Der freie Fall ist vorbei … aber die Krise geht weiter

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I N T E R N AT I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z
Der freie Fall ist vorbei …
EU: Die weltweite Krise
und die Wirtschaftspolitik: Kann die Politik den
Kapitalismus vor sich
selbst retten?
▶ Die Asienkrise: Krise
eines exportgestützten
Wachstums oder der
Verdrängung von
Arbeit?
▶ Die Auswirkungen
der Krise auf
Lateinamerika
▶
... aber die Krise
geht weiter
Außerdem: Italien, Ökologie, Haiti
Nr. 460/461 März/April 2010 € 4,–
IMPRESSUM
Inprekorr ist das Organ der IV. Internationale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der
deutschen Sektion der IV. Internationale, von RSB und isl. Dies geschieht
in Zusammenarbeit mit GenossInnen
aus Österreich und der Schweiz und
unter der politischen Verantwortung
des Exekutivbüros der IV. Internationale.
Italien
Der Aufstand der Arbeitsimmigranten in Rosarno, Charles-André Udry..............................3
Ökologie
Gestaltet die kränkelnde Autoindustrie um! Lars Henriksson...............................................4
Inprekorr erscheint zweimonatlich
(6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich
gekennzeichnete Artikel geben nicht
unbedingt die Meinung des herausgebenden Gremiums wieder.
Ökonomie
EU: Die weltweite Krise und die Wirtschaftspolitik: Kann die Politik den Kapitalismus
vor sich selbst retten?, Özlem Onaran................................................................................7
Der freie Fall ist vorbei, aber die Krise geht weiter, Joel Geier..........................................19
Die Asienkrise: Krise eines exportgestützten Wachstums oder der Verdrängung von
Arbeit? Jean Sanuk...........................................................................................................23
Die Auswirkungen Krise auf Lateinamerika, Claudio Katz.................................................33
Nicht aller Marxismus ist Dogmatismus – eine Erwiderung an Michel Husson
Chris Harman...................................................................................................................39
Lange Wellen – die letzte? Thadeus Pato............................................................................46
Konto: Neuer Kurs GmbH,
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(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604
Theorie
Die Krise jenseits der Krise, Interview mit Daniel Bensaïd.................................................49
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Bis zum letzten Atemzug ein revolutionärer Kämpfer: Daniel Bensaïd (1946–2010)
Gilbert Achcar..................................................................................................................48
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Absender unter Angabe der Gründe
der Nichtaushändigung umgehend
zurückzusenden.
2 Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der Ausgang der Krise, in der sich das kapitalistische System als Gan­
zes befindet, ist noch nicht entschieden. Ihre Auswirkungen auf drei große
Regionen der Welt – Asien, Lateinamerika und Europa – werden in der
vorliegenden Ausgabe analysiert. Aber auch ohne „gelbe Seiten“ soll die
Theorie nicht auf der Strecke bleiben: Methoden zur Ermittlung der Profit­
raten (Kontroverse zw. M.Husson und Chr. Harmann) oder die Bestim­
mung der – vielleicht letzten? – langen Welle (Th. Pato) fordern zur Dis­
kussion heraus.
Eine anregende Lektüre wünscht euch
Eure Redaktion
Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:
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inprekorr 460/461
Italien
Der Aufstand der
Arbeitsimmigranten in Rosarno
Charles-André Udry
In der kalabresischen Gemeinde Ro­
sarno brach am 7. Januar ein Aufstand
der Arbeitsimmigranten, die überwie­
gend aus Afrika stammen, aus. Die Im­
migranten besetzten zu ihrer Verteidi­
gung die Straße, um zu zeigen, dass
sie nicht gewillt sind, länger unsicht­
bare menschliche Wesen und rechtlose
Handlanger zu sein, die zwar die duf­
tenden Clementinen sorgfältig ernten
sollen, im Übrigen aber unter den Rat­
ten und wie die Ratten leben müssen.
Die Jagd auf die Schwarzen
Bereits im Dezember 2008 waren die
Arbeitsimmigranten aus Ghana und
Burkina Faso in Rosarno auf die Straße
gegangen: Zwei von ihnen waren aus
einem Auto heraus mit Maschinenpis­
tolen beschossen und schwer verletzt
worden – einer dieser zahlreichen „Un­
fälle“, die typisch sind für die „Jagd auf
die Schwarzen“. Dahinter steht die un­
menschliche Ausbeutung, die sich glei­
chermaßen auf Mafianetze und die Po­
litik der Regierung Berlusconi in Ge­
stalt des Ministers Roberto Maroni von
der Lega Nord stützt. Und dort in Ka­
labrien nehmen es die Handlanger der
Mafia nicht hin, dass die Immigranten
aufmucken oder sich wehren. Dies wä­
re nämlich ein Angriff auf die „pax ma­
fiosa“, die die „billige“ Ernte der Zit­
rusfrüchte erst ermöglicht.
Die Vertreterin des UN-Flücht­
lingskommissariats erklärte dazu, dass
sie sehr besorgt sei, dass es in Rosar­
no zu einer „Immigrantenjagd“ kom­
men könne. Zumal Maroni am Vortag
vehement behauptet hatte, dass die Si­
tuation durch „zuviel Toleranz gegen­
über der heimlichen Immigration“ zu­
stande komme.
waren, den Tod ihrer Schicksalsgenos­
sen mit anzusehen: in der Wüste, auf
dem Meer oder in den „Rückhaltela­
gern“, die von der EU und Schweiz fi­
nanziert werden. Sie haben ihre Länder
verlassen, die von Kriegen gepeinigt
sind, hinter denen die Minen- und Öl­
konzerne stecken, und durch neokolo­
niale Ausbeutung mithilfe der korrup­
ten und kollaborierenden „Eliten“ zer­
stört werden.
Sie kamen zu Tausenden in eine
Gegend, in der nur ihre Arme zum Zit­
ronenpflücken ab November gebraucht
werden und die sie nach der Orangen­
ernte im März wieder verlassen, um
– je nach Erntezeit – von einer Regi­
on in Italien zur anderen zu ziehen.
Ohne feste Behausung, Wasser, Strom
und Sanitäranlagen, mitunter abge­
schieden in leerstehenden Fabrikge­
bäuden. Um mit ihren Worten zu spre­
chen: „Wir leben zwischen den Ratten
und der Angst.“ Oder wie sich ein an­
derer gegenüber La Repubblica äußer­
te: „Ich lebe in der Angst, dass meine
Familie mitkriegen könnte, wie ich in
Europa lebe.“
Ende des Jahres kommen in der Re­
gion von Rosarno jeden Morgen die
„Vorarbeiter“ mit Kleinlastern vorge­
fahren, um diese Arbeitsimmigranten
zu engagieren, die buchstäblich nichts
als ihre Hände haben – junge Männer,
die täglich 12 bis 14 Stunden arbeiten
und 20 Euro dafür bekommen, wobei 5
noch für den „Transport“ draufgehen.
Die Mitarbeiter von „Ärzte oh­
ne Grenzen“, die durchaus Erfahrun­
gen in Ländern mit „schwierigen“ Be­
dingungen gesammelt haben, sind fas­
sungslos über das, was sie hier vor­
finden. Die Kälteeinbrüche und der
Rauch von den Feuern, die in den Ba­
racken zum Kochen und Heizen ent­
zündet werden, verursachen schwer­
wiegende Schädigungen der Atem­
wege. Dazu kommen diverse Infekti­
onen und Hauterkrankungen. Die Pro­
jektleiterin der „Ärzte ohne Grenzen“
meint: „Viele von ihnen leiden unter
Depressionen. Denn sie erleben diese
Entwürdigung ihrer Lebensbedingun­
gen als ein Trauma, von dem sie sich
nie wieder erholen werden. Und wenn
sie mit Zuhause telefonieren, sagen
Die Überlebenden sind zu
einer Odyssee Verdammt
Die Immigranten, die in dieser Regi­
on ankommen, sind die Überlebenden
einer Odyssee, auf der sie gezwungen
inprekorr 460/461
3
ÖKOLOGIE
sie, dass alles gut sei, und diese Lü­
gen, die sie sich selbst vormachen, de­
primieren sie noch weiter.“
Ein Kampf für sich zwar,
aber einer mit Vergangenheit
Diese Arbeitsimmigranten stehen am
Ende einer Kette. Die Großerzeuger ha­
ben mithilfe der Mafia verhindert, dass
sich die Kleinbauern zu Kooperativen
zusammenschließen. Die Preise für die
Clementinen und Orangen sind stark
gefallen: Die Supermärkte und die Ex­
porteure diktieren die Preise.
In Süditalien gibt es demnach eine
Wanderarmee ohne Einwanderungspa­
piere. Die allermeisten von ihnen wer­
den keine Aufenthaltserlaubnis erhal­
ten, da sie eine Ausweisungsverfügung
mit Rückkehrverbot erhalten haben.
Daher pilgert eine regelrechte „Reser­
vearmee“ von „Illegalen“ je nach Sai­
son durch das Land, um Tomaten in
Foggia zu ernten, Clementinen und an­
schließend Orangen in Rosarno, da­
nach Oliven in Alcamo und Kartoffeln
in Cassibile – durch ein Süditalien al­
so, dessen Landwirtschaft mitten in der
Krise steckt.
Die
Ausbeutungsmechanismen,
die sie vorfinden, erinnern – mutatis
mutandis – an jene der Tagelöhner in
Süditalien, die nach dem 2. Weltkrieg
harte Kämpfe ausfechten mussten und
Landbesetzungen durchgeführt haben.
Damals galten diese Tagelöhner offi­
ziell auch als Kriminelle. Und in die­
se Tradition der Kämpfe reiht sich der
Aufstand der afrikanischen Arbeitsim­
migranten, die in Rosarno auf die Stra­
ße gegangen sind, weil sie es satt hat­
ten, als Schießscheibe zu dienen (zwei
Jugendliche wurden mit Luftgewehren
attackiert), und „wie Tiere behandelt zu
werden“, um eine ihrer gängigen For­
mulierungen zu gebrauchen. Sie ha­
ben sich als Menschen gewehrt, deren
Zorn ihr Leiden mildert – mit ein paar
kaputten Autos und Fensterscheiben –
und wurden dabei von der Polizei wie
„Tiere“ niedergeknüppelt.
Charles-André Udry ist Wirtschaftswissen­
schaftler und Mitglied des Beirats von Attac
Schweiz
Quelle: Gekürzt aus à l’encontre
Übersetzung: MiWe
4
Gestaltet die kränkelnde
Autoindustrie um!
Infolge der ökonomischen Rezession und der Umweltkrise sind alternative Entwürfe für eine sozial nützliche, nachhaltige Produktion aktuell wie nie zuvor. Als letztes Jahr die Finanzkrise mit voller Wucht
aufkam, wurde die Überproduktion in der Autoindustrie unübersehbar.
Lars Henriksson
Vor allem die schwedische Autoindus­
trie war überproportional betroffen. Die
Krise traf dort zwei der kleinsten Mas­
senproduzenten der Welt, die kriseln­
den US-Firmen gehören und große, ver­
brauchsintensive Autos der luxuriöseren
Kategorie produzieren. In einem Land,
in dem 9 Millionen Menschen leben,
ist dies so, als ob in London zwei Au­
tohersteller mitsamt ihren Zulieferern
bankrott gingen und zwei LKW-Produ­
zenten krisengeschädigt wären.
Die Autokrise wurde natürlich zum
Politikum, und ist es noch immer. Wie
im Rest der Welt wurde die offizielle
Diskussion von zwei Argumentations­
linien darüber beherrscht, wie mit der
Krise umzugehen sei.
Die Einen halten die Entwicklung
für eine „kreative Zerstörung“ in dem
Sinn, dass der Markt sein „Urteil“ ab­
gegeben habe und einige Firmen eben
zum Tode verurteilt worden seien. Und
Eingriffe in das Marktgeschehen wür­
den die Lage nur noch verschlimmern. Die „grüne“ Variante dieser Position
lautete, „dass Autos ohnehin dem Kli­
ma schaden. Wir brauchen sie oder die
Herstellerfirmen nicht. Es ist gut, wenn
die Autoindustrie verschwindet.“
Die Gegenposition in der öffent­
lichen Debatte reklamiert Unterstüt­
zung für die Autoindustrie. Die Regie­
rung müsse die Firmen subventionieren
und ihnen über diese schlechten Zeiten
hinweg helfen, damit die Autoindus­
trie anschließend wieder wachsen kön­
ne, wenn sich die Lage wieder norma­
lisiert hat. Dafür würden Kredite, Ver­
schrottungsprämien, vorübergehende
Steuererleichterungen u. ä. benötigt. In
Schweden war dies die Position der So­
zialdemokratie, der betroffenen Indus­
trie, vieler Analysten und der Gewerk­
schaften. Die Führer meiner Gewerk­
schaft leisteten ihren „Beitrag“, indem
sie einen Vertrag unterschrieben, wo­
nach für ihre Mitglieder vorübergehend
eine Reduzierung von Löhnen und Ar­
beitszeit gilt.
Beide Herangehensweisen an die
Krise sind desaströs. Die Position „Un­
terstützt die Industrie“ geht von einer
grundlegend falschen Annahme aus. Es wird kein „Zurück zur Normalität“
mehr geben, oder zumindest nicht ei­
ne endlos wachsende Produktion von
Autos. Der Straßenverkehr ist verantwort­
lich für circa 20 % der Emissionen
an Treibhausgasen in der EU, wo­
bei in diesem Sektor die Emissionen
am schnellsten zunehmen. Auch oh­
ne die Notwendigkeit, den Klimawan­
del zu stoppen, läuft die Zeit des Au­
tos ab. Die Ölförderung wird schon in
naher Zukunft ihren Höhepunkt über­
schritten haben und als billige Energie
nicht länger zur Verfügung stehen. Ein
Verkehrssystem, das auf massenhaftem
Autoverkehr beruht, stellt überhaupt
keine Option dar. Und die Position der
Industrie dazu – das grüne Auto, ver­
brauchsarm und betrieben mit erneuer­
baren Energien – ist eine Illusion.
Es stimmt zwar, dass sich die
durchschnittlichen CO2- Emissionen
pro Kilometer bei neuen Autos verrin­
gert haben, aber während zwar in der
Zeit 1995–2002 der durchschnittliche
Treibstoffverbrauch für neue Autos in
den EU-Ländern um 13% abgenom­
men hat, ist der Verbrauch insgesamt
aufgrund der Verkehrszunahme um 7%
gestiegen.1
1 Achieving Sustainable Mobility: Everyday and
Leisure-time Travel in the EU. S. 170 Erling
Holden. Ashgate Publishing Ltd 2007
inprekorr 460/461
ÖKOLOGIE
Biosprit ist keine Lösung. Im
waldreichen Schweden beispielswei­
se wird die Herstellung von synthe­
tischem Dieseltreibstoff (DME) aus
Holz als die neue Zukunft angeprie­
sen. Aber wollte man nur den Benzin­
verbrauch der aktuell zugelassenen Au­
tos durch DME ersetzen, müssten allein
dafür jährlich 6 Milliarden Hektar abge­
holzt werden. Andere Arten von Biot­
reibstoffen, die als Alternative zum Öl
propagiert werden, wie Äthanol, benö­
tigen zuviel Ackerland und Wasser. Au­
ßerdem kollidiert die Herstellung von
Äthanol aus Korn oder von Diesel aus
Soja unmittelbar mit der Produktion von
Nahrungsmitteln für die ärmsten Völker
dieser Welt. Sind Elektroauto oder wasserstoffbe­
triebene Motoren eine Alternative? We­
der Wasserstoff noch Elektrizität sind
Energiequellen, sondern sie sind Ener­
gieträger, die auf irgendeine Art Ener­
giezufuhr benötigen. Heutzutage wer­
den zwei Drittel des elektrischen Stroms
auf der ganzen Welt in Kohlekraftwer­
ken produziert. Daraus folgt, dass der
Umfang des Verkehrs an sich und des
Straßenverkehrs im Besonderen an ein
umweltverträgliches Maß langfristig
angepasst werden muss. Und das würde
das Ende der gegenwärtigen Autoindus­
trie bedeuten.
Schlussendlich wird die Wirt­
schaftskrise, die noch lange nicht vor­
bei ist, die Autoindustrie komplett um­
gestalten.
Das Argument, dass das Aus für
nicht wettbewerbsfähige Autoherstel­
ler hingenommen werden sollte, ist
momentan aus sozialer, praktischer
und politischer Sicht das schlechteste.
In Schweden kamen und gingen die In­
dustrien. In den 60ern verschwand die
Textilindustrie, in den 70ern und 80ern
die Werft und andere Sektoren wuch­
sen: die Autoindustrie und vor allen
Dingen der öffentlichen Dienst. Dieser
„strukturelle Wandel“ entsprach der of­
fiziellen politischen Linie der Gewerk­
schaften und der Sozialdemokratischen
Partei.
Heutzutage gibt es jedoch keine an­
deren Wachstumsindustrien und der öf­
fentliche Sektor erlebt Einschnitte. In
einer vom Automobil abhängigen Wirt­
schaft wie der schwedischen bedeutet
dies ein Desaster.
Zweitens besteht eine Industrie wie
die Autoindustrie nicht einfach aus
einem Haufen Maschinen und Gebäu­
inprekorr 460/461
Die Wirtschaftskrise wird die Autoindustrie komplett umgestalten.
den. Sie besteht vielmehr aus den Men­
schen, die in dieser Industrie arbeiten.
Denn im Moment steht die Mensch­
heit vor ihrer schwersten Herausfor­
derung überhaupt: eine Wirtschaft und
Produktion umzugestalten, die schon
seit 250 Jahren auf fossiler Energie be­
ruht. Und dafür brauchen wir alle ver­
fügbaren Ressourcen, um dies zu bewäl­
tigen. Es wäre eine komplett unverant­
wortliche Verschwendung, wenn wir ei­
nen Industriekomplex vernichten wür­
den, der fast über ein ganzes Jahrhun­
dert hinweg aufgebaut und entwickelt
worden ist.
Die Automobilindustrie verfügt
über fachliches Wissen in Logistik, Pro­
duktentwicklung, Produktdesign und
Qualitätskontrolle, das an Produktionen
jeglicher Art angepasst werden kann. Ei­
ne effiziente Massenproduktion ist ge­
nau das, was wir brauchen, wenn wir die
Nutzung fossiler Energien ersetzen wol­
len. Dies würde komplizierte technische
Geräte billiger machen und könnte bei
der Produktion von Windturbinen und
anderer Ausrüstung zur Erzeugung er­
neuerbarer Energie genutzt werden, wie
z. B. für Bahnnetze, Züge und andere
Fahrzeuge eines nachhaltigen Verkehrs­
systems.
Für die ArbeiterInnen der Auto­
industrie sind Wandel und Konversi­
on durchaus nichts Neues. In den ver­
gangenen Jahrzehnten wurden immer
neue Modelle in einem absurden Tem­
po auf den Markt gebracht, mit dem
Resultat, dass Umrüstungen, Um­
bauten und Umschulungen Gang und
Gäbe wurden.
Es gibt historische Präzedenzfälle
für industrielle Konversion. In den Mo­
naten nach dem Überfall der Japaner auf
Pearl Harbor 1941 verbot die amerika­
nische Regierung die Produktion von
Privatautos und befahl der Autoindus­
trie, zur Kriegsproduktion zu wechseln.
Ford und andere Hersteller kamen dem
nach (und verdienten gut daran), in­
dem sie ihre Kenntnisse in der Massen­
produktion auf Bomber und Panzer an­
wandten. Das Gleiche geschah in Groß­
britannien.
Um es zusammenfassend zu sagen:
Die Autoindustrie ist ein fantastischer
und vielseitig einsetzbarer Betrieb, der
nicht daran gebunden ist, Autos zu pro­
duzieren. Sie kann eine wichtige Rolle
dabei spielen, unsere Gesellschaften in
nachhaltige und Kohlendioxid-neutrale
Gesellschaften zu verwandeln.
Aber letztendlich geht es in der Kli­
mafrage nicht um Technologie. Es geht
um Politik, d. h. um Klassenkampf. Und
das ist der Punkt, wo die ArbeiterInnen
der bedrohten Industrie ins Spiel kom­
men.
Und das ist auch der Zeitpunkt, wo
wir, die ArbeiterInnen der bedrohten
Autoindustrie ins Spiel kommen. Wir
müssen zusammenstehen und für un­
sere Jobs kämpfen, jedoch ist es ein
sehr harter Kampf und es ist fast un­
möglich, ihn zu gewinnen. Aus diesem
Grund müssen wir uns an die breite Öf­
fentlichkeit wenden, um Unterstützung
5
ÖKOLOGIE
Der Straßenverkehr ist verantwortlich für circa 20 % der Emissionen an Treibhausgasen
und aktive Teilnahme zu erreichen. Wir müssen so argumentieren, dass
die Manager, die den Staat nun um Hil­
fe angehen, ihr Recht auf die Führung
der Autoindustrie verwirkt haben. Der
Staat darf ihre Macht und anhaltend de­
struktive Produktionsweise nicht noch
alimentieren, sondern muss stattdessen
die ganze Industrie verstaatlichen und
konvertieren, um sichere Jobs und eine
Produktion zu schaffen, die uns helfen
kann, von der fossilen Wirtschaft weg­
zukommen. Dies wäre eine Plattform
für ein breites gesellschaftliches Bünd­
nis, um die Jobs, zugleich aber auch den
Planeten zu retten.
Ist es möglich, ein solches Bünd­
nis zu bilden, das sich für den Wechsel
zu einer alternativen Produktion stark
macht und das vom einfachen Arbeiter
bis nach oben reicht? Wenn ja, wie?
Der erste Schritt wird sein, das
Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen zu
stärken, indem sie lernen, gemeinsam
für alles zu kämpfen. Wenn wir jedoch
nur über den großen Entwurf reden, oh­
ne uns im alltäglichen Kampf aktiv zu
engagieren, werden wir als windige Er­
bauer von Luftschlössern abgestempelt
werden.
Der zweite Schritt wäre, konkrete
Pläne zu entwickeln, wie man die ver­
schiedenen Sektoren konvertieren
könnte.
1980 gab es ein Referendum über
Atomenergie in Schweden, und eine
der wichtigsten Initiativen die Umwelt­
bewegung bestand darin, einen alter­
6
nativen Energieplan zu entwickeln, der
bis ins letzte Detail aufzeigte, wie man
Atomenergie abschaffen und durch er­
neuerbare Energie ersetzen kann. Di­
es war ein sehr wichtiger Schritt in der
Kampagne, der zur Schulung von Akti­
vistInnen beitrug und den Menschen in­
nerhalb der Bewegung Selbstvertrauen
gab.
Im Mai diesen Jahres trafen sich
UmweltaktivistInnen,
Bürgerinitiati­
ven, WissenschaftlerInnen und Gewerk­
schaftsvertreterInnen aus verschiedenen
europäischen Ländern (inklusive Bob
Crow von der RMT aus Großbritannien)
in Köln, um ein umweltfreundliches Ver­
kehrssystem zu diskutieren. Die Konfe­
renz verabschiedete die Kölner Erklä­
rung gegen die Bahnprivatisierung und
für ein umweltfreundliches Verkehrs­
system. Ein konkreter Plan, RailEuro­
pe2025, wurde erstellt, wie man das eu­
ropäische Verkehrswesen innerhalb der
nächsten 15 Jahre so umgestalten kann,
dass die CO2-Emissionen um 75% zu­
rückgehen und somit auch die gesamt­
en Emissionen auf die Hälfte reduziert
werden. Dieser Plan gibt den Gewerk­
schaften sowie anderen Bewegungen
die Handhabe, politischen Druck aufzu­
bauen.
Der dritte wichtige Schritt wäre,
solche alternativen Pläne mit den kon­
kreten Arbeitsplätzen zu verbinden, mit
der Produktion vor Ort, so wie dies
zum Beispiel in den 70ern in Großbri­
tannien bei Lucas Aerospace versucht
wurde. Obwohl dieser Kampf verloren
ging, hatte er doch weltweit reichende
Auswirkungen, die immer noch anhal­
ten.
In den späten 70ern gab es in Schwe­
den eine Krise in der Werft- und Stahlin­
dustrie und den Überbleibseln der Texti­
lindustrie. Für eine ganze Zeit lang wur­
de „alternative Produktion“ zu einem
weitverbreiteten Schlagwort und Hoff­
nungsträger. Aber so gut wie alle Ver­
suche unter diesem Motto scheiterten
daran, dass fast Alle unter „alternati­
ver Produktion“ „andere profitable Pro­
dukte“ verstanden.
Wenn wir diese Idee der „alterna­
tiven Produktion“ nutzen wollen, müs­
sen wir aufzeigen, dass wir unsere Fä­
higkeiten nutzen wollen, um ein gesell­
schaftlich nützliches und notwendiges
Produkt herzustellen, egal ob es im ka­
pitalistischen Sinne profitabel ist oder
nicht. Dies war die Stärke des Plans bei
Lucas Aerospace.
Ein anderer attraktiver Aspekt der
Erfahrung bei Lucas war, dass sich
zeigte, was passieren kann, wenn Arbei­
terInnen aus der Tretmühle ihres Alltags
ausbrechen. Gegen Ende des 18. Jahr­
hunderts fasste dies Thomas Paine fol­
gendermaßen zusammen:
„Revolutionen erzeugen Genie und
Talent; aber durch diese Ereignisse tre­
ten diese nur ans Tageslicht. In jedem
von uns schlummern massenhaft Fä­
higkeiten, die wir mit ins Grab nehmen,
es sei denn, etwas bringt sie zum Erwa­
chen.“ 2
Die dieses Jahr auf der Gewerk­
schaftskonferenz ins Leben gerufene
Kampagne gegen den Klimawandel be­
schloss, ein Komitee zu bilden, um mit
der Erstellung eines Konversionsplans
entlang lokaler Gegebenheiten zu be­
ginnen. Das ist ein Schritt in die rich­
tige Richtung.
Lars Henriksson arbeitet in einer schwedischen
Autofabrik. Er ist Mitglied der Sozialistischen
Partei (SP), der schwedischen Sektion der IV.
Internationale.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus einer Re­
de auf der Konferenz über Klima und Kapita­
lismus, die von Green Left und Socialist Resi­
stance in London am 12 September 2009 orga­
nisiert wurde.
Übersetzung: Ana
2 Rights of Man, II, 1792
inprekorr 460/461
Ökonomie
Vom 2. bis 4. Oktober 2009 hat im Internationalen Institut für Forschung und Bildung (IRRE) in
Amsterdam ein Ökonomie-Seminar stattgefunden. Die in diesem Heft veröffentlichten Artikel von
Chris Harman, Claudio Katz, Jean Sanuk, Özlem
Onaran, Thadeus Pato wurden für dieses Seminar
geschrieben und dort diskutiert. Weitere Beiträge
von Esther Vivas, François Chesnais und Michel
Husson sind in einer Sonderausgabe der französischen Inprecor veröffentlicht worden.1
An dem Seminar nahmen 32 ÖkonomInnen
und politisch Aktive aus 15 Ländern teil. Es hatte die Ziele, die Wirtschaftskrise, die 2008 begonnen hat, in eine historische Perspektive zu stellen und zu analysieren, welche unterschiedlichen
Ausprägungen sie auf verschiedenen Kontinenten
hat; die marxistische Krisentheorie zu aktualisieren und zu berücksichtigen, welche Änderungen
die Globalisierung und die „Finanzialisierung“ mit
sich gebracht haben; die Verbindungen von Wirtschaftskrise, Nahrungsmittelkrise, Energiekrise
und Klimakrise zu beleuchten.
Bei einer Reihe von unterschiedlichen Akzenten
und Meinungsverschiedenheiten waren alle, die
gesprochen haben, sich darin einig, dass es sich
um weit mehr handelt als eine Bankenkrise oder
1 Siehe http://orta.dynalias.org/inprecor/inprecor?numero=556-557.
Der Beitrag von Esther Vivas über die internationale Nahrungsmittelpro­
duktion ist auf Englisch zu finden unter: http://www.internationalview­
point.org/spip.php?article1774.
eine etwas schwerere Rezession als die der letzten
Jahrzehnte (Mexiko 1994, Ostasien 1997/98, Russland und Türkei 1999, Argentinien 2001, geplatzte
Blase der „new economy“ in den USA 2001). Die
Krise erstreckt sich auf die Mechanismen, die mit
der neoliberalen Offensive durchgesetzt worden
sind; es handelt sich um eine Strukturkrise des internationalen Kapitalismus; wir haben erst den Anfang dieser Krise erlebt, auch bei einer konjunkturellen Erholung wird es weiter ein hohes Niveau
von Arbeitslosigkeit und Armut geben.
Im letzten Teil des Seminars wurden Referate
über die Nahrungsmittelkrise und über die Energie-, Umwelt- und Klimakrise sowie über fortschrittliche Wege aus der Krise im Süden und im
Norden vorgetragen. Bei dem letzten Thema wurde
das Ziel benannt, ein Programm von Maßnahmen
zu formulieren, die den unmittelbaren Anliegen der
abhängig Beschäftigten und Ausgegrenzten entsprechen und zugleich eine Brücke hin zu einer
„ökosozialistischen Gesellschaft“ schlagen. Dabei geht es darum, über die Weigerung, für die Krise zu zahlen, und auch über eine radikale Umverteilung des vorhandenen Reichtums hinauszugehen, sondern die Fragen aufzuwerfen und anzugehen, was unter Reichtum zu verstehen ist, und wie
Reichtum produziert wird, Fragen der Zivilisation,
Fragen der Kontrolle und Entscheidung.
Fr. D.
EU: Die weltweite Krise und die Wirtschaftspolitik: Kann die Politik den
Kapitalismus vor sich selbst retten?
Özlem Onaran
Die neoliberale Politik und der sinkende
Anteil der Arbeitslöhne haben ein frucht­
bares Terrain für die Entstehung einer
weltweiten Krise geschaffen, die mit zu­
nehmender Verschuldung und einer Aus­
weitung der Risikomärkte im Kredit-,
Wohnungs- und Versicherungswesen ein­
hergeht. Daher stecken wir in einer Kri­
se, die in steigenden Ausbeutungsraten
und extremer Ungleichheit in der Einkom­
mensverteilung ihren Ausdruck findet. Die
Wirtschaftspolitik beteiligt sich noch an
diesen Verteilungskämpfen, statt die Kri­
inprekorr 460/461
se zu bekämpfen. Dies erklärt auch, wa­
rum die internationalen und nationalen In­
stitutionen erst auf die Anhäufung der Ri­
siken reagiert haben, als diese sich in ei­
ne veritable Krise verwandelt hatten. Die
Eliten an der Macht, die aus den Schalt­
zentralen des Kapitals stammen, reagie­
ren darauf mit einer Politik, die die Profi­
te durch massive staatliche Interventionen
hoch halten soll, um dann zum business as
usual des Neoliberalismus zurückzukeh­
ren. Wie zu erwarten gelten die Bestre­
bungen dem Ziel, den Kapitalismus vor
sich selbst zu retten, und nicht der Umver­
teilung der Einkommen und Reichtümer,
solange kein Druck durch Massenmobi­
lisierungen ausgeübt wird. Gleichwohl
übersehen die herrschenden Eliten in ih­
rem frommen Wunsch, die Geschäfte wie
gehabt weiterlaufen zu lassen, die vielfäl­
tigen Dimensionen der Krise.
An erster Stelle steht die wirtschaft­
liche Dimension. Der Kapitalismus
steckt in einer erheblichen Krise der
Kapitalverwertung. Der Neoliberalis­
mus hat versucht, die vorangegangene
7
Ökonomie
Krise zu lösen, indem er den keynesi­
anischen Konsens des goldenen Zeital­
ters des Kapitalismus aufkündigte und
auf offene Konfrontation zu den Lohn­
abhängigen ging. Dadurch konnten im
Laufe der 90er Jahre in den wichtigsten
kapitalistischen Ländern die Profitraten
wieder hergestellt werden. Auf der an­
deren Seite wurde auf diesem Wege ei­
ne potentielle Krise der Kapitalverwer­
tung angebahnt als Folge niedriger Löh­
ne und zurückgehender Investitionen.
Letztlich führte dies nur zu einer Verla­
gerung der Probleme: Statt der Überak­
kumulation und der sinkenden Profitrate
der 70er Jahre kam es nun zu einer Ver­
wertungskrise. Die möglichen nega­
tiven Auswirkungen, die die Finanzia­
lisierung und die dramatische Einkom­
mensverschlechterung unter den Lohn­
abhängigen während der letzten 20 Jah­
re auf Konsum und Investitionen geha­
bt haben, wurden kompensiert, indem
die USA ihren Konsum durch welt­
weite Verschuldung finanzierten. Seit
dem Sommer 2007 ist auch dieser Aus­
weg versperrt, und die kapitalistische
Wirtschaft befindet sich in einer ausge­
wachsenen Systemkrise, deren Ausmaß
mit der Großen Depression vergleich­
bar ist. Lediglich durch eine nie da ge­
wesene politische Intervention wird ih­
re tatsächliche Dimension verschleiert.
Nachdem nun die Finanzmechanismen,
die die Schuldenanhäufung ermögli­
cht haben, kollabiert sind, bleibt unklar,
wie die Verwertungskrise des Kapitals
mit dieser Strategie überwunden wer­
den soll.
Die zweite Dimension betrifft die
Ökologie. Alle Bemühungen um wirt­
schaftliche Erholung zielen darauf,
Wachstum und Beschäftigung durch er­
höhten Konsum aufrecht zu erhalten,
und leben von der Hoffnung, dass durch
wundersame Neuerungen in der Ener­
gieeffizienz der Verbrauch beibehalten
werden kann. Im Unterschied jedoch
zur letzten Systemkrise in den 70er Jah­
ren sind die ökologischen Grenzen des
Wachstums inzwischen wissenschaft­
lich fest untermauert und es gibt kei­
ne ernsthaften Zweifel daran, dass Wie­
deraufschwung nicht die Rückkehr zum
business as usual bedeuten darf, so­
wohl in ökologischer als auch in öko­
nomischer Hinsicht. Wenn die Nutzung
der Umweltressourcen auf „Nachhal­
tigkeit“ abzielen soll, wird das langfri­
stige Wachstum bei Null oder darunter
liegen müssen, d. h. es muss gleich der
8
Wachstumsrate der „Umweltproduktivi­
tät“ sein. Um jedoch auch sozial erstre­
benswert zu sein, muss ein solches Sy­
stem Arbeitsplätze auf hohem Niveau
und eine gleiche Verteilung der Reich­
tümer bieten. Und genau dieser Punkt
ist mit dem Kapitalismus unvereinbar,
zumindest solange es keine grundle­
gende technologische Revolution gibt.
Eine weitere Dimension betrifft die
politische Legitimität. Das Ausmaß der
aktuellen Krise hat die Hegemonie des
Neoliberalismus ins Wanken gebracht
und eine Reform des Wirtschaftssy­
stems weithin zum Thema gemacht.
Durch zunehmende Arbeitslosigkeit
und Ungleichheit in Westeuropa sowie
die Wiederkehr der nach 20 Jahren Ka­
pitalismus für überwunden geglaubten
düsteren Zeiten in Osteuropa, als der
Zerfall des Ostblocks zunächst zu einer
Krise führte, wird eine tiefe politische
Unzufriedenheit entstehen. Dies schafft
Raum für eine Radikalisierung, aber erst
muss die Linke die ideologische Hege­
monie des Kapitalismus offen heraus­
fordern.
Angesichts dieser Vielfältigkeit
der Krise bleibt offen, woher der Auf­
schwung kommen soll, selbst wenn die
Rezession ihre Talsohle erreicht hat. Da
business as usual nicht langfristig trag­
bar ist, stellt sich die Frage, ob der Ka­
pitalismus neue institutionelle Struk­
turen und einen neuen Wirtschaftssek­
tor als Wachstumsmotor hervorbringen,
die Grenzen, die ihm durch ökologische
Nachhaltigkeit und politische Legitima­
tion gesetzt werden, überwinden und
aus dieser Krise heraus in einen neu­
en Aufstiegszyklus eintreten kann. Wie
einfallsreich der Kapitalismus in sei­
ner Destruktivkraft ist, bleibt unbestrit­
ten. Die dadurch entstehenden Verwer­
fungen eröffnen jedoch Spielräume für
einen radikalen Systemwechsel.
Die Krise der neoliberalen
Ära des Kapitalismus
Die neoliberale Wirtschaftspolitik ent­
stand als Reaktion der Kapitalisten auf
die Krise der 70er Jahre. Seit den 80ern
wurde von der Weltwirtschaft auf nati­
onaler und internationaler Ebene eine
Deregulierung der Arbeit, des Waren­
verkehrs und der Finanzmärkte durch­
gesetzt. Mit dem Zerfall der Sowjetuni­
on und der Comeconstaaten entstanden
nach den 90er Jahren neue Absatzmär­
kte und eine Reservearmee billiger Ar­
beitskräfte, wodurch die Sozialstaaten
des Westens der Notwendigkeit entho­
ben wurden, den Lohnabhängigen ei­
nen bestimmten Lebensstandard zu ge­
währen. Infolgedessen erlitt die Arbei­
terbewegung seit Anfang der 80er ei­
nen dramatischen Abstieg ihrer Durch­
setzungsfähigkeit und der Lohnquote in
den wichtigsten kapitalistischen Län­
dern (Grafik 1). Dieser historische Ver­
fall der Lohnquote griff in der Folge
von den Metropolen auf die wichtigsten
Schwellenländer in Lateinamerika und
Asien sowie auf Osteuropa über. Über­
all dort wurden dieselben neoliberalen
Direktiven angewandt. Hinter dieser an
sich schon recht bemerkenswerten welt­
weiten Entwicklung verbirgt sich noch
ein weiterer wesentlicher Faktor: die en­
ormen Gehälter der Unternehmensvor­
stände und anderer Topverdiener unter
den leitenden Angestellten werden in
diese Arbeitseinkommen reingerechnet
und der Anteil dieser Spitzenverdiener
hat im Lauf der letzten 20 Jahre erheb­
lich zulasten der übrigen Lohnabhängi­
gen zugenommen.1 In den USA und den
meisten EU-Ländern hat die verschärf­
te Ausbeutungsrate dazu geführt, dass
die Profitrate Ende der 90er/Anfang des
Jahrtausends wieder das Niveau der frü­
hen 70er Jahre erreicht haben (Grafik 2).
Der Wiederanstieg der Profitrate voll­
zog sich nicht nur in der Gesamtwirt­
schaft sondern auch im produzierenden
und gewerblichen Sektor, dort aber we­
gen der hohen kapitalistischen Konkur­
renz in einem geringeren Umfang. Die­
se Wiederherstellung der Profitrate war
einerseits die Folge der fallenden Lohn­
quote und damit der verschärften Aus­
beutung, andererseits auch der geringen
Investitionen der Gewinne in die Kern­
aktivitäten der Unternehmen, sowohl in
den EU-Ländern als auch in den USA.
Für die USA ermöglichen genauere
Zahlen, die Verteilung innerhalb der ka­
pitalistischen Klasse zu differenzieren.
Der Anteil der Dividenden und Zinsge­
winne an den Profiten ist in den letzten
20 Jahren grundlegend gestiegen. Das
Verhältnis von Investitionen zu Dividen­
den und Zinsgewinnen ist auch in den
USA rückläufig.
In der neoliberalen Ära des Kapita­
lismus gibt es zwei grundlegende lang­
fristige Widersprüche. Erstens wurden
1 World of Work: Income Inequalities in the Age
of Financial Globalization, ILO, Genf 2008.
inprekorr 460/461
Ökonomie
Grafik 1: Entwicklung der Lohnquote (Großbritannien, EU -15, USA,
Deutschland)
in dieser Zeit höhere Profite für die mul­
tinationalen Konzerne besonders im Fi­
nanzsektor generiert. Diese gestiegenen
Finanzrenditen haben jedoch die Ge­
winne aus der Realwirtschaft in zahl­
reichen Fällen ersetzt. Mit der wachsen­
den Ausdehnung der Finanzwirtschaft
geriet das Investitionsverhalten der Un­
ternehmen zunehmend in den Schatten
der steigenden Aktienwerte. Lazonick
und O’Sullivan2 belegen, dass ein Para­
2 Lazonick W. et O’Sullivan M., « Maximizing
digmenwechsel unter den Unternehmern
stattgefunden hat: Statt zu „bewahren
und zu investieren“ wird „geschrumpft
und verteilt“. Die Gehaltsvorstellungen
der Manager, die sich an den auf kurz­
fristige Gewinne fixierten Finanzmärk­
ten orientieren, haben die Maxime des
shareholder-value weiter verfestigt. Die
Deregulierung der Finanzmärkte und
der Druck der dortigen Investoren ha­
shareholder value : a new ideology for corpo­
rate governance », Economy and Society n° 29,
pp. 13-35.
ben die Neigung befördert, Vermögens­
werte lieber zu kaufen statt zu schaf­
fen. Zugleich haben die maßgeblichen
Wirtschaftspolitiker hartnäckig Vertrau­
en in die volatilen Finanzmärkte einge­
worben. Das vorrangige Ziel der De­
regulierungen lag darin, die Interessen
der Coupon-Schneider zu bedienen, und
auch in Krisenzeiten gab es für sie Inve­
stitionsbeihilfen, Steuererleichterungen
und Stützungsaktionen. Die Kehrseite
dieser Entwicklung war die Deckelung
der Lohnabhängigen. In gewisser Weise
wurde durch die Absenkung der Lohn­
quote das Abschmelzen der Profite in
der Realwirtschaft infolge der Zinsbela­
stung aufgefangen.
Im Ergebnis hat sich das Verhält­
nis zwischen Renditen und Investiti­
onen verschoben: höhere Gewinne füh­
ren nicht mehr automatisch zu höheren
Investitionen. Da der Anteil der Divi­
denden und Zinszahlungen an den Ge­
winnen während der vergangenen 20
Jahre erheblich zugenommen hat, ist
der für Investitionen zurückgegangen.
Trotz höherer Profitraten lagen die wirt­
schaftlichen Wachstumsraten nicht nur
in den USA sondern auch in den ande­
ren führenden kapitalistischen Ländern
(Deutschland, Frankreich und Großbri­
tannien) wie auch in manchen Schwel­
lenländern (bspw. Lateinamerika oder
Grafik 2: Profitraten
inprekorr 460/461
9
Ökonomie
Türkei) weit unter ihrem historischen
Trend. In den Augen des Kapitals wäre
es widersinnig gewesen, inmitten einer
deregulierten Finanzwirtschaft auf kurz­
fristige Gewinnoptionen zu verzichten,
um langfristig gebundene Investitionen
in Sachwerte mit ungewissem Ausgang
zu tätigen. Notabene galt für das Kapital
nach 1980 nicht die Profitrate als Aus­
gangspunkt, die Anfang der 60er Jah­
re im Produktionssektor erzielt worden
war und über den heutigen Werten gele­
gen haben mochte, sondern die kurzfri­
stige Rendite der Finanzwerte. Insofern
ist es wenig stichhaltig, diese Krise als
das Ergebnis des tendenziellen Falls der
Profitrate infolge der unvermeidbaren
Zunahme der organischen Zusammen­
setzung des Kapitals zu sehen, wie dies
Choonara, Harmann und Klimann3 tun,
oder als Folge der gestiegenen internati­
onalen Konkurrenz, wie Brenner argu­
mentiert.4
Zweitens war die sinkende Lohn­
quote für das System mithin ursäch­
lich für die Verwertungskrise. Denn Ge­
winne können nur realisiert werden,
wenn eine hinreichend zahlungsfähige
Nachfrage für die Waren und Dienst­
leistungen existiert. Die schwindende
Kaufkraft der Arbeitenden schlägt sich
negativ auf den Verbrauch nieder, weil
der vergleichsweise marginale Verzehr
der Profiteure den abnehmenden Ver­
zehr der Lohnempfänger nicht aufwie­
gen kann. Dies dämpft zusätzlich die In­
vestitionen, die bereits unter der Aus­
richtung auf den shareholder value lei­
den.
Und genau an diesem Punkt schie­
nen die finanztechnischen Neuerungen
eine kurzfristige Lösung für die Krise
des Neoliberalismus in den 90er Jahren
parat zu haben: Wachstum durch Kon­
sum auf Pump. Notabene wäre ohne
die ungleiche Einkommensverteilung
ein auf Schulden beruhendes Wachstum
3 Cf. Choonara J., « Marxist accounts of the cur­
rent crisis », International Socialism n° 83,
http://www.isj.org.uk/?id=557 ; Harmann
Chris, « The Slump of the 1930s and the Crisis
Today », International Socialism n° 121, www.
isj.org.uk/?id=506; siehe auch den Artikel in
der vorliegenden Ausgabe; Kliman Andrew,
« “The Destruction of Capital” and the Cur­
rent Economic Crisis », http://akliman.square­
space.com/crisis-intervention/
4 Brenner Robert, « What is good for Goldman
Sachs is good for America – The origins of the
current crisis », Prologue to the Spanish trans­
lation of Economics of Global Turbulence,
Akal; s. auch “Die Wirtschaft in einer krisen­
geschüttelten Welt”, Interview mit R. Brenner,
Inprekorr 452/453
10 niemals notwendig oder möglich gewe­
sen. Besonders in den USA, aber auch
in England, Irland und sogar manchen
kontinentaleuropäischen Ländern wie
Holland oder Dänemark hat die Ver­
schuldung der Haushalte während der
letzten zehn Jahre dramatisch zugenom­
men. Der Anstieg der Hypothekenkre­
dite und der Immobilienpreise haben
sich dabei gegenseitig hochgeschaukelt,
wobei der im Zuge der Immobilienbla­
se steigende Wert der Immobilien neue
Kredite ermöglichte und so den Kon­
sum anheizte. Obwohl das Wachstum
unter dem der 60er Jahre lag, muss di­
ese Phase als eine neue lange expansive
Welle gelten, mit der Besonderheit, dass
die Gewinne nicht zu Investitionen ge­
führt und das Wachstum keine Arbeits­
plätze geschaffen haben und der Finanz­
markt zunehmend instabiler geworden
ist. Die Finanzialisierung hat zu einem
Schulden induzierten Wachstum durch
kurzfristige Stützung des Konsums ge­
führt, aber die Schulden müssen in der
Zukunft bezahlt werden. Wegen der ho­
hen Verschuldung nimmt auch die An­
fälligkeit der Wirtschaft für Schwan­
kungen auf dem Kreditsektor zu.
Durch die Deregulierung der Fi­
nanzmärkte und die darauf folgenden
Innovationen wie besicherte Anleihen
(MBS), forderungsbesicherte Wert­
papiere (CDO) und Kreditderivaten
(CDS) wurde das Schulden gestützte
Wachstumsmodell noch gefördert. Di­
ese Innovationen und die „originate to
distribute“-Strategie (Verkauf von For­
derungen) der Banken haben die Kredit­
summen, die die Banken am Eigenkapi­
tal gemessen vergeben konnten, verviel­
facht. Die Prämien für die Banker, die
Bankprovisionen, die hohen Vorstands­
bezüge dank der hohen Gewinne und
die Provisionen für die Rating-Agen­
turen haben die Investitionsmechanis­
men in ein Kurz-Frist-Denken perver­
tiert, das blind gegenüber den Risiken
dieses Modells ist. Selbst wenn das Aus­
fallrisiko bekannt war, spielte dies in
dem auf Kurzfristigkeit angelegten Seg­
ment der Subprime-Kredite keine grö­
ßere Rolle. Erstens waren die meisten
dieser Kredite bereits an andere Inve­
storen in Form hochrentabler besicher­
ter Anleihen verkauft. Zweitens konnten
im Falle der Zahlungsunfähigkeit die
verpfändeten Immobilien verkauft wer­
den, was für den Gläubiger höchst profi­
tabel war, solange die Immobilienpreise
immer weiter stiegen. Allerdings führte
dies Bankenmodell zu einem sehr risi­
koreichen Wirtschaftsmodell und zu ei­
ner Zeitbombe, die irgendwann hochge­
hen musste. Die schlechten Nachrichten
vom Subprime-Markt lösten schließ­
lich die Explosion aus, die zunächst die
CDO’s betraf, dann den Interbanken­
markt und schließlich brach der gesamte
Kreditmarkt weltweit zusammen.
Interessant dabei ist, warum es so
lange gedauert hat, bis die Zeitbombe
explodierte. Die Antwort liegt in der Ei­
gendynamik der Erwartungshaltung. Da
das Schulden gestützte Wachstumsmo­
dell kurzfristig hohes Wachstum und
Profite erzeugte, wurde der Optimis­
mus auf dem Weg der self-fulfilling pro­
phecy angeheizt und die Risiken wur­
den immer geringer geschätzt, selbst
von den anfänglich Konservativen. In
einer Welt des Konkurrenzzwangs müs­
sen auch diejenigen, die die Risiken er­
kennen, sich zu den Risiken hinreißen
lassen, wenn sie ihre Position als Mak­
ler, Banker oder Vorstand behalten wol­
len. Denn das Platzen der Blase ist eine
Frage der Zeit und die kann länger dau­
ern als die kurzfristige Gewinnerwar­
tung der Aktionäre, die deswegen auch
nicht nach sichereren Anlagen streben.
Nur wenige Wochen vor dem Crash
im Juli 2007 hatte der ehemalige Vor­
standsvorsitzende der Citibank Chuck
Prince noch gesagt: „Wenn die Musik –
im Sinne von Liquidität – aufhört, wird
die Lage kompliziert. Aber so lange die
Musik noch spielt, muss man aufstehen
und tanzen.“5 Michael Mayo ist ein Bei­
spiel für einen Bank-Analysten, der sei­
ne Stelle wegen „Konservatismus“ ver­
loren hat. „Er riet 1999 zum Verkauf von
Bankaktien und blieb auch dabei, als
es ihn seinen Job bei der Credit Suisse
und Freunde bei der Wall Street kostete.
Dieses Jahr meinte er, dass die Banken
viel zu sehr auf forderungsbesicherte
Wertpapiere (ABS) vertrauten und dass
wir beim Fall der Immobilienpreise eine
Kettenreaktion abnehmender Immobili­
enpreise und abnehmender Kreditsiche­
rung erleben würden, ganz zu schwei­
gen von den politischen Weiterungen
(Fortune, 2008). Unter dem Druck des
Wettbewerbs greifen sowohl die Ban­
ken als auch die Schuldner vermehrt auf
Fremdkapital zurück. Dadurch wuchs
die Anfälligkeit der Wirtschaft und es
entstand ein systematisches Risiko. Als
5 Zitiert durch Elliot L., « After the orgy, let’s
clean up », Guardian Weekly, 3. August 2007.
inprekorr 460/461
Ökonomie
dann der Crash kam, waren Kreditklem­
me und der Kollaps des Schulden ge­
stützten Wachstumsmodells unvermeid­
lich.
Ein wesentlicherer Ansatz zur Er­
klärung der Krise ist die Einkommens­
verteilung, die diesem Risiko behaf­
teten Modell zugrunde liegt. Eine Kri­
senprävention erfordert die Lösung der
Probleme auf der Verteilungsebene, die
hinter dem Schulden gestützten Wachs­
tumsmodell stehen, d. h. eine Umvertei­
lung der Einkommen und Reichtümer.
Aber die Mächtigen der Welt, die über
ihre jeweiligen Staatsregierungen die
Weltpolitik beeinflussen, wären mit ei­
ner solchen Lösung nicht einverstanden.
Daher hoffen die politischen Instituti­
onen auf eine „weiche Landung“, die
es ermöglicht, die wirtschaftlichen „Ex­
zesse“ zu korrigieren, ohne die Kon­
flikte auf der Verteilungsebene ins Spiel
zu bringen.
Dieses Konsummodel auf Pump hat
in den USA zu einer negativen Zah­
lungsbilanz von über 6% des BIP ge­
führt. Dies Defizit wurde durch die
Überschüsse anderer Industrielän­
der wie Japan und Deutschland, durch
Schwellenländer wie China und Süd­
korea und die Erdölländer des Na­
hen Ostens finanziert. In Deutschland
und Japan kamen die Überschüsse in
der Zahlungsbilanz und der Kapital­
fluss in die USA durch Zurückhaltung
bei den Löhnen zustande, die zu gerin­
gerer Binnennachfrage und steigenden
Exporten führte. Auch dies ist wiede­
rum eine Konsequenz der ungleichen
Verteilung. Was die Schwellenländer
wie China und Südkorea angeht, ha­
ben die Erfahrungen aus den Krisen
in Asien und Lateinamerika dazu ge­
führt, dass Währungsreserven gebildet
wurden, um sich gegen Abflüsse von
Spekulationskapital zu wappnen. Hier
spielt die internationale Dimension der
Ungleichheit eine große Rolle: unter
Tab 1 Wirtschaftsaussichten der OECD-Staaten, Juni 2009, Hochrechnungen
2008
2009
2010
2009*
BIP, jährliches Wachstum in %
1,1
Arbeitslosenquote
5,8
-2,8
0,9
-2,8
9,3
10,1
Jährlicher Reallohnanstieg in %
-0,6
3,5
0,7
Haushaltsdefizit/BIP
USA
-5,9
-10,1
-11,2
Kurzfristige Zinsen
3,2
1,0
0,5
Inflation
3,8
-0,6
1,0
-0,7
-6,8
-0,7
4,0
5,2
5,7
Jährlicher Reallohnanstieg in %
-1,4
-0,7
0,7
Haushaltsdefizit/BIP
Die Krise in den EU-Ländern
West- und Osteuropas
Japan
BIP, jährliches Wachstum in %
Arbeitslosenquote
-2,7
-7,8
-8,7
Kurzfristige Zinsen
0,7
0,6
0,3
Inflation
1,4
-1,4
-1,4
-5,6
Euro-Zone (12 OECD-Mitglieder)
BIP, jährliches Wachstum in %
Arbeitslosenquote
-0,5
-4,8
0,0
7,5
10,0
12,0
Jährlicher Reallohnanstieg in %
-0,8
0,6
0,6
Haushaltsdefizit/BIP
-1,9
-5,6
-7,0
Kurzfristige Zinsen
4,7
1,2
0,5
Inflation
3,3
0,5
0,7
BIP, jährliches Wachstum in %
0,7
-4,3
0,0
Arbeitslosenquote
5,7
8,2
9,7
-3,9
Großbritannien
Jährlicher Reallohnanstieg in %
-1,6
-1,3
-0,1
Haushaltsdefizit/BIP
-5,5
-12,8
-14,0
Kurzfristige Zinsen
5,5
1,4
0,6
Inflation
3,6
1,9
1,2
* bereinigte Zahlen vom September 2009
inprekorr 460/461
der Bedrohung durch die frei zirkulie­
renden und kurzfristig volatilen inter­
nationalen Finanzkapitalflüsse haben
sie ihre Überschüsse in der Zahlungs­
bilanz in US-Regierungsanleihen inve­
stiert anstatt die Entwicklung der eige­
nen Länder zu fördern.
Auf europäischer Ebene beför­
derte die starke Lohnzurückhaltung in
Deutschland die Ungleichgewichte in­
nerhalb Westeuropas und auch zwi­
schen West und Ost. Im Westen führte
das Ausbleiben einer systematischen In­
dustrieförderung und öffentlicher Inve­
stitionen in Ländern wie Spanien, Grie­
chenland, Portugal, Italien und Irland
zu einem Anstieg der Produktionsko­
sten (Lohnstückkosten). Auf diesem
Weg gingen die hohen Überschüsse in
der Zahlungsbilanz der neomerkantili­
stischen Länder der EU – Deutschland
gemeinsam mit Österreich, Holland und
Finnland – mit einer Zunahme der Han­
delsdefizite in den anderen EU-Ländern
einher. Auch das niedrige Lohnniveau in
Osteuropa hat diese Länder nicht vor ei­
ner defizitären Handelsbilanz bewahrt,
da die dort ansässigen multinationalen
Konzerne aus Europa umfangreiche Im­
porte über ihre internationalen Zuliefe­
rer ausführten als auch wegen der hohen
Profite, die sie erzielten und teils in die
Heimatländer transferierten, teils re-in­
vestierten.
-4,7
Die Krise offenbart die Divergenzen
und Bruchstellen zwischen den Ländern
Westeuropas und denen der Peripherie.
1. Westeuropa
Obwohl die Krise von den USA ausging,
sind die Auswirkungen in Europa größer,
was mithin auf die umfassenden staat­
lichen Konjunkturprogramme und die
prompte Reaktion in den USA zurück­
zuführen ist. Die aktualisierten Konjunk­
turprognosen des OECD-Wirtschaftsaus­
blick vom September 2009 gehen davon
aus, dass das BIP 2009 in den USA um
2,8% schrumpfen wird, während für die
12 Länder der Euro-Zone ein Rückgang
von 3,9% und für England von 4,7% er­
wartet wird (Tabelle 1). Dass in Eng­
land die Rezession stärker ausfällt, liegt
an der größeren Abhängigkeit vom Fi­
nanzmarkt, dem Schuldenabbau der Ban­
ken, dem Platzen der Immobilienblase
und der Verschuldung der Haushalte. In­
11
Ökonomie
nerhalb der Eurozone klaffen die Progno­
sen weit auseinander: für Deutschland und
Italien werden -4,8% rsp. -5,2% erwartet,
in Frankreich hingegen nur -2,1%. Auch
die jeweiligen Gründe für die wirtschaft­
liche Anfälligkeit in den EU-Ländern sind
unterschiedlich. Deutschland leidet auf­
grund schrumpfender Exportmärkte be­
sonders unter seiner fatalen neo-merkan­
tilistischen Ausrichtung, d. h. seinem auf
Lohndumping beruhenden exportbezo­
genen Wachstum, das die Binnennachfra­
ge seit Jahrzehnten stagnieren lässt. Die in­
zwischen chronisch defizitären Leistungs­
bilanzen Italiens, Spaniens, Griechenlands
und Portugals resultieren aus dem histo­
rischen Versagen, die EU und die gemein­
same Währung geschaffen zu haben, oh­
ne sich dabei politisch näher gekommen
zu sein. Dies erweist sich jetzt als deletär:
die Finanzinvestoren verlangen seit 2007
viel höhere Zinsen für die Staatsanleihen
dieser defizitären EU-Länder als bspw. für
Deutschland. Die Fähigkeit der einzelnen
Länder, auf den Crash zu reagieren, wird
auch durch das jeweilige Steueraufkom­
men limitiert. Auch Österreich reiht sich
ein unter die Hochzinsländer infolge des
ausgeprägten Engagements seiner Banken
in Osteuropa. In Irland wird die Rezession
aufgrund des aufgeblähten Bankensektors
und der geplatzten Immobilienblase nicht
nur 2009 sehr viel stärker (-9,8% nach den
Vorläufigen Prognosen der OECD vom Ju­
ni 2009) ausfallen, sondern auch in 2010
anhalten. Auch in Spanien dürfte die Re­
zession infolge der geplatzten Immobili­
enblase und des Rückgangs der Bautätig­
keit noch 2010 anhalten.
Für die anderen westeuropäischen
Länder außer Spanien und Irland rech­
net die OECD mit einer schnelleren Er­
holung als ursprünglich angenommen,
„wobei sich der Konjunkturaufschwung
vorerst in kleineren Schritten vollziehen
dürfte“.6 Dabei muss man die Progno­
sen der OECD noch als obere Marge an­
sehen.
Die Reallöhne dürften sowohl in
Deutschland als auch in England (um
1,2% bzw. 1,3% nach eigenen Berech­
nungen anhand der Vorhersagen für No­
minallöhne und Inflationsrate) in 2009,
aber auch in 2010 sinken, wobei be­
reits 2008 ein Rückgang von 0,9% bzw.
1,6% verzeichnet wurde. Auch in Bel­
gien und Irland dürften die Reallöh­
ne 2009 zurückgehen, in Irland voraus­
sichtlich sogar auch 2010. Dies ist umso
bemerkenswerter, da die OECD ja von
6 OECD, Interim Economic Assessment Sep­
tember 2009.
12 einem – zwar schwachen, aber positiven
– Wirtschaftswachstum für 2010 aus­
geht. Reallohnverluste gab es 2008 be­
reits auch in Frankreich, Italien, Öster­
reich, Belgien, Luxemburg und Schwe­
den. Durch die deutliche und dauerhafte
Zunahme der Arbeitslosigkeit steigt
die Wahrscheinlichkeit weiteren Real­
lohnabbaus für 2010. Wenn sich die po­
litischen und organisatorischen Bedin­
gungen nicht ändern, werden die Lohn­
abhängigen noch drastischer an Durch­
setzungsvermögen verlieren.
Das Beispiel Japans zeigt, dass zu
Beginn einer Deflation oder lang dau­
ernden Rezession die Löhne stagnie­
ren oder mitunter sogar leicht steigen.
Mit Fortdauer der Deflation oder Re­
zession sinken sogar die Nominallöh­
ne: zwischen 1992 und 2007 um 8,9%.7
Der Rückgang der Löhne in Osteuropa
unter der Last der globalen Krise wird
die Löhne in Westeuropa noch zusätz­
lich unter Konkurrenzdruck setzen. Ab­
sehbar ist außerdem eine weitere Zu­
nahme des Gefälles entlang der Quali­
fikation und der Zerstückelung von Ar­
beitsplätzen. Schon jetzt verlieren Zeit­
arbeiter als erste ihre Stelle, während die
qualifizierteren Arbeiter gehalten wer­
den. Andererseits waren in bestimmten
Bereichen in der Automobil- und Me­
tallindustrie sowie den Finanzdienstlei­
stungen auch qualifizierte Arbeitskräf­
te als erste betroffen. Dazu kommt, dass
die anstehenden Kürzungen der staat­
lichen Sozialausgaben besonders die
Lohnabhängigen treffen werden.
Die Arbeitslosigkeit wird in England
und der Euro-Zone wohl um 2,5% stei­
gen und 2010 weiter zunehmen. Beson­
ders hart werden Irland mit 6,2% und
Spanien mit 6,8% betroffen sein.
Insgesamt konnte durch den entspre­
chenden Einsatz von Haushaltsmitteln
in vielen westeuropäischen Ländern der
Crash abgefedert werden. Diese Politik
war übrigens seinerzeit den Schwellen­
ländern in der Peripherie während der
Krisen in den Jahren 1990 und 2000
verwehrt worden. Insofern erscheint der
Crash anfänglich weniger ernst als der
Umfang der Probleme erwarten lässt.
Nichtsdestotrotz ist ein Verlauf der Kri­
se in Form eines „L“ (Rezession mit fol­
gender Stagnation) mit langer rezessiver
Phase sehr wahrscheinlich. Die wirt­
7 Onaran Ö., « Wage share, globalization, and
crisis: The case of manufacturing industry in
Korea, Mexico, and Turkey », International
Review of Applied Economics n° 23(2).
schaftliche Talsohle mag erreicht sein,
aber ein Entkommen scheint auf lange
Zeit nicht möglich zu sein und weitere
Einbrüche können nicht ausgeschlossen
werden. Trotz der Auffangeffekte der
politischen Gegenmaßnahmen kann die
Krise in Anbetracht ihrer globalen Di­
mension noch sehr viel tiefer reichen als
die lange Rezession in Japan in den 90er
Jahren.
2. Die mittel- und osteuropäischen
EU-Länder
Während der Weltwirtschaftskrise wur­
den die osteuropäischen Schwellenlän­
der durch den Zusammenbruch der Kre­
ditmärkte und die Kapitalflucht hart ge­
troffen. Zu der Bankenkrise kommen
möglicherweise Währungskrisen hin­
zu. Nach dem Schock des Zusammen­
bruchs ihrer Gesellschaftssysteme und
einem Jahrzehnt voller Umstrukturie­
rungen werden diese Länder erneut von
den Kosten der Integration in einen de­
regulierten Weltmarkt betroffen. Der
anfängliche Optimismus, dass Ost- und
Westwirtschaft nicht notwendigerwei­
se zusammenhängen, hat sich als obso­
let erwiesen. Seit dem Herbst 2008 sind
die Hoffnungen auf eine Bauchlandung
von der Wirklichkeit des crash eingeholt
worden. Die Stimmung an den Märkten
ist pessimistisch geworden und die Ein­
bettung in die EU scheint nur begrenzt
zu helfen.
Das Hauptproblem dieser Region
lag in der außerordentlichen Abhängig­
keit von den ausländischen Kapitalflüs­
sen. Die Umkehr dieser Flüsse muss­
te zwangsläufig dazu führen, dass der
Boom platzte – eine typische Folge die­
ser Abhängigkeit. Auf dies jetzt Reali­
tät gewordene Risiko ist von vielen Au­
toren – darunter der Autorin – hinge­
wiesen worden.8 Auch ohne die welt­
weite Krise hätte dies auf unspektaku­
lärere Weise passieren können, wenn
sich nämlich das Vertrauen in die über­
8 Onaran Ö. « International financial markets
and fragility in the Eastern Europe : “can it
happen” here ? » in Dollarization, Euroization
and Financial Instability, Becker J. et Weissen­
bacher R. (eds), Metropolis-Verlag, Marburg
2007, pp. 129-148 ; Becker J., « Dollarisation
in Latin America and Euroisation in Eastern
Europe : Parallels and Differences » in Dol­
larization, Euroization and Financial Instabil­
ity, Becker J. et Weissenbacher R. (eds), Me­
tropolis-Verlag, Marburg 2007, pp. 129-148 ;
Goldstein M., « What might the next emerg­
ing-market financial crisis look like ? », Insti­
tute for International Economics, Working Pa­
per Series n° 0 5-7.
inprekorr 460/461
Ökonomie
bewerteten Währungen bei hoch defi­
zitärer Leistungsbilanz erschöpft hätte.
Die Wirtschaftspolitik vor Ort blende­
te beharrlich die Möglichkeit einer mas­
siven Kapitalflucht aus. Dies ist, als ob
ein Hausbewohner ausströmendes Gas
ignoriert in der Hoffnung, dass sich das
Problem von selbst erledigt. Letztlich
können die Märkte ein systemisches Ri­
siko nicht verhindern, sondern es nur
vertagen und dabei verschlimmern.
Im Unterschied zu den früheren Kri­
senzyklen in den peripheren Ländern
handelte es sich diesmal um eine glo­
bale und nicht bloß regionale Krise.
Zwar hat sie in den Metropolen begon­
nen, aber ihre Auswirkungen auf die Pe­
ripherie werden schwerwiegender sein.
Da sich die Kreditklemme weltweit be­
merkbar macht, ist eine Rückkehr der
Kapitaleinströme nach dem Crash und
der Abwertung der Währungen unwahr­
scheinlich. Eine weitere Folge der glo­
balen Ausbreitung der Krise liegt in der
starken Schrumpfung der Exportmär­
kte. Eine Abwertung der Währungen,
die üblicherweise auf einen Crash folgt,
würde nur die Zahlungsbilanz negativ
beeinflussen, ohne dass die Nachfrage
angekurbelt würde. Weiteres Wachstum
durch Konsum auf Pump und damit ei­
ne zunehmende Verschuldung der Haus­
halte erhöht – v. a. gegenüber dem Aus­
land – die Risiken noch viel stärker als
in früheren Krisen und führt zu den ent­
sprechenden sozialen Folgen einer wei­
teren Abwertung.
Die stagnierende weltweite Nachfra­
ge, der Rückgang der ausländischen Di­
rektinvestitionen, der Abfluss von Port­
folioinvestitionen, die abnehmenden
Überweisungen von EmigrantInnen und
die Kreditbeschränkungen betreffen al­
le Schwellenländer. Das Ausmaß ist je­
doch unterschiedlich zwischen den ein­
zelnen Ländern, je nach Umfang der
angehäuften Bilanzdefizite einschließ­
lich der Zahlungsbilanz, der Stärke der
Währungen, des Ausmaßes der Immo­
bilienblase und des Umfangs der Aus­
landsverschuldung der Privathaushalte.
Die baltischen Länder, Ungarn, Rumä­
nien und Bulgarien sind sicher stärker
betroffen als Polen, Tschechien, Slowe­
nien und die Slowakei. Aber auch diese
Länder haben unter der nachlassenden
Nachfrage und dem Rückgang der Di­
rektinvestitionen zu leiden. Auch die zu­
rückgehenden Überweisungen durch die
EmigrantInnen werden künftig ins Ge­
wicht fallen. Die enorme Abhängigkeit
inprekorr 460/461
von den Exportmärkten und die einsei­
tige Ausrichtung auf die Automobilin­
dustrie, was besonders für die Slowakei,
aber auch für Tschechien und Slowe­
nien gilt, bergen weitere hohe Risiken.
Insofern ist es nicht überraschend, dass
Polen aufgrund seiner stärker gestreuten
Märkte, einer starken Binnenwirtschaft
und einem Außenhandelsvolumen, das
unterhalb des BIP liegt, voraussicht­
lich am wenigsten unter der Rezession
zu leiden haben wird. Außerdem gab es
in Polen erst ab 2006 ein beschleunigtes
Wachstum, so dass der Boom noch nicht
seine brüchige Phase erreicht hatte.9 Die
Slowakei und Slowenien sind durch die
Einführung des Euro den Turbulenzen
des Währungsmarktes entkommen; ihr
Problem wird jedoch darin liegen, dass
sie permanent an Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber ihren internationalen Kon­
kurrenten verlieren werden, da diese zur
Abwertung greifen können.
Der Glaube, dass diese Länder dank
der ausländischen Direktinvestitionen
keinen Engpass in der Leistungsbilanz
erleben würden, hat sich ebenfalls als
Mythos erwiesen. Zwar sind diese Di­
rektinvestitionen noch immer sicherer
als die anderen Kapitalströme, aber im
ersten Quartal 2009 sind sie um 20%80% zurückgegangen und haben damit
das Niveau von 2001-2002 wieder er­
reicht.10 Obwohl auch die defizitäre Lei­
stungsbilanz abnimmt, weil die Impor­
te rezessionsbedingt zurückgehen, glei­
chen die ausländischen Direktinvestiti­
onen diese Defizite zunehmend weni­
ger aus. Zudem tragen sie nicht nur zum
Ausgleich sondern auch zur Unterhal­
tung des Defizits bei: durchschnittlich
70% der Profite in der Region wurden
repatriiert und in Ungarn, Slowakei und
Tschechien entsprechen die Direktinve­
stitionen aus dem Ausland dem Umfang
der repatriierten Gewinne oder liegen
sogar darunter.11
Im Unterschied zu den früheren Kri­
sen in den Schwellenländern fallen dies­
mal Umfang und Rhythmus der Abwer­
tung in den mittel- und osteuropäischen
9 Gligorov V., Pöschl J., Richter S. et al., « Where
have all the shooting stars gone ? », The Vien­
na Institute for International Economic Stud­
ies, Current Analyses and Forecasts 4.
10 Hunya Gabor, « FDI in the CEECs under the
Impact of the Global Crisis : Sharp Declines »,
The Vienna Institute for International Econom­
ic Studies Database on Foreign Direct Invest­
ment in Central, East and Southeast Europe,
2009.
11 ibidem.
Ländern moderater aus. Die Länder mit
flexiblen Wechselkursen – und sogar
Polen – sind zwar in gewissem Umfang
davon betroffen, aber bisher zumin­
dest gab es noch keinen Totalkollaps;
in Ungarn, Polen und Rumänien ha­
ben die Wechselkurse um lediglich 1030% nachgegeben und im Baltikum und
Bulgarien sind die Fixkurse noch stabil.
Der Hauptunterschied zu Ostasien und
Lateinamerika liegt in der Abhängigkeit
von den Mutterbanken aus den Ländern
mit gesättigten Märkten, die eine län­
gerfristige Strategie in der Region ver­
folgen als das vagabundierende Finanz­
kapital.
Angesichts der globalen Krise und
der Kreditklemme im Interbankenmarkt
können die Mutterbanken eine weitere
Kreditaufblähung nicht mehr durchhal­
ten. Auch ohne weitere Kapitalabflüsse
wird daher die Rezession in dieser Re­
gion stärker als im Westen ausfallen, da
die Kapitalzuflüsse von früher ausblei­
ben. Durch die expansive Haushaltspo­
litik der westlichen Länder erwachsen
zusätzlich konkurrierende Investitions­
möglichkeiten für die internationalen
Finanzfonds. Die Abwertung der Wäh­
rungen und die Rezession werden zu ei­
ner Zunahme der notleidenden Kredite
führen und das Verhältnis der Mutter­
banken zu ihren osteuropäischen Able­
gern beeinträchtigen.
Es ist nicht völlig auszuschließen,
dass es zu einer Währungskrise kommt,
indem die Fixkurse im Baltikum und in
Bulgarien aufgrund weiterer Kapitalab­
flüsse und einer neuen Abwertungswel­
le in den Ländern mit flexiblen Wech­
selkursen aufgegeben werden. Jede Ab­
wertung kann in dieser Region eine Ket­
tenreaktion auslösen. Die Aufrechter­
haltung der festen Wechselkurse erfor­
dert umfangreichere internationale Stüt­
zungsmaßnahmen als das gesamte dor­
tige Wirtschaftsaufkommen ausmacht,
was angesichts der finanziellen Pro­
bleme in den Kernländern der EU selbst
und damit des Rückgangs der Finanz­
mittel kaum zu bewältigen sein dürfte.
Und ob die verfügbaren Mittel des IWF
ausreichen, ist fraglich. Die dort täti­
gen westeuropäischen Banken – z. B.
schwedische im Baltikum und österrei­
chische in Bulgarien – und deren Regie­
rungen drängen darauf, Abwertungen zu
vermeiden, weil ihnen sonst hohe Kredi­
tausfälle und entsprechende Profiteinbu­
ßen drohen. Auch die Regierungen vor
Ort verteidigen das feste Wechselkurs­
13
Ökonomie
system. Aber die Beibehaltung dieser
überbewerteten Wechselkurse bedeu­
tet unter den gegebenen politischen Ver­
hältnissen eine tiefe Rezession und De­
flation, um die umlaufende Geldmenge
zu senken, was nur auf dem Wege mas­
siver Lohnkürzungen wie in Litauen
möglich ist.
Umgekehrt hätte auch eine unkon­
trollierte Abwertung infolge einer durch
den Markt ausgelösten Währungskrise
schwerste Auswirkungen auf die Ver­
teilungsebene zur Folge, da eine hohe
Abwertung die Inflation anheizt, wie
die Krisen in Asien und Lateinameri­
ka gezeigt haben. In den importabhän­
gigen Schwellenländern wirkt sich eine
Abwertung zwangsläufig auf die Bin­
nenmarktpreise aus, da die Kosten für
Importwaren steigen. Hingegen kön­
nen die Lohnabhängigen während ei­
ner Rezession und entsprechend hoher
Arbeitslosigkeit ihre Reallöhne kaum
verteidigen.12 Zwar verlief die Abwer­
tung bislang moderat und auch die In­
flation wurde durch den Einfluss der
12 Onaran Ö., « From the crisis of distribution to
the distribution of the costs of the crisis : What
can we learn from the previous crises about the
effects of the financial crisis on labor ? », Polit­
ical Economy Research Institute, University of
Massachusetts Working Paper 195.
weltweit eher deflationären Tendenz
und den Rückgang der Rohstoffpreise
gebremst, aber in Zukunft könnte sich
beides verschärfen.
Auch wenn im gegenwärtigen Sta­
dium Prognosen schwer fallen, lässt
sich doch anhand der Schätzungen der
EU-Kommission vom April 2009 ab­
sehen, dass alle zehn neuen EU-Län­
der 2009 eine Rezession erleben wer­
den (Tabelle 2). Arbeitsplätze wer­
den abgebaut und die Arbeitslosig­
keit wird erheblich ansteigen, was
besonders die baltischen Staaten be­
trifft. Die Erfahrung aus vorangegan­
genen Krisen in den Schwellenlän­
Tab 2 Jährliches Durchschnittswachstum von BIP, Beschäftigung, Produktivität und Reallöhnen in den
mittel- und osteuropäischen EU-Ländern
BIP
Tschechien
Ungarn
Polen
Slowenien
Slowakei
Estland
Lettland
Litauen
Bulgarien
Rumänien
-2,3
-3,2
-1,6
-2,3
-2,4
-1,6
-11,2
-11,5
-5,7
-4,6
BIP
Tschechien
Ungarn
Polen
Slowenien
Slowakei
Estland
Lettland
Litauen
Bulgarien
Rumänien
3,2
0,5
4,8
3,5
6,4
-3,6
-4,6
3,0
6,0
7,1
1989*–1994
BeProdukschäftivität
tigung
-2,0
-4,2
-3,6
-4,6
-4,3
-5,1
-2,0
-5,8
-1,8
3,7
2,0
3,8
12,6
2,7
19,0
0,0
8,5
1,6
2008
BeProdukschäftivität
tigung
1,2
2,0
-1,2
1,5
4,0
0,4
2,9
0,3
2,9
4,1
0,2
-5,2
0,7
-5,8
-0,5
0,9
3,3
2,3
0,3
5,4
Reallohn
BIP
-3,0
2,2
-1,9
-3,5
-6,0
-5,6
-17,3
8,2
-19,8
-13,4
-6,7
3,6
5,7
4,3
3,8
5,8
4,3
4,5
-0,2
0,1
Reallohn
BIP
0,8
2,1
3,7
2,0
4,2
4,1
0,9
4,3
7,4
12,0
-2,7
-6,3
-1,4
-3,4
-2,6
-10,3
-13,1
-11,0
-1,6
-4,0
1994–2000
BeProdukschäftivität
tigung
-0,8
3,2
0,5
-0,2
-0,3
-0,6
-2,7
-2,3
-1,2
0,0
-2,4
2,3
5,0
4,7
4,8
8,7
2,7
8,3
0,0
5,0
2009
Be
Produkschäf
tivität
tigung
-1,7
-0,5
-3,0
-3,6
-2,3
1,3
-4,7
1,1
-1,7
-1,8
-7,0
-3,6
-8,9
-4,5
-7,7
-3,9
-2,2
1,6
-2,2
-0,8
Real
lohn
BIP
3,2
4,5
-1,9
4,8
2,9
5,3
8,0
3,4
6,9
-4,4
6,5
3,8
4,0
4,4
6,2
8,0
9,0
8,0
5,6
6,1
Real
lohn
BIP
2,1
-3,2
0,8
1,6
2,5
0,0
-10,8
-12,9
3,4
2,2
1,63
1,25
2,83
2,22
2,83
4,56
0,83
0,51
0,59
1,07
2000–2007
BeProdukschäftivität
tigung
0,8
3,8
0,3
0,6
0,9
1,0
1,7
2,4
1,3
2,0
-0,8
3,1
2,5
3,3
5,9
6,3
5,8
5,5
3,2
5,5
1989*–2009
BeProdukschäftivität
tigung
0,03
3,16
-0,48
2,38
0,21
2,95
0,14
3,57
0,31
5,30
-0,29
5,55
0,25
4,78
-0,26
5,30
0,67
3,36
-0,86
4,17
Reallohn
4,8
4,4
0,9
2,9
3,4
9,0
10,0
9,0
4,0
10,1
Reallohn
2,25
0,39
1,06
0,49
1,62
1,83
5,42
-0,98
-3,02
4,29
* Das Anfangsdatum variiert je nach der Verfügbarkeit der Daten: bspw. ist das BIP von Lettland erst ab 1993 verfügbar usw.
Das BIP ist in Preisen der Landeswährung von 2000 angegeben. Beschäftigung bezieht sich auf die Gesamtindustrie. Die Produktivität
ist nach dem realen BIP pro Beschäftigtem berechnet. Die Reallöhne entsprechen dem inflationsbereinigten Arbeitsentgelt auf der Basis
von 2000 = 100. Die periodischen Mittelwerte sind geometrische Mittel. Den Daten von 2009 liegen die Schätzungen der Europäischen
Kommission vom April 2009 zugrunde.
Quelle: Berechnungen der Autorin auf Grundlage der Daten der Europäischen Kommission (AMECO); im Falle fehlender Daten für die
Jahre 1989 – 1991 wurden die Wachstumsraten aus dem statistischen Handbuch der Wirtschaftsuniversität Wien entnommen
14 inprekorr 460/461
Ökonomie
dern zeigt, dass auch lange nach En­
de der Rezession die Arbeitslosigkeit
nicht auf das Niveau vor der Krise zu­
rückgeht.13 Reallohnsenkungen wer­
den für Ungarn, Litauen und Lettland
erwartet, stagnierende Löhne für Est­
land und Polen. Die Austeritätspoli­
tik in Ungarn, Rumänien und Lettland
wird die Krisenlasten obendrein wei­
ter verschärfen. In den Industriestaaten
kommt es während einer Krise oft zu
einer Zunahme der Lohnquote, in den
Schwellenländern hingegen haben die
dramatischen Auswirkungen der Wäh­
rungskrise bislang immer die Reallöh­
ne viel weiter zurückgehen lassen als
die Produktivität und insofern zu ei­
ner starken Abnahme der Lohnquote
geführt.14 Die Zahlen für 2009 in den
mittel- und osteuropäischen Ländern
liegen noch nicht vor. Für Lettland, Li­
tauen und Slowenien wird allgemein
ein Rückgang erwartet, im Einzelnen
aber wird dies weitgehend vom Aus­
maß der jeweiligen Währungsabwer­
tung abhängen. Außerdem lässt nicht
ausschließen, dass die Rezession lan­
ge anhalten wird, was sicherlich nega­
tiv für die Reallöhne und Lohnquote
zu Buche schlägt.
Selbst wenn wir die eher zu opti­
mistischen Annahmen der EU-Kom­
mission zugrunde legen und daraus
das durchschnittliche Wachstum von
BIP, Beschäftigung und Löhnen wäh­
rend der vergangenen 20 Jahre seit
dem Übergang der zehn mittel- und
osteuropäischen Länder in die Markt­
wirtschaft errechnen, ist das Ergebnis
niederschmetternd (Tab. 2). Mit einer
Rezession wurde der Übergang begon­
nen und am vorläufigen Ende steht die
weltweite Krise, daher sind die Fort­
schritte in puncto Wachstum und Löh­
ne alles andere als berauschend. Die
Beschäftigung hat allenfalls stagniert
und ist in Rumänien, Estland, Litau­
en und Ungarn sogar zurückgegangen.
Die Reallöhne sind in Ungarn und Slo­
wenien gleich geblieben und in Litau­
en und Bulgarien gesunken. Der Real­
lohnanstieg ist allgemein hinter dem
Produktivitätszuwachs zurückgeblie­
ben. Der einzig nennenswerte Anstieg
war in Rumänien aber auch da ent­
spricht er exakt dem Produktivitätszu­
wachs. Insofern lässt sich kaum von ei­
13 Onaran Ö., « Wage share, globalization, and
crisis… », op. cit.
14 ibidem
inprekorr 460/461
ner politisch und sozial lebensfähigen
Bilanz des steinigen Übergangs zum
Kapitalismus während der letzten 20
Jahre sprechen.15
Die Wirtschaftspolitik in
Europa in Anbetracht der
Krise
1. Westeuropa
Alle Industrieländer haben auf die Kri­
se mit nie da gewesenen Konjunktur­
maßnahmen reagiert, um die weltwei­
te Wirtschaftsrezession zu überste­
hen16: in der Geldpolitik wurden die
Zügel gelockert und die Leitzinsen un­
vorhergesehen gesenkt und die Banken
seitens der Zentralbanken unkompli­
ziert und großzügig mit liquiden Mit­
teln versehen – auch wenn die EZB
langsamer als die Fed oder die Bank
von England reagiert hat. Zudem wur­
den weitere Hilfspakete für die Fi­
nanzwirtschaft geschnürt: Staatsga­
rantien zur Einlagensicherung, Staats­
beteiligungen an Banken durch Kapi­
talspritzen oder gar Verstaatlichungen,
und Aufkauf „toxischer Wertpapiere“.
