Die Sinne und die Künste - Perspektiven ästhetischer

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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)
Die Sinne und die Künste
Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 2
2008-05-14 10-59-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714550340|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 910.p 178714550348
Editorial
Die Reihe »Ästhetik und Bildung« will die historischen, theoretischen, empirischen und methodischen Grundlagen, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Praktiken im
Bereich von Ästhetik und Bildung darstellen und diskutieren. Vor
diesem Hintergrund werden die Möglichkeiten ästhetischer Bildung
als spezifische Modi der Weltwahrnehmung, des Umgangs mit Anderen und der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Ein besonderes Interesse gilt dabei den ästhetischen Dimensionen der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit, des Geschmacks, der
Bildlichkeit und des Performativen sowie den Prozessen ästhetischer
Wahrnehmung, Gestaltung und ästhetischen Urteilens; darüber hinaus werden Fragen der Kulturpolitik, der sozialen Bedeutung ästhetischer Haltungen und Praxen sowie der praktischen Bedeutung ästhetischer Bildung in unterschiedlichen Institutionen untersucht. Die
Reihe wird im Auftrag des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische
Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg von
Eckart Liebau und Jörg Zirfas herausgegeben.
2008-05-14 10-59-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714550340|(S.
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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)
Die Sinne und die Künste
Perspektiven ästhetischer Bildung
2008-05-14 10-59-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714550340|(S.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Lektorat & Satz: Sebastian Ruck, Jörg Zirfas
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-89942-910-7
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem
Zellstoff.
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Inhalt
Eckart Liebau & Jörg Zirfas
Die Sinne, die Künste und die Bildung. Ein Vorwort .................... 7
Grundlagen
Peter Bernhard
Aisthesis .............................................................................................. 19
Johannes Bilstein
Schöne Mägde, nützliche Schwestern ............................................. 35
Bildung in den Künsten
Peter Bubmann
Die Klänge des Himmels. Über das Singen ................................... 59
Volker Frederking
(Literar-)Ästhetische Bildung.
Lesen und Schreiben als Formen ästhetischer Erfahrung
und personal-kultureller Selbstkonstruktion ................................ 73
Jürgen Funke-Wienecke
Die Kunst, sich zu bewegen.
Eine erziehungs- und bildungstheoretische Interpretation ....... 105
Jörg Zirfas
Das Spiel mit der Welt. Über das Theaterspielen ....................... 129
Leopold Klepacki
Tanzen. Bewegungskunst im Zwischenraum
von Leibespoesie und Körpertraining .......................................... 149
Max Fuchs
Leitformel Leben.
Eine Grundkategorie für die Theorie kultureller Bildung? ....... 171
Die Kunst der Bildung
Peter W. Schatt
Unterrichtlicher Umgang
mit neuer Musik und kultureller Bildung .................................... 191
Eckart Liebau
Ästhetische Bildung und Schulentwicklung ............................... 215
Luise Winterhager-Schmid
Ästhetische Bildung in der Ganztagsschule ................................ 227
Wolfgang Zacharias
Netzwerken als künstlerisch-pädagogische Strategie ................ 249
Autorenverzeichnis ......................................................................... 273
Eckart Liebau & Jörg Zirfas
Die Sinne, die Künste und die Bildung
Ein Vorwort
Die Sinne sind für Menschen zunächst eine Lebensnotwendigkeit.
Denn dank der Sinne findet sich der Mensch in der Umwelt zurecht, da sie Informationen in Form von Reizen aufnehmen, diese
verschlüsseln und an das Gehirn weiter senden. Man differenziert
im Allgemeinen die Fernsinne Sehen, Hören und Riechen von den
Nahsinnen wie Schmecken und Tasten, da bei den beiden letzteren die entstehende Empfindung im Sinn selbst verortet wird.
Darüber hinaus gibt es die Sinnesorgane im Körperinneren wie
das Gleichgewichtsorgan, den Blutdruckfühler, den Dehnungsfühler von Muskeln, Sehnen etc. Insofern wird der gesamte
menschliche Selbst- und Weltbezug wesentlich über die Sinne
vermittelt, deren Bedeutung dann besonders hervortritt, wenn
sich Störungen zeigen. Doch die Sinne sind auch wesentlich für
die ästhetische Bildung. Das soll im Folgenden umrissen werden.
