in unterschiedlichen Hirnarealen? Bonhoeffer: Die sind in unterschiedlichen Gehirnarealen: Das war nämlich genau die Folgerung, die man aus diesem Patienten H.M. ziehen konnte. Staubitz: Der arme Kerl. Aber wenigstens hat man durch ihn etwas gelernt. Bonhoeffer: Genau. Das andere Gedächtnis hat bei ihm noch funktioniert, wobei man aber sagen muss, dass einem das am Ende nicht so fürchterlich viel bringt. Wenn er nicht mehr hätte Fahrrad fahren lernen können, wäre das nicht so schlimm gewesen, wie dass er sich einfach all die Ereignisse, die um ihn herum passiert sind, nicht mehr merken konnte. Staubitz: Das heißt, in der Forschung ist man mittlerweile so weit, zu wissen, in welchen verschiedenen Gehirnbereichen das Lernen und das Gedächtnis stattfinden. Bonhoeffer: Genau. Es ist wie immer in der Forschung: Man versteht zwar bei Weitem noch nicht alles, aber man hat gerade mit Bezug auf diese Frage eine relativ gute Idee. Ich hatte ja vorhin den Hippocampus schon genannt: Er sitzt beidseitig ganz tief im Gehirn drin und er stellt eine ganz wichtige Struktur dafür dar. Es gibt noch ein paar andere Strukturen, die diesbezüglich wichtig sind, und dann gibt es noch die gesamte Großhirnrinde, die allerdings bis heute noch recht wenig verstanden ist: Das ist diese zwei Millimeter dicke graue und gefaltete Substanz, die sozusagen das Hirn umschließt. Darin wird vermutlich auch sehr viel gespeichert und wahrscheinlich kommt das alles vom Hippocampus in die Großhirnrinde. Sie ist also ebenfalls sehr wichtig bei diesem Prozess. Aber es sind auch noch andere Gehirnteile mit beteiligt, z. B. diejenigen für das emotionale Gedächtnis usw. Staubitz: Welche Verfahren es da gibt, um das alles herauszufinden, darauf können wir später vielleicht noch zu sprechen kommen. So weit ich es als Laie beurteilen kann, haben Sie neben vielen anderen Entdeckungen, die Sie schon gemacht haben, eine ganz spannende Entdeckung gemacht: Sie hängt mit der Frage zusammen, was mit einer Nervenzelle passiert, wenn sie etwas "lernt". Könnten Sie uns Laien erklären, wie das funktioniert? Bonhoeffer: Ich werde es versuchen. Wenn etwas gespeichert werden soll – wo auch immer, d. h. das muss jetzt nicht im Gehirn sein –, dann muss sich irgendwas verändern. Wenn man im Computer etwas speichert, dann muss man dazu z. B. die Magnetisierung auf der Festplatte ändern. Wenn man auf einem Blatt Papier etwas speichern will, indem man etwas aufschreibt, bleiben Tintenpartikel auf dem Papier. Irgend etwas muss also geändert werden, damit das nachher wieder ausgelesen werden kann. Die Frage lautet daher: Was wird im Gehirn geändert, damit etwas nachher wieder ausgelesen werden kann? Was da geändert wird, haben wir eben zuerst mit gezeigt. Gut, das war wie immer, das war eine Gruppe von Leuten … Staubitz: Sie dürfen zwischendurch ruhig mal ein bisschen angeben. Bonhoeffer: Wie auch immer. Wir waren jedenfalls als Erste mit dabei, zu zeigen, dass sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen, tatsächlich ändern. Sie ändern sich aber nicht nur funktionell, indem sie ein bisschen stärker oder ein bisschen schwächer werden, ohne, dass man das sehen könnte. Nein, sie machen wirklich kleine Auswüchse: Diese sind allerdings wirklich sehr klein, denn das spielt sich auf der Ebene von eintausendstel Millimeter ab. Sie machen so eine Art von kleinen Knöpfchen, um sich mit einer anderen Nervenzelle zu verbinden. Genau das konnten wir sehen mit unseren modernen Techniken, auf die ich jetzt aber nicht näher eingehen muss. Wir konnten jedenfalls ins Gehirn hineinschauen mit diesen beiden Photonenmikroskopen und konnten wirklich sehen, wie solche Veränderungen passieren beim Lernen. Das erzähle ich immer wieder gerne, denn das war für mich wirklich so ein Heureka-Moment. Es ist ja schon lange postuliert worden, dass es eigentlich so sein müsste, d. h. es haben viele Leute gedacht, dass es wahrscheinlich so ist. Aber keiner konnte das wirklich beweisen. Wir haben dieses damals sehr, sehr moderne Mikroskop genommen und konnten dabei zum ersten Mal mit der nötigen Auflösung, also Feinheit, in das Gehirngewebe schauen. Und plötzlich passiert das vor einem! Da passiert etwas, was sozusagen die Grundlage jeder Informationsspeicherung im Gehirn ist. Das war schon ein toller Moment. Wir haben ja vorhin von Gefühlen gesprochen … Staubitz: Sind Sie denn so ein Ekstase-Typ? Können Sie in so einem Moment in die Luft springen? Wie äußert sich Ihre Freude, Ihr Enthusiasmus bei so einer wahnsinnig wichtigen Entdeckung? Bonhoeffer: In die Luft springen würde ich nicht, weil sonst das ganze Experiment hinüber wäre, denn wir arbeiten da ja mit ganz feinen Elektroden usw. Staubitz: Das heißt, Sie müssen Ihre Ekstase nach innen verlagern. Bonhoeffer: Es war schon so, dass wir uns in diesem Moment abgeklatscht haben usw. Da entstand in uns wirklich das wahnsinnig tolle Gefühl, jetzt etwas gesehen zu haben, wonach alle gesucht haben, ohne es gefunden zu haben. Uns war klar, dass das wirklich etwas ganz, ganz Wichtiges ist. Das war schon ein sehr emotionaler Moment. Staubitz: Sie haben nicht nur emotionale Momente, sondern tolle Erkenntnisse in einem Buch mit herausgegeben. Sie schreiben darin natürlich auch mit einem Kollegen zusammen über Ihr eigenes Themenfeld. Mich würde jetzt interessieren – ich stelle diese Frage natürlich mit einem gewissen Hintergedanken –, für welche Zielgruppe Sie sich dieses Buch eigentlich vorgestellt hatten? Bonhoeffer: Da bin ich mal gespannt, was der Hintergedanke dabei ist. Mein Mitherausgeber war Peter Gruss, er war damals der Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft. Ich erinnere mich gar nicht mehr, ob er mich oder ich ihn angesprochen habe, auf jeden Fall war es so, dass wir ein Buch machen wollten, weil in den letzten 10, 15 Jahren immer klarer geworden ist, dass die Hirnforschung eines der spannendsten Forschungsgebiete ist. Das ist wirklich das, was man auf Englisch "last frontier" nennt: Da geht es um die letzten noch vorhandenen Grenzgebiete, über die man erstaunlich wenig weiß, obwohl uns diese Dinge unmittelbar betreffen. Wir haben also gesagt: "Gut, geben wir mal ein Buch mit meinetwegen 15, 17 Kapiteln heraus, in dem ausschließlich Fachleute über ihr eigenes Gebiet schreiben." Selbstverständlich haben wir versucht, diese Fachleute anzuhalten, so zu schreiben, dass dieses Buch viele Menschen lesen können; vielleicht verstehen sie nicht jeden Artikel, aber zum Großteil sollen sie es schon verstehen können. Ich hoffe natürlich, dass das im Großen und Ganzen gelungen ist. Man darf aber nicht vergessen, dass es für Wissenschaftler häufig schon sehr schwierig ist, das eigene Fachchinesisch abzulegen und wirklich so zu schreiben, dass der Text auch für interessierte Laien verständlich ist und die wichtigsten Sachen rüberkommen. Staubitz: Ich kann nur sagen, dass Ihnen das weitestgehend gelungen ist: Ihr Kapitel habe ich mit großem Genuss gelesen. Bei manchen anderen Kapiteln war ich doch ein wenig überfordert, wie ich zugeben muss: Da kommt einem schon ein sehr spezifischer Fachjargon entgegen. Ich kann Ihnen ja mal einen kleinen Auszug davon vortragen, und diese Stelle war in diesem Kapitel noch mit die harmloseste: "Eine mechanische Frequenzzerlegung des Schalls führt unter aktiver Verstärkung durch die äußeren Haarsinneszellen der Basilarmembran zur Depolarisierung der inneren Haarsinneszellen, die durch graduell sich verändernde Transmitterausschüttung den Hörnerv aktivieren." Und in diesem Satz findet sich noch nicht einmal Formel! (lacht) Bonhoeffer: Also, die gute Nachricht ist: Zumindest ich verstehe, was damit gemeint ist. Aber Sie haben schon recht, das mit der Verständlichkeit ist einfach in manchen Kapiteln besser und in manchen schlechter gelungen. Das liegt einfach in der Natur so eines Buches, bei dem man am Ende doch nur der Herausgeber ist. Andernfalls hätte ich dieses Buch alleine schreiben müssen, was ich aber vermutlich nicht gemacht und geschafft hätte. Aber letztlich wollten wir doch viele Menschen damit erreichen. Sie haben gesagt, dass Sie an manchen Stellen überfordert gewesen seien: Nun, fordern wollten wir die Leserinnen und Leser schon. Vielleicht sind bestimmte Stellen für Sie in der Tat mehr als schwierig, während sie meinetwegen für einen Biologielehrer doch gut verständlich sind. Es ist bei solchen Büchern eben immer schwierig, das gesamte Spektrum gut abzudecken. Vielleicht haben wir es geschafft, vielleicht haben wir es auch nicht geschafft. Aber wir haben uns immerhin bemüht. Staubitz: Nachdem ich dieses Buch gelesen und zumindest z. T. verstanden habe, habe ich mir gedacht, dass damit ganz schön viele neue Impulse auf mein Gehirn eingeströmt sind. Das heißt, da sind viele neue Verbindungen geschaffen worden – dafür war dieses Buch auf alle Fälle gut. Ich habe jedenfalls verstanden, dass unser Gehirn sozusagen eine Umbaumaschine ist. Es gibt im Gehirn immer eine Reaktion auf äußere Reize und selbst unser Gespräch hier verändert unser Gehirn bereits – wenn auch nur in einem kleinen Bereich. Bonhoeffer: Und bei den Zuschauern ist es hoffentlich genauso. Staubitz: Wir können nur hoffen, dass sich am Ende unseres Gesprächs, also nach knapp 45 Minuten, doch ein paar neue Synapsen miteinander verbunden haben. Bonhoeffer: Da bin ich mir fast sicher: Irgendwas wird sich definitiv geändert haben – selbst dann, wenn sich die Zuschauer nicht irgendetwas Spezifisches gemerkt haben, haben sie sich vielleicht doch Ihr Gesicht oder meines gemerkt oder irgendetwas anderes. Denn irgendetwas bleibt ganz sicher hängen. Es ist so, wie Sie das vorhin gesagt haben: Es gibt ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen und es gibt ungefähr noch 10000-mal mehr Verbindungen. Irgendwelche Dinge haben sich innerhalb dieser 45 Minuten also ganz sicher verändert. Aber es ist schon so, wie Sie das gesagt haben: Das Gehirn ist eine gigantische Umbaumaschine, vor allem in der Kindheit und in der Jugend, wie wir alle wissen, denn in dieser Zeit ist unser Gehirn noch viel plastischer: Da wird unglaublich viel umgebaut bzw. zuerst einmal aufgebaut. Ein Baby kommt ja sozusagen relativ unfertig auf die Welt, was das Gehirn betrifft. Natürlich sind die groben Verbindungsstränge bereits gelegt, aber dass ein Baby die Sprache und das Gehen erst noch lernen muss, ist uns allen klar. Dass ein Baby erst noch Sehen lernen und Hören lernen muss, ist vielleicht nicht allen klar. Das heißt, unser Gehirn ist, wenn wir auf die Welt kommen, nur groß verschaltet. Die ganze Feinabstimmung im Gehirn geschieht dadurch, dass aus der Umwelt Informationen auf uns einprasseln – seien es über das Sehen visuelle Informationen oder über das Hören Hörinformationen usw. – und dann im Gehirn das Nervensystem entsprechend aufgebaut wird. Da werden zuerst einmal neue Verbindungen, also Synapsen hergestellt und es werden zweitens auch ganz viele Sachen abgebaut, denn das gehört genauso dazu. Das heißt, das Gehirn wird quasi geschärft: Manche Dinge werden verstärkt, während andere abgeschwächt oder ganz abgebaut werden. Das Ganze stimmt natürlich auch noch für uns Erwachsene, wenn auch in geringerem Maße: Auch bei uns Erwachsenen wird noch ganz schön umgebaut im Gehirn. Staubitz: Das stimmt mich ja wieder ein bisschen hoffnungsfroh, denn das heißt, dass man auch mit zunehmendem Alter noch was lernen kann. Ich kann mir noch eine neue Fremdsprache aneignen, ich kann noch Motorradfahren lernen usw. Bonhoeffer: Ja, absolut. Staubitz: Da ist also noch kein Ende der Fahnenstange erreicht. Bonhoeffer: Genau, und das wissen wir auch alle. Wir wissen aber auch alle, dass das nicht mehr ganz so leicht geht wie bei den Kindern. Ich habe Kinder, die jetzt 12 und 13 Jahre alt sind, d. h. sie sind bereits über die plastischste Phase hinaus. Aber wenn ich sehe, wie sie sich die Lateinvokabeln hineinprügeln können, dann muss ich zugeben, dass ich das so nicht mehr machen könnte. Das jugendliche Gehirn ist einfach noch viel, viel umbau- und lernfähiger. Aber das ist biologisch relativ einfach zu erklären: In diesem Lebensalter ist einfach alles noch plastischer in unserem Gehirn und kann leichter umgebaut werden. Bei uns Erwachsenen geht das nicht mehr so leicht. Aber man kann selbstverständlich auch als Erwachsener noch Neues lernen – sonst wäre das Leben ja schrecklich. Staubitz: Darf ich mal eine ganz einfache Frage stellen? Ist Gedächtnis und Erinnerung eigentlich das Gleiche? Ich habe nachgelesen, dass die Erinnerung eine ziemlich fragile Geschichte ist: Wir legen uns da nämlich oft Sachen auch ganz schön zurecht, um unser Selbstbild aufrechterhalten zu können. Sind also Gedächtnis und Erinnerung das Gleiche? Bonhoeffer: Natürlich kann man das psychologisch auch auseinandernehmen, aber ich würde ansonsten schon sagen, dass das sozusagen das gleiche biologische Phänomen ist: Da werden im Gehirn bestimmte Veränderungen gemacht, die dann später wieder ausgelesen werden. Oder man versucht zumindest, diese Dinge wieder auszulesen, denn das gelingt eben nicht immer. Denken Sie nur daran, wie oft wir sagen: "Sein Name liegt mir auf der Zunge! Wie hieß er noch mal? Wie hieß er nur? Gleich kommt's mir!" Das heißt, da ist im Gehirn ganz sicher noch etwas gespeichert, denn sonst könnten wir z. B. so einen Namen später ja nicht "ausspucken". Aber das Wiederauslesen funktioniert in diesem Moment einfach nicht oder nicht so gut. Ob man das aber Gedächtnis oder Erinnerung nennt, ist eher ein semantisches Problem. Staubitz: Es macht ja einen Unterschied, ob ich plötzlich aus der "hintersten Schublade" meines Gehirns eine längst vergessene Lateinvokabel hervorziehen kann oder ob ich mich an Erlebtes erinnere. Denn in der Erinnerung meint man ja, dieser Vorgang hätte genau so, wie man ihn erinnert, stattgefunden. Aber wir Menschen sind in der Auslegung dessen offenbar ziemlich kreativ. Wenn sich zwei Menschen nach zehn Jahren über das gleiche Erlebnis unterhalten, dann haben sie das in der Regel jeweils völlig anders in Erinnerung. Bonhoeffer: Genau, das liegt einfach daran, dass man das anfangs zwar gleich erlebt hat – es kann aber auch sein, dass man auch das schon verschieden erlebt hat –, dieses Erlebte im Laufe der Jahre aber immer wieder herausholt aus dem Gedächtnis. Man erinnert sich daran, erzählt es vielleicht jemanden und dabei nimmt das Ganze eventuell andere Formen an. Es ist ja z. B. bei der Polizeiarbeit gut bekannt, dass Zeugenaussagen mit sehr, sehr viel Vorsicht zu genießen sind – und zwar nicht deswegen, weil die Zeugen bestimmte Dinge mit Absicht falsch darstellen würden, sondern weil man sich einfach an andere Sachen und teilweise auch an falsche Sachen erinnert. Dazu kann sicherlich jeder ein Beispiel aus dem eigenen Leben anführen, weil jeder schon erfahren hat, dass man bestimmte Dinge anders erlebt hat als andere, die mit dabei waren. Selbst Menschen, die einem sehr vertraut sind, haben solche Dinge womöglich ganz anders in Erinnerung. Was bei uns eingespeichert ist, bleibt nicht so, wie es einmal eingespeichert worden ist, wenn man es immer wieder mal herausholt und darüber spricht. Es wird erzählt und es werden meinetwegen Verbindungen zu anderen Erlebnissen hergestellt usw. Am Ende übrig bleibt dieses