Auch steuerliche Hilfsmaßnahmen
wurden – zeitverzögert – auf den Weg
gebracht: öffentliche Ausgaben, Kon­
sumanreize durch Steuernachlässe und
–abwälzungen, Steuernachlässe für
Unternehmen und Subventionen für
Wirtschaftsbranchen.
Das größte Konjunkturpaket kam
in den USA zustande, während die
Maßnahmen auf europäischer Ebene
am BIP gemessen schwächer waren.
Ein kürzlich von Sameer Khatiwada
für die IAO erstellter Bericht17 kommt
zu dem Ergebnis, dass die staatlichen
Maßnahmen relativ bescheiden waren
und in 32 Ländern – darunter die G20
– nur 1,8% des BIP ausgemacht haben,
was unterhalb der vom IWF empfoh­
lenen 2% liegt. Diese Konjunkturpläne
gingen von relativ optimistischen Pro­
gnosen aus. Die Maßnahmen für die
Finanzwirtschaft lagen durchschnitt­
lich zehnfach höher als die Konjunk­
15 Für weitere Details s. Onaran Ö., « From tran­
sition crisis to the global crisis : Labor in East­
ern Europe, 20 Years after transition », Hert­
fordshire 9-10 octobre 2009, http://www.
wu.ac.at/arbeitsmarkt/staff/onaran/research
16 ILO, The financial and economic crisis : A De­
cent Work response, ILO, Geneva 2009.
17 Khatiwada S, « Stimulus packages to coun­
ter global economic crisis : a review », Inter­
national Institute for Labour Studies, Geneva
2009.
turpakete.18 Auch wenn dieser Ver­
gleich nicht ganz stimmig ist, da die
in die Finanzhilfen eingerechneten
Garantien nicht notwendigerweise in
Anspruch genommen werden, zeigt
er doch, wie grotesk die Relationen
sind. 2008 betrugen die Finanzhilfen
in England 28,6% des BIP und in Ir­
land sogar aberwitzige 235,7%.19 Ir­
land hat zusätzlich noch einen Spar­
haushalt verabschiedet.
Auch wenn die Banken auf dem
europäischen Festland für sich eine
konservativere Anlagen- und Kredit­
politik beanspruchen, sind auch sie
große Risiken eingegangen, indem sie
– wie Deutschland – forderungsbesi­
cherte Wertpapiere in den USA ge­
kauft haben oder ihre Kredite an Ost­
europa ungeachtet des Risikos, dass
der Boom platzen könnte, enorm aus­
geweitet haben, wie dies die öster­
reichischen, schwedischen und teils
auch griechischen Banken getan ha­
ben. Aus dieser Gruppe hat Österrei­
ch wegen des hohen Risikos von Kre­
ditausfällen in Osteuropa Finanzhilfen
in Höhe von 36,9% des BIP gewährt
und Schweden in Höhe von 50,5%.
Obendrein verknappen diese Banken
ihre Kredite, weil die Regierung ihnen
so gut wie keine Bedingungen für ih­
re Beihilfen auferlegt hat, was die prä­
ventive Anhäufung liquider Mittel an­
geht.
Auch die Zusammensetzung der
Konjunkturpakete ist unangemessen:
in den Industrieländern werden nur
3% der Gesamtausgaben für Arbeits­
plätze ausgegeben, 10,8% für soziale
Transferleistungen an einkommens­
schwache Haushalte und knapp 15%
für die Infrastruktur.20 Wie üblich ver­
weist die OECD darauf, dass die au­
tomatischen Ausgleichsmechanismen
wie die Arbeitslosengelder besonders
in Nordeuropa fast dreimal so hoch
wie die Konjunkturpakete seien und
insofern die Gesamthöhe der Budget­
maßnahmen angemessen sei.21 Die
Zahlen in diesem Bericht zeigen je­
doch, dass in den USA die Summe der
Konjunkturmaßnahmen einschließlich
der automatisch oder im Ermessensfall
greifenden über 10% des BIP beträgt,
18 ibidem
19 OECD Economic Outlook June 2009, (OCDE
Perspectives économiques, juin 2009).
20 Khatiwada S., op. cit.
21 OCDE, Juni 2009, op. cit.
15
Ökonomie
während Deutschland nur bei 6% liegt.
Nur vier EU-Länder liegen in puncto
Konjunkturankurbelung vor den USA:
Schweden, Luxemburg, Spanien und
Dänemark.
Abgesehen vom Umfang dieser
Maßnahmen krankt die EU an der feh­
lenden politischen Koordination ihrer
Gegenmaßnahmen, die über die blo­
ße Entscheidung der EU-Kommissi­
on hinausginge, von den Mitgliedslän­
dern Konjunkturanreize in Höhe von
2% des BIP zu fordern. Dabei wer­
den von politischer Seite die Diver­
genzen innerhalb der EU und sogar in­
nerhalb Westeuropas nicht berücksich­
tigt. Bisher waren eher vage und unge­
richtete Erklärungen in der Presse zu
lesen, wie die des deutschen Finanzmi­
nisters, wonach die EU kein Mitglieds­
land mit seinem Schuldenproblem al­
lein lasse, wenn die Finanzinvestoren
die Regierung dieser defizitären Län­
der unter Druck setzten, die Zinsen
für Staatsanleihen bis an den Rand des
Ruins zu erhöhen.
Offen bleibt auch, wann die neo­
liberalen Ökonomen anfangen wer­
den, Haushaltsdisziplin einzufordern
und den Inflationsdruck an die Wand
zu malen. Bisher hält die OECD an
der Erfordernis von Konjunkturmaß­
nahmen fest, warnt aber bereits, dass
es „jetzt erforderlich sei, den Ausstieg
aus den außerordentlichen und durch
die aktuelle Währungs- und Haushalts­
politik ermöglichten Stützungsmaß­
nahmen, glaubwürdige Ausstiegsstra­
tegien und Konsolidierungspläne für
die Haushalte vorzubereiten“.22 Trotz
der umfangreichen Konjunkturmaß­
nahmen zielt die gegenwärtige Politik
an den Ursachen vorbei. Mit viel Nach­
druck wird auf die niedrigen US-Zin­
sen als Ursache der Krise verwiesen
und kaum ein Wort auf die Liberalisie­
rung der Finanzmärkte verwandt. Die
neue EU-Regelung, wonach die Ban­
ken jetzt 5% ihrer Kredite in die Bi­
lanzsumme aufnehmen müssen, klingt
angesichts der Krise des bisherigen
Bankenmodells eher lachhaft. Auch
auf dem G20-Treffen wurde lediglich
eine Regulierung der „systemwich­
tigen Finanzinstitute“ verabredet und
die hedge fonds werden nur gehalten,
sich registrieren zu lassen und Transpa­
renz zu wahren, statt bestimmte Eigen­
22 OECD Interim Economic Assessment Septem­
ber 2009.
16 kapitalquoten einzuhalten.23 Obwohl
die Kosten der Rettungspakete be­
kannt sind, gehen keinerlei politische
Überlegungen dahin, die Verantwort­
lichen und Reichen über eine Steuer­
reform dafür heranzuziehen. Ange­
sichts der bestehenden Kräfteverhält­
nisse ist auch seitens der herrschenden
Eliten keinerlei politisches Umdenken
zu erwarten, das auf die Wurzeln der
Krise zielen würde – nämlich die dra­
matische Umverteilung der Einkom­
men zugunsten des Kapitals. Noch
nicht einmal kleinere Steuerreformen
werden ins Auge gefasst. Hinsichtlich
der weltweiten Ungleichgewichte wird
verwiesen auf den zu hohen Konsum
in den USA oder die zu niedrigen Löh­
ne und die Unterbewertung der Wäh­
rung in China statt auf das Lohndum­
ping und den stagnierenden Binnen­
konsum in Deutschland.
Derlei Politik ist auch schwerlich
als neo-keynesianistisch zu bezeich­
nen. Obwohl es auch Keynes’ Anlie­
gen war, den Kapitalismus vor sich
selbst zu retten, wäre es Anliegen ei­
ner solchen Politik, die Investitionen
durch öffentliche Ausgaben und An­
reize für den Privatsektor zu stimulie­
ren, das Finanzsystem wieder zu re­
gulieren und auf internationaler Ebe­
ne eine Kontrolle der Kapitalflüsse
und feste Wechselkurse einzuführen.
Im Rahmen der bestehenden Kräfte­
verhältnisse wird die herrschende Elite
einen keynesianistischen Politikansatz
nicht freiwillig akzeptieren. Eine sol­
che Rückkehr zum goldenen Zeitalter
des geregelten Kapitalismus würde so­
mit größere organisatorische Anstren­
gungen der Arbeiter und eine radika­
le Änderung der Kräfteverhältnisse er­
fordern.
2. Mittel- und Osteuropa
Die gegenwärtige weltweite Krise hat
keinerlei politisches Umdenken be­
züglich der EU-Erweiterung und dem
Zusammenwachsen der Gesellschaften
erbracht. Die Belange der EU in den
mittel- und osteuropäischen Ländern
werden durch die Interessen der mul­
tinationalen Konzerne und besonders
der westlichen Banken bestimmt und
beschränken sich darauf, die Wäh­
rungen stabil zu halten und weniger
die Arbeitsplätze und Einkommen. In
der EU gab es gar nicht den politischen
Willen, die Institutionen und Instru­
mente für eine gemeinsame antizy­
klische Konjunkturpolitik zu schaffen.
Vielmehr überließ man die Zukunft
dieser Länder den westeuropäischen
Multis und dem IWF, abgesehen von
bestimmten Finanzbeihilfen mit dem
Ziel, den Zusammenbruch der westeu­
ropäischen Großkonzerne in der Regi­
on zu verhindern.
Die nach der Asienkrise angeschla­
gene Glaubwürdigkeit des IWF wur­
de auf dem G20-Treffen durch eine
Aufstockung der verfügbaren Finanz­
mittel wieder hergestellt, aber an der
praktischen Politik hat sich nichts ge­
ändert, trotz aller frommen Worte. Un­
ter dem Druck der Kapitalflucht haben
sich Ungarn, Lettland und Rumänien
an den IWF gewandt. Aufgrund der
Verzahnung mit der EU waren die In­
teressen der Multis und besonders der
westeuropäischen Banken eher aus­
schlaggebend für die Höhe der bereit­
gestellten Gelder als die tatsächlichen
Bedürfnisse vor Ort. Wie bereits bei
den früheren Krisen der Schwellenlän­
der in den Jahren 1990 und 2000 wa­
ren die politischen Auflagen des IWF
wieder einmal sehr viel restriktiver als
vergleichsweise gegenüber den west­
europäischen Ländern wie Deutsch­
land. Die einzige Ausnahme von die­
sem Strickmuster des IWF war die Ge­
währung eines Kreditrahmens an Po­
len ohne weiter gehende Auflagen.
Ungarn, Rumänien und Lettland
betreiben eine ausgesprochen prozy­
klische Haushaltspolitik, in der Haus­
haltsdisziplin noch immer oberster
Maßstab ist und Kürzungen der Löh­
ne im öffentlichen Dienst und der Ren­
ten Teil des Instrumentariums sind. In
Lettland wurden die Löhne im öffent­
lichen Sektor um 35% und die Renten
um 10% gekürzt, während die Mehr­
wertsteuer von 18 auf 21% angehoben
wurde. Diese Bedingungen musste die
lettische Regierung akzeptieren, um
vom IWF die zweite Tranche der Kre­
ditlinie zu erhalten24. In Estland und
Litauen wurden ebenfalls Kürzungen
der Löhne im öffentlichen Dienst
und der Sozialleistungen um minde­
stens 20% beschlossen.25 Der einzige
Unterschied ist, dass der IWF inzwi­
schen versucht, die Banken zu reka­
23 Stockhammer E., « Wirtschaftspolitik ange­
sichts der Krise in den USA und Europa »,
Kurswechsel 2/2009.
24 Gligorov et al., op. cit.
25 ibidem
inprekorr 460/461
Ökonomie
pitalisieren und darauf zu verpflich­
ten, den Kreditumfang in den Ländern
beizubehalten, die in das Stabilitäts­
programm des IWF einbezogen sind.
Trotzdem wird sich erst weisen, ob die
umfangreichen Hilfsgelder tatsächlich
in den Ländern verbleiben oder nicht
dazu dienen die internationalen Inve­
storen wieder flüssig zu machen, wie
dies in Ostasien und Lateinamerika der
Fall war. Kapitalkontrollen, die eine
Flucht von Spekulationsgeldern oder
eine manipulierte Abwertung verhin­
dern könnten, sind noch nicht einmal
Thema bei IWF oder EU.
Es gibt eine Alternative!
Die Art und Weise, wie die Regie­
rungen und namentlich sozialdemo­
kratische auf die Krise reagiert haben
– mit der Sozialisierung der Kosten –
hat in der Bevölkerung zu starker Un­
zufriedenheit geführt. Paradoxerwei­
se wurden dadurch auch politische Al­
ternativen diskreditiert, die „kollek­
tive“ Herrschaftsformen oder Verstaat­
lichungen beinhalten. Dennoch lässt
sich erstmals nach dem Fall der Mauer
wieder öffentlich diskutieren, wie in­
stabil und unerträglich der Kapitalis­
mus in wirtschaftlicher, ökologischer
und politischer Hinsicht ist. Allerdings
wird es aufgrund der ideologischen
Barrieren der vergangenen Jahrzehnte
ein mühsames Unterfangen sein, diese
Unzufriedenheit in Akzeptanz für ein
alternatives Wirtschaftsmodell umzu­
münzen, das sozialistisch, nachhaltig,
egalitär und demokratisch ist und auf
Planung von unten beruht. Wir haben
aber auch Pluspunkte: Es ist inzwi­
schen klar, dass höhere Profite nicht
zu mehr Investitionen und Arbeitsplät­
zen führen, dass Wachstum nicht Ab­
nahme der Ungleichheit bedeutet und
dass die kapitalistische Marktwirt­
schaft zu Systemkrisen neigt. Um po­
litische Auswege aus der Krise auf­
zuzeigen, müssen auch deren Ursa­
chen hervorgehoben werden: diese lie­
gen nicht nur in den unzureichend re­
gulierten Märkten sondern auch in der
ungleichen Verteilung. Und die Frage
muss laut aufgeworfen werden, warum
die ArbeiterInnen für die Krise bezah­
len sollen. Programme zum wirtschaft­
lichen Wiederaufschwung dürfen kei­
nesfalls in ökonomischer wie ökolo­
gischer Hinsicht die Rückkehr zum
status quo ante bedeuten. Eine große
inprekorr 460/461
Krise schreit nach einer gleich großen
politischen Umstrukturierung und auf
dem Weg zu einer solchen Alternative
bezieht sich unser Ausgangspunkt auf
die dringendsten Probleme: Arbeits­
plätze, Umverteilung und ökologische
Nachhaltigkeit. Deren Lösung bedingt
in vielen Punkten Änderungen, die mit
der kapitalistischen Wirtschaft und ih­
rem Streben nach privatem Profit nicht
vereinbar sind:
Im Mittelpunkt der Haushaltspoli­
tik müssen ein öffentliches Beschäf­
tigungsprogramm und eine Umvertei­
lungspolitik stehen, die die negativen
Auswirkungen der Krise kontert. Öf­
fentliche Ausgaben in arbeitsintensiven
Dienstleistungen wie Erziehung, Kin­
dergärten, Pflegeheimen, Gesundheits­
wesen, Gemeindeaufgaben und sozi­
alen Diensten sowie in öffentlichen In­
frastrukturen und Umweltschutzinve­
stitionen sollten hierbei im Mittelpunkt
stehen. In diesen Bereichen ist es auch
möglich, die Wirtschaft in die Rich­
tung einer solidarischen und nachhal­
tigen Entwicklung zu lenken. Der Be­
darf an sozialen Dienstleistungen ist
unter den gegenwärtigen Verhältnissen
nicht erfüllt und wo es sie gibt, wer­
den sie schlecht bezahlt (um die Ren­
tabilität zu gewährleisten) oder sind es
Luxusleistungen für die Oberen oder
werden als unsichtbare und unbezahlte
Hausfrauenarbeit im Rahmen der ge­
schlechtsspezifischen Arbeitsteilung
verrichtet. Um dies Handicap zu ver­
meiden kann entweder der Staat oder
ein gemeinnütziger Träger dafür sor­
gen. Öffentliche Beschäftigungspro­
gramme müssen auch die Geschlech­
terfrage berücksichtigen, um eine Be­
nachteiligung von Frauen zu vermei­
den, aber auch um deren Anteil an den
Erwerbstätigen zu erhöhen.
Um ökologische Nachhaltigkeit zu
erzielen bedarf es einer Änderung der
Nachfragestruktur hin zu langfristigen
umweltgerechten Investitionen. Da­
für bedarf es unbedingt einer gezielten
Strategie in den öffentlichen Investiti­
onen.
Bei den Arbeitsplätzen im Privat­
sektor geht es darum, die „Sozialisie­
rung der Kosten“ zu vermeiden, d. h.
zu verhindern, dass die Erwerbstätigen
und Arbeitslosen die Lasten des verant­
wortungslosen Verhaltens des weltwei­
ten Kapitals tragen müssen. Besonders
könnten einzelne Unternehmen die
Krise nutzen, um ihren langfristig ge­
planten Abbau von Arbeitsplätzen um­
zusetzen. In vielen europäischen Län­
dern werden Bestimmungen zur Kurz­
arbeit genutzt, um die Arbeitslosigkeit
zu dämpfen. Letztlich wird hierbei zur
Behebung des Problems die Solida­
rität der Lohnabhängigen ausgenutzt
durch staatlichen Teilausgleich der
Einkommensverluste der Kurzarbeite­
rInnen. Die Alternative wäre, die Un­
ternehmer die Kosten tragen zu lassen
durch ein gesetzliches Verbot von Ent­
lassungen und gesetzliche Mindestlöh­
ne. Für Unternehmen, die Dividenden
ausschütten und hohe Managergehäl­
ter bezahlen können, wäre das Verbot
von Entlassungen nur logisch. Wenn
bestimmte Firmen durch das Verbot
von Entlassungen in Konkurs geraten,
können sie mit Unterstützung öffent­
licher Kredite unter Arbeiterkontrol­
le gestellt und saniert werden. Zahl­
reiche Beispiele dafür hat es in Argen­
tinien nach der Krise gegeben, wo di­
es eine Überlebensstrategie für die Ar­
beiterInnen war nach einem Konkurs
ihrer Unternehmen, der oft mit Lohn­
rückständen einherging und Sozialplä­
ne ein Fremdwort waren. Noch 2007
waren 10.000 Menschen in den selbst­
verwalteten Unternehmen in Argenti­
nien beschäftigt. In Bereichen, in de­
nen Massenentlassungen drohen, wie
der Automobilindustrie sollten Verge­
sellschaftungen und mittelfristig Um­
strukturierungen dieser dann öffent­
lichen Unternehmen angestrebt wer­
den. Die Autoindustrie beispielsweise
könnte auf diese Weise in die Herstel­
lung öffentlicher Transportmittel kon­
vertiert werden und die Beschäftigten
sukzessive in neue innovative Bereiche
überführt.
Die Finanzierung dieser Förder­
maßnahmen für Wirtschaft und Ar­
beitsplätze sollte erfolgen durch ent­
sprechende
Einkommenssteuerpro­
gression, Vermögens- und Erbschafts­
steuer, Erhöhung der Körperschafts­
steuer und die Besteuerung von Fi­
nanztransaktionen, da nur somit die
Kosten der Krise denen aufgebürdet
werden können, die dafür verantwort­
lich sind. Zugleich ist dies das einzige
Mittel, Haushaltskürzungen bei Sozi­
alausgaben, Bildungs- und Gesund­
heitswesen sowie Kinder- und Alten­
betreuung zu verhindern.
Steuerermäßigungen und Beihil­
fen für einkommensschwache Schich­
ten oder Ausweitung der Arbeitslo­
17
Ökonomie
sengelder auf nicht bezugsberechtigte
Lohnabhängige sind gängige kurz­
fristige Lösungen. Dies ersetzt frei­
lich nicht die erforderlichen Maßnah­
men, die der generellen Einkommens­
verschlechterung der Lohnabhängigen
entgegen wirken können. Hier geht es
nicht nur um den Gleichheitsgrundsatz
sondern auch um eine volkswirtschaft­
liche Notwendigkeit. Die Lohnzurück­
haltung, die von europäischen Wirt­
schaftspolitikern üblicherweise pro­
pagiert wird, verschärft nur noch das
Problem der fehlenden Binnennachfra­
ge. Das Risiko liegt darin, dass in man­
chen Ländern wie Deutschland weiter­
hin Niedriglohnpolitik betrieben wird.
Für eine grundlegende Lösung der Pro­
bleme dieser Krise muss sich die Wirt­
schaftspolitik zuerst mit der Vertei­
lungskrise befassen. Erforderlich ist
eine substantielle Verkürzung der Ar­
beitszeit, die einhergeht mit dem An­
stieg der Produktivität, und zugleich ei­
ne Angleichung der Löhne nach oben.
Die hohen Profite in der Vergangenheit
sind verantwortlich für die Krise, al­
so müssen sie jetzt die Kosten tragen.
Darin liegt nicht nur der Schlüssel zur
Lösung des Arbeitslosenproblems in­
folge der Krise sondern auch zur Lö­
sung der Umweltkrise. Denn nachhal­
tige Entwicklung setzt ein Null- oder
schwaches Wachstum in den entwi­
ckelten Ländern voraus, was bedeutet,
dass Vollbeschäftigung nur durch eine
Verkürzung der Arbeitszeit erzielt wer­
den kann und nicht durch ungerichtetes
Wachstum. Die Einkommensverluste
der Lohnabhängigen können durch
substantielle Umverteilung vermieden
werden. Außerdem, wenn wir zu einer
demokratischen Entscheidungsfindung
gelangen wollen, setzt dies Zeit für ei­
ne aktive Beteiligung voraus und somit
eine Verkürzung der Arbeitszeit.
Die Umgestaltung des Finanzsek­
tors ist ein Gebot der Stunde, das auch
breit thematisiert wird in der Diskussi­
on über Alternativen. Eine Regulierung
ist zwar wichtig, allerdings nicht aus­
reichend, denn die Finanzinstitutionen
verfügen über eine erstaunliche Phan­
tasie, die Regulierungen durch weitere
Innovationen zu umgehen. Insofern ist
das Finanzwesen ein Schlüsselsektor,
der nicht länger dem kurzfristigen Pro­
fitstreben überlassen werden darf. De
facto war der Sektor bereits verstaat­
licht, groteskerweise jedoch ohne öf­
fentliche Verfügungsgewalt, und die
18 Staatsanteile werden so bald als mög­
lich wieder privatisiert werden. Die
Krise hat offenbart, dass die großen
Privatbanken das dictum „Too big to
fail“ zu ihrem Vorteil ausnutzen.
Hingegen stehen wir vor der He­
rausforderung, umfangreiche Investi­
tionen in sozial nützlichen Bereichen
finanzieren zu müssen, z. B. im En­
ergiesektor. Dafür brauchen wir ei­
nen öffentlichen Finanzsektor, der je­
doch nicht bloß auf staatlichem Eigen­
tum beruht sondern auf kollektivem Ei­
gentum unter Beteiligung der Beschäf­
tigten und Betroffenen. Dieser öffent­
liche Finanzsektor muss selbstverständ­
lich die Konten offenlegen. Nur auf ei­
ner derartigen strukturellen Grundla­
ge werden die folgenden Finanzregu­
lierungen die sozial erwünschten Re­
sultate liefern: effektive Regulierung
und Überwachung aller Finanzinstitu­
tionen, volle Rechenschaftspflicht al­
ler Entscheidungsträger, antizyklische
Verwendung des Kapitals, Beseitigung
der außerbilanziellen Transaktionen,
wie bspw. ATTAC sie empfiehlt.26
Die notwendige Vergesellschaftung
des Finanzsektors wirft auch ein Licht
auf die anderen gesellschaftlich proble­
matischen Sektoren, die nicht der pri­
vaten Verfügungsgewalt und dem Pro­
fitstreben unterworfen sein dürfen. Die
Wirtschaftskrise hat unübersehbar ge­
macht, dass Finanz- und Immobilien­
sektor reif für eine Vergesellschaftung
sind. Die Energiekrise wiederum zeigt,
dass auch dieser Sektor und die Inve­
stitionen in alternative Energien in die
öffentliche Hand gehören. Die Pro­
bleme, die durch private Pensionsfonds
und durch die Privatisierungen im Bil­
dungs- und Gesundheitswesen sowie
in der Infrastruktur verursacht werden,
offenbaren, dass soziale Dienste eben­
falls zu sensibel sind, um privatem Pro­
fitdenken unterworfen zu sein. In wel­
chen sonstigen Sektoren die öffent­
liche Hand für gerechtere und sozial
wirksamere Resultate stehen könnte,
sollte einer öffentlichen Diskussion
unterworfen werden, die Anregungen
schafft und unter breiter Beteiligung
stattfindet.
Es geht hier nicht darum, die öffent­
liche Hand über den grünen Klee zu lo­
ben, sondern diejenigen zur aktiven
26 « Das Casino endlich schließen! », Gemein­
same Erklärung von 14 europäischen ATTAC
Organisationen zur Finanzkrise und demokra­
tischen Alternativen, 15. Okt. 2008
Teilnahme und Aufmerksamkeit auf­
zurufen, die als Beschäftigte, Konsu­
menten, Vertreter der Bevölkerung etc.
von den Entscheidungsprozessen be­
troffen sind. Das geltende Wirtschafts­
modell soll somit öffentlich und trans­
parent sein und die neuen Wege der
Entscheidungsfindung werden zugleich
die Koordination der Gesamtwirtschaft
im Sinne einer nachhaltigen, geplanten
und auf Solidarität gegründeten Ent­
wicklung erleichtern. Dieser umfas­
sende Wandel erfordert auch einen an­
deren institutionellen Rahmen als den
gegenwärtigen, der an eine kaum ge­
steuerte und profitorientierte Wirt­
schaft angepasst ist, in der die Lohnab­
hängigen und Bürger nur wenig zu sa­
gen haben.
Auf internationaler Ebene innerhalb
der EU hängt die politische Glaubwür­
digkeit der Union davon ab, ob und wie
der Westen dem Osten bei der Über­
windung der globalen Krise hilft und
dadurch echte Kooperation signalisiert.
Tatsächliche Hilfe muss über bloße fi­
nanzielle Unterstützung zur Stützung
der Währung hinaus gehen und öffent­
liche Investitionsprogramme anschie­
ben, die auf die regionale Entwicklung
abzielen. Dabei sollten öffentliche eu­
ropäische Investitionen wirksam wer­
den, die durch EU-weit erhobene pro­
gressive Steuern finanziert werden.
Ein weiteres durch die Krise offen­
bar gewordenes Manko ist, dass die of­
fenen Kapitalflüsse besonders in den
Schwellenländern zu Turbulenzen und
strukturellen Problemen führen. Die
von einer (realen und nominalen) Ab­
wertung der lokalen Währungen ausge­
henden verheerenden Wirkungen kön­
nen nur durch eine Kontrolle der Ka­
pitalflüsse und eine gesteuerte Abwer­
tung mit Kontrolle der Preise überwun­
den werden.
Wien, September 2009
Özlem Onaran, Wirtschaftswissenschaftle­
rin, lehrt Wirtschaft an der Universität Middle­
sex in Großbritannien. Veröffentlichungen: u.
a. Türkiye Emek Piyasasinin Yapisi ve Issizlik
(Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in
der Türkei, mit Hacer Ansal, Suat Kucukciftci
und Benan Zeki Orbay), Istanbul 2000. Sie ist
regelmäßige Mitarbeiterin von Yeniyol (Neuer
Kurs), der Zeitung der türkischen Sektion der
IV. Internationale.
Übersetzung MiWe
inprekorr 460/461
Ökonomie
Der freie Fall ist vorbei,
aber die Krise geht weiter
Joel Geier
Eine neue Phase der langfristigen Sy­
stemkrise des internationalen Kapitalis­
mus entfaltet sich vor unseren Augen.
Die Rezession, die im Dezember 2007
begonnen hatte, ist die längste, tiefste
und weitestreichende globale Krise seit
den 1930er Jahren. Ihre schlimmste
Phase folgte auf die Entscheidung von
Henry Paulson, Ben Bernanke und Tim
Geithner im September 2008, Lehman
Brothers zu erlauben, in Konkurs zu ge­
hen. Der Weltkapitalismus kam sechs
Monate lang ins Trudeln. Das virtuelle
Bankensystem brach zusammen und
die Geschäftsbanken verloren Hunder­
te Milliarden Dollar. Das Finanzsystem
war tatsächlich bankrott und die Kapi­
talmärkte mussten schließen – eine Si­
tuation, die von den Regierungen in al­
ler Welt eine massive Intervention ver­
langte.
Das weltweite Bruttoinlandsprodukt
(BIP) sank um 4–6 %, die industrielle
Produktion in den entwickelten Ökono­
mien fiel um 15–25 %, Exporte brachen
zusammen, und der Welthandel ging um
über 20 % zurück. Solche Zahlen gab es
nicht mehr seit der Großen Depression.
Im April endete der freie Fall. Der Nie­
dergang geht weiter, aber in weitaus ge­
ringerem Tempo. Einige wirtschaftliche
Indikatoren weisen auf das Ende der
Talfahrt, aber nicht auf das der Krise.
Alle Rezessionen erreichen schließlich
einen Grund, wo sich die Wirtschaft auf
einem neuen niedrigen Stand stabilisiert
oder der der Ausgangspunkt einer Erho­
lung ist. Aber hier handelt es sich nicht
um eine normale Rezession, und die Er­
holung, wenn sie denn kommt, wird kei­
ne normale Erholung sein.
Die Erholung der Börse in den letz­
ten Monaten gründet auf Projektionen,
wonach das Wachstum bald wieder­
hergestellt sein werde. Aber die erwar­
tete Erholung ist abnormal schwach –
es wird ein Wachstum von 0,5 bis 1 %
in den vergangenen sechs Monaten und
von 1–2 % für 2010 vorhergesagt. Auf
einen heftigen Rückgang folgt norma­
inprekorr 460/461
lerweise ein starkes Wachstum (das
Wachstum von 1933 bis 1936 nach dem
sehr tiefen Fall von 1929 bis 1932 betrug
8,5 % im Jahr, und selbst dies bedeutete
nicht das Ende der Krise). Das Ende des
freien Falls ist nicht der Selbstkorrek­
tur des freien Marktes geschuldet, son­
dern der massivsten steuerlichen und fi­
nanziellen Intervention des Staates, die
es jemals in der Weltwirtschaft gegeben
hat. Das Kernstück von Barack Obamas
Wirtschaftsprogramm war die Rettung
des Finanzkapitals. Die Regierung be­
zahlte für die Banken Beihilfen, Darle­
hen, Kredite und Bürgschaften im Wert
von insgesamt 13 Billionen Dollar. Di­
ese Intervention zur Rettung von Inha­
bern von Bankobligationen wird auf
Jahre hinaus mit einem geringeren Le­
bensstandard der amerikanischen Werk­
tätigen bezahlt werden.
Nicht die Bankenkrise, jedoch die
Furcht, dass die Banken zusammenbre­
chen werden, ist vorüber. Darüber hi­
naus ist die Obama-Administration in
der Lage gewesen, die Forderung nach
Verstaatlichung der Banken zurück­
zudrängen. Diese Forderung war so­
gar von Alan Greenspan erhoben wor­
den. Der jüngste „Stresstest“, das letz­
te Stück des Wirtschaftsrettungsplans
der Regierung, zielte darauf ab, das Ver­
trauen wiederherzustellen, indem garan­
tiert wurde, dass keiner der 19 größten
Banken erlaubt werde, bankrott zu ge­
hen. Der Zustrom von Regierungsgel­
dern in die Banken löste die Blockade
der Geldmärkte und der Kredite. Die
Darlehensvergabe unter den Banken,
die zum Stillstand gekommen war, lief
wieder an. Die Risikoprämien wurden
verstärkt und die Aktienmärkte wieder­
belebt. Das Kreditsystem ist jetzt funk­
tional, obwohl viele Individuen und Un­
ternehmen noch Probleme bei der Kre­
ditvergabe haben.
Die zweite Grundlage für die Er­
holung sind die finanziellen Anreiz­
programme der USA und Chinas. Der
US-Anreiz ist in diesem Jahr durch
ein Haushaltsdefizit von 1,84 Billionen
Dollar (13 % des BIP) finanziert wor­
den. Diese Summe wurde nur während
der beiden Weltkriege übertroffen und
reicht aus, einer sonst im Koma befind­
lichen Wirtschaft wieder etwas Leben
einzuhauchen. Kleine Steuererleichte­
rungen, geringere Hypothekenraten und
niedrigere Benzinpreise stützten die sin­
kenden Konsumentenausgaben. Die In­
frastrukturausgaben sollten in den näch­
sten Monaten private Investitionen als
Motor des für das Jahresende vorge­
sehenen maßvollen Wachstums erset­
zen. Chinas 585-Milliarden-Dollar-Pro­
gramm zum Aufbau der Infrastruktur
soll den Boom bei Öl und industriellen
Rohstoffen wieder ankurbeln und damit
die Warenproduzenten unterstützen.
Doch eine schwache Erholung und
die Unfähigkeit, Schlüsselsektoren der
Wirtschaft zu stabilisieren, wirft die
Möglichkeit einer langdauernden Sta­
gnation oder eines verkürzten Wirt­
schaftszyklus ohne eine Periode starken
Wirtschaftswachstums auf. Der Woh­
nungssektor steckt immer noch in der
Krise. Die Preise sind um 32 % gefal­
len und 27 Millionen Menschen – ge­
genüber 16 Millionen vor einigen Mo­
naten – haben eine Hypothekenlast, die
den Wert ihres Hauses übersteigt. Das
sind 29 % aller Hausbesitzer, von denen
viele ihre Häuser möglicherweise auf­
geben müssen. Es gibt auch eine neue
Welle von Zwangsvollstreckungen, die
diejenigen betrifft, die ihre Jobs ver­
loren haben und ihre Zahlungen nicht
mehr leisten können.
Über 5 Millionen Menschen haben
ihre Hypotheken länger als drei Monate
nicht mehr bezahlt oder stehen vor der
Zwangsvollstreckung. Die meisten von
ihnen sind von Obamas Programm der
Hypothekenmodifizierung ausgeschlos­
sen, da dieses Häuser, deren Hypothe­
ken höher sind als 105 % vom Wert des
Hauses, ausschließt. Dieses Programm
wurde als Rettung für Millionen vor der
Zwangsvollstreckung angepriesen, da­
19
Ökonomie
mit sollte jedoch nur die Rettung der
Banken versüßt werden. Es ist drastisch
gescheitert, da es nur 10 000–50 000 Ei­
genheime betrifft. Die kranke Logik der
kapitalistischen Pleite geht weiter: Mehr
und mehr Menschen verlieren ihre Jobs
und werden zwangsvollstreckt; die Prei­
se sinken wieder und löschen so die Er­
sparnisse, wodurch die Anzahl der po­
tenziellen Nutznießer der Entlastung re­
duziert wird und die geplante Erholung
erstickt. Trotz der Kosten des Banken­
programms von Bush und Obama wird
die Krise weitergehen und werden die
Verluste der Banken in den beiden kom­
menden Jahren zunehmen. Zwei Millio­
nen Eigenheime werden 2010 zwangs­
vollstreckt werden, was einen durch­
schnittlichen Verlust von 50 000 Dollar
je Eigenheim bedeutet – ein Verlust von
100 Milliarden Dollar für die Banken.
Der kommerzielle Immobilienmarkt
tritt jetzt in eine Krise ein, die der äh­
nelt, die den Wohnungssektor betrof­
fen hat. Die kommerziellen Immobili­
enpreise sind um 30–40 % gefallen. Die
zunehmende Anzahl leerstehender Im­
mobilien und die sinkenden Mietpreise
führen zu einer Welle von Pleiten im
Immobiliensektor. Das Wall Street Journal schreibt: „Im letzten Jahrzehnt ent­
fesselte die Wall Street eine Welle von
wertpapiermäßig unterlegten Schulden
bei kommerziellen Immobilien, wie sie
es bei den Wohnungshypotheken getan
hatte. Hypotheken auf kommerzielle
Immobilien im Wert von etwa 700 Mil­
liarden Dollar wurden in Wertpapiere
aufgeteilt und an ein breites Spektrum
von Investoren verkauft. Das bedeutet,
dass diesmal der Schmerz von einer grö­
ßeren Anzahl von Spielern gespürt wer­
den wird, über Banken und Sparkassen
hinaus.“
Die Banken haben diese Darlehen zu
ihrem nominellen Wert verbucht, wäh­
rend die Federal Deposit Insurance Cor­
poration (FDIC) sie sogar für 59 Cent
pro Dollar veräußert hat. Der Zusam­
menbruch des kommerziellen Immobi­
lienmarkts wird die Banken über 200
Milliarden Dollar kosten. Vier- bis fünf­
hundert zumeist regionale Banken wer­
den dabei wahrscheinlich bankrott ge­
hen.
Die Qualität der an Unternehmen
gegebenen Darlehen geht auch zurück.
In den Jahren der Finanzblase nahmen
die Unternehmen große Anleihen zu bil­
ligen Kreditraten. Als die Profite nach
unten gingen, ergaben sich Schwierig­
20 keiten, die Zinszahlungen zu leisten. In
den letzten drei Monaten hat Standard
& Poor den Kredit von über 500 Un­
ternehmen reduziert. Sie werden somit
nicht in der Lage sein, ihre Darlehen zu
niedrigen Raten zu refinanzieren und es
wird erwartet, dass 14 % der Unterneh­
mensobligationen 2010 nicht bezahlt
werden. Der Stresstest der 19 größten
Banken ergibt die Schlussfolgerung,
dass diese Banken in den nächsten zwei
Jahren 599 Milliarden Dollar verlieren
werden, wobei ein Verlust von 424 Mil­
liarden Dollar in den vier größten Ban­
ken – Chase, Bank of America, Citicorp,
Wells Fargo – konzentriert sein wird.
Die europäischen Banken sind in ei­
ner noch schlimmeren Lage. Es werden
Verluste von 1 Billion Dollar erwartet,
und noch mehr, wenn die osteuropäische
Bankenkrise außer Kontrolle gerät. Wel­
che Auswirkung dies auf das US-Banken­
system haben wird, ist in den Nebel des
Bankgeheimnisses gehüllt. Der Internati­
onale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass
das internationale Bankensystem 4 Billi­
onen Dollar verlieren wird: 2,2 Billionen
in den USA, 1 Billion in Europa und 800
Milliarden im Rest der Welt. Nouriel Rou­
bini schätzt, dass die Verluste der US-Ban­
ken allein 3,6 Billionen Dollar erreichen
werden. Angesichts der Tatsache, dass sie
das Recht hatten, das Zehnfache ihres Ka­
pitals in Kreditoperationen zu stecken,
werden mindestens 40 Billionen Dollar
aus dem Kreditsystem im Rahmen einer
Verschuldung verschwinden, die noch gar
nicht richtig begonnen hat. Dies erklärt
wesentlich, warum diese Krise so lang­
dauernd sein wird und die Erholung so
kraftlos.
Überproduktionskrise
Die Krise unterstreicht den gewal­
tigen Grad der Überproduktion in der
Welt und den untragbaren Charakter
des Welthandelssystems, das auf einem
jährlichen Defizit der US-Zahlungsbi­
lanz von 700–800 Milliarden Dollar
beruhte. Eine Rückkehr zu diesem Re­
gime der Zeit vor der Krise ist unmög­
lich. Die USA können gewaltige Zah­
lungsbilanzdefizite nicht mehr durch
Auslandsanleihen finanzieren. Folglich
muss das gesamte System des Welthan­
dels umstrukturiert werden. Das chi­
nesische Modell der Überausbeutung,
bei dem nur 35 % dessen, was produ­
ziert wird, für den einheimischen Kon­
sum, der Rest aber für den Export und
Neuinvestitionen verwendet wird, wird
auf ein Weltsystem stoßen, das nicht be­
reit ist, Chinas exportorientierte Wachs­
tumsstrategie zu tolerieren.
Die Tiefe der Überproduktionskrise
ist die Quelle für den Zusammenbruch
der industriellen Produktion – 15 % in
den USA, 20 % in der Euro-Zone, 34 %
in Japan. Als Ergebnis fielen die Kapi­
talinvestitionen in den USA um 40 %
im ersten Quartal 2009. Da die Industrie
nur zu 69 % ihrer Kapazitäten funktio­
niert, der geringste Wert seit den 1930er
Jahren, gibt es in den kommenden Jah­
ren ohne eine Umstrukturierung keine
Basis für Investitionen in neue Fabriken.
Die Streichungen bei General Motors
und Chrysler sind ein Aspekt einer welt­
weiten Autoüberproduktion von schät­
zungsweise 20–30 Millionen Autos.
Eine große Zahl von Jobs wird bei
dieser Umstrukturierung verschwinden,
wahrscheinlich mindestens ein Drit­
tel der verbleibenden Jobs in den beste­
henden Automobilunternehmen. Dies
wiederum führt zu Entlassungen, Kür­
zungen, Umstrukturierungen und Plei­
ten in allen Bereichen, die von der Au­
toindustrie abhängig sind: Zulieferer,
Verkäufer, Verkehr, Marketing, kommu­
nale Steuern und Dienstleistungen usw.