Verfolgt man die Geschichte der Thematisierung der Sinne im
Abendland, so erlebt man eine sehr verwickelte und aufregende
Geschichte, in der den Sinnen diverse Fähigkeiten und Wirkungen
zugeschrieben werden.
Seit der Antike, namentlich mit Demokrit (460-370 v. Chr.),
werden im Abendland – und dies gilt nicht für alle Kulturen –
fünf Sinne unterschieden. Während Demokrit als erster diese
„vollständige“ Auflistung vornahm und den Organen zugleich
kognitive Funktionen zuwies, sprach Platons (427-347 v. Chr.)
Ideenphilosophie dem Auge den Primat unter den Sinnen zu (die
„Idee“ eidos ist vom griechischen Wort für „sehen“ abgeleitet);
Aristoteles (384-322 v. Chr.) schrieb dann die Hierarchisierung der
Sinne fest in der absteigenden Reihenfolge: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Über die Jahrhunderte hinweg differenzierte man zwischen einer aktiven und passiven, mittelbaren
und unmittelbaren, inneren und äußeren, nützlichen und angenehmen Wahrnehmung. Vor allem das christliche Mittelalter
problematisierte und verdammte die Sinnlichkeit, insofern diese
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VORWORT
eine moralische Gefährdung des Menschen zur Folge haben konnte. Komplementär dazu wird ebenso darauf verwiesen, dass die
Sinne einen gottgewollten Zweck verfolgen und nur durch sie die
gottgegebene Schönheit und Ordnung der Welt erfahrbar wird, so
dass der richtige Gebrauch der Sinne als das Fundament von Gesellschaft, Politik und Religion gelten kann.
Über Platon bis hin zur Moderne werden die Sinne mit dem
Undeutlichen, Dunklen und Unklaren in Verbindung gebracht
und von der klaren und deutlichen Erkenntnis abgegrenzt. Aristoteles widmet dann als erster Philosoph den Sinnen eine grundlegende Betrachtung, indem er ihre Eigenschaften und Fähigkeiten
untersucht. Daß die Sinne einen Logos haben und damit eine theoretische und praktische Relevanz besitzen, hat Aristoteles als erster festgehalten. Gleichwohl hat diese Nobilitierung des Sinnlichen ihre Verkürzung darin, daß sich in ihr schon die Übermacht
des Rationalen und eine rationalistische Funktionalisierung der
Sinnlichkeit andeutet; eine Tendenz, die sich im Christentum verstärkt, dem die freie Sinnlichkeit lediglich als eine des Teufels erscheint. Die Sinnlichkeit ist für Aristoteles nur der Beginn des
Wissens, da sie lediglich das Einzelne, aber nicht das Allgemeine
erfassen kann.
Die Sinne haben aber nicht nur eine auf Erkenntnis hin angelegte Dimension, sondern sie haben auch eine vitale, empfindsame, eine phatische, lustvolle bzw. leidensvolle Seite. Sinnlichkeit
meint auch lust- bzw. schmerzvolles Erleiden. Im Wahrnehmen
selbst finden wir Attraktivitäten, Wertorientierungen, Auf- und
Abwertungsprozesse, das „Ja und Nein des Gaumens“ (Nietzsche). Und wir streben nach Dingen bzw. fliehen sie, weil wir sie
als lustvoll bzw. leidensverursachend erfahren und wahrgenommen haben. Dieses Streben wird in existentiellen Situationen
menschlicher Bedürfnisbefriedigung besonders deutlich, nämlich
dort, wo es um Nahrung und Sexualität geht. Hier ermöglicht
nach Aristoteles die Wahrnehmung der Lust zu erfahren, was einem naturgemäß ist, denn Lust ist die Sprache der Natur oder anders: die Natur kommt in der Lust zu sich selbst. Wobei Aristoteles zwischen den Lustarten differenziert und somit Niveauunterschiede einführt: der eher tierhaften haptischen Lust wird der
humane gegenstandsbezogene Geschmack gegenübergestellt.