ursprüngliche Ereignis sozusagen nur im Licht und unter dem Einfluss des immer wieder Hervorholens und Erzählens bestehen: Die Erinnerung, die man aktuell hat, stimmt daher nur teilweise mit dem überein, wie es wirklich gewesen ist. Staubitz: Das macht ja auch eine gute Anekdote aus: Sie wird im Laufe der Jahre immer toller. Bonhoeffer: Genau, sie wird dann immer noch übertriebener. Staubitz: Warum sind diese Fähigkeiten bei uns Menschen eigentlich so ungleich verteilt? Der eine kann sehr, sehr gut Vokabeln lernen, der andere kann sich Namen toll merken und wieder andere haben andere Fähigkeiten. Warum funktionieren also unsere Gehirne so unterschiedlich? Hat das am Ende auch mit der Intelligenz zu tun? Bonhoeffer: Ja, am Ende hat das mit der Intelligenz zu tun, aber es ist natürlich so, dass das Gehirn nur ein Organ ist wie andere Organe auch. Sie könnten mich ja z. B. auch fragen, warum Usain Bolt so viel schneller laufen kann als irgendjemand anders. Staubitz: Nun, in der Leichtathletik wollen wir vielleicht gar nicht so genau wissen, warum jemand so schnell laufen kann. Bonhoeffer: Gut, das kommt noch dazu, d. h. das Beispiel war vielleicht nicht ganz so geglückt. Aber es ist einfach so, dass die Menschen verschieden sind: Die einen sind halt besonders sportlich begabt, andere sind besonders musisch begabt und wieder andere können sich besonders viel merken. Und unsere Körper sind eben auch alle verschieden – und das Gehirn ist nun einmal auch ein Körperteil und daher ebenfalls verschieden. Auch innerhalb des Gehirns ist es so, dass es Unterschiede gibt: Der eine ist halt eher musisch begabt, während sich der andere vielleicht Zahlen besser merken kann, und manche können womöglich beides. Ich finde es jedenfalls nicht erstaunlich, dass das verschieden ist. Ich fände es eher erstaunlich, wenn das bei allen gleich wäre, denn die Menschen sind nun einmal verschieden: im Hinblick auf ihr Aussehen, auf ihre Muskeln, auf ihrer Körpergröße usw. Und das Gehirn ist eben auch verschieden von Mensch zu Mensch. Staubitz: Es wird ja auch immer behauptet, das männliche und das weibliche Gehirn würden komplett unterschiedlich funktionieren. Es gibt aber wohl massive wissenschaftliche Zweifel daran, ob das wirklich so große Unterschiede sind. Bonhoeffer: Das ist natürlich eine sehr aufgeladene Fragestellung und deswegen muss man da schon sehr vorsichtig sein, damit man nichts Falsches sagt. Aber ich glaube, es kommt hier wirklich darauf an, wie man das sieht, ob man also sagt, die Gehirne von Mann und Frau sind verschieden, oder ob man sagt, sie sind gleich. Das ist das gleiche Problem wie bei einem halb eingeschenkten Wasserglas: Für den einen ist es halb voll, für den anderen halb leer. Es ist ja völlig klar, dass sich die Gehirne wie auch die anderen Organe unserer Körper unterscheiden. Es wäre daher äußerst erstaunlich, wenn das männliche und das weibliche Gehirn völlig gleich wären. Aber das allermeiste ist doch gleich und die Fähigkeiten sind im Wesentlichen gleich. Es gibt natürlich schon auch Ausschläge in die eine und in die andere Richtung. Die Frage ist also, ob man auf das Verschiedene abhebt oder auf das Gleiche. Denn es gibt ja in der Tat einzelne Sachen, bei denen Frauen besser sind als Männer und umgekehrt. Im Großen und Ganzen sind wir diesbezüglich aber gleich. Es wäre jedoch unbiologisch, wollte man sagen, die Gehirne von Männern und Frauen wären völlig gleich. Denn ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein kann, dass die Gehirne absolut identisch sind, wenn doch alle anderen Organe unterschiedlich sind zwischen Männern und Frauen. Staubitz: Um Ihr Buch auch mal als Genuss hervorzuheben: Was ich sehr spannend fand, ist, dass für uns Menschen auch das Vergessen so wahnsinnig wichtig ist. Warum ist es für uns Menschen so essenziell, dass wir aussortieren und vergessen können? Bonhoeffer: Obwohl das Gehirn natürlich ganz anders funktioniert als ein Computer, hat es doch ein ähnliches Problem. Wenn irgendwann die Festplatte voll ist, wenn also irgendwann das Gehirn voll ist, dann können wir gar nichts mehr zusätzlich speichern und können auch vor allem das Wichtige und das Unwichtige nicht sortieren. Es ist also schon sehr, sehr wichtig, dass Sachen, die nicht mehr gebraucht werden, irgendwann auch rauskommen aus dem Gehirn, damit wieder Freiraum geschaffen werden kann für neue Sachen. Das ist wirklich wichtig. Es gibt nämlich Menschen, die das Problem haben, dass sie sich unglaublich gut Sachen merken können, dass das aber richtiggehend zu einem Nachteil für sie wird, weil sie eben nicht mehr sortieren können, was wichtig und was unwichtig ist. Sie haben einfach diesen Wust von Informationen in ihrem Gehirn abgespeichert und wissen dann eben nicht mehr, was das Entscheidende ist und was nicht. Staubitz: Insofern kann das Vergessen auch mal ein Segen sein. Bonhoeffer: Absolut, man muss halt einfach Freiraum schaffen für etwas Neues. Aber man darf natürlich nur Sachen vergessen, die nicht mehr wichtig sind oder werden können. Wenn man den Menschen mal unter evolutionären