Das Automobil ist ein Muster für die
Zukunft. Andere Industrien, die Kandi­
daten für eine Umstrukturierung infol­
ge von Überkapazität sind, sind Flug­
gesellschaften, Zeitungen, Shopping
Malls und Restaurants. Eine jahrelan­
ge Umstrukturierung mit Entlassungen,
Kürzungen bei Löhnen und Soziallei­
stungen wird auch in der Erholung wei­
tergehen. Eine neue Studie ergibt, dass
16 % der Unternehmen die Löhne ge­
kürzt haben, während 20 % die Anzahl
der vergüteten Arbeitsstunden reduziert
haben. Die Anzahl der Arbeitsstunden
ist im ersten Viertel 2009 um 9 % redu­
ziert worden. Eine starke durch die Kon­
sumenten bewirkte Erholung ist deshalb
reine Fantasie.
Die Verschuldungsblase im Herzen
der Krise besteht weiter. Mit dem Schei­
tern des freien Markts, des privaten Ka­
pitals, wurde der Staat die einzige Insti­
tution, die die Liquidität, den Kredit und
die Konsumentennachfrage garantieren
kann. Der Staat hat die Schulden der
Banken und der Unternehmen auf sei­
ne Bilanz transferiert und so die Furcht
vor der Monetarisierung dieser Schul­
den und der Entstehung einer scharfen
Inflation in der Zukunft hervorgerufen.
inprekorr 460/461
Ökonomie
Die Tiefe der Krise hat die Finanzie­
rung durch Staatsverschuldung auf ein
ganz neues Ausmaß gebracht. Das öf­
fentliche Defizit beträgt 2009 1,84 Billi­
onen Dollar, 1,26 Billionen Dollar 2010
und etwa 1 Billion Dollar im Jahr 2011.
Dieses neue Ausmaß an Defiziten und
akkumulierten Staatsschulden bedroht
den Kreditstatus der USA – die Stellung
des Dollars als internationale Reserve­
währung – und den Status der U.S. Fe­
deral Reserve als die zentrale Bank der
Welt. In den letzten Monaten haben die
Regierungen von Irland und Spanien ih­
re Höchstbewertung der Kreditwürdig­
keit verloren. Jüngst hat Standard &
Poor die Schulden der britischen Regie­
rung unter Beobachtung gestellt, mit der
Aussicht, die Höchstbewertung der Kre­
ditwürdigkeit aufzuheben, da die Staats­
verschuldung so schnell steigt. Großbri­
tannien war seit 1693 mit seinen Schul­
den nicht mehr im Rückstand – eine un­
schlagbare Kreditgeschichte. Die An­
kündigung von Standard & Poor hat ei­
nen massiven Ausverkauf auf dem USMarkt an Obligationen hervorgeru­
fen, weil die US-Regierung denselben
Weg zu einem geringfügig langsameren
Tempo verfolgt. Dies ließ die langfri­
stigen Zinsraten steigen, einschließlich
der auf Hypotheken und Unternehmen­
sobligationen, was die Möglichkeit für
eine Erholung weiter einschränkt.
Das Defizit stellt die Position der
USA als eines sicheren Hafens des Ka­
pitals in Zeiten der Krise in Frage. Das
Congressional Budget Office schätzt,
dass die Zinsen auf die Staatsschulden
von 172 Milliarden Dollar 2009 auf
über 800 Milliarden Dollar pro Jahr im
Verlauf des kommenden Jahrzehnts stei­
gen werden. Die Zinszahlungen allein
wären größer als jedes Defizit vor dem
Jahr 2009. Dies wird eine Schuldenfal­
le schaffen, wo die Regierung allein für
die Zinszahlungen Anleihen aufnehmen
muss, was die Staatsverschuldung wei­
ter vergrößert.
Mittlerweile beginnen die Regie­
rungen Chinas und anderer Länder aus
Furcht vor einem scharfen Sturz des
Dollars infolge der steigenden Staats­
verschuldung, von langfristigen US-An­
leihen zu kurzfristigen US-Schatzwech­
seln und anderen Alternativen überzu­
gehen. Dies könnte zu einem steilen An­
stieg der Zinsraten führen, um den Dol­
lar und die Staatsschuld zu schützen,
was einen weiteren tiefen wirtschaft­
lichen Abschwung auslösen würde.
inprekorr 460/461
Die Lohnabhängigen zahlen
die Rechnung
Erholung oder nicht, das Elend der
US-Arbeiterklasse wird sich verschär­
fen. Die Arbeitslosigkeit wird auch bei
schwacher Erholung weiter wachsen.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen wird
noch Jahre brauchen. Kürzungen bei
Löhnen, Sozialleistungen, Renten und
Gesundheit werden beschleunigt zuneh­
men.
Bei stagnierenden Reallöhnen in den
letzten vierzig Jahren und sinkenden Fa­
milieneinkommen im letzten Jahrzehnt
wurde der Konsum der Arbeiterklasse
durch das Wachstum von Hypotheken
und anderen Schulden finanziert. Die­
se Option ist jetzt beendet. Es wird kei­
nen Kredit für US-Lohnabhängige ge­
ben, deren Einkommen sinkt, deren Ei­
genheime im Wert sinken und deren Er­
sparnisse dezimiert worden sind. Vor
der Krise machten die Konsumenten­
ausgaben 70 % des BIP aus. Es ist bür­
gerlicher Konsens, dass der Konsum ge­
kürzt werden muss, um die US-Ökono­
mie auf gesunderer Basis wiederaufzu­
bauen, d. h. auf der Grundlage von Er­
sparnissen statt auf Schulden und Aus­
landskapital. Die Kapitalistenklasse und
ihre intellektuellen Handlanger sagen
uns, dass die Arbeiter und nicht die Bos­
se über ihre Verhältnisse gelebt haben –
trotz der Tatsache, dass die Löhne in den
letzten dreißig Jahren weitgehend sta­
gnierten oder zurückgegangen sind.
Solange die Verschuldung dazu
diente, den amerikanischen Kapitalis­
mus zu retten, insbesondere das Ban­
kensystem, wurde sie vom Kapital ver­
teidigt, vor allem da sie von der Arbei­
terklasse bezahlt wurde und nicht durch
die Besteuerung der Reichen. Da die
Verschuldung nun eine Bedrohung für
die Kreditwürdigkeit des US-Kapita­
lismus ist, wird das Kapital sich poli­
tisch gegen weitere Finanzierung durch
Staatsverschuldung wenden. Um die
Staatsverschuldung zu reduzieren, wird
die herrschende Klasse Kürzungen bei
den Regierungsausgaben vorschlagen,
besonders bei den Ausgaben für Sozial­
leistungen und Gesundheit.
Ohne die Reichen zu besteuern,
werden die Bundesstaaten ihre zuneh­
menden Haushaltskrisen – Kalifornien
hat bspw. ein Haushaltsdefizit von über
20 Milliarden Dollar – durch die stär­
kere Besteuerung des Konsums zu lösen
suchen, was hauptsächlich die Arbei­
terklasse betrifft. Diese Steuern werden
mit gewaltigen Kürzungen bei Sozial­
leistungen, von denen die Arbeiterklasse
abhängt, wie Bildung, Schulmahlzeiten,
Krankenversicherung und andere Sozi­
alprogramme, kombiniert werden.
Bush und Obama haben 170 Milli­
arden Dollar aufgebracht, um die Schul­
den der Finanz- und Versicherungsge­
sellschaft AIG bei Banken und HedgeFonds-Spekulanten zu begleichen. Jeder
Dollar, der an die Banken geht, wird dem
Lebensstandard der Werktätigen entzo­
gen. Und die Krise wird die Ausflucht
für weitere Angriffe bilden. Obamas
Bildungsminister, Arne Duncan, benutzt
die Krise in Kalifornien als Gelegenheit,
um zu Vertragsschulen und „leistungs­
bezogener“ Bezahlung überzugehen.
Die Republikaner und die Rechte wol­
len die Lehrergewerkschaften zerstö­
ren, während die Demokraten die Krise
ausnutzen, um die Errungenschaften der
Gewerkschaftsbewegung im Bildungs­
sektor zurückzudrängen.
Lösungen
Von einer Lösung dieser Krise sind wir
noch sehr weit entfernt. Im vergangenen
Jahr begann in den USA eine ideolo­
gische Krise des Neoliberalismus, des
Scheiterns des freien Markts, seiner Un­
fähigkeit zur Selbstkorrektur ohne die
Perspektive eines totalen Zusammen­
bruchs. Das staatliche Eingreifen ver­
hinderte ein Bankenzusammenbruch
wie in den 30er Jahren. Aber es hat die
Krise nicht gelöst.
Sowohl ökonomisch als auch ideolo­
gisch können die USA auf die Grenzen
dessen stoßen, was der bürgerliche Staat
zu erwägen bereit ist, d. h. auf die Gren­
zen des Keynesianismus. Der Keynesia­
nismus schlägt bei Rezessionen als Lö­
sung billiges Geld und Kredit zu nied­
rigen Zinsraten, ein Haushaltsdefizit
zum Ausgleich mangelnder Kapitalinve­
stitionen und die Schaffung einer effek­
tiven Konsumentennachfrage vor. Die
Regierung hat die kurzfristigen Zinsra­
ten fast auf Null gesenkt und ihr Haus­
haltsdefizit übertrifft das der 30er Jahre.
Doch die Auswirkungen auf die Nach­
frage sind dürftig aufgrund der Rettung
der Banken, und der Anstieg der Ver­
schuldung bedeutet, dass die Nachfra­
ge wahrscheinlich nicht nennenswert
steigt. Keine der Varianten bürgerlicher
Wirtschaftspolitik – der Neoliberalis­
mus des freien Markts oder der staats­
21
Ökonomie
kapitalistische Keynesianismus – kann
die Krise lösen.
Tatsächlich bedeuten die ersten
Anzeichen einer Erholung nicht, dass
wir aus der Krise rauskommen. Ei­
ne schwache Erholung kann stecken­
bleiben und zu einer neuen Rezession
werden oder ein Jahrzehnt der Stagna­
tion einleiten. Die Wirtschaft bricht
nicht mehr zusammen, aber das be­
deutet keinesfalls, dass die Krise vor­
bei ist.
Eine große Zahl von Menschen hat
den Glauben an den freien Markt ver­
loren. Eine wachsende Anzahl hat kei­
nerlei Vertrauen mehr in Kompetenz,
Intelligenz, Ehrlichkeit, Integrität und
Fairness des kapitalistischen Systems.
Der Vorstellung, dass die Reichen das
Geld, das sie gewinnen, verdienen
und dass Ungleichheit der notwendige
Preis für eine funktionale und blü­
hende Gesellschaft ist, wurde ein hef­
tiger Schlag versetzt. Stattdessen gibt
es eine massive Unterstützung dafür,
dass der Staat die Krise zu lösen ver­
sucht und insbesondere eine Politik
durchsetzt, die der „Main Street“ (den
einfachen Leuten) und nicht der Wall
Street zugute kommt.
Die Unterstützung für Obama und
die Illusionen in ihn werden weiter­
gehen, wenn die Regierung die Wirt­
schaft stabilisiert. Aber wenn die La­
ge sich nicht dramatisch verbessert,
wenn sie sich für die Werktätigen wei­
ter verschlechtert, wird es eine weitere
Radikalisierung geben. Die Radikali­
sierung wird dann über die Abneigung
gegen den freien Markt, die Banker
und die Autobosse hinaus gehen und
dazu führen, dass sich die Leute fra­
gen, wem diese Regierung gehört und
warum sie sich um die Reichen küm­
mert, die uns in den Schlamassel ge­
bracht haben, und nicht um uns. Dies
kann eine Radikalisierung nach links
fördern. Aber es kann auch ein Wachs­
tum der extremen Rechten fördern, die
bereit ist, die Karte des rassistischen
Populismus zu spielen. Deshalb wird
die Rolle von Sozialisten und anderen
Radikalen, die eine kämpferische Ar­
beiterbewegung aufbauen wollen, ent­
scheidend sein.
Die Arbeiterbewegung wurde durch
den Triumph des Neoliberalismus in
22 den letzten Jahrzehnten zerschlagen
und marginalisiert. Die Wiederbele­
bung einer Klassenpolitik, von Klassen­
organisationen und des Klassenkampfs
wird deshalb langwierig sein, ein Pro­
zess von sich häufig wiederholendem
Auf und Ab. Wie die Krise und die Er­
holung wird sie viele Stadien durch­
laufen. Eine wachsende Anzahl von
Lohnabhängigen, deren Lebensum­
stände sich weiter verschlechtern wer­
den, wird die Illusionen in den Staats­
liberalismus als Alternative zum Neoli­
beralismus verlieren. Die von der Kri­
se geschaffene ideologische Öffnung
wird mit der Zeit die Bedingungen für
die Wiedergeburt praktischer Kämpfe
gewöhnlicher Werktätiger als Antwort
auf die Krise schaffen.
Obama war gewählt worden, weil
Millionen nach den reaktionären BushJahren einen Wandel wollten. Die Lohn­
abhängigen müssen noch viele Erfah­
rungen machen, um zu begreifen, dass
der Wandel nicht von oben, vom bürger­
lichen Staat kommt, sondern von unten,
gegen die Kapitalisten und ihren Staat.
Joel Geier ist Mitglied der International Socia­
list Organization (ISO) in den USA und Redak­
teur der Zweimonatszeitschrift International
Socialist Review (ISR). Der Beitrag erschien zu­
erst in ISR, Nr. 66, Juli/August 2009.
Übersetzung: HGM
IV. Internationale im Internet
englisch:
www.internationalviewpoint.org/
französisch:
http://orta.dynalias.org/inprecor/home
spanisch:
http://puntodevistainternacional.org
deutsch:
www.inprekorr.de/
inprekorr 460/461
Ökonomie
Die Asienkrise: Krise eines exportgestützten Wachstums oder der
Verdrängung von Arbeit?
Jean Sanuk
Nachdem das Wachstum in den asiati­
schen Entwicklungsländern 2007 auf
9,5 Prozent geklettert war, brach es
2008 um ein Drittel auf 6,5 Prozent ein.
Am härtesten brachen Ost- und Südost­
asien ein, während Südasien weniger
betroffen ist und die Pazifikregion so­
gar weiter wuchs. Die letzte Krise in der
Region im Jahr 2001 ging auf das Plat­
zen der „Internet-Blase“ in den Verei­
nigten Staaten zurück. Das Wachstum
des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Re­
gion sank zwischen 2000 und 2001 von
7,1 auf 4,8 Prozent, also um ein Drittel.
Die „Asienkrise“ von 1997/98 war we­
sentlich schwer wiegender. Zuerst ver­
langsamte sich das Wachstum in den
Entwicklungsländern Asiens zwischen
1996 und 1997 von 7,5 auf 6,0 % und
brach dann 1998 sogar auf 1,6 % ein,
d. h. gegenüber 1996 auf ein Viertel.
Ein genauer Blick auf die Quartals­
zahlen zeigt, dass die meisten Länder
Asiens (außer Singapur und Taipeh)
im ersten Quartal 2009 die Talsohle er­
reicht und einzelne die Krise besser ge­
meistert haben als 1997/98 (siehe Ta­
belle 1).1
1 Tabelle 1 vergleicht die Quartale eines Jahres
inprekorr 460/461
Sieht man sich die Ergebnisse des
ersten und zweiten Quartals 2009 an,
lässt sich eine erneute Wachstums­
tendenz beobachten (siehe Tab. 2).
Wie wir noch sehen werden, ist die­
ser Wiederaufschwung hauptsächlich
China zu verdanken, dessen Wachs­
tum im zweiten Quartal 2009 7,5 %
erreicht. Indien und Indonesien, zwei
andere „Schwergewichte“ in der Re­
gion, weisen ebenfalls ein positives
Wachstum aus, und Japan, eine an­
dere wichtige regionale Wirtschafts­
macht, scheint aus der Rezession hi­
naus zu sein.
Vergleicht man die Quartale mit
den Vorjahrsergebnissen, ist der Wie­
deraufschwung noch deutlicher. Zwi­
schen dem ersten und dem zweiten
Quartal 2009 wuchs das BIP in China
um 15 %, in Südkorea um 10 %, in Sin­
gapur um 21 %, in Indonesien um 5 %
(siehe Tab. 2).
Der „Wachstumspol Asien“ ist so­
gar die einzige Region der Welt, in der
die Industrieproduktion wieder den
mit den entsprechenden Quartalen des Vorjahrs, um Saisonschwankungen zu vermeiden
und Entwicklungstendenzen besser zu erfassen.
Stand von vor der Krise erreicht (sie­
he Grafik 1).
Grund genug für den für seine Se­
riosität bekannten britischen „Econo­
mist“, auf dem Titelblatt vom „sensati­
onellen Aufschwung in Asien“ zu spre­
chen.2 Obwohl dieser Aufschwung tat­
sächlich eindrücklich ist, hängt er stark
vom Aufschwung Chinas ab, und die
vielfältigen Probleme, mit denen die
Länder Asiens konfrontiert sind, dürfen
nicht unterschätzt werden. Verschiede­
ne Faktoren deuten darauf hin, dass der
Wiederaufschwung in Asien von kur­
zer Dauer sein wird.
1. Auswirkungen je nach
Land
Die Folgen der Krise in den asiatischen
Ländern weichen stark voneinander ab,
je nachdem, ob man den Finanz- oder
den Produktionsbereich betrachtet.
Folgen im Finanzsektor
Asien war von der „Subprime“-Kri­
se im eigentlichen Sinn, die die gegen­
wärtige Krise ausgelöst hat, nur be­
grenzt betroffen. Die Verluste werden
2 The Economist vom 15.–21. August 2009.
23
Ökonomie
daher als sehr gering eingestuft. Die
Verluste für ganz Asien einschließlich
Japan werden auf 19,5 Mrd. Dollar ge­
schätzt. Das entspricht 1,95 % des Ban­
kenkapitals und nur 0,09 % der gesam­
ten Bankaktiva, gegenüber 10,03 %
bzw. 1,02 % für die USA: Im Mai 2008
betrugen die globalen Verluste durch
Wertminderung von Aktivposten und
uneinbringliche Kredite der 100 größ­
ten Banken und Investitionsfonds welt­
weit 379 Mrd. Dollar. Asien (ohne Ja­
pan) trägt daran einen Anteil von 10,8
Mrd. Dollar, also weniger als 3 % der
Gesamtverluste. Zudem sind asiatische
Banken indirekt nur geringfügig von
Konkursen und den riesigen Verlusten
amerikanischer und europäischer Ban­
ken betroffen. So etwa blieben die Fol­
gen der Insolvenz der Lehman Brothers
sehr begrenzt. Die Bangkok Bank bei­
spielsweise verzeichnet einen Verlust
von 101 Millionen Dollar, was zwar er­
heblich ist, aber die Bank nicht gefähr­
dete.
Doch selbst wenn die direkten und
indirekten Auswirkungen der Subpri­
me-Krise minimal waren, hatte die Fi­
nanzmarktkrise für Asien trotz allem
erhebliche Folgen. Sie drückte sich
durch eine massive Kapitalflucht in
zahlreichen Ländern aus (siehe Gra­
fik 2).
Diese Kapitalflucht erklärt sich in
erster Linie durch massive Verkäufe
von Aktien und Obligationen auf den
asiatischen Finanzmärkten und die
Konvertierung der erhaltenen Beträge
in Dollar, die dann ins Herkunftsland
24 zurücktransferiert wurden. Dieses Phä­
nomen ist sehr ausgeprägt in Südko­
rea und Neuseeland mit ihren riesigen,
für ausländisches Kapital gleichzei­
tig sehr offenen Aktienmärkten und in
Malaysia mit seinem hoch entwickel­
ten Markt für staatliche Schuldtitel und
einer ebenfalls starken Präsenz auslän­
discher Investoren (BIS 2009). Die Ka­
pitalflucht erklärt sich darüber hinaus
durch die Nichterneuerung von kurz­
fristigen Bankkrediten in Dollar, die
ausländische Banken den asiatischen
Banken gewährt hatten. Der Einbruch
bei Bankkrediten war in den Finanz­
zentren Singapur und Hongkong sehr
ausgeprägt. Die Banken dieser Länder
mussten die Darlehen, die sie bei aus­
ländischen Banken aufgenommen hat­
ten, in Dollar zurückzahlen. Hongkong
und Singapur, aber auch Japan, konnten
diesen enormen Kapitalabfluss verkraf­
ten, da sie in ihrer Leistungsbilanz er­
hebliche Überschüsse auswiesen, aber
auch, weil die Repatriierung von Kapi­
tal in diese Länder den Abgang mehr
als aufwog. Im Fall Japans führte die
Repatriierung von Kapital zur Aufwer­
tung des Yen, wodurch sich die bereits
bestehenden Absatzprobleme der Ex­
portwirtschaft weiter verschärften.
In anderen Ländern, insbesonde­
re in Südkorea, waren die Folgen we­
sentlich einschneidender. Der Kapital­
abfluss war in diesen Ländern ab dem
dritten Quartal 2007 spürbar und ver­
schärfte sich, als die Krise im Jahr 2008
offen ausbrach. Im Herbst 2008 hatte
der koreanische Won bereits 40 % sei­
nes Werts verloren – die bislang stärks­
te Abwertung einer asiatischen Wäh­
rung überhaupt im Verlauf der aktuel­
len Krise. 60 Mrd. Dollar an internati­
onalen Reserven lösten sich in einigen
Monaten in nichts auf. Die Risikoprä­
mien auf koreanische Staatsobligatio­
nen, die das Misstrauen ausländischer
Investoren gegenüber der koreanischen
Wirtschaft zum Ausdruck bringen und
vor der Krise bei 30 Basispunkten la­
gen, schnellten auf 700 Punkte.3 Die
stärkere Vulnerabilität der koreani­
schen Wirtschaft erklärt sich durch ei­
ne Reihe von Faktoren, die zur hohen
Finanzinstabilität beitrugen: die fast
vollständige Freiheit der Kapitalbewe­
gungen, das Vorliegen von sehr entwi­
ckelten und liquiden Kapitalmärkten,
die Entwicklung eines bedeutenden
Markts für Derivate und schließlich der
flexible Wechselkurs. Auslöser der Kri­
se war dann die massive Verschlech­
terung der Zahlungsbilanz seit 2005.
Die Finanzierung dieses Defizits stützt
sich immer mehr auf von koreanischen
Banken gezeichnete kurzfristige Dar­
lehen statt auf stabilere, langfristige­
re Mittel wie langfristige Darlehen und
ausländische Direktinvestitionen. Die
Bevorzugung von kurzfristigen Kre­
diten durch die koreanischen Banken
erklärt sich durch die massive Zunah­
3 Die Risikoprämie bemisst sich aus der Differenz zwischen dem Zinssatz, der von der USamerikanischen Staatskasse an Inhaber amerikanischer Schatzscheine ausgezahlt werden,
und den Zinsen, die die Staatskassen anderer
Länder zahlen müssen.
inprekorr 460/461
Ökonomie
me an Darlehen, die sie nationalen Un­
ternehmen und Haushalten ausgestellt
hatten, während die Einlagen nur lang­
samer stiegen. Diese Entwicklung ver­
läuft genau umgekehrt zu jener in den
anderen asiatischen Ländern. Die kore­
anischen Banken mussten ihre Schul­
den refinanzieren und aufgrund einer
ungenügenden heimischen Sparkraft
kurzfristige, in Dollar ausgestellte Kre­
dite bei ausländischen Banken aufneh­
men. Damit wiederholt sich gewisser­
maßen die Krise von 1997/98. Die Aus­
landsverschuldung verdoppelte sich
damit für die Periode 2005–2008. Als
im Herbst 2005 die internationale Kri­
se offen ausbrach, bekamen die Inves­
toren angesichts der hohen Abhängig­
keit Koreas von kurzfristigen ausländi­
schen Darlehen kalte Füße und began­
nen, ihr Kapital abzuziehen. „Das Aus­
maß des Nettokapitalabflusses erreich­
te allein im Oktober 2008 25,5 Mrd.
Dollar (mehr als 3 % des BIP), also we­
sentlich mehr als die 6,4 Milliarden, die
im Dezember 1997 auf dem Höhepunkt
der ‚Asienkrise‘ von 1997/98 abgeflos­
sen waren.“ (Cho, Dongchul 2009) Im
Dezember 2008 wurden durch auslän­
dische Anleger über 70 Mrd. Dollar
(7,7 % des BIP) an Börsenwerten abge­
zogen. Die von der koreanischen Zen­
tralbank gewährten Kreditgarantien er­
wiesen sich als weniger effizient zur
Wiederherstellung des Vertrauens als
in den westlichen Ländern und Korea
musste ausgiebig aus seinen Währungs­
reserven schöpfen, um den Zusammen­
bruch seiner Währung zu verhindern und
die heimischen Banken und Exporteure
mit Dollars und anderen Devisen auszu­
statten. Die Unterstützung der ausländi­
schen Zentralbanken erwies sich als ent­
scheidend, um das Vertrauen wiederher­
zustellen. Die Zentralbanken der Verei­
nigten Staaten, Japans und Chinas lie­
hen Korea Dollars, damit es ständig
genügend liquid ist. Dank Abwertung
des koreanischen Won konnte die Leis­
tungsbilanz schlagartig wiederherge­
stellt werden und war zur Hälfte dar­
an beteiligt, die Zahlungsbilanz in den
ersten acht Monaten des Jahres 2009
wiederherzustellen, während die zwei­
te Hälfte auf ausländisches Kapital zu­
rückgeht.
Ländern vor allem durch den Welt­
handel und in zweiter Linie durch die
internationalen Finanzmärkte verbrei­
tet. Der Nachfrageeinbruch für asiati­
sche Produkte im Westen führte zum
plötzlichen Schrumpfen des Export­
wachstums von rund 30 % für Ostund Südostasien und von rund 10 %
für Südasien. Generell gesprochen
war die rezessive Wirkung in Län­
dern mit einem größeren Öffnungs­
grad gegenüber dem Welthandel, de­
ren Exporte am stärksten auf den in­
dustriellen Bereich konzentriert sind
und in den USA einen bedeutenden
Abnehmer haben, am stärksten (sie­
he Grafik 3).
In Singapur, das sich auf Import/
Export spezialisiert hat, machen die In­
dustrieexporte 140 % des BIP aus, in
Malaysia 70 %, in Kambodscha und
Thailand über 40 % und in China, Ko­
rea, auf den Philippinen und in Vietnam
über 30 %. Dagegen entsprechen die
Industrieexporte in Indien und Pakistan
weniger als 10 % des BIP und in Indo­
nesien nur 11 % des BIP. Diese Kenn­
zeichen erklären, warum Länder wie In­
donesien und die Philippinen weniger
gelitten haben als beispielsweise Sin­
gapur und Malaysia. Die beiden Aus­
nahmen von der Regel sind China und
Vietnam, deren unmittelbare Gesund­
heit vom Ausmaß des Ankurbelungs­
plans abhängt (siehe weiter unten). Der
Einbruch der internationalen Nachfra­
ge hatte auch einen Niedergang der In­
vestitionen in den neuen Industrielän­
dern (NIC) der ersten Generation (Sin­
gapur, Hongkong, Taiwan, Südkorea)
sowie in den Kernländern der ASEANStaaten (Philippinen, Indonesien, Thai­
land und Malaysia) zur Folge. Die NIC
waren insbesondere von den rückläufi­
gen Investitionen (–15,3 %) während
des ersten Quartals 2009 betroffen,
während die vier ASEAN-Länder we­
niger darunter litten (–5,3 %). Die Bin­
nennachfrage schrumpfte in den NIC
ebenfalls um –2,3 %, während sie in
den vier ASEAN-Ländern mit +2,6 %
im Plus, wenn auch niedriger als im
dritten Quartal 2008 (+5,5 %) ausfiel.
(ADB 2009a)
Die „kleinen“ ASEAN-Länder (Vi­
etnam, Kambodscha, Laos) hielten bis­
lang besser stand als die vier „großen“,
da sie weniger exportabhängig sind.
Der Wachstumsrhythmus in Vietnam
verlangsamte sich im ersten Quartal
2009 bis auf 3,1 %, was der schwächs­
te Wert seit zehn Jahren ist. Im zwei­
ten Quartal stieg das Wachstum aller­
dings wieder auf 4,4 %. Der Wieder­
aufschwung dürfte vermutlich nicht
anhalten, da er stark einem Konjunk­
turprogramm zu verdanken ist, dessen
Kernelement ein niedriger, subventi­
onierter Zinssatz ist, der den Staat ei­
ne Milliarde Dollar jährlich kostet. Das
wird das Budgetdefizit von 4,1 % des
BIP im Jahr 2008 für 2009 auf 10,3 %
treiben, und angesichts des Risikos,
das die öffentliche Verschuldung der
aufstrebenden Märkte für ausländische
Investoren birgt, wird es kaum abge­
baut werden können. In Kambodscha
lag das Wachstum 2008 bei 6,5 % ge­
genüber 10,2 % im Jahr 2007, was für
diese fragile Wirtschaft eine erhebli­
che Verlangsamung bedeutet. In La­
os konnte das Wachstum dank der Ex­
pansion der Bergbauwirtschaft und der
hydroelektrischen Produktion 2008 auf
7,2 % gehalten werden.
Vor dem Hintergrund der allgemei­
nen Krise in fast ganz Asien bildet Chi­
na die einzige beachtliche Ausnahme,
Die Auswirkungen auf den Produktionsbereich
Die Rezession in Nordamerika und
Europa hat sich in den asiatischen
inprekorr 460/461
25
Ökonomie
denn dort konnte im ersten Quartal
2009 das Wachstum auf 6,1 % gehal­
ten werden. In geringerem Ausmaß gilt
dieselbe Feststellung für die beiden an­
deren großen Entwicklungsländer Asi­
ens, also Indien und Indonesien, die
mitten in der Krise ein Pluswachstum
verzeichneten. Der Größenvorteil, ver­
bunden mit der geringen Abhängigkeit
von Exporten, spielt in Zeiten interna­
tionaler Krisen eine wichtige Rolle. In
China verlangsamte sich das Wachstum
nach einer Spitze von 14 % im zweiten
Quartal 2007, nachdem die Regierung
beschlossen hatte, die durch die Immo­
bilienblase überhitzte Wirtschaft zu be­
ruhigen. Die chinesische Zentralbank
erhöhte den Zinssatz und verknapp­
te die Kredite. Als die allgemeine Kri­
se offen ausbrach, vollzog die Regie­
rung einen völligen Kurswechsel in ih­
rer Wirtschaftspolitik. Ein umfassendes
Konjunkturprogramm (siehe im Detail
weiter unten) führte zu einer massiven
Erhöhung öffentlicher Investitionen
(+38,7 %), wodurch der Einbruch bei
den Exporten, die im Mai 2009 einen
Tiefststand erreichten (–22 %, siehe
Grafik 4), mehr als ausgeglichen wer­
den konnte.
Der Plan zur Wiederankurbelung
der Wirtschaft ist also beachtlich, was
sich dadurch erklären lässt, dass der
chinesische Kapitalismus noch eng
vom Staat und den staatlichen Unter­
nehmen gesteuert wird. Das Wachs­
tum beschleunigte sich und erreich­
te im zweiten Quartal 2009 7,9 % und
im dritten 8,9 %. Doch gleichzeitig
steht dieses Wachstum auf unsicheren
Beinen. Langfristig ist kaum vorstell­
bar, dass die chinesische Wirtschaft
den Exportrückgang durch ein anhal­
tendes Investitionswachstum unbe­
schränkt ausgleichen kann. Die Inves­
titionen in fixes Kapital müssen frü­
her oder später in die Herstellung von
Gütern und Dienstleistungen münden,
die im Wesentlichen von chinesischen
KonsumentInnen gekauft werden müs­
sen, da es an ausländischer Nachfrage
fehlt. Das Problem ist, dass die Nach­
frage der chinesischen Haushalte auf
eine harte Probe gestellt ist. Der An­
teil der Arbeitseinkommen am chine­
sischen BIP hat in den letzten Jahren
stark abgenommen und die aktuelle
Krise hat das Einkommen noch einmal
deutlich reduziert. Diese Feststellung
trifft in gewisser Weise auf die meisten
Länder Asiens zu. Wie sollen die asi­
atischen KonsumentInnen unter diesen
Bedingungen die asiatische Wirtschaft
stützen? Ausführlicher dazu etwas spä­
ter, doch zuerst zu den sozialen Folgen
der Krise für die Bevölkerung.
Die sozialen Folgen der Krise
Die Beschäftigten im Finanzdienstleis­
tungssektor der reichen Ländern wie
Australien, Neuseeland, Hongkong,
Singapur und Japan bekamen die in­
ternationale Krise angesichts der en­
gen Verflechtung ihrer Bankensyste­
me und Börsenmärkte mit den Verei­
nigten Staaten als Erstes zu spüren. In
den asiatischen Entwicklungsländern
waren als Erstes die ArbeiterInnen
der Exportindustrie betroffen. Es gab
unmittelbar zahlreiche Entlassungen
in diesem Sektor, die dann auf ande­
re Sparten übergriffen. Wie in den rei­
chen Ländern, drückt sich die Krise im
Rückgang der gearbeiteten Stunden4,
im Lohndruck und in massivem Stel­
lenabbau aus. In den Entwicklungslän­
dern Asiens bedeutet die Krise auch ei­
nen Rückgang der von MigrantInnen
überwiesenen Mittel, die Rückkehr
von ArbeitsmigrantInnen, die ihre Stel­
le verloren haben, die Zunahme von
prekären Arbeitsverhältnissen und den
Wechsel in die informelle Wirtschaft,
steigende Armut in Ländern, wo die­
se gerade erst abgenommen hatte und/
oder teilweise weiter auf einem hohen
Stand ist. Diese Phänomene werden da­
durch verschärft, dass die soziale Absi­
cherung in Asien im Schnitt schwächer
ist als in anderen Kontinenten.
• Rückläufige Überweisungen: Für
viele arme Haushalte stellen die Geld­
überweisungen von ArbeitsmigrantIn­
nen einen entscheidenden Anteil am
Einkommen dar. Auf den Tonga-Inseln
entsprechen sie einem Drittel des BIP,
auf den Philippinen 11 %, in Bangla­
desh, Sri Lanka, Vietnam und der Mon­
golei zwischen 5 % und 10 % (Kim,
Kee Beom, Huynh Phu, Sziraczki Gy­
orgy und Kapsos Steven 2009).
• Lohndruck: Zwischen 2001 und
2007, der Periode mit dem stärksten
Wachstum in den asiatischen Entwick­
lungsländern, sind die Jahreslöhne im
Schnitt um 1,8 % gestiegen und da­
mit deutlich hinter den Produktivitäts­
gewinnen derselben Periode zurückge­
blieben (ILO 2008a). Angesichts der
Tatsache, dass in den meisten Ländern
weniger als 15 % der Löhne durch Kol­
lektivverträge geregelt sind, besteht ei­
ne hohe Wahrscheinlichkeit, dass die
Krise zu einer Stagnation oder zu sin­
kenden Reallöhnen führen wird.
• Stellenabbau: In Asien wie in den
westlichen Ländern stehen insbeson­
dere in der verarbeitenden Industrie
Massenentlassungen bevor. Sie kon­
zentrieren sich auf die Exportindust­
rie. Die meisten Beschäftigten arbeiten
in kleinen und mittleren Zulieferbetrie­
ben für Großunternehmen, die in nati­
onale, regionale oder globale Produkti­
onsketten eingebunden sind. Betroffen
sind in erster Linie Frauen, die einen
hohen Anteil an vulnerablen Beschäf­
tigungsverhältnissen stellen. Sie sind
von den Massenentlassungen am meis­
ten betroffen, weil die Exportindust­
4 Bei den Löhnen in Asien spielen Überstunden eine wichtige Rolle, da die Grundgehälter
niedrig sind.
26 inprekorr 460/461
Ökonomie
rie vor allem Frauen beschäftigt. Bei­
spielsweise arbeiten auf den Philippi­
nen, in Thailand und Vietnam doppelt
bis viermal so viele Frauen wie Män­
ner in der Bekleidungs- und Textilin­
dustrie und fünfmal mehr in der Elek­
tronikindustrie. Allein in China hat die
Regierung kürzlich angekündigt, dass
rund 20 Millionen oder 15 % der ins­
gesamt 130 Millionen Arbeitsmigran­
tInnen im Land in den letzten Monaten
ihre Stelle verloren haben. China sticht
hier besonders hervor, aber dasselbe
gilt auch für andere asiatische Länder.
Dennoch ist es schwierig, die Folgen
der Krise für die Beschäftigung umfas­
send zu beurteilen, da die Zunahme der
Arbeitslosenzahlen nur sehr begrenzt
Aussagekraft hat, da der Begriff Ar­
beitslosigkeit in den Entwicklungslän­
dern nicht viel bedeutet. Lohnarbeit ist
in Asien eine Minderheitserscheinung5
und fehlende (oder geringe) Arbeitslo­
sengelder in den meisten Ländern sind
nicht gerade ein Ansporn, sich „arbeits­
los“ zu melden, wenn man die Stel­
le verliert. Trotz dieser Einschränkung
ist ein deutlicher Anstieg der Arbeits­
losigkeit zu verzeichnen, der in Japan
bei +26 %, in Korea bei +18 %, in Sin­
gapur bei +73 % und in Thailand bei
+28,7 % liegt.
Bedeutender ist die Zunahme
von informellen Jobs und die Rück­
kehr aufs Land. Ein ähnliches Phäno­
men wurde während der „Asienkrise“
1997/98 beobachtet. Das fehlende Ein­
kommen und die Angst vor Armut ver­
anlassen diejenigen, die ihre Stelle ver­
loren haben, sich selbstständig zu ma­
chen, um sich ein Ersatzeinkommen
zu erwirtschaften oder, wo dies noch
möglich ist, auf den Hof der Familie
zurückzukehren und im Austausch ge­
gen die Unterstützung durch die Fa­
milie dort gratis zu arbeiten. Die In­
ternationale Arbeitsorganisation ver­
sucht, dieses Phänomen „vulnerabler
Beschäftigung“ als Summe der selbst­
ständigen oder unbezahlt im Familien­
betrieb oder auf dem familieneigenen
Hof geleisteten Arbeit zu erfassen. In
Thailand ist beispielsweise im dritten
Quartal 2008 die Zahl der Arbeitskräf­
te um 98 600 gegenüber dem Vorjahr
gesunken, während im gleichen Zeit­
raum 799 200 vulnerable Stellen ent­
standen sind (Quelle: Thailändisches
Amt für Statistik). Diese vorüberge­
hende Rückkehr aufs Land wird den
Druck auf die ländlichen Arbeitsmärk­
te mit ihrem begrenzten Stellenangebot
erheblich erhöhen. Die Einkommen der
ländlichen Haushalte reichen nicht aus,
um vielköpfige Familien zu ernähren,
so dass die Armut steigen wird. Insge­
samt befinden sich Familien, die dank
neuer Beschäftigungsmöglichkeiten im
formellen städtischen Bereich in den
letzten zwanzig Jahren die Schwelle
absoluter Armut überwunden haben, in
einer sehr unsicheren Lage und könn­
ten aufgrund der Krise erneut in Ar­
mut stürzen. „Mehr als 52 Millionen
ArbeiterInnen leben gegenwärtig auf
einem Einkommensniveau von 10 %
über der absoluten und 140 Millionen
auf einem Niveau von 20 % über der
absoluten Armutsgrenze von 1,25 Dol­
lar.“ (ILO 2009) In Kambodscha sinkt
das Einkommen dieser Arbeiterkatego­
rien bereits. In Indien bekommen die
ArbeiterInnen, die Abfall recyclieren,
die Folgen der Krise bereits deutlich
zu spüren, da sich die Preise für Recy­
clingmaterial in freiem Fall befinden.
In Adhmedabad, einer Stadt im indi­
schen Staat Gujarat mit 5,2 Millionen
Einwohnern, recyclieren 35 000 Men­
schen 12­ % bis 14 % der 300 Tonnen an
täglichen Abfällen. Gemäß den Zahlen
einer Vereinigung selbstständiger Frau­
en (Self-Employed Women‘s Associa­
tion, SEWA) sind deren „Einkommen
in den letzten fünf Monaten um 50 %
gesunken“.
Auch Jugendliche sind von der Kri­
se hart betroffen. 2008 lag die Wahr­
scheinlichkeit, arbeitslos zu sein, bei
Jugendlichen dreimal höher als bei Er­
wachsenen. Diese Zahl könnte abrupt
steigen, da junge Beschäftigte im All­
gemeinen als Erste entlassen werden.
„Auf den Philippinen ist die Zahl der
Arbeitslosen im Januar 2009 gegen­
über dem Vorjahr beispielsweise um
5,9 % oder 1,4 Millionen Menschen
gestiegen. Auch in Japan stieg die Zahl
der Jugendlichen ohne Stelle im Feb­
ruar 2009 gegenüber dem Vorjahr um
19,5 %. In China wird erwartet, dass
2009 6,1 Millionen Hochschulabgän­
gerInnen auf den Arbeitsmarkt gelan­
gen, wo bereits 4 Millionen Abgänge­
rInnen der Vorjahre auf eine Stelle war­
ten“ (ILO 2009).
Zusammenfassend geht die Interna­
tionale Arbeitsorganisation (ILO) da­
von aus, dass „in Asien und dem Pazi­
fikraum die Zahl der stellenlosen Ar­
beiterInnen 2008 um 4,4 Millionen auf
90,3 Millionen oder 4,8 % der aktiven
Bevölkerung steigen wird (ILO 2009).
Einer pessimistischen Annahme zufol­
ge könnte der entsprechende Wert für
2009 auf 5,9 % klettern, was für die
Region einen beispiellosen Anstieg be­
deuten würde. Zudem geht die ILO da­
von aus, dass 1,09 Milliarden AsiatIn­
nen, also 60,7 % der Gesamtbeschäf­
tigten, 2008 in einer vulnerablen Stel­
le sind. Wenn sich die Wirtschaftslage
weiter verschlechtert, könnte die Zahl
auf 64 Millionen Menschen steigen.
