Der idiopathische Hörsturz Bei

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Der idiopathische Hörsturz
Hans-Georg Boenninghaus
B
ei einer Reihe von
Krankheiten kommt es
zu einer plötzlich auftretenden Innenohrschwerhörigkeit oder
gar vollständiger Taubheit eines Ohres. Der Hörverlust ist hier nur eines
der Symptome unter vielen anderen,
und er läßt sich auf eine bekannte
Ursache zurückführen. Das ist zum
Beispiel der Fall bei akustischen
Traumen, Schädelverletzungen, ototoxischen Medikamenten, Mumps,
Akustikustumoren, auf das Innenohr übergreifenden Infekten und
Schwerhörigkeiten im Rahmen von
hereditären Syndromen mit Erkrankungen der Augen, der Nieren oder
des Stoffwechsels (unter anderem Alport-, Refsum- , Cogan- oder
Usher-Syndrom).
Gegenüber diesem „symptomatischen" Hörverlust ist der „idiopathische Hörsturz" eine Hörstörung,
deren Ursache bisher nicht genauer
bekannt ist. Es liegt nahe, eine vaskuläre , allenfalls eine virale Genese
anzunehmen. Vieles spricht dafür,
daß eine Durchblutungsstörung der
Cochlea zugrunde liegt ( „Herzinfarkt der Otologie").
Die Blutversorgung des Innenohres erfolgt über die Arterien der
Hirnbasis durch die A. labyrinthi,
eine „Endarterie". Abschnitte des
versorgenden Gefäßgeflechtes, insbesondere in der Schneckenachse
(Modiolus), sind muskularisiert, und
es konnten zudem einige Verbindungen der Labyrinthgefäße zu Mittelohrgefäßen gefunden werden. Ein
Teil der Innenohrgefäße ist so sympathisch und parasympathisch innerviert und unterliegt damit nervalen
peripheren Regulationsmechanismen. Über eine Änderung der
Durchblutung der Innenohrgefäße,
über eine funktionelle Ischämie oder
eine Stase kann es zu einer qualitativ
oder quantitativ fehlerhaften Produktion und Zusammensetzung der
Labyrinthflüssigkeiten mit Störung
der Elektrolytregulation und Beein-
Der vaskulär bedingte
Hörsturz ist umgehend
zu behandeln, um das
Hörvermögen wiederherzustellen.
flussung der Funktion der Haarzellen kommen.
Der idiopathische Hörsturz tritt
als akute einseitige Hörstörung ohne
Schwindel, das heißt ohne vestibuläre Symptome auf. Bei gleichzeitigem
Schwindelanfall liegt ein M. Menire vor, ein Krankheitsbild, das wir
vom Hörsturz trennen und bei dem
im Beginn ähnliche, dann allerdings
den vestibulären Labyrinthanteil
einschließende, pathophysiologische
Mechanismen ablaufen dürften. Wie
klinisch-audiologische Untersuchungen beweisen, liegt bei einem Teil
Klinik
Der Hörsturzpatient verspürt
ein Rauschen und gleichzeitig einen
Druck und ein dumpfes Gefühl in einem Ohr, als ob Watte im Gehörgang steckt oder sich ein Vorhang
vor das Ohr legt. Damit ist eine
mehr oder minder starke Schwerhörigkeit verbunden. Meist besteht
auch eine Diplacusis, die Töne werden im kranken Ohr höher, gelegentlich auch einmal tiefer empfunden. Der Hörsturz tritt nicht selten
morgens ein; manche Patienten wachen damit auf. Ohne Untersuchung
wird zunächst angenommen, es handele sich um Cerumen obturans, das
beim Baden oder Duschen gequollen ist, oder es liege, ohne daß eine
Erkältung bemerkt wurde, ein Tubenkatarrh vor. Entscheidend für
die richtige Diagnose Hörsturz ist
der Nachweis, daß eine Innenohrschwerhörigkeit und keine Schallleitungsschwerhörigkeit (Mittelohrschwerhörigkeit) besteht. Diese
Feststellung kann der Praktische
A-3152 (44) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988
der Hörsturzpatienten ein auch beim
M. Menire auftretender endolymphatischer Hydrops des Ductus
cochlearis vor.
Differentialdiagnostisch abzugrenzen vom idiopathischen Hörsturz ist außerdem die plötzlich oder
in wenigen Tagen in Etappen eintretende einseitige Taubheit bei einer
Ruptur der runden Fenstermembran
mit Abfluß von Perilymphe vom Innenohr in die Paukenhöhle. Auch
hierbei tritt Schwindel auf.