Gesichtspunkten betrachtet, dann sieht das so aus: Diejenigen Sachen, die sehr wichtig sind, bleiben ein Leben lang erhalten. Alles, was mit einem Schreck oder einem großen Glücksgefühl assoziiert ist, ist eingebrannt für immer, das vergisst man nie mehr. Wenn man mal fast von einem Löwen gefressen wurde, dann muss man sich dringend merken, unter welchen Umständen das passiert ist, damit man genau diese Umstände künftig vermeidet. Bei großen Glücksgefühlen war es und ist es genauso: Man versucht, diese immer wieder herzustellen. Deswegen spielen starke emotionale Umstände eine wesentliche Rolle dabei, ob man etwas vergisst oder nicht und wie fest etwas im Gehirn verankert ist. Staubitz: Je mehr Gefühl also mit einer bestimmten Situation verbunden ist, umso größer und stärker ist die Verankerung dieser Situation im Gedächtnis. Bonhoeffer: Ja, wenn z. B. massiv Adrenalin ausgestoßen wird bei einem Erlebnis – das gilt aber für andere Botenstoffe genauso – dann wird dieses Erlebnis wirklich fest in unserem Gedächtnis verankert, und zwar ein Leben lang. Jeder von uns weiß z. B., wo er an jenem 11. September 2001 gewesen ist, weil dieses Ereignis eine unglaublich starke emotionale Komponente hatte. Ich kann mich z. B. genau daran erinnern, was ich gemacht habe und wo ich war, als die Berliner Mauer gefallen ist: Ich war da gerade in den USA und ich weiß noch genau, wo ich stand und wer mir das gesagt hat usw. Das hat einfach mit dieser starken emotionalen Komponente zu tun. Staubitz: Ich muss jetzt auch mal ein bisschen angeben: Ich habe nämlich ein neues Wort gelernt, das Wort "Extinktionslernen". Bedeutet das noch ein bisschen mehr als "vergessen"? Gelernt habe ich jedenfalls, dass das eine schwere Sache ist, das ist gar nicht so einfach. Bonhoeffer: Es gibt eben genau dieses Lernen mit einer starken emotionalen Komponente. Genau das kann aber auch zu einem Problem werden: Wenn jemand z. B. einen Verkehrsunfall erlebt hat, dann kommt ihm die Erinnerung daran immer wieder … Staubitz: Das ist dann so etwas wie ein Trauma. Bonhoeffer: Genau, da gibt es dann dieses bekannte posttraumatische Stresssyndrom. Wenn so etwas passiert, gibt es eben Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, so etwas zu "entlernen", damit dieses schlimme Erlebnis nicht mehr dauernd von sich aus wiederkommt, damit man nicht jede Nacht davon träumt usw. Aber ganz wird man die Erinnerung daran natürlich nicht wegbekommen, was ja auch nicht unbedingt notwendig ist. Das ist jedenfalls eine Form von Extinktionslernen und es ist von der Psychologie her sehr wichtig, besser zu verstehen, wie so etwas funktioniert, damit man den Menschen, die unter solchen Sachen leiden, besser helfen kann. Staubitz: Für mich als Mutter ganz interessant ist im Hinblick auf das Verlernen auch Folgendes. Es ist wohl herausgefunden worden, dass es ein pädagogischer Irrweg sei, die Kinder das Schreiben zuerst einmal rein nach Gehör lernen zu lassen. Diese Lernform sagt ja, dass die Kinder die Wörter ruhig zuerst einmal ein Jahr lang falsch schreiben dürfen, weil sie dann in der zweiten Klasse schon noch lernen, dass man "und" nicht mit "t" schreibt usw. Aber man hat jetzt herausgefunden, dass das Vergessen der Falschschreibung dann noch einmal ein ganz neuer Lernvorgang ist. Bonhoeffer: Ich muss sagen, dass Sie mich da auf dem linken Fuß erwischen, denn ich bin kein Pädagoge, sodass ich das jetzt beurteilen könnte … Staubitz: Sie wollen sich da also nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Bonhoeffer: An sich würde ich mich da schon gerne aus dem Fenster lehnen und wäre gerne bei Ihnen diesbezüglich, denn ich habe ja auch selbst Kinder. Mein Gefühl sagt mir, dass die Kinder wesentlich besser bedient sind, wenn sie das gleich lernen. Aber wie gesagt, ich bin kein Pädagoge und kann das eben nicht fundiert beantworten. Da kann ich nur von meinem Gefühl als Vater sprechen. Staubitz: Aber wir können ja durchaus ein wenig in diesem Bereich des Lernens bleiben. Sie erforschen ja auch solche Dinge wie virtuelles Lernen, also Lernen über das Internet. Das ist ja etwas, was mittlerweile sehr, sehr häufig stattfindet. Funktioniert das denn genauso gut wie in einer normalen Präsenzsituation mit dem Lehrer vor der Klasse usw.? Sind Sie hier schon zu Ergebnissen gekommen? Bonhoeffer: Es wäre schön, wenn wir das bereits wüssten, aber das ist nicht so – noch nicht. Auf jeden Fall ist das eine der Fragen, die mich im Moment sehr stark interessieren. Das ist ein Forschungszweig, den wir ehrlich gesagt gerade erst aufbauen: Uns interessieren hier die sozialen Aspekte des Lernens. Eine Frage lautet da z. B., ob wir vom Fernsehen oder vom Computer genauso gut lernen können wie von Angesicht zu Angesicht. Eine Frage ist aber auch: Lernt ein Kind von seinem Vater oder von seiner Mutter besser als vom Lehrer, weil bei den Eltern die emotionale Bindung höher ist? Oder lernt es genau aus diesem Grund womöglich sogar schlechter? All das ist natürlich auch schon psychologisch untersucht worden, aber ich würde das gerne auch biologisch verstehen. Ich