Der Schock der Krise würde sich da­
mit stärker im Bereich der Gesamtbe­
5 Sie liegt für Südasien bei 21 %, für Südostasien und den Pazifikraum bei 39 %, für Nordostasien (Japan, China, Südkorea) bei 43 %. In
den reichen Ländern liegt der Anteil der Lohnabhängigen an den Beschäftigten durchschnittlich bei 84 %. Quelle: ILO. 2008a. „Global
Wage Report 2008/09. Minimum wages and
collective bargaining: Towards policy coherence“ Global Wage Report: 120. International
Labour Organisation: Genf.
inprekorr 460/461
27
Ökonomie
schäftigung ausdrücken als in der An­
zahl der verlorenen Stellen (Kim, Kee
Beom, Huynh Phu, Sziraczki Gyorgy
und Kapsos Steven 2009).
Die sozialen Folgen der Krise wä­
ren umso härter spürbar, als in Asien
das soziale Netz schlecht ausgebaut ist.
Gemessen am BIP betragen die Sozial­
ausgaben nur 2,2 % in der Asien-Pazi­
fik-Region, was weit hinter Lateiname­
rika, der Karibik (4,5 %) und Nordaf­
rika (6,4 %) liegt, ganz zu schweigen
von den reichen Ländern (14,2 %) (sie­
he Grafik 5). Eine soziale Abfederung
der Krise gibt es in Asien nicht.
2. Ende des starken Wachstums und Wiederaufkommen der sozialen Frage
Ein ausgeglichenes Wachstum errei­
chen – so lautet das neue Leitmotiv
der offiziellen Institutionen in Asien.
Die Feststellung, dass das implizite
Arrangement, das vor der Krise zwi­
schen den asiatischen Ländern und
den Vereinigten Staaten bestand, über­
holt ist, ist ein Gemeinplatz. Die akku­
mulierten Währungsreserven Asiens
wurden zum Teil aufgewandt, um den
Vereinigten Staaten die nötige Finan­
zierung zur Deckung ihres Leistungs­
bilanzdefizits zu ermöglichen. Die ex­
portorientierten Länder Asiens stütz­
ten mit anderen Worten den Kauf asia­
tischer Produkte durch amerikanische
KonsumentInnen, die nicht mit stei­
genden Einnahmen, sondern mit stei­
genden Schulden zahlen. Dieses Sys­
tem ermöglichte den Ländern Ost- und
Südostasiens eine hohe Wachstumsra­
te, die zur massiven Abwanderung von
landwirtschaftlichen ArbeiterInnen in
Industrie und Dienstleistungen führte.
Das Phänomen an sich ist nicht neu,
da es jeden Industrialisierungsprozess
begleitet. Was in den Entwicklungslän­
dern Asiens beachtlich ist, ist die Ge­
schwindigkeit, mit der dies geschieht.
Da sich die absolute Arbeit auf länd­
liche Gebiete konzentriert,6 erlaub­
6 Die absolute Armut bedeutet Bedürftigkeit. Sie
bemisst sich durch einen nationalen Armutsdurchschnitt, der von den Behörden im Verhältnis zum Einkommen festgelegt wird, das
zur Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnen ...) nötig ist, oder anhand eines internationalen Werts, der von der
Weltbank gemüss denselben Kriterien errechnet wird und gegenwärtig bei 1,25 Dollar in
Kaufkraftparität liegt. Die beiden Armutsgrenzen sind nicht identisch und führen zu oft sehr
unterschiedlichen Angaben über den Anteil der
28 te dieser rasche strukturelle Wandel
einen starken Rückgang der absolu­
ten Armut, begleitet von einer Stei­
gerung der relativen Armut, d. h. der
Einkommensungleichheiten.7 Ausmaß
und Geschwindigkeit dieser Entwick­
lung variieren je nach Land, treffen
aber auf zahlreiche Länder der Region
zu. Die rasche Industrialisierung führ­
te zur Entstehung einer zahlenmäßig
starken, auf Industrieparks konzent­
rierten industriellen Arbeiterklasse,
die im Allgemeinen schlecht bezahlte,
undankbare und teilweise gefährliche
Arbeiten verrichtet, die ihr aber trotz
allem einen Lebensstandard erlauben,
der über der auf dem Land verbreite­
ten absoluten Armutsgrenze liegt. Da­
neben ist ein bedeutender städtischer
Mittelstand entstanden, der über eine
bessere Ausbildung verfügt und von
besseren Jobmöglichkeiten profitie­
ren kann. Aus diesem Grund ist die­
ser Mittelstand die beste Stütze der
Bourgeoisie und der Staatsbürokratie.
Ein gutes Beispiel dafür ist Thailand
mit seiner Opposition, die gespalten
ist in die im Wesentlichen aus Bauern/
Bäuerinnen, ArbeiterInnen und armer
Stadtbevölkerung bestehenden „Rot­
hemden“ einerseits und die aus dem
privilegierten Mittelstand, Angehöri­
gen des Staatsapparats und Teilen von
Bangkoks Bourgeoisie zusammenge­
setzten „Gelbhemden“ andrerseits. Ei­
ne ähnliche Opposition gibt es, wenn
auch in einem völlig anderen Zusam­
menhang, in China, wo sich die Kom­
munistische Partei auf den jungen, gut
ausgebildeten Mittelstand stützt, der
vom neuen Angebot an qualifizierten
Stellen in Industrie und Dienstleistun­
gen profitieren konnte und einen ho­
hen Lebensstandard erreicht hat. Auf
ihre Unterstützung zählt die Kom­
munistische Partei, um die Hebel der
Macht weiter in der Hand zu halten.
Mit dem anhaltenden Sinken der
Nachfrage an Konsumgütern der ame­
rikanischen Haushalte und der Not­
wendigkeit der Vereinigten Staaten,
ihr Leistungsbilanzdefizit zu reduzie­
ren, kann Asien nicht mehr darauf set­
Bevölkerung, der in absoluter Armut lebt.
7 Die Ungleichheiten können anhand der Einkommen oder anhand des Konsums gemessen
werden. Das zweite Kriterium ist in Entwicklungsländern geeigneter, da die Geldeinkommen die Situation der Haushalte auf dem Land
nur schlecht widerspiegeln. Je nach gewähltem
Kriterium können die Armutsmessungen deutlich voneinander abweichen.
zen, dass es ein wachsendes Volumen
an immer differenzierteren Gütern ex­
portieren kann, um ein hohes Wachs­
tum aufrechtzuerhalten. Das stellt die
Regierungen der Region vor ernsthafte
politische und soziale Fragen.
Das hohe Wachstum ist ein beque­
mes Mittel, sozialen Fragen und der
Notwendigkeit zum Abbau von Un­
gleichheiten aus dem Weg zu gehen.
Wie sollen in einer Phase, in der die
meisten asiatischen Länder in ein ver­
längertes Wachstum eintreten, die poli­
tischen Spannungen bewältigt werden,
die durch die allgemeine Unzufrieden­
heit unvermeidlich aufkommen wer­
den? Lässt sich das Wachstum auf den
Binnenmarkt ausdehnen, um ausrei­
chend hoch zu bleiben? Wie kann die
Binnennachfrage stimuliert werden,
ohne die Wettbewerbsfähigkeit aufs
Spiel zu setzen und an den hohen Pro­
fiten zu nagen, die die Unternehmen
normalerweise einsacken? Alle macht­
habenden Eliten der Region müssen
sich diesen Fragen stellen, doch wel­
che Antworten gefunden werden, spielt
vor allem für China eine wichtige Rol­
le, da es der wichtigste Wirtschafts­
partner zahlreicher asiatischer Län­
dern geworden ist, angefangen bei Ja­
pan und Korea. Wird China, wenn es
sein Wachstum zugunsten seines aus­
gedehnten Binnenmarktes ausgleichen
kann, ein ausreichender Wachstums­
motors zur Belebung des gesamten asi­
atischen Raums werden?
3. China als Motor des Aufschwungs?
Definitive Antworten auf all diese Fra­
gen sind nicht möglich, aber zumindest
einige Hypothesen.
Als Ausgangspunkt soll die allzu
breitwillig übernommene These hinter­
fragt werden, ob die hohen systemati­
schen Handelsüberschüsse ein den asi­
atischen Wirtschaften eigenes Kennzei­
chen sind. Tatsächlich hat sich die Re­
gion insgesamt bis zur Krise 1997/98
durch Defizite ausgezeichnet. Bis An­
fang der 90er-Jahre war die Binnen­
nachfrage in so verschiedenen Län­
dern wie China, Indien, Südkorea, den
Philippinen und Thailand der wich­
tigste Wachstumsfaktor. Handelsüber­
schüsse, die zum Wachstum beitragen,
gibt es in allen asiatischen Ländern au­
ßer den Philippinen erst seit den 90erJahren (Felipe, Jesus and Lim Joseph
inprekorr 460/461
Ökonomie
2005). Eine detailliertere Untersu­
chung der elf größten Länder mit vor­
liegenden Zahlen, die 95 % des regi­
onalen BIP erwirtschaften, stützt die
Feststellung, dass es sich bei den Han­
delsüberschüssen um ein relativ junges
Phänomen handelt (ADB 2009b).
1. Die Kategorie der Länder mit gerin­
gem Einkommen und Leistungsbi­
lanzüberschüssen: Hierzu zählt nur
China. Bis 2003 waren die Über­
schüsse schwach und unregelmäßig;
ab diesem Zeitpunkt wachsen sie
und liegen derzeit bei rund 10 % des
BIP.
2. Länder, die von der Asienkrise
1997/98 betroffen waren: Indone­
sien, Korea, Malaysia, Philippi­
nen, Thailand. In diesen Ländern
schwankte die Leistungsbilanz vor
der Krise von 1997/97 zwischen
Überschüssen und Defiziten; die
Überschüsse verringerten sich ten­
denziell in den letzten Jahren, außer
in Malaysia.
3. Die übrigen neuen Industrieländer
(NIC): Hongkong, Singapur, Tai­
wan. Die Bilanz weist während län­
gerer Zeiträume Überschüsse auf,
die in den letzten Jahren tendenziell
steigen.
4. Die übrigen einkommensschwachen
Länder: Indien und Vietnam. Die
Leistungsbilanzen sind im Schnitt
defizitär.
Zusammenfassend lassen sich die Über­
schüsse seit 2003 im Wesentlichen auf
die erhöhten Überschüsse Chinas zu­
rückführen. Die von der Asienkrise be­
inprekorr 460/461
troffenen Ländern Asiens mit Ausnah­
me von Malaysia weisen eher beschei­
dene Überschüsse aus, die vor allem
auf die schwachen Investitionen zu­
rückgehen, die nie mehr den Stand von
vor der Krise erreicht haben.
Diese Kategorie von Ländern ist
früher in eine Phase verlangsamten
Wachstums eingetreten, als zu erwar­
ten war, da es sich mit Ausnahme von
Korea um Länder mittleren Einkom­
mens handelt. Die anderen drei NIC
(Hongkong, Singapur, Taiwan) wei­
sen ebenfalls langfristig sinkende In­
vestitionsraten auf, wie sie in gesetz­
ten Ländern mit hohem Einkommen
zu erwarten sind. Im Fall der beiden
anderen einkommensschwachen Län­
der, Indien und Vietnam, spiegeln die
Leistungsbilanzdefizite eine tendenzi­
elle Steigerung der Investitionen wi­
der, wie sie für Länder in vollem In­
dustrialisierungsprozess zu erwarten
sind. Wie in China liegt der Investiti­
onsgrad bei rund 40 %. Doch China ist
insofern einzigartig, als hier der hohe
Investitionsgrad (über 40 %) mit einem
Rekordüberschuss der Leistungsbilanz
verbunden ist.
Die meisten internationalen Insti­
tutionen lassen sich des Langen und
Breiten darüber aus, ob die asiatischen
Länder aus kulturellen oder soziologi­
schen Gründen zu viel sparen, ob sie
zu wenig investieren, weil ihre natio­
nalen Märkte zu wenig „liberalisiert“
sind, ob sie „die letzten Hindernisse
für den Freihandel“ in Industrie und
Dienstleistungen nicht abgebaut hät­
ten, wodurch das Wachstumspotenzi­
al nicht realisiert werden kann, oder ob
sie nicht genügend in die Bildung in­
vestiert haben, was eine Knappheit an
qualifizierten Arbeitskräften zur Folge
hat. Nur selten werden dagegen die ab­
solute und relative Armut, die Verschul­
dung der Haushalte, die geringen Löh­
ne, die hohen Wohnkosten, die hohen
Bildungskosten und das Fehlen oder
die Schwäche der sozialen Sicherung
berücksichtigt. Die geringen Einkom­
men in Verbindung mit den genannten
Alltagsschwierigkeiten erklären, war­
um die Mehrheit der asiatischen Bevöl­
kerung sparen muss, wann immer sie
kann, und daher nur beschränkt konsu­
mieren kann.
Eine Möglichkeit zur Erklärung der
Leistungsbilanzüberschüsse der meis­
ten Länder bei geringen Investitionsra­
ten (mit Ausnahme Chinas) ist, die Ent­
wicklung des Anteils der Arbeitsein­
kommen am BIP zu betrachten. Wie in
anderen Weltregionen ist der Anteil der
Arbeitseinkommen auch in Asien rück­
läufig. Zwischen 1984 und 2002 sank
er zugunsten der Profite (siehe Grafik
6).
Der Rückgang entspricht jenem der
reichen Länder in der Phase 1980 bis
2005, ist aber weniger ausgeprägt als
in Lateinamerika, wo die Arbeitsein­
kommen in einem kürzeren Zeitraum
(1993–2002) stärker gesunken sind
(ILO 2008b). Die kontinentalen Durch­
schnittswerte verbergen erhebliche Un­
terschiede zwischen den Ländern.
In China ist der Anteil der Arbeits­
einkommen am BIP zwischen 1997 und
2007 von 52 % auf 40 % gesunken, was
einem Verlust von 12 % in zehn Jahren
zugunsten des Anteils an Profiten ent­
29
Ökonomie
spricht, die von 20 % auf 30 % hochge­
schnellt sind (siehe Grafik 7).
Es sind die Jahre des Wirtschafts­
booms in China, als das Wachstum
über 10 % betrug und die Leistungsbi­
lanz hohe Überschüsse auswies. Daher
verwundert es nicht, dass der private
Konsum zwischen 1993 und 2007 von
einem bereits schwachen Stand von
47 % des BIP auf den noch schwäche­
ren Stand von 37 % gesunken ist (sie­
he Grafik 8).Zum Vergleich: Der An­
teil des Privatkonsums am BIP in den
OECD-Ländern lag 2007 bei 61 %, in
den Vereinigten Staaten bei 72 %, al­
so rund doppelt so hoch wie in China
(Quelle United Nations Statistical Di­
vision). Thailand ist ein typisches Bei­
spiel für ASEAN-Staaten (südostasia­
tische Länder), deren Investitionen nie
mehr den Stand erreicht haben, den sie
vor der Asienkrise 1997/98 hatten. Der
Anteil der Arbeitseinkommen fiel zwi­
schen 1960 und 2007 von geschätzten
87 % auf 65 % (siehe Grafik 9).
Man kann auch den Einfluss auf
den Konsum der Haushalte messen, der
im selben Zeitraum von 73 % auf 54 %
sank. Das erklärt, warum die Privatun­
30 ternehmen trotz hoher Profitrate nicht
massiv investieren wollen (siehe Gra­
fik 10).
Wie in anderen reichen Ländern
ziehen es die Unternehmen vor, ihre
Profite zu nutzen, um hohe Dividenden
an Aktionäre und astronomische Ein­
kommen an die Unternehmensleitun­
gen zu zahlen sowie auf nationalen und
ausländischen Finanzmärkten zu inves­
tieren.
Die Zahlen zeigen deutlich, dass
die meisten kapitalistischen Länder
Asiens schon vor der aktuellen Krise
bedeutende Ungleichgewichte aufwie­
sen. Entweder investieren sie viel zu
viel wie in China oder nicht genug, um
ein hohes Wachstum aufrechtzuerhal­
ten, wie im Fall der von der Asienkrise
1997/98 betroffenen Länder. Trotz die­
ser Unterschiede ist allen Ländern ge­
mein, dass die Realeinkommen schwä­
cher gestiegen sind als die Produkti­
vitätsgewinne, so dass die Arbeitsein­
kommen und mit ihnen der Binnen­
konsum sanken. Das bezeichnen wir
als „Wachstumsregime durch Verdrän­
gung der Arbeit“. Unter diesen Bedin­
gungen kann es keinen Ausgleich der
asiatischen Wirtschaften ohne erneute
Aufbesserung der Arbeitseinkommen,
verbunden mit einem Abbau der sozi­
alen Ungleichheiten und der Überwin­
dung der absoluten Armut, geben.
Dafür müssen enorme politische
Widerstände überwunden werden. Die
meisten asiatischen Länder wurden
und manche werden noch immer von
skrupellosen Diktaturen regiert, die
massiv auf den Einsatz der Staatsge­
walt setzen, um die Arbeiterbewegung
zu unterdrücken und einen hohen
Ausbeutungsgrad aufrecht zu erhal­
ten. Die asiatischen Ökonomien sind
schon lange berüchtigt dafür, Welt­
meister in „exzessiven Arbeitszeiten“
zu sein (Lee, S., McCann D. und Mes­
senger J.C. 2007). Selbst in sogenannt
demokratischen Ländern der Regi­
on wurden Gewerkschaften und linke
Parteien so sehr geschwächt, dass es
(mit Ausnahme von Südkorea und In­
dien) auf nationaler Ebene keinen or­
ganisierten Widerstand mehr gibt, der
ein Gegengewicht zur Macht der Un­
ternehmenschefs und herrschenden
Eliten bilden könnte.
So wird verständlich, dass sich
inprekorr 460/461
Ökonomie
die meisten asiatischen Regierungen
für sogenannte „keynesianische“ Pro­
gramme zur Belebung der Wirtschaft
entschieden habe, die die Priorität auf
riesige Investitionen in große Infra­
strukturprojekte und subventionierte
Kredite für Privatunternehmen legen.
Mit diesen teilweise hochdotierten
Programmen (siehe Grafik 11) soll die
Notwendigkeit umgangen werden, die
Löhne zu erhöhen und die Ungleich­
heiten abzubauen.
Der chinesische Plan ist ein gu­
tes Beispiel dafür. Er beträgt 12 % des
BIP über zwei Jahre, was quantita­
tiv gesehen sehr viel ist. Über die ge­
nauen Summen, die ausgegeben wer­
den sollen, bestehen große Unsicher­
heiten, da ein Teil schon eingeplante
Ausgaben betrifft und ein Großteil der
Ausgaben von lokalen Behörden getä­
tigt werden sollen, die dazu nicht un­
bedingt immer willens und fähig sind.
Doch das Hauptproblem ist der Inhalt
des Plans an sich. Nicht nur, dass kei­
ne Erhöhung der Löhne vorgesehen
inprekorr 460/461
ist, sondern trotz wiederholter Beteu­
erungen der Regierung, ein umfassen­
des soziales Sicherheitssystem aufzu­
bauen, das Erziehungssystem zu ver­
bessern und die Hilfe an Bauern zu er­
höhen, gibt es nur geringe Ausgaben
im Sozialbereich (siehe Tabelle 3).
Nur 10 % entfallen auf den Bau
und die Renovierung von Sozialwoh­
nungen, 9 % auf Infrastrukturausga­
ben auf dem Land und die Stützung
der bäuerlichen Einkommen, 4 % auf
Sozialausgaben (Gesundheit, Bil­
dung, Kultur) und 5 % auf nachhalti­
ge Umweltinvestitionen, während für
die Straßeninfrastruktur 38 % veran­
schlagt sind. Für die ersten acht Mo­
nate des Jahres 2009 hat sich bestä­
tigt, dass sich nur wenig geändert
hat. 45 % der auf Wunsch der Regie­
rung neu gewährten Bankkredite wur­
den für Spekulationen an den Börsen­
märkten und Immobilieninvestitionen
aufgewandt. In der verarbeitenden In­
dustrie, der Transportinfrastruktur und
im Immobilienbereich stiegen die In­
vestitionen auf 33 %. Im sozialen Be­
reich stiegen sie nur um 1,1 % (siehe
Tabelle 4).
Gemäß Au Loong Yu erklären zu­
mindest zwei Faktoren, warum die
chinesische Regierung beschlossen
hat, Infrastruktur- und Industrieinves­
titionen erneut zu bevorzugen (LoongYu, Au 2009). Erstens hat sich die
Staatsbürokratie im weiteren Sinn in
eine Kapitalistenklasse gewandelt und
besitzt inzwischen direkt oder indi­
rekt die Mehrheit der Industriebetrie­
be. Würde den Lohnerhöhungen und
Sozialausgaben Priorität eingeräumt,
würden die Profite, aus denen sie den
Großteil ihres Einkommens erzielen,
sinken. Wie die Kapitalisten aller Län­
der lehnen sie dies instinktiv entschie­
den ab. Zweitens sind die großen In­
vestitionsprogramme in Industrie, In­
frastruktur und Immobiliensektor die
wichtigsten Kanäle der Korruption auf
allen Ebenen des Staatsapparats. „Das
erinnert uns an Folgendes: Das Eigen­
interesse der Bürokratie ist es, das den
Inhalt der Maßnahmen und jeglicher
Reformen bestimmt.“ (Loong-Yu, Au
2009) Dasselbe ließe sich von vielen
anderen steuerlichen Ankurbelungs­
programmen in den anderen Ländern
Asiens sagen, auch wenn deren politi­
sches und soziales System anders ist.
In Japan war die Führung der Libera­
len Demokratischen Partei (LDP), die
am 30. August 2009 die Parlaments­
wahlen verloren hat, berüchtigt für ih­
re Konjunkturpakete in den 90er-Jah­
ren, die in den Straßen- und Brücken­
bau flossen und von zweifelhaftem
sozialem Nutzen waren, da sie wenig
31
Ökonomie
bevölkerte Regionen erschlossen. Von
diesen Infrastrukturausgaben profi­
tierten Großbetriebe und Lokalfürs­
ten, die sich durch Korruption berei­
cherten, Stellen anboten und Stimmen
kaufen konnten. Die neue Regierung
und Führung der Demokratischen Par­
tei Japans (DPJ) kündigte an, sie wol­
le mit dieser Politik brechen. Die öf­
fentlichen Gelder sollten hauptsäch­
lich in kleine und mittlere Betriebe
und Sozialausgaben fließen. Die Zu­
kunft wird weisen, was aus den Ver­
sprechen wird.
All diese Faktoren veranlassen uns
zur Annahme, dass der „asiatische
Aufschwung“ von kurzer Dauer sein
wird, da er nicht nachhaltig ist. Vor­
erst werden die enormen Summen,
die im Rahmen des chinesischen Kon­
junkturprogramms aufgebracht wer­
den, die chinesische Wirtschaft 2009
und 2010 beleben.
Bereits jetzt ist ein Mitnahmeef­
fekt für die gesamte asiatische Wirt­
schaft spürbar. China ist nicht nur für
viele asiatische Länder der wichtigste
(darunter Japan und Korea) oder einer
der wichtigsten Abnehmer (Thailand,
Indien), sondern auch die Art des Han­
dels zwischen China und Asien verän­
dert sich. Bekanntlich exportieren die
asiatischen Länder Rohstoffe und Be­
standteile an China, die dort zu Fertig­
waren zusammengesetzt und danach
in die USA und nach Europa expor­
tiert werden. Doch oft wird vergessen,
dass ein großer Teil dieser Produkte
auch nach Asien exportiert wird. Un­
terdessen gibt es überall in Asien Pro­
dukte „Made in China“. Im Lauf der
letzten Jahre haben die Länder der Re­
gion in größerem Umfang untereinan­
der Handel betrieben als mit Ländern
außerhalb der Region.
Insgesamt ist der Anteil des interre­
gionalen Handels zwischen 1990 und
2008 von 31,7 % auf 42 % gestiegen.
Je nach Land hat dieser interregiona­
le Handel einen anderen Stellenwert,
doch er ist überall außer in China stei­
32 gend, was zeigt, dass China die Mehr­
heit der Fertigprodukte in die restli­
che Welt exportiert. Dennoch hat sich
parallel zum Handel mit Teilen und
Komponenten (dem sogenannten Ver­
edlungshandel) zwischen China und
dem Rest Asiens ein Handel mit Fer­
tigwaren entwickelt. „Der Anteil der
Teile und Komponenten an den chine­
sischen Importen aus Ost- und Südost­
asien ist zwischen 1996 und 2008 von
43,6 % auf 38,8 % erheblich gesun­
ken, der Anteil an Fertigwaren im sel­
ben Zeitraum von 43,6 % auf 54,7 %
deutlich gestiegen (ADB 2009c).
Diese Veränderungen können als
Schwächung der Rolle Chinas als Pro­
duzent in der Region und damit ein­
hergehend als Stärkung der Rolle des
Landes als Konsument betrachtet wer­
den. Dieser Wandel stützt die Vermu­
tung, die regionale Integration Asien
reduziere teilweise die Abhängigkeit
gegenüber Exporten von Fertigwaren
nach Westeuropa, insbesondere Euro­
pa und USA. Wenn dieser Trend an­
hält, könnte er Asien einen größeren
Handlungsspielraum gegenüber dem
Rest der Welt verschaffen. Doch wir
befinden uns erst am Anfang eines
langfristigen Prozesses. Selbst wenn
der Aufschwung Chinas im Jahr 2009
in Asien eine bedeutende neue Nach­
frage geschaffen hat, reicht er nicht
aus, um die gesamte Region aus der
Krise zu führen. China ist noch kein
autonomer Nachfragefaktor für Ostund Südostasien und kann es auch
nicht werden, solange die Arbeitsein­
kommen nicht steigen, um eine deutli­
che Steigerung des Konsums der chi­
nesischen Haushalte zu erlauben.
Aus diesem Grund ist zu erwarten,
dass nach 2010 bei Ausbleiben eines
anhaltenden Wiederaufschwungs der
Weltwirtschaft alle Bedingungen für
ein neuerliches Abflauen des Wachs­
tums in Asien gegeben sind.
Jean Sanuk, Ökonom, Inprecor-Korrespon­
dent für Asien.
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Februar 2010.
Aus dem Französischen: Tigrib
inprekorr 460/461
Ökonomie
Die Auswirkungen Krise auf
Lateinamerika
Der folgenden Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Vortrags,
den Claudio Katz im Juli 2009 auf der „Conference at the Socialism
2009“ gehalten hat. Organisiert wurde diese Konferenz vom “Center
for Economicand Social Change” in Chicago.
Claudio Katz
Danke für die Einladung und Glück­
wünsche zu dieser Konferenz. Aus mei­
ner Sicht werfen die Auswirkungen der
weltweiten Krise auf Lateinamerika
verschiedene Fragen auf. Diese betref­
fen die unmittelbaren ökonomischen
Effekte, die politischen Auswirkungen
und die sozialen Maßnahmen, die be­
nötigt werden, um dem Finanzkollaps
zu begegnen.
Die Krise hat in Lateinamerika zu
einem generalisierten Kollaps der Ak­
tienmärkte geführt und zu einer Kapi­
talflucht, die den Kreditrahmen ein­
schränkte. Der allgemeine Wertverlust
führt zu Rezession, die Arbeitslosig­
keit steigt und der Zyklus ungleichen
Wachstums, der die letzten fünf Jahre
bestimmt hat, ist beendet. Darüber hi­
naus reduzierten sich die Erwartungen
einer Abkoppelung von der allgemei­
nen Entwicklung. Und der Schutz durch
die drei ökonomischen Barrieren – sub­
stantielle Reserven, niedrige Schulden
oder fiskalischer Überschuss – in ei­
nigen Ländern reicht nicht aus. Einige
Ökonomen gehen davon aus, dass die
fiskalische Situation in Lateinamerika
besser aussieht als in Osteuropa. Außer­
dem nehmen sie an, dass das Schrump­
fen der Exporte besser zu verkraften ist
als in Afrika. Aber das Hauptproblem
bei diesen Einschätzungen ist ihr ephe­
merer Charakter. Sie tauchen in journa­
listischen Artikeln auf und verschwin­
den wieder in erstaunlicher Geschwin­
digkeit. An dem einen Tag bleibt La­
teinamerika von dem Sturm verschont,
den nächsten Tag ist es in der Mitte des
Sturms.
Nach meiner Meinung hat die globa­
le Krise drei Auswirkungen auf Lateina­
merika. Erstens handelt es sich um eine
globale Krise durch Überakkumulati­
on, die durch die Konzentration von fik­
tivem Kapital in der Finanzsphäre her­
vorgerufen wurde. Angesichts des nied­
rigen Volumens von privaten Schulden
in der Region wirkt sich dies nicht un­
mittelbar für die Banken, die faule Kre­
dite erhalten, aus. Aber der Krach hat
dazu geführt, dass die wichtigen Ökono­
mien mehr Liquidität brauchen, und das
führt zu verstärktem Abzug von Einla­
gen. Insbesondere ziehen ausländische
Banken Ressourcen aus Lateinamerika
zu Gunsten ihrer Zentralen ab.
Claudio Katz
inprekorr 460/461
Zweitens unterstützt Latein­amerika
die Überproduktion von Gütern, was ein
weiteres Charakteristikum der derzei­
tigen Krise ist. Dieser Überschuss wur­
de von dem auf dem Neoliberalismus
basierenden, mit Lohnkürzungen ver­
bundenen Modell des globalen Wettbe­
werbs hervorgerufen. Dieses Ungleich­
gewicht zeigt sich besonders in den am
meisten globalisierten Branchen der re­
gionalen Industrie. Der Automobilsek­
tor zum Beispiel leidet unter derselben
Überproduktion, die die Ökonomien
der Metropolen getroffen hat.
Aber die größte Bedrohung der Re­
gion geht von dem Preisverfall bei den
Rohmaterialien aus. Dieser Preisver­
fall stoppt das Wachstum der letzten
fünf Jahre, das durch eine signifikante
Verbesserung der terms of trade gene­
riert wurde. In den letzten zwei Mona­
ten konnten wir eine Verbesserung der
ökonomischen Situation in Lateiname­
rika betreffend die Finanzsituation be­
obachten. Auch die Situation des Han­
dels hat sich durch die Erholung der
Preise, insbesondere bei den Nahrungs­
mitteln, verbessert. Aber aus diesen zy­
klischen Bewegungen lassen sich der­
zeit keine belastbaren Schlüsse ziehen.
Im Folgenden zitiere ich eine Rede,
die ich in Chicago im Juli 2009 gehal­
ten habe:
Soziale Auswirkungen
Das zentrale Problem sind die verhee­
renden sozialen Auswirkungen der Kri­
se. Die Weltbank sagt voraus, dass die
Stagnation der Wirtschaft zur Verar­
mung weiterer 6 Millionen Menschen
in Lateinamerika führen wird, insbe­
sondere im Bereich des informellen
Sektors und der Mittelklasse. Am dra­
matischsten ist die Situation in Mexiko,
dem lateinamerikanischen Land, das
am stärksten von der Krise betroffen
ist. Mexiko steht vor der Situation, dass
der Markt, der 90 % seiner Exporte auf­
nimmt, kollabiert ist, und dass es eine
Lawine von zurückkehrenden Migran­
tInnen gibt, gekoppelt mit sozialen Tra­
33
Ökonomie
gödien und organisierter Kriminalität.
Zusätzlich war es von der Schweine­
grippe und dem daraus folgenden Zu­
sammenbruch des Tourismus betrof­
fen. Die alte Romanze mit der NAFTA
(nordamerikanische Freihandelszone;
Anm.d. Ü.) ist zum Albtraum gewor­
den. Sehr ernst ist auch die Situation
in den kleinen zentralamerikanischen
Ländern, die auf die Überweisungen
von Emigranten angewiesen sind.
Viele Ökonomen argumentie­
ren, dass Lateinamerika den Hurrikan
überstehen kann, wenn es die richtige
keynesianische Politik anwendet. Da­
mit wird bereits, insbesondere in den
drei größten Ökonomien der Region,
begonnen, um die Liquidität zu ver­
bessern, den öffentlichen Kredit aus­
zuweiten und die Industrie zu subven­
tionieren. Aber die wahre Absicht die­
ser Maßnahmen ist es, das lokale Ka­
pital mithilfe der Ressourcen zu retten,
die eigentlich von der hilflosen Bevöl­
kerung benötigt würden.
Diese Marschrichtung beruht auf ei­
ner positiven Einschätzung der Macht­
haber. Sie gehen davon aus, dass die
Regierungsgelder die Kapitalisten da­
zu bringen, ihre Aktivitäten aufrecht zu
erhalten. Aber sie vergessen, dass dies
davon abhängt, dass die Profitabilität
weiterhin stimmt. Die Regierungspläne
versuchen auch, den Konsum zu stimu­
lieren, aber ohne jegliche Maßnahmen
zur Umverteilung der Einkommen.
Momentan ist die öffentliche Dis­
kussion von der Frage der Angemes­
senheit und der Effektivität dieser Maß­
nahmen bestimmt. Aber tatsächlich
hängt die Wirksamkeit dieser Maßnah­
men mehr von der Größe der Krise ab
als als von der Qualität der Heilmittel.
Monetäre und fiskalische antizyklische
Politik wirkt nur innerhalb bestimmter
Grenzen. Nachfragestimulierung kann
in einer Rezession den Rückgang der
Produktion auffangen oder aufhalten,
aber in einer großen Depression hat sie
wenig Einfluss.
Es gibt einen großen Unterschied
zwischen Lateinamerika und den Öko­
nomien der Metropolen. Die Vereini­
gten Staaten, Westeuropa und Japan ha­
ben die Ressourcen, um einen Versuch
zu starten, die Krise zu begrenzen. Sie
können Belebungsmaßnahmen mit der
Unterstützung der Zentralbanken aus­
probieren und Dollars, Euros und Yens
drucken. Aber Lateinamerika hat solche
Ressourcen nicht. Unsere Währungen
34 sind im internationalen Vergleich
schwach. Es gibt noch ein anderes Bei­
spiel für diese Unterschiede. In der Kri­
se vergrößern die zentralen Ökonomien
ihr fiskalisches Defizit, während unsere
Region weiterhin auf fiskalische Über­
schüsse verpflichtet bleibt. Zusammen­
fassend gesagt verstärkt die Krise alle
traditionellen Probleme der lateiname­
rikanischen Ökonomien.
Politische Effekte
Es gibt in allen lateinamerikanischen
Ländern eine große Übereinstimmung
betreffs der negativen Konsequenzen
der ökonomischen Krise. Aber einige
Analysten glauben, dass die derzeitigen
Schwierigkeiten positive Effekte zeiti­
gen können, wenn sich das wiederholt,
was in den dreißiger Jahren geschah.
Sie weisen darauf hin, dass das Desa­
ster zwischen den Kriegen die hervor­
ragenden Bedingungen für den nach­
folgenden Prozess der Industrialisie­
rung generierte.
Aber sie vergessen dabei, dass der
primäre Effekt der großen Depression
eine schmerzhafte Entwertung der pro­
duzierten Waren war. Die Substitution
von Importen kam erst später als Resul­
tat von Protektionismus und Weltkrieg.
Und sie wurde in einer Region durchge­
führt, der es möglich war, sich aus dem
Flächenbrand des Krieges herauszuhal­
ten. Heute kollidiert jeder Versuch der
Wiederholung der Nachkriegsgeschich­
te einerseits mit der Abwesenheit einer
solchen Zwischenkriegskonfrontation
und ebenso mit der zunehmenden In­
ternationalisierung der Ökonomie.
Hervorzuheben ist dabei, dass ein
ökonomischer Zusammenbruch im
Zentrum des Kapitalismus nicht not­
wendigerweise den Handlungsspiel­
raum in der Peripherie erweitert. Die
Krise der siebziger Jahre zeigte, dass
das Gegenteil eintreten kann. Zu Be­
ginn fiel dieser Schock zusammen mit
günstigen Rahmenbedingungen für die
so genannte Dritte Welt. Aber dieser
Weg wurde mit der neoliberalen Offen­
sive der Achtzigerjahre abrupt beendet.
Die kurzzeitige Abschwächung der in­
ternationalen Ungleichheit wurde ab­
gelöst von einer neuen Phase globaler
Polarisierung, die bis zum Ende des 20.
Jahrhunderts andauerte. Dies illustriert,
wie begrenzt und zerbrechlich eine Pe­
riode der Autonomie in der Peripherie
sein kann.
Ein zentraler Punkt für die Zukunft
Lateinamerikas ist die Krise der USDominanz. Die Gründe für diese Kri­
se liegen in militärischen Fehlentschei­
dungen außerhalb der Region, nämlich
in Nahost, und in den antiimperialis­
tischen Aufständen in der Region. Die
Dominanz der USA wurde zusätzlich
durch das Fehlschlagen beziehungs­
weise das Stocken der Freihandelsab­
kommen auf der ökonomischen Ebene
betroffen.
Darüberhinaus haben viele der süd­
amerikanischen Regierungen von ih­
rer alten Unterordnung unter den Nor­
den als Ergebnis größerer politischer
und sozialer Bewegungen Abstand ge­
nommen. Im letzten Jahr beispiels­
weise wurden die Vereinigten Staaten
bei den Verhandlungen über Kolum­
biens Militärintervention in Ecuador
und betreffend den Rechtsputsch in
Bolivien umgangen. Außerdem mus­
sten sie die Ausweisung der beiden
Botschafter in Bolivien und Venezue­
la hinnehmen.
Meiner Meinung nach kann die Po­
litik von Obama bezüglich Lateiname­
rikas als Folge zweier Prozesse erklärt
werden: zum einen die Krisis des ex­
tremen Neoliberalismus, der während
der achtziger und neunziger Jahre vor­
herrschte, und zum amderen der Volks­
widerstand zwischen 2000 und 2005.
Aus diesen Gründen können wir heu­
te eine Änderung im Verhalten und eine
Veränderung in der Rhetorik von Oba­
ma im Vergleich zu Bush beobachten.
Der deutlichste Beweis für diesen
neuen Kontext ist die Entscheidung der
Organisation amerikanischer Staaten,
die Restriktionen fallen zu lassen, die
Kuba daran gehindert haben, Mitglied
dieser Organisation zu sein. Diese Ent­
scheidung bedeutet einen politischen
Sieg für Kuba. Die politischen Führer
dieses Landes haben sehr richtig argu­
mentiert, dass sie nicht in eine Orga­
nisation wieder eintreten wollen, die
ständig die Interessen des Imperialis­
mus bedient. Nichtsdestoweniger illus­
triert dieses Ereignis das Ende der poli­
tischen Isolation, in der die kubanische
Revolution sich während der 90er Jah­
re befand.
Einige Analysten meinen, dass der
allgemeine Kontext die Vereinigten
Staaten dazu bringen wird, ihre Kon­
trolle über Lateinamerika zu lockern.
Aber in Wahrheit hat Obama keine Plä­
ne, wesentliche Änderungen betreffend
inprekorr 460/461
Ökonomie
Lateinamerika durchzuführen. Er wird
die Gefangenen von Guantánamo ab­
ziehen, aber die Enklave nicht an Ku­
ba zurückgeben. Er wird Reiseerleich­
terungen für die Insel einführen, aber
ohne das Embargo aufzuheben. Er wird
auf der Ebene der Diplomatie Annä­
herungen an Kuba versuchen, aber er
wird es strikt vermeiden, eine Nieder­
lage einzugestehen. Und es ist immer
noch nicht klar, ob er fortfahren wird,
den Staatsterrorismus in Kolumbien
und die politische Einflussnahme in
Bolivien und Venezuela zu decken. Mit
Sicherheit wird Obama eine Kombina­
tion von Zuckerbrot und Peitsche wäh­
len, allerdings mehr mit den Mitteln der
Diplomatie als mit offener Brutalität.
Aber letztendlich wird er die imperiale
Politik, die auf der Monroedoktrin ba­
siert, beibehalten. Und wir können di­
ese Kontinuität der amerikanischen Po­
litik an der Wiederbelebung der vierten
Flotte unter dem Vorwand des Kampfes
gegen Drogenhandel und Terrorismus
sehen, an der immensen militärischen
Stärke des Südkommandos in Miami,
den Militärbasen in Kolumbien und Pe­
ru und den Planspielen betreffend eine
militärische Intervention in Mexiko.
Für manche Analysten sind alle di­
ese Dinge lediglich ein bedauerliches
Erbe der Vergangenheit. Sie glauben,
dass Lateinamerika von dem struktu­
rellen und unvermeidlichen Abstieg des
US-Imperialismus profitieren wird. Ich
teile diese Meinung nicht. Das US-Mi­
litär hat immer noch keine Konkurrenz
und seine Mitbewerber akzeptieren das.
Diese Tatsache, dass nämlich weder
von europäischer noch von asiatischer
Seite ein Ersatz existiert, ist besonders
entscheidend. Die amerikanische Vor­
herrschaft ist in einer Krise, deren En­
de nicht absehbar ist. Es gibt keinerlei
Klarheit, ob sie mit dem Aufstieg eines
Opponenten oder mit einer Wiederher­
stellung der alten Führungsstärke en­
den wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es
unmöglich, abzuschätzen, ob die USA
sich in einem begrenzten oder in einem
dauerhaften Abstieg befinden.
Es ist wahr, dass in Lateinamerika
die Macht der USA an ökonomischem
Gewicht in der letzten Dekade verg­
lichen mit den europäischen Konkur­
renten verloren hat. Aber die europä­
ische Gemeinschaft beabsichtigt nicht,
ihren Rivalen zu ersetzen, und be­
schränkt sich darauf, ihre Freihandels­
abkommen auszuprobieren, die nach
inprekorr 460/461
dem Modell der FTAA angelegt sind.
Es ist ebenfalls wahr, dass die USA
die erste chinesische Handelsoffensive
tolerieren mussten, aber dies bedroht
mehr Europa als die traditionelle ame­
rikanische Vorherrschaft. Zusammen­
fassend kann man sagen, dass im Mo­
ment keine Daten existieren, die die
These eines Rückganges der US-Vor­
herrschaft in Lateinamerika stützen
würden.