Der schon mit Aristoteles verbundene Niveauunterschied in
den Sinnen macht die häufig stattfindende Ineinanderblendung
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ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG
des Aisthetischen mit dem Ästhetischen deutlich: Die Sinne sind
die Orte der ästhetischen Erfahrung. Wobei das Ästhetische hier
auf eine Distanzierung und eine Abwertung des SinnlichVulgären zugunsten einer höheren und besseren Form des Sinnlichen zielt. Das Sinnliche steht somit in Spannung zum Ästhetischen, welche als seine Vollendungsform gelten kann, da in ihm
Momente des Kosmetischen, Schönen und der Versöhnung aufgehoben sind.
Diese Spannung von Sinnlichkeit und Ästhetik wird dort besonders deutlich, wo sie im 18. Jahrhundert pointiert dargestellt
wird, wie z.B. bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), der
mit seiner lateinischen Schrift „Aesthetica“ (2 Bde. 1750-58) eine
Neuorientierung und -bewertung der sinnlichen Wahrnehmung
intendiert. Denn die Sinnlichkeit kann nur dann als eigenständiges, irreduzibles Vermögen erscheinen, wenn die Rationalität neu
bewertet wird, was historisch betrachtet in der Umstellung von
metaphysischen Vernunftkonzepten auf Philosophien des Bewußtseins verbunden war. Diese Umstellung kommt eben bei
Baumgarten noch nicht vollständig zum Ausdruck, wenn es heißt:
„Aesthetica [...] est scientia cognitionis sensitivae“ – „Ästhetik ist
die Erkenntniswissenschaft des Sinnlichen“ (§ 1) bzw. „Aesthetica
nostra sicuti nostra logica“ – „Unsere Ästhetik ist wie eine Logik“
(§ 13). So wird bei Baumgarten der Schönheitsbegriff mit dem der
Wahrheit vermischt, wobei für den Bereich des Sinnlichen eine
spezifische Erkenntnis zuständig ist, die immerhin „sensitive Erkenntnis“ genannt wird.
Erst Immanuel Kant (1724-1804) trennt die von Leibniz bis zu
Baumgarten gültige Konzeption des graduellen Unterschieds von
Sinnlichkeit und Verstand, indem er diese als zwei unabhängige
Stämme der Erkenntnis begreift. Wie auch immer die Stellung
Kants zur Sinnlichkeit bestimmt werden kann, deutlich ist, daß er
Sinnlichkeit und Ästhetik auseinanderreißt und so die Autonomie
der Ästhetik begründet, die nach ihm als Beschäftigung mit dem
Schönen, Erhabenen, der Kunst und der ästhetischen Rezeption in
Verbindung gebracht wird. Spätestens mit Kant verliert die sinnliche Erkenntnis in der Ästhetik an Einfluß. Die Trennung von
transzendentaler Ästhetik, Anthropologie der Sinne und Urteilskraft, wie sie in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) vorgeführt
wird, erfährt dann über Nietzsche und seiner Idee des Leibes als
großer Vernunft und Husserls Einsicht in die Abhängigkeit der
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VORWORT
Erkenntnis von einem vorbegrifflichen, aisthetischen Wissens
wiederum eine Neubewertung.