Bei Verdacht auf eine Fensterruptur sind ohrenärztlicherseits sofort operative Maßnahmen zur Diagnosesicherung in Form einer Trommelfellaufklappung und gegebenenfalls Abdecken des offenen Fensters
mit Faszie oder Bindegewebe durchzuführen, ehe nach etwa einer Woche ein irreversibler Funktionsverlust eingetreten ist.
Arzt bereits durch eine Inspektion
des Gehörganges und des Trommelfells und eine einfache Stimmgabelprüfung treffen, um den Patienten
dann einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt
zur weiteren Abklärung und gegebenenfalls Behandlung zu überweisen.
Eine schwingende a1-Stimmgabel
wird auf den Schädel aufgesetzt:
Hört der Patient bei einseitiger
Schwerhörigkeit den Ton im besser
hörenden Ohr, liegt auf dem kranken Ohr eine Innenohrschwerhörigkeit vor; hört er ihn auf dem schwerhörigen Ohr, besteht ein Mittelohrschaden und somit kein Hörsturz.
Um einen Therapiebeginn nicht
zu verzögern, sollten die ersten
audiometrischen Untersuchungen
beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt möglichst noch am gleichen oder am
nächsten Tag erfolgen. Im Tonaudiogramm zeigt sich in vielen Fällen
eine Tieftonschwerhörigkeit mit eiUniversitäts-HNO-Klinik
der Ruprecht-Karls-Universität
Heidelberg
10
10
normal —• 0
normal —I> 0
10 •
•
♦•
b 20
10
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30
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50
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60
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0,125 0,25
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05
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8 12 kHz
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0,25 0 5
1 1 5 2 3 4
6 8 12 kHz
Abbildung 1: Tonaudiogramm (Luftleitung) mit Hörschwellenkur- Abbildung 2: Tonaudiogramm (Luftleitung) mit Hochtonverlust (a)
vor und (b) nach Hörsturzbehandlung
ve (Hydropskurve) (a) vor und (b) nach Hörsturzbehandlung
ner Wannen- oder Muldenbildung
der Hörschwellenkurve (Abbildung
1), wie wir sie bei einem LabyrinthHydrops zu sehen gewohnt sind
(Hydrops-Kurve beim M. Menire).
In manchen Fällen besteht aber auch
ein Hochtonverlust (Abbildung 2).
Die überschwelligen Hörmessungen
zeigen stets ein positives Recruitment (Lautheitsausgleich). Liegt eine vollständige Taubheit vor, muß
an der Diagnose eines idiopathischen Hörsturzes gezweifelt werden.
Es ist dann vielmehr mit einer irreversiblen Innenohrthrombose beziehungsweise -embolie oder mit einer
Ruptur der Membran im runden
Fenster zu rechnen.
Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt
wird in den nächsten Tagen nach begonnener Therapie einige weitere
Untersuchungen durchzuführen haben, um noch verborgene Ursachen
für die Hörstörung aufzudecken
und die Diagnose eventuell zu korrigieren. Dazu gehören audiologische Untersuchungen wie Sprachaudiometrie, Tympanometrie, Stapediusreflex-Schwellenmessung, Elektrocochleographie und die Ableitung akustisch evozierter Potentiale
(BERA = brain stem evoked response audiometry), um zum Beispiel eine retrochleäre Schwerhörigkeit beim Akustikusneurinom auszuschließen.
Darüber hinaus sind Vestibularisprüfungen durchzuführen und internistische, neurologische, ophthalmologische und unter Umständen
orthopädische Untersuchungen zu
veranlassen, weil letztere in seltenen
Fällen einmal eine HalswirbelsäuA-3154
lenveränderung aufdecken können,
die Einfluß auf die Blutversorgung
der hinteren Schädelgrube haben
kann und dann behandelt werden
muß.
Das internistische Konsil ist von
besonderer Bedeutung, wenn wir
von einer vaskulären Genese ausgehen und den Hörsturz auf eine
Durchblutungsstörung im Innenohr
zurückführen. Blutdruckänderungen, vor allem hypotone Störungen
(Hörsturz am Morgen!), aber auch
Hypertonie mit Blutdruckschwankungen müssen beachtet und behandelt werden. Das gleiche gilt für eine
kardiale Insuffizienz. Inwieweit Gefäßprozesse selber eine Rolle spielen
oder über Stoffwechselstörungen
(Hyperlipidämie, Diabetes mellitus)
Einfluß haben können, sollte überprüft werden. Vegetative Störungen, die Durchblutungsänderungen
herbeiführen, müssen berücksichtigt
werden. Nicht selten werden in diesem Zusammenhang auch eine Unterkühlung, ein Wettersturz, psychische Belastungen oder Streß-Situationen angeschuldigt und in der Vorgeschichte angegeben, die über eine
Beeinflussung der Gefäße vorübergehend zu einer Minderdurchblutung des Organs führen können.