Die Rechte und Mitte-Links
Für die unmittelbare Zukunft ist die
politische Strategie der lateinamerika­
nischen Rechten entscheidender. Ich
denke, dass die konservativen und Ne­
oliberalen eine Gegenoffensive in allen
Ländern vorbereiten. Sie versuchen die
Finanzkrise zu benutzen, um wieder in
die Offensive zu kommen. Mit der Aus­
rede, ausländische Investitionen anzie­
hen zu wollen, schlagen sie fiskalische
Anpassungsmaßnahmen vor. Und sie
behaupten auch, dass in dieser schwie­
rigen Situation es noch nötiger denn je
ist, Opfer zu bringen zugunsten des Ka­
pitals.
Wir können viele Zeichen die­
ser rechten Gegenoffensive beobach­
ten, insbesondere in den Medien, die
zu konservativen Antworten seitens
der Mittelklasse ermutigen. Beispiele
für diese Kampagne sind die Versuche
der kolumbianischen Regierung, unbe­
grenzt an der Macht zu bleiben, die Er­
holung der Rechten bei den Wahlen in
Chile oder Mexiko, der politische Sieg
der Agrarindustrie in Argentinien und
der Druck auf den neuen Präsidenten
von Paraguay, zurückzutreten.
Aber einige Analysten übertreiben
diese Tendenz. Sie behaupten, dass der
gesamte politische Kontext sich ins Ne­
gative gewendet habe. Allerdings hat die
Rechte bis heute mehrere große Kämp­
fe in Südamerika verloren. Der Putsch
in Bolivien schlug fehl, die militärische
Attacke Kolumbiens auf Ecuador war
ein Misserfolg und der Versuch, regio­
nalen Separatismus in Gang zu bringen,
schlug ebenfalls fehl.
Ich denke, dass es schwierig sein
wird, die Einmütigkeit und direkte
Herrschaft der Rechten wiederherzu­
stellen, wie wir sie aus den neunziger
Jahren kennen. Diese Kampagne der
35
Ökonomie
Lula in Brasilien ist das bedeutendste Beispiel für die konservative Wende von Mitte-Link
Rechten hat nur zweifelhafte Aussicht
auf Erfolg, weil in einer Reihe von Län­
dern die Bevölkerung sich an die ver­
heerenden Konsequenzen der neolibe­
ralen Politik der Neunziger erinnert.
Der Ausgang der jüngsten Wahlen zeigt
eine widersprüchliche Situation. Die
neue Regierung in Panama wurde von
der Rechten wieder errungen, aber in
El Salvador war es die F. M. L. N., die
einen deutlichen Wahlsieg einfuhr. So­
gar Honduras, ein Land das traditionell
an der Seite der USA steht, schlägt der­
zeit einen sehr unabhängigen außenpo­
litischen Kurs ein.
Eine ebenfalls wichtige politische
Tatsache ist die konservative Wendung
der Mitte-Links-Kräfte. Das deutlichste
Beispiel dieser konservativen Wende ist
Lula in Brasilien, der nach einem lan­
gen Prozess der Organisierung der Ar­
beiterschaft um die Arbeiterpartei seit
den achtziger Jahren an die Regierung
kam. Lulas Regierung hat die Bevöl­
kerung demobilisiert und entpolitisiert,
alle sozialen Kämpfe abgeblockt und
die kapitalistische Politik der früheren
Regierungen beibehalten, ohne wesent­
liche Änderungen durchzuführen. Lu­
la hat speziell die Agrarindustrie ge­
fördert. Er ließ die Vertreibung klei­
ner Bauern zu, um die Exporteure und
Großgrundbesitzer zu fördern. Das hat
zu einer großen Enttäuschung und Kri­
tik von Seiten der Bewegung der Land­
losen geführt.
Trotzdem schlagen einige Analy­
sten auf der Linken vor, Mitte-LinksKräfte zu unterstützen, in der Hoffnung,
36 dass sie in der Zukunft einige Verbesse­
rungen für die Bevölkerung erreichen
und zu einer wachsenden Macht der
Bevölkerung beitragen. Aber die Erfah­
rung zeigt, dass sie falsch liegen. MitteLinks-Regierungen vertreten ganz klar
die Interessen der herrschenden Klasse
und reproduzieren den Kapitalismus.
Einige von diesen Analysten sagen,
dass diese Art von Regierungen multi­
polare Szenarien begünstigen. Sie glau­
ben, dass Lateinamerika aus diesem
Wandel im geopolitischen Kontext ei­
nen Vorteil ziehen könne, dergestalt,
dass eine autonomere Politik möglich
sei. Ich denke, dass tatsächlich eine
Möglichkeit besteht, dass wir vor einer
Periode größerer Diversifizierung der
kapitalistischen Kräfte stehen. Aber es
ist entscheidend, zu betonen, dass die­
ser Prozess aus sich selbst der Mehrheit
der Bevölkerung keinen Vorteil bringt.
Er wird eher die lokalen Herrscher
schlicht stärken, die mit den Machtha­
bern verbunden sind. Die Aufnahme
neuer Partner in ein multipolares Sze­
nario würde die Unterdrückung erneu­
ern und die Emanzipation der Bevölke­
rung behindern.
In Südamerika stellt Brasilien den
ersten Kandidaten dar, der diese unter­
drückerische Multipolarität anführen
könnte, weil die brasilianischen trans­
nationalen Unternehmen trotz ihres ge­
ringen Wachstums in den vergangenen
Jahren sich in der Region deutlich kon­
solidiert haben. Das Hauptprojekt die­
ser Unternehmen – unterhalten durch
Regierungsgelder – ist ein Netz von ge­
planten Autobahnen und Wasserstra­
ßen. Sie setzen dabei aggressive For­
men der Geschäftsdiplomatie ein, und
diese Politik hat zu zahlreichen Kon­
flikten mit Bolivien, Ecuador und Para­
guay geführt.
Es ist außerdem wichtig, daran zu
erinnern, dass Brasilien die Besatzungs­
kräfte anführt, die die amerikanischen
Marines in Haïti ersetzt haben. Das be­
weist, dass eine neoliberale Politik exi­
stiert, die mit ihren Polizeimethoden die
Tragödie aus Hunger, Armut und Emi­
gration verstärkt. Diese Aktivitäten ha­
ben den Zugang für brasilianische Un­
ternehmen zum karibischen Raum er­
leichtert. Lula wiederholte die Politik,
die von Spanien in den neunziger Jah­
ren entwickelt wurde, um es spanischen
Unternehmen zu erleichtern, Zugang zu
Lateinamerika zu bekommen. Brasilien
ordnet sogar die Kontinuität des MER­
COSUR (südamerikanischer gemein­
samer Markt; Anm.d. Ü.) seinen Füh­
rungsansprüchen unter.
Bei vielen internationalen Verhand­
lungen betreffend den globalen Han­
del düpierte Brasilien seine Alliierten
zu Gunsten von Kompromissen mit den
entwickelten Ländern. Um der Führer
des südamerikanischen Blocks zu sein,
muss Brasilien Venezuela politisch neu­
tralisieren und den Handelskonflikt mit
Argentinien lösen. Mit dieser Strategie
der herrschenden Klasse versucht Bra­
silien die Lücke zu füllen, die durch die
Krisis der US-Herrschaft entstanden ist,
aber ohne dabei mit der Führungsmacht
auf Konfrontationskurs zu gehen.
Meiner Meinung nach spielt Bra­
silien in seiner neuen Rolle die eines
Subimperialismus. Der Begriff Subim­
perialismus ist hilfreich, um den sim­
plifizierenden Begriffskomplex „Zen­
trum-Peripherie“ zu überwinden, und
er beschreibt die Vielfältigkeit der Be­
ziehungen auf dem Weltmarkt. Er be­
schreibt auch die Existenz von Zwi­
schenformationen, die einige Theoreti­
ker mit dem Begriff „Semi-Peripherie“
belegt haben.
Lula in Brasilien ist das bedeu­
tendste Beispiel für die konservative
Wende von Mitte-Links. Aber wir kön­
nen die gleiche Entwicklung bei ande­
ren südamerikanischen Regierungen
sehen, wie bei Michel Bachelet in Chile
oder Cristina Kirchner in Argentinien.
Sie alle haben bei der Vorbereitung des
letzten Treffens der G 20 in London mit
den USA zusammengearbeitet.
inprekorr 460/461
Ökonomie
Sie folgten weiter der ökono­
mischen Agenda, die von den Vereini­
gten Staaten installiert wurde, nämlich
am Dollar festzuhalten und die Res­
sourcen des Restes der Welt zu benut­
zen, um die US-amerikanischen Ban­
ken aus der Krise zu holen. Ihre Poli­
tik blockiert die Möglichkeiten für eine
Debatte über eine kollektive Antwort
auf die Krise, die in der UNO entwi­
ckelt werden müsste.
Aber an erster Stelle halten die Mit­
te-Links-Regierungen am internationa­
len Währungsfonds als der Institution
fest, die für die fiskalische Reorganisie­
rung der Welt verantwortlich sein soll.
Sie tun das unter der illusionären Vor­
stellung, dass diese Agentur reformier­
bar sei, während die einzige progres­
sive Politik darin bestünde, den Wäh­
rungsfonds zu schließen und eine an­
dere Institution von Grund auf aufzu­
bauen.
Ich denke, dass es eine soziale Ver­
änderung in der herrschenden Klasse
gibt, die diese politische Regression er­
klärt, insbesondere in Brasilien und Ar­
gentinien. Dieser Wandel basiert auf ei­
ner Transformation der alten nationalen
Bourgeoisie – die den lokalen Markt
beherrschte – zu einer lokalen Bour­
geoisie, die den Export und die Part­
nerschaft mit transnationalen Gesell­
schaften priorisiert. Dieser Schwenk
der herrschenden Klasse hin zu einer
multinationalen Ausrichtung hat sich in
den letzten zwei Jahrzehnten konsoli­
diert. Es ist ein Fehler, Südamerika als
eine neokoloniale Region zu betrach­
ten, ähnlich wie verschiedene Regionen
in Afrika. Und es ist auch nicht korrekt,
die wesentlichen lokalen Herrschafts­
schichten als Marionetten des Empires
zu betrachten. Sie agieren als Gruppen
mit eigenen Interessen und Strategien,
in einem Rahmen, der sich substanti­
ell von dem alten halbkolonialen Status
unterscheidet.
Radikale nationalistische
Regierungen
Aber für die Linke ist es wichtig, ei­
nen anderen Wandel wahrzunehmen.
Meiner Meinung nach ist der interes­
santeste politische Wechsel in Latein­
amerika die Konsolidierung radikaler
nationalistischer Regierungen in Vene­
zuela, Bolivien und Ecuador, besonders
auf der Wahlebene. Sie gewannen 15
Wahlen in Venezuela, drei in Bolivien
inprekorr 460/461
(inzwischen vier; Anm.d. Ü.) und fünf
in Ecuador.
Diese Regierungen unterscheiden
sich von den Mitte-Links-Administrati­
onen (Tabarè, Cristina, Lula, Bachelet)
in drei Bereichen:
Sie stützen sich auf Massenmobili­
sierung, treten in Konflikt mit dem Im­
perialismus und der herrschenden Klas­
se und suchen nach Maßnahmen zur
Einkommensneuverteilung. In Ecuador,
Bolivien und Venezuela gab es bedeu­
tende demokratische Fortschritte durch
neue Verfassungen, die nach einer har­
ten Auseinandersetzung im Wahlkampf
mit der Rechten durchgesetzt wurden.
In Bolivien zum Beispiel wurde die
Trennung von Kirche und Staat durch­
gesetzt und ausländische Militärba­
sen wurden verboten. Die Regierungen
dieser drei Länder betreiben reformi­
stische ökonomische Politik, basierend
auf öffentlichen Investitionen und einer
Hebung der Kaufkraft.
Ein Schlüsselaspekt dieser Maß­
nahmen sind die Nationalisierungen in
Venezuela, durch die wegen der Abwe­
senheit einer nationalen (industriellen)
Bourgeoisie die Wirtschaft industriali­
siert werden soll. Es ist wichtig, dass
Chávez zur Mobilisierung der Arbeite­
rInnen aufruft, um die Arbeiterkontrol­
le in den nationalisierten Unternehmen
zu praktizieren. Aber die radikal nati­
onalistischen Regierungen stehen vor
einem größeren Dilemma. Sie haben
weiterhin die Unterstützung des Volkes,
aber einige Konzessionen an das Kapi­
tal drohen diese zu schwächen. In Bo­
livien beispielsweise ist die Geschwin­
digkeit der sozialen Transformation im
Bereich der Landwirtschaft sehr lang­
sam. Man beschloss, einige Forde­
rungen der Oligarchie betreffend die
neue Verfassung (insbesondere, dass es
keine rückwirkende Gültigkeit der Be­
grenzung des Landeigentums gibt) zu
übernehmen. In Venezuela hält die so­
ziale Ungleichheit an und auch die Kor­
ruption wächst wieder. In Ecuador gibt
es Spannungen zwischen der Regie­
rung und der Bewegung der indigenen
Bevölkerung.
Aber ich glaube, dass die globale
Krise eine Gelegenheit eröffnet, diesen
Stillstand durch neue Impulse zu be­
enden, eine regionale politische Ach­
se mit Kuba zu bilden und die Boliva­
rianische Alternative für den amerika­
nischen Kontinent (ALBA) wiederzu­
beleben. Dieser Zusammenschluss in­
stallierte frühzeitig solidarischen Aus­
tausch, bekräftigte die antiimperialis­
tische Aktion und setzte soziale Re­
formen auf die Tagesordnung.
Es ist Zeit, diese Schwierigkeiten
dadurch zu überwinden, dass die natio­
nalen Prozesse radikalisiert werden. Die
Priorität ist ganz klar, die Rechte zu neu­
tralisieren und die Rückkehr der Kon­
servativen zu verhindern. Aber eben­
so essenziell ist es, einen Stillstand der
sozialen Transformation zu vermeiden,
da das die Schicht der Unterdrücker, die
sich innerhalb der Volksbewegung he­
rausbildet, stabilisiert. Wir müssen un­
bedingt die Umkehr der politischen Ba­
sisprozesse vermeiden, wie sie z. B. in
Mexiko nach der Revolution stattgefun­
den hat. Ich denke, dass die sich radika­
lisierenden nationalen Prozesse die fort­
schrittlichste Perspektive für diese Län­
der bieten, aber das wird ein sehr unter­
schiedlicher und widersprüchlicher Pro­
zess werden. Wir müssen diese Kom­
plexität verstehen und eine Sektiererhal­
tung vermeiden. Letztere Haltung igno­
riert die Unterschiede zwischen Lula
und Chávez, leugnet die Fortschritte der
radikalen nationalen Bewegung, wei­
gert sich, an Wahlen teilzunehmen, und
benennt vor allem keinen gangbaren
Weg zum Aufbau des Sozialismus. Ich
glaube, dass der beste Weg für die Ent­
wicklung der Linken die Konvergenz
der sozialistischen Kräfte mit dem revo­
lutionären Nationalismus ist, der schon
in der kubanischen Revolution trium­
phierte. Es gibt eine starke Tradition
des lateinamerikanischen Marxismus,
der die theoretische Grundlage für die­
se Konvergenz liefert, auf der Basis des
Lebens und der Erfahrung von Denkern
und Aktivisten wie dem Kubaner Mella,
dem Peruaner Mariátegui und dem Ar­
gentinier Che Guevara.
Soziale Kämpfe
Und schließlich ist es sehr wichtig, die
Bedeutung der sozialen Kämpfe zu un­
terstreichen. Die Zukunft unserer Re­
gion hängt von diesen Kämpfen ab. In
jedem möglichen kommenden Szena­
rio wird die Bevölkerung harte Schläge
einstecken müssen, wenn sie ihren Wi­
derstand gegen das Kapital nicht ver­
stärkt. Diese Schlussfolgerung ist die
Hauptlektion aus dem finanziellen Kol­
laps, den die Region in den letzten zehn
Jahren erlitten hat. Dieses Desaster
führte zu Revolten, die es erlaubten, ei­
37
Globalisierung
nige bedeutende politische und soziale
Erfahrungen zu machen.
Aufstände durchbrachen in Boli­
vien einen lange dauernden Zyklus der
Herrschaft der Rechten, demontierten
verschiedene neoliberale Präsidenten in
Ecuador, führten zu einer zunehmenden
Polarisierung in Venezuela und waren
die Basis für den historischen Aufstand
von 2001 in Argentinien. Sie verallge­
meinerten den Kampf gegen Privati­
sierung, für Rationalisierung der natür­
lichen Ressourcen und für die Demo­
kratisierung des politischen Lebens.
Die Unterdrückten in Lateinameri­
ka nehmen die dramatische Rettungs­
aktion der Kapitalisten wahr, und sie
müssen sich darauf vorbereiten, gegen
den Angriff vorzugehen, der die neu­
erliche Rettungsaktion für die Banker
begleitet. Verglichen mit der Hochzeit
des Volkswiderstandes zwischen 2002
und 2005 zeigt die politische Konjunk­
tur eine geringere Intensität. Aber es
gab in der Karibik einen signifikanten
Aufschwung in Guadeloupe und Mar­
tinique und in der letzten Woche den
Kampf der Indigenas in Peru.
Aber der Volkswiderstand benötigt
ein Programm sozialer Maßnahmen an­
gesichts des ökonomischen Kollapses.
Es ist wichtig zu wissen, dass in den
letzten Monaten einige soziale Bewe­
gungen, politische Organisationen und
radikale Ökonomen bei verschiedenen
Treffen in Caracas, Buenos Aires und
Belem Alternativvorschläge diskutiert
haben. Diese Programme weisen jeg­
liche Regulierungen und staatlich kon­
trollierte Maßnahmen zurück, die die
Verluste der Kapitalisten sozialisieren.
Sie rufen dazu auf, für eine öffentliche
Kontrolle darüber zu mobilisieren, wie
die öffentlichen Gelder genutzt werden.
Die Vorschläge, die dort ausgearbeitet
wurden, priorisieren die Aufrechter­
haltung der Beschäftigung, das Verbot
von Entlassungen, die Umverteilung
der Arbeitszeit ohne Lohnkürzung und
die Nationalisierung von Fabriken, die
schließen oder ArbeiterInnen feuern.
Diese Maßnahmen sind notwendig
angesichts der Komplizenschaft der Re­
gierungen mit den Unternehmern beim
Abbau von Arbeitsplätzen. Staatlich ge­
führte Verhandlungen, die Löhne zu
kürzen im Tausch für den Erhalt von Ar­
beitsplätzen, sind eine andere Facette der
anwachsenden sozialen Gemeinheiten.
Drei der diskutierten Maßnahmen sind
38 besonders dringlich. Erstens die Nati­
onalisierung des gesamten Finanzsy­
stems ohne jegliche Kompensation. Das
Ziel dieser Maßnahme ist es, die Kon­
trolle über das Kreditsystem angesichts
der derzeitigen explosiven Situation zu
gewährleisten. Die Rettung der Banker
sollte durch die Enteignung ihres Be­
sitzes ersetzt werden. Die Staaten müs­
sen die Kosten, um die Banken funkti­
onsfähig zu halten, dadurch refinanzie­
ren, dass sie das Eigentum der Anteil­
seigner und der Direktoren einziehen.
Die neue Verfassung von Ecuador, die
es dem Staat verbietet, private Schulden
zu übernehmen, bietet eine Basis für ei­
ne solche Aktion.
Der zweite wesentliche Schritt ist
die Aussetzung, Revision oder Strei­
chung der externen und internen Schul­
den. Während in der Krise Verpflich­
tungen in Billionenhöhe in den zentra­
len Ökonomien bereinigt werden, muss
Lateinamerika weiter bezahlen. Die Re­
geln der Risikovorsorge, wie sie in den
USA üblich sind, dass nämlich die Hö­
he und der Zeitrahmen der Verpflich­
tungen neu kalkuliert werden, werden
in der Region nicht angewandt.
[…]
Die dritte Maßnahme, die durch die
Krise notwendig wird, ist die Nationa­
lisierung von Öl, Gas und Bergbau. Di­
es würde die Ressourcen, die Lateina­
merika braucht, vor den globalen Er­
schütterungen schützen. Dieser Weg
wurde bereits von Venezuela und Boli­
vien begonnen. Aber die Nationalisie­
rungen werden sehr zögerlich durchge­
führt, und es werden inakzeptable Aus­
gleichszahlungen vorgenommen. Mit­
ten in einer Periode fallender Rohstoff­
preise können solche Ausgaben fatale
Folgen haben. Die Kompensationszah­
lungen an die Eigentümer der nationa­
lisierten Unternehmen waren beispiels­
weise bis heute sehr negativ, bis jetzt
kosteten sie 15 Milliarden Dollar.
Zusammenfassend denke ich, dass
die globale Krise generell die Wahrneh­
mung dessen verändert hat, was „dra­
stische Maßnahmen“ sind. Mitten in
einem Kollaps, der die neoliberale Ide­
ologie geknackt hat, hat keiner Angst
davor, nach Nationalisierung zu rufen
oder nach Streichung von Schulden. Es
ist höchste Zeit, diesen Vorteil zu nut­
zen, um die Bevölkerung von Lateina­
merika zu schützen, indem unverblümte
Entscheidungen getroffen werden.
Sozialismus
Aus all dem folgt: Lateinamerika hat ei­
ne führende Rolle im Widerstand gegen
den Neoliberalismus gespielt, aber die
derzeitige Krise stellt eine andere He­
rausforderung dar: eine führende Rol­
le im Kampf gegen den Kapitalismus
zu spielen. Dieses System ist verant­
wortlich für das derzeitige Desaster, und
sein Überleben würde zu weiteren Lei­
den für die Bevölkerung führen. Nur der
Weg, die Ausbeutung, die Verschwen­
dung und die Ungleichheit zu beseiti­
gen, wird Armut und Arbeitslosigkeit
verschwinden lassen. Dieser Weg er­
fordert die antiimperialistische und an­
tikapitalistische Aktion. Und die Ant­
wort wird wirksam sein, wenn sie den
Übergang zum Sozialismus erleichtert,
indem sie sich jedem Projekt, den Ka­
pitalismus zu regulieren, entgegenstellt.
Der in Mode gekommene Dirigismus
birgt die Gefahr, dass die Krise nach
mühsamen Rettungsversuchen, die von
der Bevölkerung bezahlt wurden, wie­
der auflebt.
Nur eine sozialistische Perspekti­
ve kann eine Ökonomie schaffen, die
an den Bedürfnissen der Bevölkerung
ausgerichtet ist, die mit demokratischen
Formen der Planung die traumatischen
Umbrüche der kapitalistischen Zyklen
abmildern (und schließlich beseitigen)
kann. Der zukünftige Sozialismus wird
keine Ähnlichkeit mit den fehlgeschla­
genen Erfahrungen der bürokratischen
totalitären Regime des 20. Jahrhunderts
haben. Er wird die kollektive Selbstver­
waltung einführen, die man braucht, um
eine egalitäre Gesellschaft zu errichten.
Zum Schluss möchte ich euch noch
einmal zu dieser Konferenz gratulie­
ren. In dieser Art von Aktivität haben
wir, die Völker aus Lateinamerika und
Nordamerika, angefangen, unseren ge­
meinsamen Kampf für den Sozialismus
zu führen.
Übersetzung aus dem Englischen:
Thadeus Pato
Claudio Katz ist Ökonom und Forscher. Er ist
Fellow des Internationalen Institutes für For­
schung und Bildung in Amsterdam und Hoch­
schullehrer an der Universität von Buenos
Aires. Er ist Mitglied des argentinischen Netz­
werks „Economistas de Izquierda“ (Ökonomen
der Linken)“
inprekorr 460/461
Ökonomie
Die Kontroverse über die Profitrate
Eine Reihe von Autoren vor allem aus dem angelsächsischen Bereich stellt die Idee in Frage, dass
die Profitrate sich seit Mitte der 1980er Jahre vor
allem in den USA beträchtlich erholt hat. Einige
zeigen sogar, dass sie kontinuierlich gefallen ist.
Nicht zuletzt die Antwort von Chris Harman auf
mich, die er aus Anlass des Ökonomie-Seminars
im IIRE vorlegte, hat zur Belebung dieser Kontroverse beigetragen.1 Ich möchte festhalten, wie
sehr sein Tod mir nahe gegangen ist, weit darüber
hinaus, dass damit einer gerade eben begonnenen
Debatte auf tragische Weise ein Ende gesetzt worden ist.
Diese Debatte ist sehr technisch, weil es dabei
im Wesentlichen um die Modalitäten der Berech-
nung der Profitrate und vor allem ihres Nenners,
nämlich des Kapitals, geht. Diese Berechnung ist
von Natur aus definitionsabhängig, die Ergebnisse
unterscheiden sich je nach den festgelegten Konventionen ganz erheblich. Es versteht sich von
selbst, dass keiner von denen, die sich an dieser
Debatte beteiligen, die verwendeten Daten „erfindet“, sie stammen durchweg von dem US-amerikanischen Bureau of Economic Analysis. Also ist
es nötig, an anderer Stelle die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen herauszuarbeiten, um die von mir getroffenen Entscheidungen zu rechtfertigen.2
1 Die Beiträge zu dieser Debatte sind unter folgender Adresse im Internet zu
finden: http://hussonet.free.fr/cricoco.htm
2 Siehe Michel Husson, „La hausse tendancielle du taux de profit“, Januar
2010, http://hussonet.free.fr/tprof9.pdf
Michel Husson
Nicht aller Marxismus ist
Dogmatismus – eine Antwort auf
Michel Husson
Chris Harman
Michel Husson hat eine Reihe mar­
xistischer Ökonomen, darunter mich,
scharf kritisiert.1 Er schreibt:
„Die Krise der letzten Monaten war An­
lass für unzählige, von kontraproduktivem
und entmutigendem Dogmatismus geprägte
Beiträge … Was sie alle gemeinsam haben,
ist ihr Bezug auf die orthodoxe Interpretati­
on des Gesetzes des tendenziellen Falls der
Profitrate.“2
problematisch. Woher die europäische
Union sie hat, wird nicht gesagt, und
die Methodik, mit der aus diesen Zah­
len eine Profitrate abgeleitet wird, wird
auch nicht näher erläutert. Es bleibt bei
der dürren Aussage, dass sie „den Net­
toüberschuss aus der Ausbeutung ins
Verhältnis zum Kapitalstock setzen“.
Das Fehlen solcher Angaben macht es
für diejenigen unter uns, die des „Dog­
matismus“ beschuldigt werden, un­
möglich, seine Argumente wissen­
schaftlich zu prüfen. (Abbildung 1)
Ferner weichen seine Grafiken ganz
erheblich von anderen Versuchen ab,
die Entwicklung der Profitrate abzubil­
den. Das ist besonders deutlich im Fall
der USA. Husson behauptet nicht nur,
Diese Haltung, so Husson, lässt die
ganz einfache Tatsache außer Acht, dass
„die Profitraten der wichtigsten kapi­
talistischen Länder eine klare Tendenz
nach oben aufweisen. Diese Entwick­
lung ist so eindeutig, dass sie auch nicht
durch mehr oder minder angebrachte
Korrekturen ernsthaft in Frage gestellt
werden kann.“ Es folgt dann eine Grafik
auf Grundlage von EU-Statistiken für
die USA, Europa und die G 8, die seine
These untermauern soll.
Seine Zahlen sind allerdings sehr
1 Das vorliegende Papier ist ein Beitrag zu einer
kürzlich in Amsterdam abgehaltenen und von
der Vierten Internationale organisierten Konfe­
renz.
2 Husson, 2009
inprekorr 460/461
Abbildung 1: Hussons Zahlen für die US-amerikanische Profitrate
39
Ökonomie
dass sich die Profitrate im Jahrzehnt
1998–2008 von ihrem vorangegan­
genen Fall um 25 Prozent in den Jah­
ren 1968–1982 erholte, sondern ein um
30 Prozent höheres Niveau als das in
der Periode vor 1973 erreichte.3
Robert Brenner, Fred Moseley, Si­
mon Mohun, Alan Freeman und An­
drew Kliman liefern ganz andere Zah­
len, die zwar in gewissem Maße von­
einander abweichen, aber dennoch ein
ganz anderes Muster aufweisen, als das
von Michel Husson.4 Sie zeigen einen
größeren Abschwung bis 1982 als Hus­
sons Zahlen, und für die Zeit danach
eine viel schwächere Erholung, als er
nahelegt, eine, die keinesfalls das Ni­
veau der späten 1960er Jahre erreicht
oder dieses gar um 30 Prozent über­
trifft. Auch Moseleys Zahlen, die die
größte Erholung der Profitraten in den
vergangenen Jahren begründen, liefern
ein Muster, das weit entfernt von dem
Hussons liegt, während Brenner, Mo­
hun, Freeman und Klimans Zahlen eine
Rentabilität weiter unter der der 1960er
Jahre belegen. Ihre Zahlen beruhen alle
auf nachprüfbaren Statistiken des US
Bureau of Economic Affairs (NIPA-Ta­
bellen). Arnaud Sylvains Zahlen rei­
chen nur bis zum Jahr 2000, aber auch
seine Grafik belegt keine massive Erhö­
hung über das Niveau der 1960er Jahre
hinaus – vielmehr zeigt sie eine Spitze
am Ende der 1990er Jahre, die gerade
das Niveau von 1973 erreicht und so­
mit weit unter dem Mitte bis Ende der
1960er Jahre ereichten Niveau liegt.5
Gerard Duménil und Dominique Lévys
Zahlen bis 1997 weichen ebenfalls er­
heblich von denen Hussons ab.6 Die
Berechnung von Goldman Sachs be­
ginnt erst im Jahr 1980 und enthält so­
mit keine Hinweise auf den Rückgang
der Profite ab Ende der 1960er Jahre.
Mit einer Spitze in den Jahren 1997
und 2007, die nur etwa 10 Prozent hö­
her liegt als im Jahr 1988, belegen aber
auch diese Zahlen ein Erholungsmuster
der US-Profite, das ganz erheblich von
Hussons abweicht.7
Dieselbe Unvereinbarkeit mit Hus­
sons Zahlen findet sich in Berech­
nungen für andere Länder. Brenner
und Sylvain weisen einen langfristigen
Fall der Profitraten in Japan nach,
ebenfalls Arthur Alexander8 sowie Fu­
mio Hayashi and Edward C. Prescott.9
Mehmet Ufuk Tutan hat die Profitra­
ten Deutschlands einer sehr sorgfäl­
tigen Analyse unterzogen. Sie reicht
nur bis zum Jahr 1987, weist aber ei­
ne wesentlich schwächere Erholung
nach, als Hussons Grafik für die vier
größten EU-Wirtschaften impliziert.10
Ich habe drei Untersuchungen über
die Profitraten in China gefunden. Ei­
ne zeigt einen starken Rückgang um
mehr als ein Drittel in den Jahren
1978 bis 2000.11 Die zweite zeigt ei­
nen noch tieferen Fall um 40 Prozent
von 1978 bis 2003.12 Und die drit­
te zeigt einen Rückgang in der verar­
beitenden Industrie bis zum Jahr 1999
und einen beträchtlichen Aufschwung
danach.13 (Abbildung 2)
Die Entscheidung, wie Kapitalin­
vestitionen gemessen werden sollten,
wirft grundsätzliche Probleme auf. Hin­
zu kommt die schwierige Suche nach
geeigneten Zahlen. Unternehmen mes­
sen die Rentabilität ihrer Investitionen,
indem sie der ursprünglichen Investi­
tionssumme für Betriebsanlagen und
Ausrüstungen die jährlichen Ausga­
ben für Rohmaterialien, Komponenten
und Löhne hinzu addieren und dann die
Gesamtsumme ins Verhältnis zur Sum­
me der in dieser Zeit erzielten Nettoge­
3 Ich beziehe mich hier auf seine Grafik, denn er
liefert keine Zahlen hierzu.
4 Diese Grafiken und andere, auf die ich mich
beziehe, werden weiter unten aufgeführt.
5 Sylvain, 2001.
6 Duménil und Lévy, 2002.
7 Siehe Choonara, 2009.
8 Alexander, 1988.
9 Hayashi und Prescott, 2001.
10 Tutan, 2008.
11 O’Hara, 2006.
12 Felipe, Lavina und Fan, 2008.
13 Yu und Feng, 2006.
40 Abbildung 2: Moseleys Zahlen für die US-amerikanische Profitrate. Quelle: Moseley,
2007.
winne setzen. Mit anderen Worten, die
über eine längere Zeit erzielten Profite
werden durch die in derselben Zeit ge­
machten Ausgaben dividiert. Nach die­
ser „konventionellen Buchungsmethode
… werden die Werte des Kapitalstocks
und der Kapitalkonsumtion zu ihren his­
torischen Werten gemessen.“14
Aber das Aggregieren verschie­
dener, zu unterschiedlichen Zeitpunk­
ten getätigter Investitionen ist naturge­
mäß ein sehr komplexer Vorgang, so­
dass zur Messung der nationalen Pro­
fitraten meistens eine andere Methode
verwendet wird, nämlich die der Bilan­
zierung zu aktuellen Preisen: Die Pro­
fite eines gegebenen Jahres werden be­
zogen auf den aktuellen Marktwert, also
die Wiederbeschaffungskosten der ein­
gesetzten Anlagen und Ausrüstungen.
Das bringt zwangsläufig eine Verzer­
rung der Zahlen mit sich, denn jeglicher
Produktivitätszuwachs im Zeitintervall
seit der ursprünglichen Investition be­
deutet, dass ihr gegenwärtiger Markt­
wert unter dem der ursprünglichen Aus­
gaben liegen muss, sodass die Profitrate
höher erscheint. Je schneller die techno­
logische Innovationsrate, desto größer
wird diese Diskrepanz ausfallen. Das
fällt besonders in den letzten Jahren ins
Gewicht wegen des rapiden, computer­
gestützten Produktivitätszuwachses.15
Es ist daher zu erwarten, dass auf die­
ser Berechnungsgrundlage kalkulierten
Profitraten für die zurückliegende Zeit
höher ausfallen als die der Vorperiode.
(Abbildung 3)
14 Bank of England, Quarterly Bulletin, 1975.
15 Siehe beispielsweise Tevlin und Whelan,
2003.
inprekorr 460/461
Ökonomie
Die Bemessung der Profitrate auf
Grundlage der historischen Kosten ist
in Zeiten steigender Preise für in Un­
ternehmerhand befindliche Warenlager
ebenfalls fehleranfällig: Die Profitrate
erscheint durch ihren der Inflation ge­
schuldeten Wertzuwachs größer.16
Andrew Kliman hat historische Ko­
stenkalkulationen bei gleichzeitiger
Berücksichtigung von Inflationseffek­
ten herangezogen, um so beide Arten
von Verzerrung möglichst auszuschal­
ten.17 Seine Grafiken ergeben ein Ge­
samtmuster, das mit dem von Bren­
ner, Mohun und Moseley weitgehend
übereinstimmt – nur dass sie eine weit­
aus geringere Erholung der Rentabili­
tät von ihrem Tiefpunkt zu Beginn der
1980er Jahre belegen. (Abbildung 4)
Eine dritte Quelle von Verzerrung
der Rentabilitätsstatistiken können Ak­
tienblasen sein. Diese verleiten Firmen
dazu, eine Werterhöhung vorzugeben,
die in keiner Beziehung zu realen Pro­
duktionssteigerungen steht. Dieser Ef­
fekt tritt deutlich zutage in den Gesamt­
statistiken über Geldflüsse in den USA
(US Flow of Funds Accounts). Bei Fi­
nanztransaktionen kann diese Werter­
höhung als Bestandteil einer Nettozu­
nahme der gesamtwirtschaftlichen Lei­
stung registriert werden. Da Profite ei­
ner Volkswirtschaft in der Regel durch
Abziehen der Lohnkosten vom Netto­
sozialprodukt errechnet werden, kann
eine solche Werterhöhung den An­
schein schneller steigender Profite er­
wecken.
Der Schock des Finanzcrashs der
letzten beiden Jahre hat manche Wirt­
schaftsweisen zu dem Geständnis be­
wegt, dass es Mitte dieses Jahrzehnts,
wenn nicht sogar früher, „fiktive Profi­
te“ – und damit auch ein „fiktives Wirt­
schaftswachstum“ – gab. Bei den mei­
sten Rentabilitätsberechnungen soll
das Problem umschifft werden, indem
sie sich auf nicht im Finanzsektor tä­
tige Unternehmen oder manchmal den
Wirtschaftssektor ohne das Finanzwe­
sen beschränken. Es ist allerdings frag­
lich, ob damit die Verzerrung vollkom­
men ausgeschaltet ist, wenn Produkti­
onsunternehmen wie General Electric
(die größte Produktionsgesellschaft der
USA), Ford oder General Motors von
16 Bank of England Quarterly Bulletin, 1975.
17 Dafür verwendet er gebräuchliche Inflations­
statistiken sowie seine eigene Methode auf
Grundlage der monetären Äquivalenz für Ar­
beitszeit (MELT).
inprekorr 460/461
Abbildung 3: Brenners Zahlen für die US-amerikanischen Profitraten im Nichtfinanzsektor. Quelle: BEA-Daten.
inflationsbereinigt
Arbeitsproduktivitätsrate (LaborROP), bereinigt um
Lohnkostenveränderungen
aus unbereinigten Geldwerten
berechnete Profitrate (ROP)
Abbildung 4: Klimans Zahlen für die US-amerikanische Profitrate. Quelle: Kliman,
2009.
Abbildung 5: Mohuns Zahlen für die US-amerikanische Profitrate. Quelle: Mohun.,
2006.
Beginn der 1990er Jahre an zunehmend
von Finanztransaktionen abhängig ge­
worden sind. (Abbildung 5)
Die Financial Times berichtet, der
Wirtschaftsanalyst Andrew Smithers
habe „schon seit geraumer Zeit da­
rauf hingewiesen, dass aufgeplusterte
Wertbemessungen ernsthafte Verzer­
rungseffekte mit sich bringen. Er rech­
net nach, dass allein die gestiegenen
41
Ökonomie
Grundstückspreise im Jahr 2007 die
Bilanzen der nicht im Finanzsektor tä­
tigen Unternehmen um schwindelerre­
gende 1000 Milliarden und mehr auf­
gebläht haben.“18 Smithers rechnet,
dass Wertsteigerungen dieser Art im
vergangenen Jahrzehnt „beachtliche
22 Prozent aller Gewinne von nicht
im Finanzsektor tätigen Unternehmen
ausmachten“.19 General Electric erhielt
im August 2009 ein Bußgeld in Höhe
von mehreren Millionen Dollar wegen
Aufbauschens seiner Gewinne.
Wir haben allen Grund zu der An­
nahme, dass Hussons Zahlen all die­
se Verzerrungen enthalten. Jedenfalls
legt die europäische Website, auf die
er sich bezieht, bei der Bemessung be­
trieblicher Investitionen die Ersatzund nicht die ursprünglichen Kos­
ten zugrunde. Es scheint auch, dass
die Zahlen die Gesamtwirtschaft um­
fassen, einschließlich der aufgebläh­
ten Scheinprofite im Finanzsektor. Oh­
ne detaillierte Darlegung der Methodik
und der Quellen lässt sich dazu nichts
Genaueres sagen.
Fehlerhaftes Theorieverständnis
Aber nicht nur Hussons Zahlen sind
fragwürdig, sein Versuch, sie nach mar­
18 Jackson, Financial Times, 26. November 2008.
19 Jackson, Financial Times, 30 März 2009.
xistischen Kriterien zu erläutern, ist es
ebenfalls. Er schreibt über Marx’ „ten­
denziellen Fall der Profitrate“:
„Es gibt a priori keinen Grund für die
Annahme, dass diese Tendenz systematisch
die Gegentendenz überwiegen muss. Die Ar­
beitsproduktivität kann steigende Reallöh­
ne und die Zunahme des physischen Kapi­
tals auf ganz symmetrische Weise kompen­
sieren.“
Die Akkumulation von Produkti­
onsmitteln muss keineswegs, so Hus­
son, eine Zunahme der organischen
Zusammensetzung des Kapitals nach
sich ziehen:
„Die zunehmende Arbeitsproduktivi­
tät ermöglicht eine Reduzierung der Kosten
für Maschinen. Diese Gegentendenz kann
die zunehmende Anzahl von Maschinen aus­
gleichen, so dass die Entwicklung der or­
ganischen Zusammensetzung undefiniert
bleibt.“
Unter solchen Bedingungen kann ei­
ne Steigerung der Ausbeutungsrate je­
des einzelnen Arbeiters zu einer Stei­
gerung der Profitrate führen. Und ge­
nau das ist es – das sollen Hussons Zah­
len belegen –, was wir im vergangenen
Vierteljahrhundert erlebt haben: „Das
Verhältnis zwischen Zähler und Nenner,
das die Profitrate ergibt, kann konstant
bleiben, und somit auch die Profitrate.“
Seine Argumentation ist aller­
dings an einer entscheidenden Stelle
lückenhaft. Er lässt einen wichtigen
Gesichtspunkt außer Acht, den ver­
Abbildung 6: Freemans Zahlen für die US-amerikanische Profitrate.
Quelle: Freeman, 2009.
42 schiedene Marxisten in ihren Kontro­
versen über die Profitrate in den letz­
ten 40 Jahren hervorgehoben haben.20
Die Kontroverse wurde durch den
Lehrsatz des japanischen Marxisten
Okishio entfacht, wonach Kapitalisten
nur dann neue Technologien einfüh­
ren würden, wenn dadurch die Pro­
fitrate erhöht wird, daher könnten stei­
gende Kapitalinvestitionen die Pro­
fitrate nicht senken. Vielmehr wür­
den sie die Produktivität erhöhen, da­
mit die Kosten für Neuinvestitionen
senken und folglich eine allgemeine
Steigerung der Profitrate herbeifüh­
ren. Das Einzige, was die Rentabilität
senken könnte, wäre in diesem Fall ei­
ne sinkende Ausbeutungsrate (mit an­
deren Worten eine Zunahme des An­
teils am Ausstoß, der den Arbeitern
zukommt). (Abbildung 6)
Das von Robin Murray,21 Ben Fi­
ne und Lawrence Harris,22 Gugliel­
mo Carchedi,23 Alan Freeman, An­
drew Kliman24 und mir selbst25 unter­
schiedlich formulierte Gegenargument
ist schlicht und beweiskräftig. Näm­
lich, dass die Wirkung von Produkti­
vitätszuwächsen zur Reduzierung zu­
künftiger Investitionskosten dem ein­
zelnen Kapitalisten nicht hilft, seinen
Profit aus bereits vorhandenen Investi­
tionen zu ziehen.