Zugleich führen die mit der Industrialisierung verbundenen
Oppositionen gegen traditionelle Vorstellungen der Schönheit
dann Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer von herkömmlichen
Kategorien der Ästhetik freien „Aisthesiologie der Sinne“, wie bei
Plessner oder Simmel. Denn nirgendwo wird die kulturelle kollektive Veränderung der Sinnlichkeit deutlicher als dort, wo gewohnte Wahrnehmungsmuster in Frage stehen. Die Erfahrungen
mit der ersten industriellen Revolution, des näheren mit der verkehrstechnischen Innovation der Eisenbahn im 19. Jahrhundert,
stellen einen deutlichen Schnitt in die kulturellen Wahrnehmungsmuster dar, der mit Schivelbusch auf die Formel der Zerstörung von Wahrnehmungen der Raum- und Zeitstrukturen gebracht werden kann: Desorientierung der Reisenden durch die
Entrückung der Landschaft; Verzerrung der Natur durch den
Blick aus dem Abteilfenster und die Telegraphenmasten, die als
Schriftzüge in der panoramatischen Landschaft wahrgenommen
werden; Verlust des Vordergrundes durch die Geschwindigkeit;
Ermüdung der Sinne durch stundenlange Fahrtzeiten; Ersetzung
der Kommunikation im Abteil durch die Reiselektüre; Passivitätsund Isolierungserfahrungen; Dekonzentrations- und Zerstreuungserscheinungen; extreme Angst- und Schockerlebnisse bei Eisenbahnunfällen. Hier werden kulturelle Reizschutzmechanismen
der sinnlichen Wahrnehmung durch technische Entwicklungen
durchbrochen.
In der Neuzeit zeigen sich mehrere Tendenzen der Sinnlichkeit: In den Kulturwissenschaften wird fast unisono von der Dominanz des Gesichtssinns und dessen diversen Blicken ausgegangen, z.B. dem (ärztlichen) Röntgenblick, dem männlichen Blick,
dem Kino- bzw. Fernseh-Auge und dem Überwachungsblick. So
bewirkte schon der Umgang mit dem Fernglas, dem Mikroskop
oder der camera obscura eine technisch unterstützte Vorherrschaft
des Auges und die Handhabung der Kamera die Erfahrung eines
bewaffneten Auges, das Bilder schießen kann und somit eine Osmose von Wahrnehmungs-, Kamera- und Kriegstechnologien zustande bringt. Und nicht zuletzt führt der Umgang mit dem Computer zu Wahrnehmungsneuorientierungen durch die Verschriftlichung und Verbildlichung der Welt, deren Charakter sich dank
der mit dem Computer verbundenen Zeitbeschleunigung und
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ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG
Raumschrumpfung als programmierbares, kontrollierbares und
virtuelles Paradies entpuppt.
Andererseits wird auch konstatiert, dass dem Hören (Handy)
in letzter Zeit wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Umstritten ist, ob die Nahsinne wie Tast- und Geschmackssinn
(der Geruch), insgesamt an Gewicht verloren haben, oder ob gerade sie uns die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) der verschiedenen Klassen und Schichten verdeutlichen. Umstritten ist auch, ob
man kulturkritisch eine zunehmende Disziplinierung, Regression,
Nivellierung und Homogenisierung der Sinnlichkeit konstatieren
und inwiefern man von einer Entmaterialisierung der Sinne durch
die neuen Körpertechnologien sprechen kann, deren Maschinen
den Augen Bilder, den Ohren Töne usw. liefern. Hier wird die
Zukunft zeigen, inwieweit digitale, computergesteuerte Prozesse
die Sinneseindrücke der Sinnensorgane komplimentieren, virtualisieren oder ersetzen können.
Unter ästhetischer Bildung wollen wir nun diejenigen Prozesse
und Resultate von reflexiven und performativen Praxen verstehen, die sich aus der Auseinandersetzung mit kunstförmigen und
als ästhetisch qualifizierten Gegenständen und Formen ergeben.
Dabei ist in der Ästhetik die Inhaltsfrage immer auch eine Formfrage, was die Bedeutung der Wahrnehmungsprozesse unterstreicht, denn die Frage, was wir wahrnehmen ist abhängig davon,
wie wir wahrnehmen. Ästhetische Bildung wird hier einerseits
verstanden als reflektierende und in Urteilen sich präsentierende
Bildungsform, die in besonderer Weise die prozessualen Möglichkeiten für Übergänge, Verknüpfungen und das In-BeziehungSetzen von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Imaginationen auf
der einen und Kunst, Schönheit und die mir ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft. Ästhetische Bildung betrifft andererseits die mit der performativen Praxis verbundenen Veränderungen in den Handlungsvollzügen, den Inszenierungsformen und Handlungspraktiken mit Bezug auf als
ästhetische geltende Gegenstände, Formen und Kunst.