hoffe daher, dass wir, wenn wir das biologisch besser verstehen, dann wesentlich besser dran sind und den Pädagogen auch besser helfen können. Wir können dann ja womöglich auch Fragen beantworten wie: Soll die Schule besser um acht oder um zehn Uhr morgens anfangen? Staubitz: Unbedingt erst um zehn Uhr! Bonhoeffer: Ich sehe das ja auch so. Aber vielleicht findet man heraus, dass besser der komplette Vormittag frei sein und die Schule erst am Nachmittag stattfinden sollte, weil man da dann besser lernen kann? Das sind aus meiner Sicht ganz, ganz interessante Fragen. Es gibt natürlich Studien dazu, aber nicht in der Tiefe, wie ich sie mir wünschen würde, sodass man wirklich mal biologisch versteht, wie z. B. Lernen und Schlafen miteinander interagieren. Da gibt es nun erste Anfänge, das herauszufinden, aber das ist alles noch relativ wenig. Wie ist das Lernen in einer virtuellen Umgebung? Schlechter oder womöglich sogar besser, denn auch das könnte ja der Fall sein? Braucht man für das Lernen noch einen auditorischen Reiz, also einen Hörstimulus oder sind z. B. Gerüche wichtig? Was bestimmt das Lernen alles? Das ist wirklich ein ganz weites und offenes Gebiet, das ich unglaublich interessant finde. Staubitz: Ich z. B. bilde mir ein, dass ich mich besser konzentrieren kann, wenn so ein leichter Zitrusduft in der Luft um mich herum ist. Aber ich denke, das muss wohl jeder für sich herausfinden. Bonhoeffer: Das habe ich bei mir selbst noch nie beobachtet, aber solche Sachen finde ich natürlich äußerst interessant. Diese Sachen rund ums Lernen sind deshalb so interessant, weil sie z. B. etwas über die Interaktion mit der Gesellschaft aussagen: Lernen und Gesellschaft sind natürlich ganz eng miteinander verwoben. Staubitz: Sie haben im Vorgespräch den mir bis dahin völlig unbekannten Begriff "translationale Forschung" gebraucht: Heißt das, dass man bei Ihrer Forschung zu Ergebnissen kommt, die im Transfer für die gesamte Gesellschaft wichtig sein können? Bonhoeffer: Genau. Das ist etwas, was ich nicht müde werde zu betonen: Translationale Forschung ist ein ganz wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang. Normalerweise ist es ja so, dass die Öffentlichkeit wünscht – und die Öffentlichkeit bzw. die Gesellschaft bezahlt ja auch unsere Forschung –, dass wir Hirnforscher hauptsächlich Krankheiten heilen, also Parkinson, Alzheimer, Autismus, Depression, Schizophrenie usw. Staubitz: Da muss ich aber dennoch kurz mal dazwischenfragen: Besteht denn die Hoffnung, dass die eine oder andere Erkenntnis, die Sie gewinnen, tatsächlich helfen könnte bei diesen Krankheiten? Bonhoeffer: Da bin ich mir absolut sicher. Wann das der Fall sein wird, kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Denn aus meiner Sicht ist es so, dass man das Gehirn bzw. Teile des Gehirns zuerst einmal verstehen muss, bevor man sozusagen an die Fehlfunktionen herangehen kann. Um aber zur translationalen Forschung zurückzukommen: Sie wird fast immer so verstanden, dass die Ergebnisse der Grundlagenforschung translatiert werden, also übertragen werden in die Medizin, in Fragen der Gesundheit. Aber es gibt aus meiner Sicht eben noch eine weitere Form der translationalen Forschung: Das ist diejenige, über die wir vorhin gesprochen haben, nämlich die Forschung, die in die Gesellschaft hinein Auswirkungen hat. Das Lernen verstehen zu wollen, um später einmal die Schulen besser machen zu können, ist ganz klar tanslationale Forschung. Dieser Begriff wird zwar normalerweise nicht so verstanden, aber das ist für unsere Gesellschaft ganz, ganz wichtig – genauso wie auch die Gesundheit ganz wichtig für unsere Gesellschaft ist. Ich will nicht sagen, dass das eine besser oder schlechter ist, sondern ich glaube lediglich, dass das Verstehen des normalen Gehirns einen ungeheuer großen Nutzen für unsere Gesellschaft bedeuten kann. Diese Ansicht ist jedoch unterrepräsentiert und ich würde gerne dabei helfen, das zu ändern. Staubitz: Ich stelle fest, dass wir beide wohl ganz schön schnell sprechen, weil wir in diesen 45 Minuten einfach so viele verschiedene Dinge unterbringen wollen. Ich empfinde diese Forschung jedenfalls als ungeheuer spannend und ich kann nur hoffen, dass unsere Zuschauer noch vor den Geräten sitzen und uns gut folgen können. Mir macht es jedenfalls große Freude, darüber mit Ihnen zu sprechen. Darf ich eine fast schon private Frage an Sie richten? Sie haben in verschiedenen Interviews immer mal wieder erwähnt, dass es Ihnen ein großes Anliegen ist, nicht nur ein guter Forscher zu sein, sondern auch ein anständiger Mensch. Was meinen Sie genau damit? Was bedeutet das für Sie? Bonhoeffer: Auch das ist eine schwierige Frage. Es ist jedenfalls richtig, dass ich darüber schon mehrmals gesprochen habe: Für mich ist das wichtig. Irgendwann kommt ja leider Gottes auch mal der Zeitpunkt, an dem man Revue passieren lässt, wie das eigene Leben denn eigentlich so gewesen ist: Was habe ich getan, was habe ich geleistet? Da ist es mir natürlich wichtig, dass ich als Forscher etwas geleistet habe, wenn ich das mal so formulieren