Wie das Sprichwort sagt: „Man
kann die Häuser von heute nicht mit
den Ziegelsteinen von morgen bauen.“
Die Tatsache, dass neue Maschinen im
nächsten oder übernächsten Jahr bil­
liger sein werden, reduziert nicht auf
wundersame Weise die Summe, die
für die vorhandenen bereits verausgabt
wurde. Ganz im Gegenteil: Je rasender
die technologische Innovation und die
Produktivitätszuwächse, desto schnel­
ler wird der Maschinenpark vom „mo­
ralischen Verschleiß“ betroffen sein
und veralten. Als Ergebnis gerät die
Rentabilität unter zunehmenden, nicht
abnehmenden Druck. (Abbildung 7)
20 Im englischen Sprachraum begann diese Kon­
troverse im Bulletin of the Conference of Socialist Economists Anfang der 1970er Jahre, in
dem Andrew Glyn, Robin Murray, Sue Him­
melweit, Bob Rowthorn, Philip Armstrong,
Ben Fine and andere unterschiedliche Positio­
nen vertraten.
21 Murray, 1973.
22 Fine und Harris, 1979.
23 Carchedi, 1991.
24 Kliman, 2007.
25 Harman, 1984, S. 20-34 und 2009, S. 68-75.
inprekorr 460/461
Ökonomie
Es gibt nur einen Ausweg, um die­
sen Effekt zu neutralisieren: wenn die
Kosten bestehender Investitionen aus
den Büchern entfernt, also die Kapi­
talien entwertet werden können. Der
einzelne Kapitalist kann aber veraus­
gabte Summen nicht achselzuckend
abtun. Wenn er das versucht, wird sei­
ne Rentabilität so oder so sinken.
In meinem neuesten Buch habe ich
das wie folgt beschrieben:
„Investitionen … werden zu einem be­
stimmten Zeitpunkt getätigt. Die Verbilli­
gung weiterer Investitionen infolge verbes­
serter Produktionstechniken geschieht zu
einem späteren Zeitpunkt. Beide Vorgänge
finden nicht gleichzeitig statt … Wenn Kapi­
talisten ihre Profitraten messen, vergleichen
sie den aus dem Betreiben ihrer Fabrik und
den Maschinen erzielten Mehrwert mit den
in der Vergangenheit dafür getätigten Aus­
gaben, nicht mit den aktuellen Wiederbe­
schaffungskosten … [Die Profitrate] impli­
ziert immer den Vergleich des gegenwärtigen
Mehrwerts mit den Investitionen, aus denen
dieser fließt. Ohne das ergäbe die Vorstellung
eines „sich selbst verwertenden Werts“ kei­
nen Sinn.“26
Das bedeutet, dass nur ein Weg of­
fen steht, damit die fallenden Kosten
für Neuinvestitionen nicht zu sinkender
Rentabilität führen: Manche Kapitalien
müssen die Verluste aus der Entwer­
tung tragen und bankrottgehen, sodass
andere deren Anlagen, Ausrüstungen
und Rohmaterialien unter ihrem Wert
aufkaufen können. Die Krise schafft
eben diese Bedingungen, unter denen
manche Kapitalien andere ausschlach­
ten können und folglich die sinkenden
Kosten für Neuinvestitionen dem lang­
fristigen Druck auf die Profitraten ent­
gegenwirken können.
Eine wichtige empirische Beo­
bachtung der Wirtschaftskrisen der
letzten 40 Jahre zeigt jedoch, dass sie
relativ wenige Firmenpleiten verur­
sacht haben. Wegen der Konzentra­
tion und Zentralisation des Kapitals
werden die größten Unternehmen in
die Lage versetzt, ihre weniger profi­
tablen Abteilungen vor der Pleite zu
schützen – ein Umstand, auf den der
russische Ökonom Preobraženski be­
reits 1931 hinwies.27 Die Angst an­
26 Harman, 2009, S. 74–75. Die erste Spielart
dieses Arguments, der ich begegnet bin, war
die Robert Murrays im Bulletin of the Confe­
rence of Socialist Economists, in dem er das
Kornmodell heranzog (Murray, 1973).
27 Preobaženski, 1985, S. 137.
inprekorr 460/461
Abbildung 7: Sylvains Zahlen für die Profitraten ausgewählter Länder.
Quelle: Sylvain, 2001.
derer Kapitalisten vor den Folgen
für sie selbst im Falle eines Zusam­
menbruchs wirklich großer Unter­
nehmen hat in jeder Krise der letz­
ten Jahrzehnte dazu geführt, dass die
Staaten interveniert haben, um ei­
ne solche Entwicklung abzuwenden
– was die Wirtschaftswissenschaftler
des Mainstreams als Phänomen des
„zu groß, um unterzugehen“ bezeich­
nen. Eine Untersuchung über Pleiten
in den USA kommt zu dem Ergeb­
nis, dass sie bis in die 1990er Jahre
eine Seltenheit blieben. In der kurz­
lebigen Krise von 2000 bis 2002 gab
es bereits mehr Pleiten – Enron und
WorldCom waren die berühmtesten
– aber der Rückgriff auf staatliche
Rettungspakete seit dem Zusam­
menbruch von Lehman Brothers, die
massive Einmischung verschiedener
Staaten, um beispielsweise den dro­
henden Kollaps von General Motors
und Chrysler abzuwenden, zeigen
die Grenzen einer Kapitalentwertung
durch Krisen. (Abbildung 8)
Dieser Umstand erklärt das Dilem­
ma, mit dem sich neoliberale Öko­
nomen in der gegenwärtigen Kri­
se konfrontiert sehen. Eine reine
Hayek‘sche oder neoklassische Lö­
sung hieße, viele der Firmengiganten
gegen die Wand fahren zu lassen, um
den übrigen eine Lebenschance zu er­
öffnen. In Wirklichkeit hat aber die
Konzentration und Zentralisation von
Kapital einen Grad erreicht, wo die
verschiedenen Bestandteile des Sy­
stems dermaßen eng miteinander ver­
quickt sind, dass ein Bankrott ihrer
unprofitablen Teile den übrigen mehr
schaden als helfen kann.
Abbildung 8: Duménil und Lévys Zahlen für die Profitraten US-amerikanischer Unternehmen. Quelle: Duménil und Lévy, 2002.
43
Ökonomie
Die wirklichen Wurzeln
der Krise
Diese Beweisführung lässt uns erken­
nen, dass die Wurzeln der Krise tat­
sächlich im Druck auf die Profitraten
seit Ende der 1960er Jahre liegen. Die
Versuche, damit zu Rande zu kommen,
umfassten alle von Husson erwähnten
Mittel: Angriffe auf die Löhne, auf So­
zialleistungen, auf Arbeitsbedingungen
usw., mit anderen Worten: Steigerung
der Ausbeutungsrate. Eine Reihe von
Quellen belegen den wachsenden An­
teil der Kapitaleinkünfte im Vergleich
zu den Lohneinkünften in allen wich­
tigen kapitalistischen Ländern. Aber
in Ermangelung großer Firmenpleiten
reichte das nicht aus, um der Rentabili­
tät zu ihrem alten Niveau zu verhelfen.
Das Ergebnis war eine langwierige Ver­
langsamung der weltweiten Akkumu­
lationsrate – sogar unter Berücksichti­
gung der beschleunigten Akkumulation
in China.
Nebenbei sollte erwähnt werden,
dass dieser Abwärtstrend der Akku­
mulationsrate einen Nebeneffekt zei­
tigt: Das reduzierte Akkumulationstem­
po kann zumindest zeitweise den Auf­
USA
wärtsdruck auf die organische Zusam­
mensetzung des Kapitals reduzieren.28
Aber die verminderte Akkumulati­
on in einer Zeit steigender Ausbeutung
bewirkt in aller erster Linie eine wei­
tere Öffnung der Schere zwischen dem
Potenzial des Systems, Güter zu produ­
zieren, und der Aufnahmefähigkeit des
Markts dafür. Diese „Überproduktion“
ist aber nicht Folge von „Unterkonsum­
tion“ an sich, sondern des Ausbleibens
einer ausreichenden Akkumulationsra­
te, um die verlorene Konsumnachfrage
durch eine erhöhte Nachfrage nach In­
vestitionsgütern auszugleichen.
Die Ausdehnung des Finanzsektors
fand vor diesem Hintergrund statt. Es
war der Versuch von Kapitalisten, ei­
ne höhere Profitrate zu erzielen, als pro­
duktive Investitionen hergeben. Damit
können einzelne Kapitalisten Erfolg ha­
ben, das kann aber nicht für das System
als Ganzes funktionieren, da der Mehr­
wert seinen letztlichen Ursprung in pro­
duktiven Investitionen hat. Sie war zu­
28 Zahlen für das Verhältnis zwischen Kapital und
Ausstoß einerseits und Kapital und Beschäfti­
gung andererseits legen nahe, dass dieser Fall
seit Mitte der 1970er Jahre mehrmals eingetre­
ten ist.
EU 5 (D, GB, F, I, E)
Abbildung 9: Goldman Sachs‘ Zahlen für Gewinne aus physischen Kapitalanlagen. Quelle: Daly, Kevin und Ben Broadbent, 2009.
44 gleich verbunden mit der Vergabe von
Konsumkrediten an Arbeiter und An­
gehörige der Mittelschichten, womit ei­
ne Nachfrage für Güter erzeugt wurde,
die sonst unverkäuflich geblieben wä­
ren. Dieser „privatisierte Keynesianis­
mus“ wurde vom Chef der US-ameri­
kanischen Zentralbank, Alan Green­
span, nach der Dotcom-Blase und dem
Zusammenbruch der Telekomgesell­
schaften Ende der 1990er Jahre und der
allgemeinen Panik nach dem 9. Sep­
tember förmlich angeschoben. Aber
auch dieser Ausweg konnte nicht ewig
währen, weil Arbeiter die Zinszah­
lungen, aus denen sich die hohen Pro­
fite des Finanzsektors speisten, nur hät­
ten zahlen können, wenn ihre Löhne ge­
stiegen wären, was wiederum die Pro­
fitrate gesenkt hätte. Sogar bürgerliche
Wirtschaftskommentatoren wie Martin
Wolf stellten fest, dass die Kredite ei­
nen beträchtlichen Teil der US-ameri­
kanischen Bevölkerung in die Lage ver­
setzten, die Rolle des „letzten Konsu­
menten“ für das übrige Weltsystem zu
spielen, vor allem für Deutschland, Chi­
na, Japan (über den Umweg seiner ge­
stiegenen Exporte nach China), die an­
deren fernöstlichen Länder und Lateina­
merika. (Abbildung 9)
Die Krise kann daher sehr wohl als
Folge des „Gesetzes des tendenziellen
Falls der Profitrate und seiner Gegenten­
denzen“ verstanden werden – vorausge­
setzt, die Begrenztheit der Gegenten­
denzen wird richtig verstanden: Sie ho­
ben zwar die Profitraten von ihrem ex­
trem niedrigen Niveau zu Beginn der
1980er Jahre an, aber nicht in dem Aus­
maß, die Investitionstätigkeit so weit an­
zuspornen, dass sie die gesamte Produk­
tion des Systems hätte absorbieren kön­
nen.
Das löst ein Rätsel, das Hussons
Entwurf birgt: Warum führten die an­
geblich so hohen Profitraten (höher als
während des langen Booms der „glor­
reichen 30 Jahre“) nicht zu einem Ni­
veau produktiver Investitionen, das aus­
gereicht hätte, das ganze System auf
Wachstumskurs zu bringen? Stattdessen
erleben wir seit 30 Jahren mehrjährige
Investitionsperioden in bestimmten Tei­
len des Weltsystems (manchmal sogar
sehr ausgeprägte, wie während Ende der
1970er Jahre in Brasilien, während der
letzten zehn Jahre in China oder in den
USA Mitte der 1990er Jahre), aber kei­
nen nachhaltigen globalen Aufschwung.
Seine Erklärung dafür scheint zu sein,
inprekorr 460/461
Ökonomie
Abbildung 10: Tutans Berechnung der deutschen Profitraten (ohne
Bausektor). Quelle: Tutan 2008.
dass es politische Kräfte gibt, die das
System davon abhalten, die erforder­
lichen keynesianischen Maßnahmen zu
ergreifen, und stattdessen das akkumu­
lierte Geldkapital weg von produktiven
Investitionen in Finanzen umleiten. Es
ergibt aber mehr Sinn, den Kapitalab­
fluss zum Finanzsektor als Antwort auf
die in ihren Augen unbefriedigenden
Profitraten in der Produktionssphäre zu
sehen – ein Umstand, den alle Berech­
nungen der Profitraten bestätigen, außer
denen Hussons.
Hussons eigene Zahlen lassen noch
eine weitere Frage unbeantwortet: Was
passiert mit dem Geldkapital, das in
den Finanzsektor fließt? Denn nur ein
Teil dieses Geldkapitals kann dort blei­
ben, da der Hauptzweck des Finanzsek­
tors definitionsgemäß nicht die Rück­
wandlung von Geldkapital in Konsum­
güter ist. Ein Teil fließt in den Bau von
Bankentürmen und Bankgehältern, der
Großteil fließt aber zurück ins System.
Das Finanzsystem ist ein Leitungsnetz,
das die verschiedenen Teile des Sy­
stems miteinander verbindet, die ihrer­
seits sehr wohl Geldkapital in Konsum­
güter umwandeln. Wie ein Becken kann
es nur eine bestimmte Menge Geldka­
pital aufnehmen, ohne überzulaufen.
Der Bauboom wird einen Teil des Geld­
kapitals wohl in Konsumgüter verwan­
delt haben, aber nicht in dem Maße, wie
man annehmen könnte, denn ein Groß­
teil speiste die steigenden Häuserpreise,
nicht die Ausweitung der Bauindu­
strie (das war besonders in Großbritan­
nien offensichtlich, wo sich die Häuser­
preise innerhalb von zwölf Jahren ver­
vierfachten, während der Hausbau auf
einem historischen Tief stagnierte). Die
Zahlen für die USA legen nahe, dass Fi­
nanzen erst Mitte es vergangenen Jahr­
inprekorr 460/461
zehnts wieder in produktive Investiti­
onen zurückflossen. Von Mitte bis En­
de der 1990er Jahre gab es seitens der
Industrie­unternehmen Nettokreditauf­
nahmen. Das Problem war, dass sogar in
dieser Phase das Kapital weltweit nicht
genügend Vertrauen in die Rentabilität
hatte, um Investitionen in einem Aus­
maß zu tätigen, das einen tragfähigen
Aufschwung hervorgebracht hätte.
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45
Ökonomie
Lange Wellen – die letzte?
Thadeus Pato
1. Die Debatte über die Frage, ob die so­
genannten langen Wellen der Konjunktur,
die von Kondratieff und anderen postu­
liert wurden, tatsächlich existieren, dauert
jetzt bereits fast hundert Jahre an. Wäh­
rend dieser Zeit kamen verschiedene mar­
xistische Ökonomen zu unterschiedlichen
Schlussfolgerungen. Der ostdeutsche
Wissenschaftler Jürgen Kuczinsky stell­
te beispielsweise in den dreißiger Jahren
eine Untersuchung an und kam zu dem
Schluss, dass es keine Evidenz für ihre
Existenz gäbe. Sein Sohn Thomas wiede­
rum präsentierte in den achtziger Jahren
eine eigene Erklärung der langen Wellen,
die sich von der Ernest Mandels nicht we­
sentlich unterschied.
Wenn wir uns die Zeitrahmen anse­
hen, die bisher benutzt wurden, um die
langen Wellen abzubilden, so scheint
es, als ob die Theorie der langen Wellen
durch die aktuelle ökonomische Krise wi­
derlegt wäre.
Wenn wir Mandel und anderen Öko­
nomen zustimmen, zum Beispiel dem
Russen Menschikoff, aber auch dem er­
wähnten ostdeutschen Mathematiker Tho­
mas Kuczinsky, dass die letzte lange Wel­
le mit expansivem Grundton nach dem
Zweiten Weltkrieg begann und bis Ende
der sechziger, Anfang der siebziger Jahre
andauerte, dann sollte eigentlich das En­
de der depressiven Phase spätestens Mit­
te der neunziger Jahre erreicht gewesen
sein und wir befänden uns jetzt mitten in
einem neuen weltweiten Wirtschaftsauf­
schwung.
Dass das nicht der Fall ist, ist evident,
und dass wir im Gegenteil in der tiefsten
46 Krise des kapitalistischen Systems seit 80
Jahren stecken, scheint die Diskussion
über die langen Wellen zu guter Letzt als
intellektuelle Spielerei zu entlarven.
Andererseits hat Mandel ebenso wie
Trotzki immer darauf hingewiesen, dass
im Gegensatz zu den kurzen industriel­
len Zyklen wie die Juglar- oder KitchinZyklen die langen Wellen von einer solch
großen Zahl unterschiedlicher, nicht nur
ökonomischer, Faktoren beeinflusst wer­
den, dass ein regelmäßiger, kontinuier­
licher und periodischer Zyklus mit einem
definierten Zeitplan gar nicht zu erwarten
sei.
2. Es gibt eine ganze Reihe von Fragen,
die im Zusammenhang mit der aktuellen
ökonomischen (und ökologischen) Krise
sind zu beantworten sind:
• Welche Faktoren könnten den unge­
wöhnlichen Verlauf der letzten depres­
siven Welle über inzwischen fast 40
Jahre erklären?
• Spielt dabei das Finanzkapital eine
Rolle?
• Hat die tiefgreifende ökologische
Krise einen Einfluss auf den ökono­
mischen Zyklus, und wenn ja, in wel­
che Richtung?
Im Folgenden möchte ich einige Thesen
präsentieren, die eine Antwort auf die so­
eben gestellten Fragen zu geben versu­
chen. Ich gehe dabei von der grundsätz­
lichen Annahme aus, dass die langen Wel­
len tatsächlich existieren und dass sie in
erster Linie auf der langfristigen Entwick­
lung der Profitraten beruhen. Ich möchte
hier nicht die gesamte Debatte pro und
contra die Existenz der langen Wellen
wiederholen, lediglich dazu eine kurze
Anmerkung:
In Bezug auf die genannte Annahme
können wir feststellen, dass wir, begin­
nend mit der Wirtschaftskrise Ende der
sechziger, Anfang der siebziger Jahre eine
lange Phase schrumpfender Wachstums­
raten in einer relevanten Anzahl industria­
lisierter Länder zu verzeichnen hatten und
einen dazu korrespondierenden Rückgang
der Profitraten. Der Versuch, die Profitrate
anzuheben, führte zu der Politik der acht­
ziger Jahre mit der sogenannten neolibe­
ralen Wende, mit Lohnsenkungen, Dere­
gulierung, Privatisierung etc. Die logische
Konsequenz dieser Politik, der Rückgang
der Nachfrage, hätte ungefähr 1990 in ei­
ne tiefe Überproduktionskrise münden
müssen. Insoweit korrespondieren die
entsprechenden statistischen Daten mit
der Theorie der langen Wellen.
3. These 1:
Die derzeitige Krise „hätte eigentlich“
schon vor 15–20 Jahren eintreten müs­
sen, aber sie wurde durch ein oder meh­
rere Faktoren hinausgezögert.
Der erste identifizierbare (und Haupt-)
Faktor ist das enorme Wachstum der öf­
fentlichen und privaten Verschuldung. Di­
ese fand in fast allen großen Industrie­
staaten statt. Aber sie hatte in unterschied­
lichen Ländern unterschiedliche Gründe.
Nur ein Beispiel: In Deutschland lag
zum Zeitpunkt des Falls der Berliner
Mauer die Kapazitätsauslastung der west­
inprekorr 460/461
Ökonomie
deutschen Industrie bei ca. 60 %, kurz da­
nach stieg sie auf bis zu 90 % in manchen
Branchen. Das war eine Folge der Nach­
frage, die durch die Öffnung der Grenze
zu Ostdeutschland generiert wurde, und
de facto eine riesige Subvention für die
westdeutsche Industrie. Aber das führte
gleichzeitig zur Zerstörung der ostdeut­
schen Industrie, generierte Arbeitslosig­
keit, und die Rechnung wurde komplett
durch öffentliche Schuldenaufnahme be­
zahlt.
In den USA gab es eine vergleichbare
Entwicklung, und bei der privaten Ver­
schuldung war sie sehr ähnlich der der öf­
fentlichen Verschuldung in Deutschland.
Aber auch die Gesamtverschuldung folgte
dieser Tendenz. Die Gründe waren offen­
sichtlich andere als in Deutschland, aber
mit dem gleichen Effekt: Die notwen­
dige Nachfrage für die schon bestehen­
de Überproduktion wurde mehr oder we­
niger erfolgreich durch eine exorbitante
Steigerung von öffentlicher und privater
Verschuldung geschaffen. (Einschließlich
der Kosten für die verschiedenen teuren
Kriege der letzten zwanzig Jahre).
Was die private Verschuldung betrifft,
so hat, nebenbei gesagt, Mandel bereits in
„Der Kapitalismus der dritten Periode“
darauf hingewiesen, dass die Verschul­
dung in dieser Periode ein bedeutender
Faktor wird.
Und ich denke, das ist die Verbindung
zu dem zweiten Faktor, nämlich der Ent­
wicklung des sogenannten Finanzkapi­
tals, das seine Profite sowohl aus der öf­
fentlichen wie der privaten Verschuldung
zog. Aber da das Problem der sinkenden
Profitrate nicht gelöst wurde, entstand ei­
ne enorme Menge an Kapital, das „nach
Realisierung suchte“. Das erzeugte, grob
gesagt, die sogenannte Spekulationsbla­
se, die jetzt explodiert ist. (Michel Hus­
son schrieb 2002: „Das Wachstum der Fi­
nanzsphäre erklärt sich durch das Wachs­
tum des nicht akkumulierten Surplus.“)
inprekorr 460/461
Der dritte Faktor ist die Reintegrati­
on des früheren Ostblocks und Chinas in
das kapitalistische System. Insbesonde­
re in China wirkten die Wachstums- und
Profitraten dieser Periode als kompensa­
torische Faktoren, und ein großer Teil der
US-amerikanischen öffentlichen Schuld­
titel der letzten 15 Jahre wird von China
gehalten.
4. These 2:
Die globale Umweltkrise und die Ernäh­
rungskrise werden die externen Kosten
und Risiken wesentlich erhöhen und da­
mit die Erholung der Profitraten limitie­
ren.
Die Umweltkrise, insbesondere der
Klimawandel, werden enorme unpro­
duktive Kosten auf verschiedenen Ebe­
nen generieren. Die Schätzungen bezüg­
lich der sogenannten Anpassungskosten
in den Ländern der Peripherie wuchsen
in den letzten Jahren kontinuierlich. Und
angesichts der sich jedes Jahr verschlech­
ternden Szenarien bezüglich der Folgen
des Klimawandels sind die derzeitigen
Zahlen mit Sicherheit nicht realistisch.
Hinzukommt, dass wir gleichzeitig
ein riesiges Flüchtlingsproblem haben
werden. Einige hundert Millionen Men­
schen werden ihre Heimat verlassen müs­
sen. Den Beginn dieser Entwicklung kön­
nen wir täglich an den Grenzen der Eu­
ropäischen Union ebenso beobachten wie
in den Flüchtlingslagern Afrikas und Asi­
ens.
Auf der anderen Seite stehen wir vor
einer Zunahme bewaffneter Konflikte als
Konsequenz des Klimawandels, worauf
beispielsweise einige US-Generäle in
einem Memorandum im April 2007 hin­
wiesen.
Außerdem gibt es bereits Schätzungen
über die Auswirkungen des Klimawan­
dels auf die Produktivität der Arbeitskräf­
te. Die Zahlen für Deutschland sind ein
gutes Beispiel für diesen Effekt des Kli­
mawandels.
5. Schlussfolgerungen
Wir befinden uns immer noch in der lan­
gen depressiven Welle, die vor 40 Jahren
begann. Die derzeitige Krise wurde durch
eine Reihe von Faktoren und Maßnah­
men hinausgezögert, in erster Linie durch
das enorme Wachstum der öffentlichen
und privaten Verschuldung. Das Problem,
vor dem wir stehen, ist, dass die Maßnah­
men, die von der Bourgeoisie vorgeschla­
gen oder getroffen werden, um die öko­
nomische Krise zu überwinden und den
Weg für einen neuen expansiven Zyklus
zu öffnen, in ihrer großen Mehrheit in Be­
zug auf den Kampf gegen die ökologische
Krise kontraproduktiv sind. Das macht
die Forderung nach einem radikalen Wan­
del des existierenden sozialen und ökono­
mischen Systems, die Forderung nach ei­
ner gänzlich anderen Gesellschaft, zur
unmittelbaren Notwendigkeit. Wir stehen
an einem entscheidenden geschichtlichen
Wendepunkt.
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47
NAchruf
Bis zum letzten Atemzug ein revolutionärer
Kämpfer: Daniel Bensaïd (1946–2010)
Gilbert Achcar
Seit Juni vergangenen Jahres ist das ge­
genwärtige marxistische Denken bedeu­
tend ärmer geworden. Mit dem frühzei­
tigen Tod von Denkern wie Peter Go­
wan, Giovanni Arrighi, Chris Harman
und jetzt Daniel Bensaïd ist uns leider
genommen worden, was jeder einzel­
ne von diesen Freunden und Genossen
noch hätte beitragen können; ihr Leben
hat zu einer Zeit geendet, da ihre intel­
lektuelle Produktion in vollem Schwung
war.
Am 12. Januar ist Daniel Bensaïd in
Paris gestorben, nachdem er am Ende
von nahezu 15 Jahren Leben mit AIDS
mehrere Monate lang einen schmerz­
vollen Kampf gegen Krebs geführt hat­
te. Das beeindruckende internationale
Gedenken – die meisten französischen
Medien und mehrere Zeitungen über­
all auf der Welt widmeten ihm ausführ­
liche Nachrufe – zeugt davon, dass er zu
Recht als ein prominenter Intellektueller
und eine politische Führungsfigur Fran­
kreichs sowie als eine zentrale intellek­
tuelle Persönlichkeit von globaler Statur
betrachtet worden ist.
Daniel galt als der Haupttheoreti­
ker der im vergangenen Jahr gegründe­
ten Neuen Antikapitalistischen Partei
(NPA) und war vorher jahrzehntelang
eine zentrale Figur der Ligue Commu­
niste Révolutionnaire (LCR) gewesen.
Engels hat einmal bemerkt, dass
Frankreich das Land ist, in dem der
Daniel Bensaïd
48 Klassenkampf immer die schärfsten
Formen angenommen hat – eine Fest­
stellung, die von der Zeit nach ihm nicht
widerlegt worden ist. Auf viele Weise
verkörperte Daniel Bensaïd diese fran­
zösische revolutionäre Tradition. Ge­
wiss hatte er durch seinen Vater jüdischalgerische Wurzeln, und diese Dimen­
sion war eine Grundlage für sein inten­
sives Interesse für das Schicksal sowohl
der Juden und Jüdinnen als auch der Pa­
lästinenser und Palästinenserinnen, als
führender Kämpfer sowohl gegen An­
tisemitismus als auch gegen israelische
Unterdrückung.
Er war jedoch vor allem anderen ein
französischer Revolutionär. Nicht in ir­
gendeinem engen, provinziellen Sinn –
im Gegenteil, er war durch und durch
ein Internationalist, in Theorie und Pra­
xis. Dank seiner Beherrschung des Spa­
nischen und Portugiesischen und auf­
grund seiner Zugehörigkeit zur zentra­
len Leitung der IV. Internationale war
er an Entwicklungen innerhalb der radi­
kalen Linken in Lateinamerika, von Me­
xiko bis Brasilien, sowie, näher an der
Heimat, auf der iberischen Halbinsel in­
tensiv beteiligt.
Die französische revolutionäre Tra­
dition, die Daniel hochhielt, war selbst
eine sehr internationalistische, wie er in
dem Buch betonte, das er zum 200. Jah­
restag der Revolution von 1789 veröf­
fentlichte. Es trägt den bezeichnenden
Titel Moi la Revolution (Ich, die Revo­
lution): Daniel entschied sich dafür, es
in der ersten Person zu schreiben, als
wäre die Revolution die Erzählerin.
Er identifizierte sich mit der jakobi­
nischen Bewegung von 1793 und noch
mehr mit ihrem radikalen Flügel – mit
dem revolutionären Erbe, das von Grac­
chus Babeuf repräsentiert wird und
im 19. Jahrhundert von Louis Augu­
ste Blanqui fortgeführt wurde, einem
Erbe, das ein wesentlicher Bestandteil
des Spektrums von Strömungen wer­
den sollte, die in der Pariser Kommu­
ne von 1871 repräsentiert waren. Mit
der „Commune“ war er auf eine Wei­
se „physisch“ verbunden, wie er gerne
und stolz betonte: Sein Großvater müt­
terlicherseits war ein Kommunarde ge­
wesen.
Er verlängerte seine Verteidi­
gung der Bewegung von 1793 gegen
die antijakobinische Wut, die aus An­
lass des 200. Jahrestags von 1789 aus­
brach, mit einer Verteidigung des rus­
sischen Bolschewismus, indem er ge­
gen die oberflächlichen kritischen Um­
wertungen im Gefolge des Zusammen­
bruchs der Sowjetunion an Lenins Ver­
mächtnis festhielt. Dabei spielte er der
Tendenz nach die problematischen Di­
mensionen beider Revolutionen herun­
ter, nicht weil er die Probleme nicht ge­
sehen hätte, sondern weil er das Tempe­
rament eines Kämpfers hatte – eines po­
litischen Boxers, könnte man sagen, im
Gedenken an seinen Vater, der tatsäch­
lich ein Boxer war. Nichts bringt diesen
Aspekt seiner Persönlichkeit besser zum
Ausdruck als der Titel eines seiner Bü­
cher: Eloge de la résistance à l’air du
temps (Lob des Widerstands gegen den
Geist der Zeit, 1999).
Bensaïd hat dennoch nie eine „The­
ologie“ der Revolution betrieben. Hie­
rin setzte er wiederum die radikale Tra­
dition in Frankreich fort – als leiden­
schaftlicher Repräsentant eines ihrer
wesentlichen Merkmale, eines gründ­
lichen Säkularismus (wenn nicht Anti­
klerikalismus). Diese Haltung zieht sich
durch sein Denken nicht nur zur Reli­
gion, sondern auch zu allen Formen sä­
kularer Theologie (wie Identitätspoli­
tik) sowie zu Einsprengseln von reli­
giösen Bezügen bei linken Autoren (in
der Kritik an Denkern wie Alain Badiou
und Antonio Negri). Hier ist wiederum
der Titel seines letzten größeren Buchs
bezeichnend: Eloge de la politique profane (Lob der profanen Politik, 2008).
Sein erstes Buch, das er zusammen
mit Henri Weber (der später Mitglied
der Sozialistischen Partei und Senator
wurde) verfasst hat, erschien 1968. Sein
Titel, Mai 68, une répétition générale
(Mai 68, eine Generalprobe), spricht
Bände über die damalige Stimmungsla­
ge. Die folgenden Schriften waren zu­
inprekorr 460/461
THEORIE
meist Interventionen in die französische
Politik. Nach seinem Buch zum 200.
Jahrestag der Französischen Revoluti­
on veröffentlichte er jedoch eines über
Walter Benjamin und ein weiteres über
die Figur Jean d’Arc.
Diese neuen Themenbereiche spie­
gelten die Melancholie wieder, die
durch die internationale politische Ver­
schiebung nach 1989 mit den ideolo­
gischen Attacken auf den Marxismus
und dem Triumphalismus des globalen
neoliberalen Ansturms entstanden war.
So trug denn auch eines der späteren
Bücher von Bensaïd den Titel Le Pari
mélancolique (Die melancholische Wet­
te, 1997).
Sein wichtigstes theoretisches Werk,
Marx l’intempestif (Der unzeitige Marx)
erschien 1995 auf Französisch und 2002
auf Englisch unter dem Titel A Marx for
Our Times: Adventures and Misadventures of a Critique. Es bietet eine unkon­
ventionelle Lektüre von Marx und wen­
det sich gegen die von der Zweiten In­
ternationale sowie dem Stalinismus po­
pularisierte positivistische Interpretati­
on. Es kam im selben Jahr heraus wie
ein weiteres großes Werk von Daniel, zu
einer Zeit, als er sich bereits Aids zuge­
zogen hatte. In diesen Werken zeigt sich
erneut seine Statur als öffentlich wirk­
samer Intellektueller.
Weil er wusste, dass seine Tage ge­
zählt waren, hat er sich seit seiner Er­
krankung daran begeben, mit einer er­
staunlichen Geschwindigkeit zu schrei­
ben und zu veröffentlichen: in 15 Jahren,
von seinem Marx-Buch 1995 bis zu sei­
nem Tod, an die 20 Bücher unterschied­
lichen Umfangs und zu unterschied­
lichen Themen. Zugleich stellte er sich
dem Tod sehr tapfer entgegen – ein Re­
volutionär, der bis zu seinem allerletzten
Atemzug standhaft gekämpft hat.
Gilbert Achcar stammt aus dem Libanon und
lehrt an der School of Oriental and African Stu­
dies in London Politische Wissenschaft. Zu­
letzt veröffentlichte er Les arabes et la Shoah –
La guerre israélo-arabe des récits (Arles u. Pa­
ris 2009). Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt
Der 33-Tage-Krieg – Israels Krieg gegen die
Hisbollah im Libanon und seine Folgen (Ham­
burg 2007).
Dieser Text erschien in der Februarausgabe der
Monatszeitschrift der britischen SWP Socialist
Review. Eine kürzere erste Fassung erschien in
Socialist Worker, der Wochenzeitung der USamerikanischen ISO.
Übersetzung: Wilfried Dubois
inprekorr 460/461
Die Krise jenseits der Krise
Interview mit Daniel Bensaïd
Dieses Gespräch wurde im Sommer 2009 von Jacques Pelletier und
François Cyr für die in Montréal, Québec, erscheinende Zeitschrift
Nouveaux Cahiers du socialisme (Neue Hefte des Sozialismus) geführt und ist in der zweiten Ausgabe vom Herbst 2009, die dem Thema „Ihre Krise“ gewidmet ist, veröffentlicht worden1.
Nouveaux Cahiers du socialisme: Wir
sollten uns bemühen, ganz knapp den
Charakter dieser Krise zu bestimmen,
um darauf vorauszuschauen, welches
Ausmaß sie einnehmen und welche
Tragweite sie bekommen wird, vor
allem aber, um den schmerzhaften Krisenlösungen entgegenzutreten, an die
der Kapitalismus uns gewöhnt hat. Es
geht nicht um Haarspaltereien, sondern um ein Verstehen im Blick auf das
Handeln. Eine adäquate Analyse dieser Krise ist unerlässlich, meinen wir,
um einen strategischen Rahmen oder
ein Sofortprogramm auszuarbeiten,
wie es beispielsweise die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) vorschlägt.
Um mit der Diskussion zu beginnen,
wollen wir uns an eine Typologie wagen. Zunächst einmal lässt sich ein Lager der Leugnung ausmachen, von dem
das Problem auf eine Frage der Kaufkraft reduziert wird, was mit der Überschuldung der Mittelklassen vor allem
in den Vereinigten Staaten verbunden
sei. Da sie nicht in der Lage sind, mehr
zu konsumieren und die Plastikkreditkarten heiß laufen zu lassen, werden
sie für das, was passiert, verantwortlich gemacht, und ihr fehlendes Vertrauen in die Zukunft wird getadelt.
Fehlendes Vertrauen, das ist für diese
Analyse das Schlüsselwort der Krise.
Andere versuchen die Krise durch
Fahrlässigkeit bzw. die Unehrlichkeit
bestimmter hochgestellter Personen im
Finanzsektor zu erklären, die jeglichen
Kontakt mit der Wirklichkeit verloren
hätten. In diesem Zusammenhang heißt
aus der Krise herauskommen dann ein
Großreinemachen, wenn auch sehr partiell und ausgewählt, im Verbund mit
einer adäquaten Regulierung, mit der
man die wildesten Aspekte der Spekulation im Rahmen halten bzw. die Kontrolle der öffentlichen Hand verstärken
1 http://www.cahiersdusocialisme.org/
will. „We are all socialist now“, hat
Newsweek im Februar 2009 getitelt.
Und dann gibt es im Lager der globalisierungskritischen Linken offensichtlich Bemühungen, die Krise mit einer
vertieften Analyse zu begreifen. Diese Krise ist nicht die erste und, leider, auch nicht die letzte: Sie haftet
dem Kapitalismus an. Im Gegensatz
zu den klassischen Überproduktionskrisen ist die hier aber aus einem Abgrund, dessen Boden nicht zu erblicken
ist, zwischen der Realökonomie, in der
die Güter und Dienstleistungen produziert werden, einerseits und der spekulativen Betätigung andererseits heraufgestiegen, die vierzigmal mehr Geld
produziert, ohne dass ein Fitzelchen realer Wert produziert würde: Der wäre
ja das Resultat von Arbeit. Das ist die
These von der Kasinowirtschaft und ihrer neuen Herren, der Spekulanten, die
eine Art von Banditentum im großen
Maßstab praktizieren. „Croony capitalism“ hat Samir Amin gesagt. Was ist
von all dem zu halten?
Daniel Bensaïd: Man sucht oft
die gegenwärtige Krise mit der groß­
en Krise zu vergleichen, die als Refe­
renz dient, der von 1929. Die Unter­
schiede sind ebenso wichtig wie das,
was sich ähnelt. Wahrscheinlich ist die
gegenwärtige Krise viel schwerer. Sie
ist grundlegend eine Krise des Wertge­
setzes, also eine Krise der Maßlosig­
keit oder des Fehlmaßes einer Welt, ei­
ner kapitalistischen Welt, in der Reich­
tum und soziale Beziehungen einzig
und allen mit dem Wertmaßstab der ab­
strakten Arbeitszeit gemessen werden.
Doch ist dieses Maß, wie Marx es in
den Manuskripten von 1857/582 ange­
kündigt hat, immer „miserabler“ und ir­
rational geworden, im Zuge einer immer
weiter vorangetriebenen Sozialisierung
2 Bekannter als „Grundrisse der Kritik der poli­
tischen Ökonomie“; siehe Marx Engels Werke,
Bd. 42, S. 601.
49
THEORIE
(einer Kooperation) der Arbeit und ei­
ner immer stärkeren Integration von gei­
stiger Arbeit und Handarbeit. Das bele­
gen unter anderem die sinnlosen Krite­
rien, die zur Quantifizierung des Nicht­
quantifizierbaren in den Bereichen Bil­
dung und Gesundheit ausgearbeitet wor­
den sind.
Mit ihrer doppelten Dimension, der
sozialen und der ökologischen, hat die­
se Krise also im Zentrum des Systems
selber ihre Quelle. Dass das Wertgesetz
„miserabel“ ist, tritt dabei in der Tat
durch das Anschwellen von neuen For­
men der Armut und sozialen Ausgren­
zung zu Tage: Warum bringen die er­
staunlichen Produktivitätsgewinne im­
mer mehr Arbeitslosigkeit und Preka­
rität hervor, anstatt dass sie in mehr
„Freizeit“ umgesetzt werden? In wie­
weit lassen sich die Schäden, die den
natürlichen Bedingungen der Repro­
duktion der menschlichen Gattung
(Abholzung, Verschmutzung der Oze­
ane, Lagerung der atomaren Abfälle,
Klimaänderungen) zugefügt werden, in
„Realzeit“ (Börsenkurse!) und in Geld­
beträgen bewerten?
Die Krise ist von Anfang an welt­
weit oder global, in dem Maße wie das
kapitalistische System die Reserven für
eine Expansion nach außen, über die
sich Rosa Luxemburg in der Akkumulation des Kapitals geäußert hat, prak­
tisch erschöpft hat und es seine Schran­
ken weiter hinaus geschoben hat, in­
dem es geographische Zonen oder Pro­
duktionsformen, die ihm noch nicht zur
Verfügung gestanden hatten, in die Wa­
renproduktion integriert hat. Während
der Krise der dreißiger Jahre mach­
ten die ländliche Bevölkerung und die
landwirtschaftliche Produktion in den
wichtigsten kapitalistischen Ländern
noch über 30 % aus, so dass die Fa­
milien- und die Dorfsolidarität soziale
Puffer darstellen konnten. Jetzt stellen
die Lohnabhängigen etwa 90 % der er­
werbstätigen Bevölkerung, so dass die
Krise, mit den Entlassungen und Be­
triebsverlagerungen, einen Schnee­
balleffekt hat. In Frankreich ist es so­
weit, dass die Regierung die Rolle lobt,
die die „automatischen Stabilisatoren“,
wie sie es inzwischen verschämt nennt,
(noch!) spielen, also im Klartext jenes
Systems sozialer Sicherung, dass sie so
eifrig beseitigen wollte.