Warum aber ist die Kunst in der Bildung der Sinne so wichtig?
Otto Friedrich Bollnow ist dieser Frage phänomenologisch nachgegangen. Er schreibt:
„Die in der menschlichen Leibesorganisation gegebenen Sinnesorgane
[werden] erst durch die menschliche Arbeit, worunter hier vor allem die
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VORWORT
Werke der Kunst zu verstehen sind, zu eigentlich menschlichen Sinnen.
Erst durch das Hören der Musik wird das Ohr zu einem für die Schönheit der Musik empfindlichen Organ. Erst durch die Betrachtung der
Werke der bildenden Kunst wird das Auge zu einem für die Schönheit
der Form und der Farbe aufgeschlossenen Organ“ (1988: 31).
Oder allgemeiner: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken
des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der
Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, werden die Sinne zu Organen einer differenzierten Auffassung“ (ebd.). Der
Mensch ist erst dann „im vollen Sinne Mensch, wenn er die ganze
Breite der bisher verkümmerten Sinne zur Entfaltung gebracht
hat“ (ebd.: 32). Es ist ein „Kreisprozess“ zwischen gestalteter
Wirklichkeit und Entwicklung der entsprechenden Auffassungsorgane im Menschen: „Die gelungene Gestaltung einer bisher ungestalteten oder weniger gestalteten Wirklichkeit entwickelt im
Menschen ein ihr entsprechendes Organ des Auffassens, und so
leben wir in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt
hat“ (ebd.).
In dieser knappen Formulierung – „Wir leben in einer Welt,
wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ – ist ein höchst komplizierter Verweisungszusammenhang eingefangen, der nicht nur
das phänomenologische Glaubensbekenntnis umfasst – wir leben
eben nicht in einer Welt, wie sie ist, sondern in einer Welt, wie wir
sie sehen und die sich damit, als unsere, von allen anderen Welten
unterscheidet –, sondern zugleich auf überraschende Weise den
Lehrmeister eingrenzt: nicht der Alltag, nicht die Arbeit, nicht die
Wissenschaft gibt hier den Lehrmeister, sondern die Kunst. Die
menschliche Entfaltung der Sinne kann nur in der Auseinandersetzung mit der entfalteten Kunst gelingen. Die Entwicklung der
Sinne, der Sinnlichkeit, ist kein bloßes Naturereignis, das natürlichen Entwicklungsgesetzen folgt, sondern die Entwicklung der
Sinne ist ihrerseits kulturell konstituiert. Das Auffassungsvermögen entsteht und entwickelt sich erst in der Begegnung und der
Auseinandersetzung mit den kulturellen Objektivationen.
Klaus Mollenhauer (1996) und seine Mitarbeiter haben empirisch gezeigt, dass für eine substantielle ästhetische Bildung der
Bezug auf die Kunst konstitutiv und unverzichtbar ist. Dies gilt
übrigens nicht nur für die domänenspezifischen Kompetenzen,
sondern auch für die allgemeinen Schlüsselkompetenzen, Kreati-
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ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG
vität, Wahrnehmungsfähigkeit etc., die in der Moderne immer
wichtiger werden. Die Künste bieten, so Matthias Winzen (2007),
die differenzierteste Form der Wahrnehmung der Wahrnehmung;
allein damit ließen sie sich als pädagogisch notwendig begründen.