darf, dass ich also einen Beitrag für die Gesellschaft geleistet habe. Ich möchte das jedoch nicht, und das ist der Punkt, den Sie ansprechen, um jeden Preis erreichen. Mir ist es wichtig, dass ich am Ende in den Spiegel schauen und sagen kann: "Ja, das war okay so." Das ist mir schon sehr, sehr wichtig und das ist auch das, was ich mit "ich möchte ein anständiger Mensch sein" gemeint habe. Am Ende ist das wirklich das Wichtigste für mich. Staubitz: Wir wollen heute in dieser Sendung ja nicht zu sehr psychologisieren, aber ich hatte bei der Vorbereitung auf diese Sendung diesbezüglich natürlich schon eine ganz bestimmte Assoziation im Hinblick auf Ihren Namen. Der Name Bonhoeffer steht ja nicht nur für mehrere Generationen von hervorragenden Wissenschaftlern, sondern auch für diesen sehr hartnäckigen und auch sehr opferreichen Widerstand gegen das NS-Regime. Kann es sein, dass man da auch so ein bisschen ein Erbe mitbekommt diesbezüglich, eine Haltung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird? Bonhoeffer: An ein Erbe, das über die Gene geht, glaube ich in diesem Zusammenhang eher nicht. Staubitz: Deswegen habe ich auch von Haltung gesprochen. Bonhoeffer: Genau, und Erbe kann ja auch vieles bedeuten. Es ist so, dass meine Eltern, dass insbesondere mein Vater, der halt diesen Namen "Bonhoeffer" trägt, immer versucht hat, das von uns Kindern etwas wegzuhalten: Er wollte nicht, dass wir uns irgendwie im Licht eines berühmten Namens sonnen. Insofern habe ich mich eigentlich erst später als Erwachsener damit etwas genauer beschäftigt. Nichtsdestotrotz ist es einfach so, dass Dietrich Bonhoeffer der Onkel meines Vaters gewesen ist. Mein Vater ist im Dritten Reich aufgewachsen und hat sicherlich über seinen Vater, also über den Bruder von Dietrich Bonhoeffer, viel davon mitbekommen. Er hat das dann auch ganz bestimmt in unsere Erziehung übertragen. In diesem Sinne gibt es schon eine Erbe, d. h. da gibt es etwas, das über die Generationen hinweg weitergetragen wird: Es ist wichtig, anständig zu sein. Das war natürlich damals im Dritten Reich viel, viel schwieriger als heute. Dass mir das deshalb so wichtig ist, ist schwierig zu sagen, ich kann jedenfalls nicht ausschließen, dass es mit meiner Familiengeschichte zu tun hat. Wenn ich versuche, in mich selbst hineinzuschauen, dann kann ich für mich selbst schon sagen, dass es für mich sehr, sehr wichtig ist, ein anständiger Mensch zu sein. Das ist für mich eine fundamentale und grundsätzliche Lebenseinstellung. Wie diese aber genau zustande kommt, weiß ich nicht. Vielleicht ist das einfach auch nur so in mir drin. Staubitz: Ich hatte ja am Anfang versprochen, dass wir auch noch über die Methoden sprechen werden. Es gibt wohl zwei Methoden, die heute auf dem Gebiet der Hirnforschung sehr wichtig sind. Da gibt es zum einen die Kernspinresonanztomografie: Dadurch kann man Gehirnareale genau beobachten, die aktiv sind, die sozusagen feuern, wenn man z. B. eine Entscheidung fällt oder man gerade Mitgefühl hat. Zweitens gibt es den Bereich, in dem Sie selbst viel machen, nämlich dass man mit genetischen Methoden sozusagen Farben … Da muss ich mich jetzt wirklich sehr kompliziert ausdrücken … Bonhoeffer: Ich werde Sie verbessern, wenn es falsch ist, aber bis jetzt war alles richtig. Staubitz: Ihre Methode sieht jedenfalls so aus, dass Sie im Gehirn von Mäusen sehen können, welche einzelnen Nervenzellen gerade aktiv sind, weil diese in Hunderten von verschiedenen fluoreszierenden Farben aufleuchten. Bonhoeffer: Normalerweise sind das nicht Hunderte von verschiedenen Farben, sondern das ist eine Farbe; meistens sieht das irgendwie grün aus. Aber ich würde zuerst einmal gerne auf die funktionelle Kernspintomografie zu sprechen kommen. Das ist so, wie Sie das gesagt haben – für genaue Details haben wir hier ohnehin nicht die Zeit. Man kann bei dieser Methode einen Menschen in so eine große Röhre schicken, wie man sie für den normalen Kernspin auch verwendet. Einige Zuschauer haben das ja vielleicht selbst schon erlebt. Staubitz: Vielleicht in anderen Zusammenhängen. Bonhoeffer: Genau, denn das wird für die Diagnostik verwendet. Bei uns ist es so, dass dem Menschen, der in dieser Röhre liegt, bestimmte Denkaufgaben gegeben werden oder es werden ihm meinetwegen auf einem Videomonitor bestimmte Szenen vorgespielt, die Mitgefühl erregen. Wir schauen dann, wo dabei jeweils mehr Aktivität im Gehirn stattfindet. Der große Vorteil ist, dass wir solche Dinge bei ganz normalen Menschen machen können. Der große Nachteil, jedenfalls aus unserer Sicht, ist halt, dass das Bild, das wir dabei bekommen, relativ grobkörnig ist. Das Kleinste, was man dabei sehen kann, ist ein Würfel von vielleicht ein Millimeter mal ein Millimeter mal ein Millimeter. Das mag einem Laien womöglich als sehr klein erscheinen, aber selbst in so einem kleinen Würfel befindet sich eben die schiere Menge von um die 10000 Nervenzellen. Uns interessieren eben feinere Strukturen: Wir wollen die einzelne Nervenzelle sehen und nicht eine Menge von einzelnen Nervenzellen. Wir wollen sehen, wie