Und schließlich ist diese Krise, so
könnte man sagen, auch eine Krise der
Krisenlösungen. Man spricht in den
50 Gazetten viel von New Deal oder einer
Neuauflage des Keynesianismus. Dabei
vergisst man ein bisschen arg schnell,
dass Roosevelts New Deal 1934 ei­
nen kurzen Aufschwung möglich ge­
macht hat (unter dem Druck der groß­
en Arbeiterkämpfe), bevor es 1937/38
wieder einen heftigen Abschwung gab;
die Krise ist erst mit der massiven Aus­
weitung der Rüstungsindustrie und der
Kriegswirtschaft wirklich überwunden
worden. Vor allem aber vergisst man
dabei, dass die keynesianische Poli­
tik in der Nachkriegszeit nicht nur in
einem „circulus virtuosus“ (einer Auf­
wärtsspirale) von Produktivität, Löh­
nen und Massenkonsum bestanden hat,
sondern ein ganzes institutionelles Ge­
füge (Arbeitsrecht, öffentliche Dien­
ste, Währungspolitik) zur Vorausset­
zung hat, das innerhalb von nationalen
Rahmen errichtet worden ist, die in­
zwischen durch die Globalisierung und
die Deregulierung eingerissen worden
sind. Um eine Neuauflage des Keynesi­
anismus auf europäischer Ebene anzu­
gehen, wie es die sozialdemokratischen
Parteien in ihren Wahlreden gelegent­
lich ankündigen, wäre eine Kehrtwen­
de bei der europäischen Einigung um
180 Grad notwendig gegenüber dem,
was sie seit einem Vierteljahrhundert
mitgetragen haben: Es müsste wie­
der eine politische Kontrolle über die
Geldpolitik geben (die jetzt der Zen­
tralbank überlassen worden ist), einen
Umbau der öffentlichen Dienste und
der Systeme zur sozialen Sicherung,
die 20 Jahre lang von rechten und lin­
ken Regierungen systematisch zerstört
worden sind, die europäischen Verträ­
ge, die für freien Kapitalfluss sorgen,
müssten aufgekündigt werden usf.
Wenn man den Charakter und das
Ausmaß der Krise so einschätzt, so er­
misst man, wie dürftig die Erklärungen
und die Lösungen sind, die im allge­
meinen angeboten werden, ob es sich
um die so genannte „Unterkonsumti­
onsthese“ handelt oder um die These,
bei der man sich auf die Unmoral der
Banker bezieht. Die erste greift mehr
oder minder die Theorie von Jean-Bap­
tiste Say über das angenommene spon­
tane Gleichgewicht von Produktion
und Konsum auf, die in einer Tausch­
wirtschaft gelten kann, nicht aber in ei­
ner kapitalistischen Wirtschaft, in der
Produktion und Konsum zeitlich und
räumlich voneinander abgetrennt sind.
Es ist inzwischen festgestellt wor­
den, dass infolge der neoliberalen Kon­
terreformen 10 % der Wertschöpfung
aus den Taschen der abhängig Beschäf­
tigten in die der Kapitalisten (der Akti­
onäre usw.) geflossen sind, so dass die
„Kaufkraft“ nicht mit dem Zugewinn
an Produktivität Schritt gehalten hat.
Der Konsum ist also mit massiver Zu­
hilfenahme von Krediten und der Ver­
schuldung gestützt worden, und das hat
es möglich gemacht, eine latente Über­
produktionskrise
hinauszuschieben.
Nachdem sie durch das Platzen der
Spekulationsblase angekündigt worden
ist, tritt sie jetzt in den Schlüsselbran­
chen Bauwirtschaft und Automobilin­
dustrie in Erscheinung.
Diese neoliberale Phase ist auch
durch eine spürbare Zunahme der Un­
gleichheiten gekennzeichnet, die si­
cherlich moralisch schockierend (die
goldenen Fallschirme, außerordent­
lich hohe Bonuszahlungen, wunder­
same Erträge in Höhe von 15 % bei
einem durchschnittlichen Wachstum
unter 5 %!), aber nichtsdestoweniger
funktional ist: Diese deutliche Zunah­
me hat es ermöglicht, das Schrumpfen
des Konsums des größten Teils der Be­
völkerung zum Teil durch eine Auswei­
tung des Luxuskonsumsektors zu kom­
pensieren. Wenn jetzt die Unternehmer
der Raffgier beschuldigt werden, dient
das der Ablenkung. Damit wird insbe­
sondere die politische Verantwortung
der rechten und linken Regierungen
verschleiert. Die Deregulierung ist
kein ökonomisches Phänomen, das so
schicksalhaft ist wie die so genannten
Naturkatastrophen (bei denen das, ne­
benbei bemerkt, auch nicht immer der
Fall ist): Es waren über 20 Jahre hin­
weg gesetzliche Maßnahmen notwen­
dig, um die Börsen zu deregulieren, die
Kapitalflüsse zu liberalisieren, die öf­
fentlichen Dienste zu privatisieren, die
Patentierung des Wissens und von Le­
bendigem voranzutreiben usf.
Der Ausdruck „Kasinowirtschaft“
bezeichnet also nur ein Phänomen, das
Marx bereits in den Theorien über den
Mehrwert und im Kapital beschrieben
hat, nämlich das des Geldfetischismus,
des „fiktiven Kapitals“, das Wunder
vom Geld, das angeblich durch Selbst­
vermehrung Geld machen würde, oh­
ne ein Zutun von Produktion und Zir­
kulation. Die Erträge der Investitionen
in Höhe von 15 % bei einem Wachs­
tum von 4 oder 5 % waren noch wun­
derbarer als das biblische Wunder von
inprekorr 460/461
THEORIE
der Vermehrung der Brote. Das konn­
te nicht ewig so weitergehen; es war
zwar nicht möglich, das Datum und
den Auslöser der Krise vorauszusehen,
aber man musste kein Diplom von der
London School of Economics haben,
um zu verstehen, dass sie unausweich­
lich war.
Was die Fabel von der Bekehrung
des Kapitalismus zur Moral angeht,
so liegt auf der Hand, wie nichtig sie
ist. Dadurch dass er die Wegwerf-Be­
schäftigten als „Variablen der Anpas­
sung“ behandelt hat, hat der Kapitalis­
mus die Menschen stets als Mittel und
nicht als Zweck behandelt. Die utilita­
ristische Philosophie gibt das offen zu,
und Marx hat das sehr schön auf den
Punkt gebracht, als der auf den ersten
Seiten des Kapitals geschrieben hat,
dass an der Pforte der Hölle der Aus­
beutung geschrieben steht „No entry,
except for business.“3 Kein Eintritt,
geschäftliche Angelegenheiten ausge­
nommen. Anders ausgedrückt: Moral
bitte am Eingang abgeben.
Nun zu einer schwierigen, wenngleich alten Frage, die auf die Diskussion über Reform oder revolutionären
Bruch verweist, doch in einem neuen
Kontext, nämlich dem des triumphierenden Neoliberalismus und dessen,
was wir Sozialismus des 21. Jahrhunderts nennen. Ist der Kapitalismus 400
Jahre nach seinem Entstehen am Ende
seines Wegs, und ist er nur noch stark
wegen der Schwäche und der Uneinigkeit derjenigen, die ihn in Frage stellen? Kann man sich einen Weg aus der
Krise heraus vorstellen, der etwas anderes wäre als Krieg oder ein Faschismus in einer Version des 21. Jahrhunderts? Kann man sich eine Art von
Neokeynesianismus vorstellen, der
mit der Kraft der sozialen und ökologischen Kämpfe durchgesetzt wird und
sich auf ein breites Bündnis stützen
könnte, das aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft hervorgeht? Diese Frage ist weder theoretisch noch spekulativ. Aus der Antwort, die man darauf
gibt, leiten sich unterschiedliche programmatische und organisatorische
Vorstellungen der verschiedenen Strömungen her, die sich auf den Sozialis3 Eigentlich: „No admittance except on busi­
ness.“ (Das Kapital. Kritik der politischen
Ökonomie, Erster Band, MEW, Bd. 23, S. 189,
4. Kapitel, Unterkapitel „3. Kauf und Verkauf
der Arbeitskraft“.)
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mus berufen. Direkter formuliert: Soll
man politisch dafür kämpfen, dass die
Widerstandskräfte sich gegen die neoliberalen „Übertreibungen“ oder gegen
den Kapitalismus zusammenschließen
und in Bewegung setzen?
Eine schwierige Frage … Ich möch­
te von Anfang an die Idee von einer
Endkrise des Kapitalismus verwerfen,
wie sie die Zusammenbruchtheoretiker
wie Eugen Varga in der „dritten Perio­
de der Irrtümer der III. Internationale“
vertreten haben. Wahrscheinlich gibt
es einen Ausweg, das Problem ist, zu
welchem Preis und auf wessen Rücken.
Der Preis für den Ausweg aus der Kri­
se von 1929 war für die Unterdrückten
und Ausgebeuteten exorbitant hoch:
Faschismus, ein Weltkrieg und die zeit­
weilige Konsolidierung eines schein­
bar siegreichen Stalinismus. Man muss
sich aber davor hüten, die Geschichte
in Form einer Wiederholung des glei­
chen zu denken, das führt zum Risiko,
für das, was sie an noch nicht da Ge­
wesenem und Überraschendem bringt,
blind zu bleiben. Niemand weiß, was
heutzutage die Kombination der öko­
nomischen, sozialen und ökologischen
Krisen ergeben kann.
Wenn der Kapitalismus als vorherr­
schendes System – ihr habt ja daran er­
innert – erst vier oder fünf Jahrhun­
derte alt ist, so ist es hingegen gewiss,
dass er nicht ewig ist. Was kann es jen­
seits von ihm geben? Das hängt, so hät­
te Heraklit gesagt, von der Notwendig­
keit und vom Kampf ab. Welches Über­
schreiten des Kapitalismus ist vorstell­
bar? Das ist keine Frage eines Mo­
dells oder eines utopischen Fernziels.
Es geht darum, in den gegenwärtigen
Kämpfen, in der „realen Bewegung“,
die der Tendenz nach auf Beseitigung
der bestehenden Ordnung aus ist, den
Keim des Möglichen aufzuspüren. Für
mich befindet sich dieser Keim in der
Gegnerschaft einer solidarischen Logik
(des Gemeinwohls, des öffentlichen
Diensts, der gesellschaftlichen Aneig­
nung) zur Konkurrenzlogik des pri­
vaten Eigentums und des egoistischen
Kalküls. Das habe ich unter anderem in
[dem Buch] Les Dépossédés4 zusammenfassend dargestellt.
Die Frage (und die Zweifel) beziehen sich in Wirklichkeit eher darauf, was mit den Kräften ist, die da-
zu imstande wären, diese große soziale
Transformation zu vollbringen. Anfang
der sechziger Jahre hat Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch
die Frage aufgeworfen, ob es noch
möglich ist, den Teufelskreis der Herr­
schaft zu durchbrechen. Er stellte sie in
Bezug auf die Konsumgesellschaft, die
Überfluss, Befriedigung der Bedürf­
nisse, restlose Integration der subver­
siven Fähigkeiten des Proletariats zu
verheißen schien. Seine Suche nach so­
zialen Ersatz-Subjekten (die Studieren­
den) ist gescheitert. Vom Fetischismus
zum Spektakel (Guy Debord, 1967),
vom Spektakel zum Trugbild (Jean
Baudrillard, 1981) ist der Teufelskreis,
so scheint es, unaufhörlich perfekter
und geschlossener geworden. Aller­
dings sind wir jetzt weit weg von den
Mythen des Überflusses, der in Reich­
weite sei, und die sozialen Kämpfe,
auch der Klassenkampf, nehmen wie­
der an Intensität zu. Die neue Frage ist,
wie ich es sehe, die nach dem Aufbau
eines neuen hegemonialen historischen
Blocks ausgehend von der nicht zu be­
seitigende Pluralität der Widersprüche
und Herrschaftsformen und der nicht
zu beseitigenden Pluralität (und Un­
vereinbarkeit) der verfügbaren Zeit für
verschiedene Lebensbereiche5.
Die Weltsozialforen geben in die­
ser Hinsicht wertvolle Hinweise. Was
bewirkt es, dass so unterschiedliche
Bewegungen wie Industriegewerk­
schaften, feministische, ökologische,
kulturelle Bewegungen etc. dort zu­
sammenkommen? Der große Vereini­
ger ist meiner Ansicht nach das Ka­
pital selber: Seine globalisierte syste­
mische Logik generiert das Bedürf­
nis nach anti-systemischen Antworten.
All dies läuft aber auf eine andere Fra­
ge hinaus, die den Rahmen dieses Ge­
sprächs sprengt, die der Verknüpfung
von sozialen und politischen Kämpfen,
von sozialen Bewegungen und Parteien
zwischen sozialen Protesten und insti­
tutioneller Repräsentation.
Wenn es darum geht – denn das ist
die Frage –, ob „für den post-liberalen
Kapitalismus ein Leben möglich ist“,
so wäre die Antwort: Wahrscheinlich
ja, aber welches Leben? Vor der Pro­
klamation, dass eine andere Welt mög­
lich ist, wie wir es auf den Sozialfo­
ren getan haben, muss man sich zuerst
4 Daniel Bensaïd, Les dépossédés. Karl Marx,
les voleurs de bois et le droit des pauvres, Pa­
ris: La fabrique, 2007.
5 Im Original heißt es temps sociaux, das ist
u. A. die Zeit für. Schlaf, Arbeit, Haushalt, Er­
ziehung, Erholung usw. [Anm. d. Red.]
51
THEORIE
dessen vergewissern, dass sie notwen­
dig ist. Es geht also darum, sie möglich
zu machen. Und diese andere Welt darf
sich nicht damit begnügen, die Über­
treibungen und Missbräuche des Ka­
pitalismus (die in sein Betriebssystem
eingeschrieben sind) zu korrigieren.
Sie macht es erforderlich, dass die tod­
bringende Logik des Kapitalismus zer­
brochen wird.
Die Hypothese des notwendigen revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus bekommt sicherlich Kraft und Substanz durch die spektakuläre Unfähigkeit der herrschenden politischen Klassen, zufrieden stellende Erklärungen
für und Antworten auf die Krise zu liefern. Im Wesentlichen sind es die gleichen, die sich nun als Feuerwehrleute
aufführen, nachdem sie den Brand gelegt haben. Diese Unfähigkeit finden
wir auf der Ebene der Ideen aber auch
bei den Intellektuellen der Kreise, die
in den letzten 30 Jahren die Welt in der
Art von Friedman erklärt haben. Bei
ihnen ist ebenfalls nichts als Leere. Es
ist zu merken, dass sie nicht in der Lage sind, neue Vorstellungen zu formulieren, es sei denn einen grünen Kapitalismus mit vagen und ungenauen
Umrissen. Ihre Antworten sind ansonsten oft unbedeutend und bestehen in
Schuldzuweisungen… Die Kämpfe der
Unterklassen sind hart und vorwiegend
defensiv. Mit dem Rücken zur Wand
versucht man, dem Verlust von Arbeitsplätzen, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, der Teuerung entgegenzutreten. Im wesentlichen geht es
darum, die Schäden der Krise in den
Griff zu bekommen und zu begrenzen.
Wie ist diese Kluft zwischen der Härte der Konfrontationen und der Begrenztheit sowohl der Ziele wie der Ergebnisse zu erklären, die so eindeutig
von den großen Kämpfen der keynesianischen Periode absticht? Wie ist die
Inflexibilität der herrschenden politischen Klassen zu erklären, die nicht
minder eindeutig von einer gewissen
Plastizität des gestrigen Kapitalismus
absticht? Die gebieterischen Vorgaben
der globalisierten Konkurrenz erklären
nicht alles; es gibt sicher noch andere Faktoren – welche sind das? Außerdem nährt die sehr reale Gefährdung,
die die Beeinträchtigung unserer Umwelt für die Menschheit bedeutet, ein
tief sitzendes Gefühl der Dringlichkeit,
vor allem unter den Jugendlichen. Kön52 nen wir uns letzten Endes den Luxus einer Mäßigung noch leisten? Ist die radikale Perspektive nicht zu einer gebieterischen Notwendigkeit geworden, auf
die sich unser Recht auf Revolte gründet?
Dass die Kämpfe der Bevölkerung,
die vielfach hart und lang geführt wer­
den, einen defensiven Charakter haben,
ist nicht erstaunlich. Das 20. Jahrhun­
dert ist mit einer historischen Nieder­
lage der Hoffnungen auf Emanzipati­
on zu Ende gegangen. Es geht weder
ausschließlich noch hauptsächlich, wie
man manchmal zu glauben geneigt ist,
um eine ideologische Niederlage; näm­
lich die Diskreditierung des kommu­
nistischen Projekts in Anbetracht des
Scheiterns des real nicht existierenden
Sozialismus, wie er von dem bürokra­
tischen Despotismus verkörpert wor­
den ist. Es geht vor allem um eine so­
ziale Niederlage, die mit der Verdop­
pelung der Arbeitskräfte in weniger als
20 Jahren, die auf einem globalisierten
und deregulierten Weltmarkt der Arbeit
in Konkurrenz miteinander zur Ver­
fügung stehen, gut auf den Punkt ge­
bracht wird. Dieser Umstand wirkt sich
heftig auf die gesellschaftlichen Kräf­
teverhältnisse auf internationaler Ebe­
ne aus, bis hin zu den Widerständen
in China, in Osteuropa, in Russland,
die sich erst langsam entwickeln und
in neuer gewerkschaftlicher und poli­
tischer Organisierung zum Ausdruck
kommen. Das wird schließlich gesche­
hen, aber es hat ein Wettlauf begonnen,
und dabei können die Katastrophen des
21. Jahrhunderts, die sozialen und die
ökologischen Katastrophen, leider vorn
liegen.
Zugleich löst die einschneidende
Krise natürlich Reaktionen aus, die
zwar defensiv sind (um klar zu ma­
chen, welch ein Weg rückwärts zurück­
gelegt worden ist, genügt es, daran zu
erinnern, dass ein Kongress der fran­
zösischen Richtergewerkschaft [Syn­
dicat de la Magistrature] 1985 für die
Beseitigung der Gefängnisse gestimmt
hat!), doch radikal und gelegentlich ge­
waltförmig. Als sei eine Menge abhän­
gig Beschäftigter hin und her geris­
sen zwischen Angst (legitimer Angst
vor der Arbeitslosigkeit) und Wut we­
gen so viel Ungerechtigkeit und Un­
gleichheit. Die Frage, wer oder was,
die Angst oder die Wut, die Oberhand
behalten wird, ist nicht entschieden.
Wenn es die Angst ist, wird es ein all­
gemeines Rette-sich-wer-kann geben,
den Krieg aller gegen alle und die Zu­
nahme von Rassismus und Fremden­
feindlichkeit, wofür bereits Vorzeichen
zu erkennen sind.
Selbstverständlich ist der Verlust
des Vertrauens in alternative Lösungen
oder „Modelle“ auch ein schweres
Handicap. Das kommt in der Versu­
chung zum Ausdruck, sich auf einen
falschen, minimalistischen Realis­
mus und auf eine Politik des kleineren
Übels zurückzuziehen, aus der sich die
großen Enttäuschungen und die großen
Entmutigungen speisen. Es sind aber
bereits Anzeichen für ein erneutes po­
litisches Engagement, sicherlich bei
Minderheiten, doch auch bei den Jün­
geren. Nach dem, was ich das utopische
Moment von Ende der neunziger Jah­
re und Anfang dieses Jahrzehnts nen­
nen möchte, das dadurch gekennzeich­
net war, dass man die „neuen sozialen
Bewegungen“, die als von Natur aus
einwandfrei betrachtet wurden, und die
politischen Parteien, die als altbacken
galten, einander entgegengestellt hat,
belegt die Krise, dass die Selbstgenüg­
samkeit der sozialen Bewegungen ei­
ne Illusion ist und dass es notwendig
ist, in Anbetracht der Unnachgiebigkeit
der herrschenden Klassen wieder eine
politische Perspektive herauszubilden.
Denn, wie ihr sagt, sie sind in der
Tat unnachgiebig. Wegen der Krise tun
sie so, als ergriffen sie kosmetische
Maßnahmen, um den Kapitalismus
moralischer zu gestalten. Wie wenige
konkrete Entscheidungen aber bei dem
Gipfel der G 20 [im April 2009 in Lon­
don] herausgekommen sind, zeigt, dass
die Grenzen der Absichtserklärungen
rasch erreicht sind. Während der Krise
geht die liberale Konterreform auf den
Gebieten Bildung, Gesundheit, Arbeits­
recht usf. weiter. Warum diese Unnach­
giebigkeit? Vielleicht weil die Strate­
gen der herrschenden Klassen trotz der
Diskurse von einer „Neubegründung
des Kapitalismus“ oder einem „Green
New Deal“ sehr gut wissen, dass ei­
ne Rückkehr zu keynesianischer Poli­
tik (unter der Voraussetzung, das ginge
im Rahmen einer globalisierten Öko­
nomie) heißen würde, dass man wie­
der vor den Widersprüchen steht, die
man mit der liberalen Konterreform
angehen wollte. Auf ihre Weise stellen
sie ein starkes Klassenbewusstsein un­
ter Beweis: Der Weg aus der Krise he­
raus bedeutet für sie, dass es notwendig
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THEORIE
ist, den beherrschten Klassen eine noch
schwerere historische Niederlage bei­
zubringen und mit dem, was von den
sozialen Errungenschaften der vorher­
gehenden Periode noch geblieben ist,
Schluss zu machen.
In Anbetracht dieses „reinen Kapi­
talismus“ (wie Michel Husson es aus­
gedrückt hat6) ist ein reiner Antikapita­
lismus notwendig, um die drohende so­
ziale und ökologische Katastrophe ab­
zuwenden.
Seit der großen Krisenperiode der
Jahre 1910 bis 1950 ist es den Linken
mehr oder minder gelungen, die Zuckungen des Kapitalismus richtig zu
„lesen“. Es hat natürlich Ausnahmen
gegeben, wie das Moment von Petrograd 1917 oder das vom Yenan 19407.
Aber meistens hat die Unfähigkeit
der Linken, die Krisen zu denken, zu
schweren Fehlern geführt: sei es, dass
sie zu schnell voran wollte und zu optimistisch war (Berlin 1923), sei es, und
das war in den meisten Fällen so, dass
sie sich nicht schnell und weit genug in
Bewegung gesetzt hat. Man kann sich
rechtfertigen, indem man sagt, die Geschichte ist nicht lesbar wie eine Kristallkugel, und der Marxismus ist nicht
ein Kompass, der nicht falsch gehen
kann, oder eine Software, aber reicht
das aus? Auf der Linken gibt es ein dramatisches Pendeln zwischen einer abwartenden Haltung, die von Ökonomismus geprägt ist, einer Art von Fatalismus auf der einen und einem Ultravoluntarismus auf der anderen Seite, als
sei alles möglich und das sofort. Diese
beiden Haltungen haben übrigens eine
gemeinsame Grundlage, einen fast religiösen Glauben an den „Fortschritt“,
an das unvermeidliche Heraufziehen
des Sozialismus … Du begreifst die Politik als einen Knoten, verflochten mit
Weggabelungen und Möglichkeiten,
leider auch mit Rückschlägen, was
im Verhältnis zu der ökonomistischen
Sicht der Geschichte einen Schritt nach
vorn darstellt. Ist es möglich, noch ein
wenig weiter zu gehen? Was wäre beispielsweise zu tun, um die Isolation ei6 Michel Husson, Un pur capitalisme, Lausan­
ne: Editions Page deux, 2008; dt. Ausg.: Kapitalismus pur. Deregulierung, Finanzkrise und
weltweite Rezession. Eine marxistische Analy­
se, Köln: Neuer ISP Verlag, 2009.
7 Yen-an (Yan’an) ist eine Millionenstadt im
Norden der Provinz Shaanxi (Nordwestchi­
na); von 1937 bis 1947 politisches und mili­
tärisches Zentrum der kommunistischen Partei
unter Führung von Mao Zedong.
inprekorr 460/461
ner Schicht von voluntaristischen, begeisterten, vor allem aus Jüngeren bestehenden Schicht von AktivistInnen zu
vermeiden, in einer Welt, die weitgehend routinemäßig funktioniert und in
einer Art von Schlafwandelei feststeckt,
um den berühmten Ausdruck von Hermann Broch8 aufzugreifen?
Die „Illusionen des Fortschritts“
sind seit langer Zeit ziemlich stark
mitgenommen, mindestens seit einem
Büchlein von Georges Sorel, das schon
vor 1914 diesen Titel getragen hat.
Dann hat es nach dem Ersten Weltkrieg
Valéry mit seinen Blicken auf die ge­
genwärtige Welt, den Freud des Unbehagens an der Zivilisation, Benjamins
Thesen zum Begriff der Geschich­
te gegeben. Heute wissen wir, unter
Zutun der ökologischen Krise, besser
denn je, dass die Zivilisationen sterb­
lich sind und dass wir selber eine of­
fene Geschichte ohne Jüngstes Gericht
machen.
„Was wäre zu tun, um die Isolati­
on einer Schicht von voluntaristischen
AktivIstinnen zu vermeiden?“ fragt ihr.
Wenn wir das wüssten! Das Eigentüm­
liche (und die Größe) einer profanen
Politik, ohne göttliche und ohne wis­
senschaftliche Garantie, besteht eben
in dem „Arbeiten für das Ungewisse“
(wie eine alte Formulierung des Kir­
chenvaters Augustinus lautet). Das re­
volutionäre Engagement hat unver­
meidlich die Form einer Wette, gewiss
einer durchdachten Wette, so luzid wie
möglich, es gibt aber keine exakte Wis­
senschaft der Revolutionen. Um die
Welt zu verändern, was dringender ist
denn je, sind wir zur Bastelei verurteilt,
ohne Gewissheit des Gelingens, aber
mit der Gewissheit, dass wir, wenn wir
es nicht versuchen, dazu verurteilt sind,
vor Scham zu sterben, noch bevor wir
von einer eventuellen atomaren Kata­
strophe oder einem Klimadesaster ver­
nichtet werden.
Aus dem Französischen übersetzt und
mit Anmerkungen versehen von Friedrich Dorn.
8 Hermann Broch (1886–1951), österreichischer
Textilfabrikant und ab 1928 Schriftsteller, ver­
öffentlichte zwischen 1930 und 1932 die Ro­
mantrilogie Die Schlafwandler, die den Verfall
der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland
und ihrer Werte darstellt.
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☐ Solidarabo (ab € 30)
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53
REGISTER 2009
Register nach Ländern
Titel
Antillen
Ein historischer Sieg auf den
Antillen
AutorIn
MoHeft Seite
nat
450
Argentinien
Kirchners Stern verblasst, neue
Kräfte entstehen
Guillermo Pacagnini
446
Brasilien
Internationale Konferenz der antikapitalistischen Linken in Belém
François Sabado
450
China
Kann China das kapitalistische
Jean Sanuk
System retten?
ArbeiterInnen als verfügbare Mas- Au Loong-yu
se – Chinesische Beschäftigung
im wirtschaftlichen Abschwung
Europa
Ein antikapitalistischer Pol entsteht Jan Malewski
„Nicht die Völker und ArbeiterInnen Erklärung der
sollen für die Krise bezahlen,
Konferenz der
sondern die Kapitalisten!“
europäischen
antikapitalistischen Linken
Der Neoliberalismus, flankiert von François Sader populistischen Rechten
bado
Frankreich
Auf dem Weg zu einer Neuen
Pierre Rousset
Antikapitalistischen Partei
Die Gründung der NPA
Ursi Urech
Resolution zu den Wahlen zum
NPA
Europaparlament 2009
Neue Antikapitalistische Partei –
Guillaume
ein vielversprechender Anfang
Liégard
Vierte Internationale: Beschluss zu Frankreich
Frankreich: Die „Ligue“ und die Par- François Duval
tei – eine alte Debatte
Griechenland
Ursachen und Dynamik der Revolte OKDE – Spartakos
Erfolg für die revolutionäre Linke
Tassos Anastassiadis
Großbritannien
Im Fegefeuer der Eitelkeiten
Phil Hearse
Honduras
Die Bevölkerung leistet Widerstand Erklärung des
gegen die Oligarchie und den
Büros der IV.
Imperialismus
Internationale
Indonesien
Indonesien: Wahljahr
Iran
Krise des Regimes und Mobilisierungen der Bevölkerung
Unser Platz ist an der Seite des
iranischen Volkes!
Israel
Der Überfall Israels auf Gaza aus
historischer Sicht
Italien
Eine „rückgratlose Linke“ vor den
Europawahlen
54 33
34
4
5
1
5
Lateinamerika
Argumente für den ZusammenEric Toussaint
schluss der Länder Lateinamerikas und die (partielle)
Abkopplung vom kapitalistischen
Weltmarkt
Malaysia
Zwischen Wandel und politischer Danielle Sabaï
Erstarrung
Marokko
Marokko: Resolution gegen die
Repression
Mexiko
Erklärung der Revolutionären Ar- beiterpartei (PRT) zur Schweinegrippe-Epidemie in Mexiko
448
20
3
456
34
11
Pakistan
Aufruf zur Hilfe im Kampf gegen die Tariq Ali, Farooq
Taliban und die Operationen des Tariq
pakistanischen Militärs
448
450
18
3
3
5
Palästina
Eine vorbereitete Aggression
Gilbert Achcar
Israels selbstgerechte Wut und ihre Ilan Pappe
Opfer in Gaza
Die „Ausgewogenheit“ der israeli- Michael Warschen Schöngeister
schawski
Der Überfall Israels auf Gaza aus Julien Salingue
historischer Sicht
Die Wasserkrise in Gaza
Alice Gray
Resolution zur israelischen Offensi- Internationales
ve gegen Gaza
Komitee der IV.
Internationale
Kritik der Resolution des Interna- Gabriel Lévy
tionalen Komitees der IV. Internationale zur israelischen Offensive
gegen Gaza vom 23. Februar
2009
452
3
7
446
31
1
448
448
13
15
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3
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11
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15
5
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25
5
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7
3
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10
5
454
11
9
454
36
9
Danielle Sabaï
456
31
11
Babak Kia
454
14
9
Erklärung des
Büros der IV.
Internationale
454
15
9
Julien Salingue
448
3
3
Cinzia Arruzza
452
7
7
Portugal
Durchbruch des Linksblocks
Alda Sousa
Sri Lanka
Sri Lanka: Arbeiterorganisationen fordern Waffenstillstand
Keine Zukunft ohne eine politische Danielle Sabaï
Lösung
Ein gnadenloser Krieg hat keine
Büro der IV.
politische Lösung gebracht
Internationale
USA
Das doppelte Mandat des Barack
Obama
Solidarity
446
40
1
452
16
7
450
32
5
452
36
7
452
4
7
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3
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1
1
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6
1
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3
3
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16
19
5
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11
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9
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32
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10
7
452
15
7
446
7
1
34
5
37
9
7
11
Heft Seite
Monat
Venezuela
Was wird die dritte Periode der boli- Stalin Perez
450
varianischen Revolution bringen? Borges, Carlos
Miranda
Ein Jahr nach der Verstaatlichung: Fernando Este454
Sidor probt den Weg der Partiziban, Sébastien
pation
Brulez
Der Umbau des venezolanischen Victor Alvarez R. 456
Produktionsmodells
Register nach Themen (Auswahl)
Titel
AutorIn
Buchbesprechung
Helmut Dahmer: DIVERGENZEN, Holocaust – Psychoanalyse –
Utopia
454 30
9
inprekorr 460/461
REGISTER 2009
Jan Willem Stutje, Rebell zwischen Phil Hearse
Traum und Tat. Ernest Mandel
(1923-1995)
Debatte
Die NPA, ein neuer Ansatz zum
Aufbau einer antikapitalistischen
Partei
Leninismus im 21. Jahrhundert?
In der Krise des Kapitalismus
„Ballast abwerfen“?
Frauen
Erklärung zur globalen Finanzkrise
– eine andere Welt ist nötig und
möglich!
IV. Internationale
Rolle und Aufgaben der IV. Internationale
Internationales sozialistisches
Sommercamp in Griechenland
IV. Internationale: Tagung des
Internationalen Komitees
Sismos, Sismos – Kommunismos!
Revolutionär-Sozialistisches
Sommercamp in Griechenland
454 30
9
François Sabado 456 47
11
Gabriel Lévy
B. B.
456 22
456 26
11
11
7. internationales 446 48
Treffen des
Weltfrauenmarsches
1
450
6
5
Karl Lindt
450
52
5
450
31
5
Karl Lindt
454
52
9
Krise und Linke
Europa – die Krise und die antika- François Sabado 454
pitalistische Linke
3
9
454
454
40
47
9
9
Bill Onasch
Jean-Michel
Krivine
Wilfried Dubois
446
452
43
50
1
7
454
49
9
Daniel Tanuro
448
448
39
46
3
3
Beatrice Whitaker
Daniel Tanuro
448
50
3
452
19
7
Daniel Tanuro
454
19
9
Michael Löwy
456
3
11
446
446
9
14
1
1
448
27
3
448
29
3
448
52
3
450
37
5
450
45
5
452
43
7
456
38
11
Linke
Wohin treibt die radikale Linke?
Alex Callinicos
Eine Antwort auf Alex Callinicos zu Alan Thornett
Respect
Nachruf
Peter Camejo (1939 – 2008)
Hoang Khoa Khoi (1917–2009)
Leni Jungclas (1917–2009)
Ökologie
Bali schon vergessen?
II. Internationales Manifest: Die
ökosozialistische Erklärung von
Belém
Internationale ökosozialistische
Koordination
Bericht über den Klimawandel an
das IK der Vierten Internationale
Bericht über den Klimawandel an
das IK der Vierten Internationale,
Teil II
Klimawandel: Ein Beitrag zur
Debatte
Ökonomie
Die Folgen der Krise
François Sabado
Die schlimmste Krise des Kapitalis- Joel Geier
mus seit den Dreißigerjahren
„New Deal“ und Keynesianismus – Henri Wilno
Den Kapitalismus retten
Die Hintergründe der Nahrungsmit- Eric Toussaint
telkrise
Das Weltsozialforum: Wir zahlen
Versammlung
nicht für die Krise. Die Reichen
der sozialen
müssen zahlen!
Bewegungen
Automobilindustrie – ein Zyklus
Jean-Claude
geht zu Ende
Vessillier
Krise des Kapitalismus – Protektio- Jim Porter
nistischer Sirenengesang
Die Wirtschaft in einer krisengeJean-Robert
schüttelten Welt
Brenner
Der Kapitalismus steuert auf eine Michel Husson
chaotische Regulierung zu
inprekorr 460/461
Theorie
Programmatisches Manifest der
Antikapitalistischen Linken
(Schweiz)
Was tun mit Lenins „Was tun?“
Politische Resolution der Delegiertenkonferenz des RSB
Zeit, Beschleunigung, Krise und
Klimawandel – Eine Annäherung
446
21
1
Michael Meier
446
450
26
21
1
5
Thadeus Pato
456
15
11
die Internationale
MoTitel
AutorIn
Heft Seite
nat
Erklärung zur globalen Finanzkrise 7. internationales 446 48
1
– eine andere Welt ist nötig und
Treffen des
möglich!
Weltfrauenmarsches
Programmatisches Manifest der
446 21
1
Antikapitalistischen Linken
(Schweiz)
Was tun mit Lenins „Was tun?“
Michael Meier
446 26
1
Politische Resolution der Delegier- 450 21
5
tenkonferenz des RSB
Frankreich: Die „Ligue“ und die
François Duval
450 25
5
Partei – eine alte Debatte
IV. Internationale: Tagung des
450 31
5
Internationalen Komitees
Sri Lanka: Arbeiterorganisationen 450 32
5
fordern Waffenstillstand
Marokko: Resolution gegen die
450 32
5
Repression
Bericht über den Klimawandel an Daniel Tanuro
452 19
7
das IK der Vierten Internationale
Bericht über den Klimawandel an Daniel Tanuro
454 19
9
das IK der Vierten Internationale,
Teil II
Helmut Dahmer: DIVERGENZEN, 454 30
9
Holocaust – Psychoanalyse –
Utopia
Jan Willem Stutje, Rebell zwischen Phil Hearse
454 30
9
Traum und Tat. Ernest Mandel
(1923-1995)
Kritik der Resolution des Interna- Gabriel Lévy
456 21 11
tionalen Komitees der IV. Internationale zur israelischen Offensive
gegen Gaza vom 23. Februar
2009
Leninismus im 21. Jahrhundert?
Gabriel Lévy
456 22 11
In der Krise des Kapitalismus
B. B.
456 26 11
„Ballast abwerfen“?
Indonesien: Wahljahr
Danielle Sabaï
456 31 11
55
Haiti – Solidaritätsappell
Das Erdbeben vom 12. Januar in Port-au-Prince hat in
erster Linie die einfache Bevölkerung getroffen. Außer
den öffentlichen Gebäuden, von denen zahlreiche ein­
gestürzt sind, waren es vorwiegend arme Wohnviertel,
die zerstört wurden. Dies überrascht nicht, da hier die
baufälligsten und billigsten Behausungen stehen, für
die der Staat nie einen Finger gerührt oder sich ernst­
haft um ihren Zustand gekümmert hat. Wir waren im
Gegenteil immer von Vertreibung und „Umsiedlung“
bedroht, so dass wir uns noch nicht einmal selbst um
die Sanierung unserer eigenen vier Wände hätten küm­
mern können.
Uns ArbeiterInnen und einfachen Leuten wurden
durch das Beben nicht nur die Arme gebrochen. Während
für uns die Situation eine einzige Katastrophe ist , sind
etliche Kapitalisten schon wieder dabei, ihre Beschäf­
tigten zurück zur Arbeit in die einsturzgefährdeten Fa­
briken zu schicken; weigern sich die Besitzer der Super­
märkte, ihre Waren kostenlos zu verteilen und kassieren
stattdessen überhöhte Preise; kann man überall auf der
Welt sehen, wie sich der Staat davongestohlen hat und
durch Unfähigkeit und Inkompetenz glänzt, auch wenn
er ohnehin nichts als stehlen und betrügen kann und stets
auf Seiten der Großgrundbesitzer, Bourgeois und multi­
nationalen Konzerne steht; unternimmt die Polizei, die
angeblich „schützen und dienen“ soll, nichts gegen die
katastrophalen Zustände oder gegen Gangs und Plünde­
rungen – sie ist nur dazu da, das Volk zu unterdrücken
– und profitieren die imperialistischen Mächte noch von
den Hilfsaktionen, indem sie sie in unverhüllter Dreistig­
keit zur weiteren Festigung ihrer Herrschaft nutzen und
uns nur noch weiter entmündigen.
Es gibt aber auch fortschrittliche Ansätze, die sich un­
ter Druck entwickelt haben und ein Minimum an Koor­
dination der betroffenen Regionen ermöglichen. Die da­
bei entstandenen Bevölkerungskomitees sind unentwegt
um Hilfe bemüht, hingegen mangelt es hinten und vorn
an Hilfsmitteln. Das Erdbeben hat uns nicht nur Zer­
störung gebracht, sondern wir dürfen uns nicht einmal
selbst helfen und werden komplett überrollt. Auch wenn
die meisten Kader und Mitglieder von BATAY OUVRI­
YE überlebt haben, so haben doch etliche ihre Familie
zum Teil verloren, ihr Zuhause und das wenige, das sie
hatten. Andere sind verletzt und verstümmelt und – als
wäre es nicht schon schlimm genug, unsere Toten begra­
ben zu müssen –wird uns das eigene Überleben zuneh­
mend schwieriger.
Wir versuchen so weit als möglich, die offiziellen
Kanäle zu vermeiden, aber tatsächlich wird die Lage
immer unerträglicher. Daher wenden wir uns mit die­
sem Solidaritätsappell an alle ArbeiterInnen und fort­
schrittlichen Kräfte in aller Welt und bitten darum, uns
aus dieser schrecklichen Lage zu helfen.
Für die nötigsten Dinge brauchen wir nach vorläufiger
Bestandsaufnahme:
• 50 000 $ zur Reparatur der Häuser
• 20 000 $ für dringendste Wiederbeschaffungsmaß­
nahmen
• 10 000 $ zur Versorgung der Verletzten und Verstüm­
melten
• 30 000 $ für das Überleben in der nächsten Zeit
• 10 000 $ für die Bestattung der Toten
Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Inflation
von 40 % benötigen wir also 170 000 $ an Spenden.
Andere Kräfte, zu denen wir während der letzten großen
Kampagne für einen Mindestlohn Kontakt geknüpft ha­
ben, sind in einer ähnlichen Lage und bedürfen gleich­
falls unserer Hilfe. Zudem müssen wir mit den Solidari­
tätsbewegungen, die in unseren Wohngegenden entstan­
den sind, eng zusammen arbeiten und für unsere Ideen
dort werben. Gerade weil die herrschenden Klassen den
Wiederaufbau entlang ihrer Erfordernisse planen, müs­
sen wir schleunigst unser Konzept dagegen setzen, wenn
wir nicht der nächsten Katastrophe, die sie uns bereiten,
ausgeliefert sein wollen.
Zusammen genommen benötigen wir 300 000 $ zum
Überleben und zum Aufbau einer breiten und starken
politischen Alternative, die uns wappnet, der nächsten
und bereits in extremer Form dräuenden Katastrophe
entgegen zu treten: der Herrschaft des Imperialismus im
Verband mit den herrschenden Klassen des Landes und
dem reaktionären Staat.
Wir bedanken uns im Voraus bei Allen, die uns hel­
fen wollen. Die desaströsen Umstände erfordern nicht
nur eine starke Solidarität sondern ein bewusstes Eintre­
ten für den gemeinsamen internationalen Kampf.
Wer uns unmittelbar mit Nahrungsmitteln, Wasser,
Bekleidung, Medikamenten etc. helfen will, kann sich
an unser Organisationsbüro in Port-au-Prince wenden:
BATAY OUVRIYE, Delmas 16, # 13b.
Geldspenden bitte auf das Sonderkonto von Inpre­
korr: Kto. 478 106-507, BLZ 370 100 50 (Postbank
Köln), Stichwort: HAITI
Selbstverständlich werden wir die Spenden öffent­
lich machen und über unsere Aktivitäten informieren.
BATAY OUVRIYE
Batay Ouvriye (kreolisch von frz. Bataille Ouvrière,
dt. ArbeiterInnenkampf) ist eine basisdemokratische
Gewerkschaftsorganisation in Haiti.
Übersetzung: MiWe
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