In der klassischen pädagogischen Anthropologie finden sich die
entsprechenden Argumentationsmuster (z.B. Bollnow 1988, Meyer-Drawe 1987). Denn die Kunst hat im Vergleich zu Alltagsgegenständen vielfältige strukturelle Vorteile. Im Umgang mit der
Kunst sind wir – in der Regel – von existentiellen Sorgen, von objektiven Wahrheitsinteressen und auch von pragmatischen Handlungsinteressen befreit. Zweckfreiheit der Kunst lautet der diesbezügliche Sachverhalt. Der Umgang mit der Kunst spannt uns
zweitens ein in die Dialektik von Bezug- und Distanznahme: Wir
lassen uns auf Kunstwerke so ein, dass wir gleichwohl – mehr oder weniger bewusst – vergegenwärtigen, dass und wie wir uns
auf sie einlassen. Kunstwerke lassen für Wahrnehmungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten Spielräume. Das bedeutet drittens, dass
uns Kunstwerke und kunstspezifische Handlungsformen in einer
spezifischen Weise vor uns selbst bringen, da in ihrer Erfahrung
der alltägliche Weltbezug aufgehoben ist. In diesem Sinne sind
Kunstwerke ein besonderer Ausdruck der Erfahrungsfähigkeit
des Menschen, die mit ihrer modellhaften Intensität eine besondere Relevanz für das Subjekt besitzen. Und das wiederum bedeutet
viertens: Kunstwerke verdichten Wahrnehmungen und erzeugen
somit Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit, Differenzierung und Kontingenz.
Obwohl sich ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen
auch an nicht künstlerischen Gegenständen gewinnen lassen, besitzen kunstförmige Gegenstände also insofern eine erhöhte bildungstheoretische wie -praktische Bedeutsamkeit, als sie in der
Lage sind, ein verdichtetes Spiel von Erscheinungen und Bedeutsamkeiten zu evozieren. Diese Einschätzung trifft sowohl auf die
antike wie mittelalterliche Idee der Kunst als techne (ǕƾǘǖLj) – als
ein praktisches, auf Herstellung zielendes Wissen, ein regelorientiertes Handwerk – wie auf die neuzeitliche Kunstvorstellung, als
kreatives, dem Neuen, Originellen und Irritierenden verpflichtetes
Schaffen, zu (vgl. Ullrich 2005). Denn seit dem Beginn der Neuzeit
hat die Kunst nicht mehr (nur) die Funktion, das Zweckmäßige
und Notwendige hervorzubringen, sondern auch diejenige, die
Möglichkeiten des Lebens zu vervielfältigen. Während der Kunst
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VORWORT
in der Antike und dem Mittelalter Verbindlichkeit, Strenge, Kodifizierung und Verpflichtung zukam, wird die Kunst in der Moderne oftmals mit dem Veränderlichen, Möglichen, Virtuellen und
Originellen in Verbindung gebracht. Heute versteht man unter
Kunst in der Regel nicht die aus der Praxis ableitbaren Regeln
oder die Mimesis der wahren Wirklichkeit, sondern Kunst hat mit
Kreativität, Erneuerung, Expressivität und Schöpferischem zu tun.
Dass Kunst Menschen in einer, mit kaum einer anderen Lebenspraxis zu vergleichenden, Intensität zu bilden imstande ist, haben
Erzieher zwar seit Platons Zeiten immer wieder gefürchtet, aber
auch in ihrem Sinne instrumentell zu nutzen gewusst. Kunstwerke und kunstspezifische Handlungsformen sind immer auch
Ausdruck und Reflexion eines, je nach historisch-kultureller Situation, spezifisch gestalteten menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, das in seiner Gestaltung, Wahrnehmung und Erfahrung für
die Pädagogik immer – und auch und gerade in ihren kunstkritischen und -negierenden Tendenzen – hoch bedeutsam war.
Denn Kunst hat es von Hause aus mit Wahrnehmung, Ausdruck, Gestaltung und Darstellung, eben mit Sinnlichkeit zu tun.
Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle recht herzlich bei
Herrn Sebastian Ruck, der die redaktionellen und satztechnischen
Arbeiten dieses Bandes betreut hat.
Literatur
Barck, Karlheinz u.a. (Hg.) (1990): Aisthesis. Wahrnehmung heute
oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam.
Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als
allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink.
Bollnow, Otto-Friedrich (1988): Zwischen Philosophie und Pädagogik. Aachen: Weitz.
Bourdieu, Pierre (1979): La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Édition de Minuit.
Burckhardt, Martin (1997): Metamorphosen von Raum und Zeit.
Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M./New
York: Campus.
Ehrenspeck, Yvonne (1998): Versprechungen des Ästhetischen.
Opladen: Leske + Budrich.
Jütte, Robert (2000): Geschichte der Sinne. München: Beck.
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