Idiopathischer
Hörsturz therapeutisch
ein Notfall
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Spontanremissionen ohne therapeutische Maßnahmen nicht
(46) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988
selten sind, und es wird angenommen, daß sie in über der Hälfte der
Fälle entweder eintreten beziehungsweise auch ohne Behandlung
eintreten würden. Diese spontanen
Hörverbesserungen werden in den
ersten Tagen nach einem Hörsturz
bemerkt. Die Patienten kommen
nicht zum Arzt und berichten uns
erst später oder bei einem Rezidiv
davon. Ein Teil der nach kurzer
Therapiedauer beobachteten Hörverbesserungen kann durchaus der
Spontanremissionsrate zugerechnet
werden. Auch spontane Besserungen nach Monaten sind vereinzelt
beschrieben worden. Ist dann eine
Therapie überhaupt erforderlich?
Diese Frage ist uneingeschränkt
zu bejahen. Zum einen kann nicht
vorhergesagt werden, ob es im Einzelfall zur Remission kommen wird,
zum anderen ist daran zu denken,
daß eine einmal abgestorbene Sinneszelle sich nie wieder erholen wird
und wir mit unserer Therapie versuchen müssen, bei noch erholungsfähigen Zellen, mit denen wir bei einem nachgewiesenen Hydrops des
Innenohres anfangs rechnen können, eine Degeneration zu verhindern und nach Möglichkeit die
Funktion zu bessern. Nicht zuletzt
auch aus forensischen Gründen ist
eine Therapie geboten. Die Behandlung soll aus diesen Gründen auch
frühzeitig einsetzen; in diesem Sinne
ist der Hörsturz als „Notfall" einzustufen.
Das Behandlungsprinzip kann
nach allem, was wir wissen, nur in
dem Versuch bestehen, die Durchblutung des Innenohres zu fördern.
Es steht dafür eine Reihe von empfohlenen Maßnahmen zur Verfügung: Sie reichen von Sympathikusblockaden, gefäßerweiternden oder
durchblutungsfördernden Medikamenten, Kalziumantagonisten, Infusionen zur Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes und der Sauerstoffversorgung über eine hyperbare Sauerstofftherapie bis zur Fibrinolyse durch Streptokinase.
Schließlich wird eine suggestive
Hörsturztherapie mit Heilhypnose
empfohlen (Greuel).
Mit Blick auf die Spontanremissionsrate sollte unser Augenmerk
darauf gerichtet sein, durch unsere
therapeutischen Maßnahmen den
Patienten keinem Risiko auszusetzen oder ihm gar zu schaden. Jeder
Therapeut hat ein Behandlungsschema, das sich ihm bewährt hat und
auf das er schwört.
Am Beginn einer gezielten Therapie muß zunächst eine Untersuchung der Herz- und Kreislauffunktion und bei pathologischen und behandlungsbedürftigen Befunden eine internistische Medikation, unabhängig oder zusätzlich zu der Ohrbehandlung stehen. Man ist sich auch
einig, den Patienten in stationäre
Behandlung zu nehmen, vor allem
dann, wenn ein ambulanter Versuch
mit durchblutungsfördernden Mitteln unternommen wurde und nicht
innerhalb von zwei oder drei Tagen
zum Erfolg geführt hat. Das Hospitalisieren des Patienten hat zudem
den psychologisch vorteilhaften Effekt, daß der Kranke aus seinem ihn
unter Umständen überfordernden
Alltag und dem beruflichen und familiären Milieu herausgenommen ist
und zur Ruhe kommt.
Anstatt hier viele mögliche therapeutische Maßnahmen aufzuzählen, möchte ich mich darauf beschränken, das an unserer Klinik
eingeführte Behandlungsschema
wiederzugeben:
Nach der stationären Aufnahme und der Allgemeinuntersuchung werden — falls keine internistischen Gegenindikationen bestehen —
nach einmaligem Vorspritzen eines
Antihistaminikums 10 Tage lang Infusionen mit HAES-steril 10prozentig (Hydroxyethylstärke 500 ml täglich über Stunden) unter Zusatz von
(NaftidrofurylhydroDusodril-PI
genoxalat 20 ml) gegeben. Für reichliche Flüssigkeitszufuhr ist zu sorgen.