sie im Verbund zusammenarbeiten, wenn sie, wie wir das nennen, feuern, wenn sie also aktiv sind, wie dabei die eine Nervenzelle die andere beeinflusst, wie sich alle gegenseitig beeinflussen usw. Dafür kann man die Methode der genetischen Veränderungen nehmen. Da werden spezielle Farbstoffe in der Nervenzelle immer dann sichtbar, blitzen also auf, wenn die Nervenzelle feuert. Dadurch wiederum kann man mit den entsprechenden Mikroskopen sehen, wie die Maus denkt oder wie die Maus sich etwas merkt, wenn ich das mal sehr vereinfacht ausdrücken darf. Genau diese Technik benutzen wir, um wirklich ins Gehirn zu schauen und um uns dabei Verbindungen anzuschauen und zu sehen, wie diese sich ändern, wenn etwas gelernt wird. Staubitz: Es ist verblüffend, was da bereits alles möglich ist. Ich glaube, das Mäusegehirn konnte man schon sozusagen kartieren. Es gibt nun auch dieses Human Brain Project der Europäischen Kommission: Das ist recht ambitioniert, denn dabei möchte man eben auch das menschliche Gehirn bis ins letzte Detail hinein vermessen. Dazu möchte ich Ihren Kollegen Moritz Helmstaedter zitieren: "Das ist, als würde man sagen, 'ich will nun zum Mond und habe dafür auch schon mal eine Leiter an den Baum gelehnt'. Nur weil die Richtung stimmt, heißt das noch lange nicht, dass ich auch zum Mond komme." Ist es tatsächlich so vermessen, sich das vorzunehmen? Bonhoeffer: Da kommen wir ein bisschen in eine wissenschaftspolitische Diskussion hinein, die ich hier aber nicht zu sehr ausführen möchte. Staubitz: Die Kürze der Sendezeit lässt das leider nicht zu. Bonhoeffer: Es gibt verschiedene Brain Projects, also Gehirnprojekte, in den USA, in Europa, in China, in Japan und in ein paar anderen Ländern. Gerade das europäische Gehirnprojekt "Human Brain Project" hat relativ viel Kritik einstecken müssen, weil da doch relativ viele Vereinfachungen vorgenommen wurden. Und Leute wie Moritz Helmstaedter, den ich gut kenne, meinen, dass das einfach zu simpel gestrickt ist und wir das so am Ende nicht schaffen werden. Ich glaube, was Moritz am meisten fürchtet – und ich persönlich auch, wie ich sagen muss –, ist, dass durch dieses Projekt, das letztlich eine Milliarde Euro kostet … Staubitz: Oh Gott! Bonhoeffer: Genau. Um dieses Geld zu bekommen, wurden bereits relativ große Versprechen gemacht. Meine Befürchtung ist einfach, dass diese Versprechen am Ende nicht eingehalten werden können. Die Wissenschaftler – in erster Linie natürlich diejenigen von diesem Human Brain Project, aber darüber hinaus auch wir alle als Neurowissenschaftler – stehen halt doch ziemlich blöd da, wenn am Ende, wenn also nach zehn Jahren nicht das herauskommt, was am Anfang versprochen worden ist. Diese eine Milliarde Euro ist bis jetzt allerdings noch nicht ganz verteilt. Ich wäre jedenfalls beim Projektantrag wesentlich vorsichtiger gewesen. Ich sage nicht, dass alles, was diese Wissenschaftler machen, keinen Sinn hat, aber ich habe das Gefühl, dass ihre Versprechen zu vollmundig waren. Ich glaube, genau das treibt eben auch den Moritz um, wenn er diesen Vergleich mit der Leiter und dem Mond anführt. Staubitz: Ich habe jedenfalls ein bisschen gelacht, als ich das gelesen habe. Wir sind bereits in der letzten Minute unseres Gesprächs angelangt. Ich muss jetzt noch unbedingt loswerden, dass Sie für ein Genie doch relativ untypisch praktisch veranlagt sind. Sie können nämlich Kühlschränke selbst reparieren, Lederjacken selbst nähen, Schmuck selbst herstellen usw. Sind Sie das lebendige Beispiel dafür, dass man alles lernen kann? Bonhoeffer: Zuerst einmal würde ich das mit dem Genie in Abrede stellen. Aber es ist einfach so, dass ich ein fundamentales Interesse an der Welt habe und vor allem auch am Gehirn. Das Herstellen von Lederjacken oder Schmuck hat mich halt auch immer interessiert, das wollte ich auch probieren. Und so habe ich eben einfach mal angefangen, das zu machen. Ich habe das auch bis zu einem bestimmten Punkt weitergetrieben, bis ich es wieder habe bleiben lassen und etwas Neues ausprobiert habe. Aber ich bin eben auch deshalb Wissenschaftler geworden: weil ich einfach an vielen Sachen Interesse habe und mal dieses und mal jenes ausprobieren möchte, weil ich erforschen möchte, wie bestimmte Sachen funktionieren. Staubitz: Ich stelle mir auch Ihre Frau als einen glücklichen Menschen vor, wenn sie nebenbei vom eigenen Mann nicht nur Schmuck geschenkt bekommt, sondern wenn dieser Schmuck auch noch von ihm selbst gemacht wird. Das ist doch großartig. Ich wiederum freue mich sehr darüber, dass wir ein so tolles und spannendes Gespräch geführt haben. Vielen Dank, dass Sie heute zu uns gekommen sind. Bonhoeffer: Es hat auch mir großen Spaß gemacht, vielen Dank. Staubitz: Liebe Zuschauer, das war's schon wieder mit dem alpha-Forum, zu Gast war bei uns heute Professor Dr. Tobias Bonhoeffer. Ich hoffe, auch Sie hatten einigermaßen Spaß an diesem Gespräch und auch bei Ihnen hat sich dadurch die eine oder andere Synapse neu verdrahtet oder verstärkt. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen. © Bayerischer Rundfunk