• Kommt es nicht in wenigen
Tagen zu einem Nachlassen des
Druckgefühls, des Rauschens und
der Diplacusis im Ohr und einer
Hörverbesserung, werden dem Patienten bis zum 50. Lebensjahr Stellatum-Blockaden angeboten und bei
Zustimmung einige Tage lang durchgeführt (täglich 10 ml Novocain
1prozentig ohne Suprarenin-Zusatz).
• Zeigt sich nach 10 Tagen und
Abschluß der HAES-Infusionen keine Wiederherstellung oder nur eine
ungenügende Verbesserung des
Hörvermögens, werden nach Vorspritzen von Promit (20 ml Dextran
i. v. ; Hapten zur Vermeidung einer
allergischen Reaktion) weitere 10
Tage lang Infusionen mit Rheomacrodex 10prozentig (Dextran 40, 500
ml täglich über Stunden), ebenfalls
unter Zusatz von Dusodril PI, gegeben. Die Leber- und Nierenfunktionen sind zu überprüfen.
• Nach der Entlassung aus der
stationären Behandlung werden
dem Patienten noch für wenige Wochen Dusodril retard Dragees (zunächst 3mal täglich, später 2mal täglich 1 Dragee) verordnet. Eine geregelte Lebensführung unter Vermeidung von Streß-Situationen und psychischen Insulten sowie Einschränken von Nikotin und Alkohol werden empfohlen.
Prognose
des idiopathischen
Hörsturzes
Nach den vorliegenden Statistiken ist eine Frühbehandlung wichtig
und erfolgreich. Bei einem ersten
Hörsturz, vor allem bei Tieftonschwerhörigkeit, erfolgt eine Restitutio bei Therapiebeginn in der ersten Woche in 90 Prozent der Fälle.
Darunter verbergen sich sicher eine
Reihe von Spontanheilungen. Eine
später einsetzende Behandlung zeigt
weniger gute Ergebnisse. Nach Wochen sind nur noch vereinzelte Besserungen zu erwarten.
A-3156 (48) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988
Eine ungünstigere Prognose haben von vornherein Hochtonschwerhörige, Kranke mit pancochleärem
Hörverlust und ältere Patienten.
Das gleiche gilt bei Hörsturzrezidiven oder bei Hörverlusten, die vorgeschädigte Ohren treffen. In beiden Fällen muß man daran denken,
daß es sich nicht um einen idiopathischen Hörsturz, sondern um ein
Symptom einer anderen definierten,
aber noch nicht erkannten Erkrankung handelt.
Eine besondere Situation ist gegeben, wenn ein Ohr bereits früher
ertaubt ist und nun der Hörsturz —
nicht selten mit fluktuierendem Hörvermögen — das bislang einzig hörende Ohr trifft. Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen muß dann in
einigen Fällen mit einem Immungeschehen gerechnet werden (McCabe). Es gibt Anzeichen dafür, daß
eine Auto-Antigen-Antikörper-Reaktion gegen das früher zugrundegegangene Innenohrgewebe der ertaubten Seite abläuft. Bei diesen Patienten können bei begründetem
Verdacht oder bei Nachweis von
Antikörpern Kortikosteroide, Plasmapheresen und unter Umständen
Immunsuppresiva indiziert sein.
Literatur
1. Boenninghaus, H.-G.: Die Behandlung des
plötzlichen Hörausfalls. Fortschr. Med. 82
(1964) 769
2. Feldmann, H.: Sudden hearing loss: A clinical survey. Adv. Otorhinolaryngol. 27
(1981) 40
3. Greuel, H.: Suggestivbehandlung beim Hörsturz. HNO 31 (1983) 136
4. Lehnhardt, E.: Klinik der Innenohrschwerhörigkeiten. Arch. Oto-Rhino-Laryngol.
Suppl. I (1984) 58
5. McCabe, B. F.: Autoimmune sensorineural
hearing loss. Ann. Otol. Rhinol. Laryngol.
88 (1979) 585
6. Neveling, R.: Die akute Ertaubung. Kölner
Univ. Verlag, 1967
7. Stange, F.; Neveling R.: Hörsturz, in: Berendes, Link, Zöllner (Hrsg.): Hals-NasenOhrenheilkunde in Klinik und Praxis. 2.
Aufl. Bd. 6, Kap. 45. G. Thieme Stuttgart
(1980)
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med.
Hans-Georg Boenninghaus
Ehemaliger Direktor der
Universitäts-HNO-Klinik
Im Neuenheimer Feld 400
6900 Heidelberg 1
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