123 13. GERIATRIE UND GERONTOLOGIE: 1. GRUNDLAGEN DER ALTERSFORSCHUNG: * Unterscheide: -> Gerontologie: -> Geriatrie: = Lehre vom Alterns = Lehre von den Krankheiten im Alter * Ab wann ist ein Mensch alt? -> es gibt kein objektives Kriterium -> Definition oft aufgrund von sozialen Kriterien (z.B. Pensionierung), kulturelle Unterschiede -> heute: > „junge Alte“: 65 - 74 Jahre > „alte Alte“: über 75 Jahre > Hochbetagte: über 80 Jahre * Probleme bei der Altersforschung: Mehrere Einflußfaktoren, ob eine Variable (z.B. kognitive Leistungsfähigkeit) durch den Alterungsprozeß verändert wird: -> Alterseffekte: = Effekte, die direkt auf den Alterungsprozeß zurückzuführen sind -> Kohorteneffekte: > „Kohorte“ = alle in einem bestimmten Zeitraum geborenen Menschen (z.B. 1920-1929); > innerhalb einer Kohorte haben viele dieselben Ereignisse erlebt (z.B. 2. Weltkrieg) > psychologische Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen sind auch auf unterschiedliche Lebensbedingungen zurückzuführen, nicht nur auf das Alter! -> Meßzeitpunkteffekte: treten bei Längsschnittuntersuchungen auf (z.B. wenn zwischen 1. und 2. Meßzeitpunkt Gesundheitsförderungs-Kampagne -> VP zum 2. Zeitpunkt gesünder! KEIN Zusammenhang mit dem Alter) * Forschungsparadigmen: -> Defizit-Modell: Im Alter lassen nicht nur die physischen, sondern auch die psychischen Fähigkeiten „automatisch“ nach (bis in die 80er Jahre gültig; gilt heute aufgrund empirischer Befunde als überholt) 124 -> Kompetenz-Modell: Mensch verfügt über lebenslanges Entwicklungspotential; manche Fähigkeiten lassen im Alter nach, andere sind selbst in hohem Alter noch steigerbar; vgl. CATTELL: > fluid intelligence läßt im Alter nach (speed) > crystallized intelligence nicht (power) Abbau von Fähigkeiten kann durch Übung positiv beeinflußt werden („use it or lose it“) * Alter ist KEINE Krankheit! (Mehrzahl der über 65Jährigen bezeichnen ihren körperliche Gesundheitszustand als gut oder zufriedenstellend und sind auch psychisch gesund) 2. PSYCHOPATHOLOGIE DES ALTERS * Unterscheiden sich psychische Störungen bei Alten und Jungen? -> grundsätzlich können alle Störungen des Erwachsenenalters auftreten -> Prävalenz bei den über 65Jährigen = 10-25% * Besonderheiten: -> hirnorganische Störungen sind im Alter häufiger -> Multimorbidität ist im Alter hoch (d.h. Menschen leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig, die sich gegenseitig beeinflussen) A) HIRNORGANISCH BEDINGTE STÖRUNGEN: a) Demenz: * = Syndrom, das infolge einer Gehirnerkrankung entsteht -> verläuft meist chronisch oder progressiv -> gekennzeichnet durch multiple Störung der höheren kortikalen Funktionen (Gedächtnis, Denken, Orientierung, Verständnis, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Urteilsfähigkeit) -> Bewußtsein ist nicht getrübt -> vor oder gleichzeitig mit den kognitiven Beeinträchtigungen meist Verschlechterungen > der emotionalen Steuerung > des Sozialverhaltens > der Motivation 125 * Epidemiologie: Ein-Jahres-Inzidenz: 30-59: 0,01% 60-69: 0,1% 70-79: 0,7% über 80: 2% Prävalenz: verdoppelt sich ab 65 alle 5 Jahre * 4 Hauptformen der Demenz (ICD-10): -> Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT): 30 - 60% -> vaskuläre Demenz (z.B. Multi-Infarkt-Demenz) -> andere Formen der Demenz (z.B. Creuzfeldt-Jakob) -> Demenz NNB behandelbare Ursachen bei 5-10% aller Demenzen 1) Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT): * Diagnosekriterien: ICD-10 DSM-IV Psychopathologie -> Abnahme des Gedächtnisses -> Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten -> Gedächtnisstörungen -> mindestens 1 der folgenden Symptome: - Aphasie - Apraxie - Agnosie - Störung der exekutiven Funktionen -> Verminderung - der Affektkontrolle - des Antriebs - des Sozialverhaltens Ausschlußkriterien -> keine Bewußtseinstrübung -> kein Delir Alltagsrelevanz -> Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens („activities of daily living“; ADL) -> deutliche Störung im sozialen / beruflichen Bereich und deutliche Minderung gegenüber früher Dauer -> seit mindestens 6 Monaten 126 * Entstehung und Verlauf: -> Ätiologie = unbekannt > genetische Veranlagung? > slow viruses? > Autoimmundefekte? -> diskutierte Risikofaktoren: > genetische Faktoren (Apolipoprotein-E-Allelstatus) > Morbus Down, Morbus Parkinson, endogene Depression, Schädel-HirnTrauma -> Neuropathologie: > Amyloid-Plaques (= wachsartige Ablagerungen im Gehirn) > neurofibrilläre Tangles (= verknäuelte Proteinfäden in den Neuronen) > Gehirnatrophie (Gehirnvolumen reduziert, Ventrikel erweitert) * Verlauf: -> je früher der Beginn, desto schneller -> Tod im Durchschnitt nach 10-12 Jahren -> 3 Stadien (Unterscheidung nach „selbständiger Lebensführung“): > selbständige Lebensführung weitgehend erhalten > selbständige Lebensführung eingeschränkt möglich > selbständige Lebensführung nicht mehr möglich 2) vaskuläre Demenz: * Symptomatik: -> meist ungleichmäßige kognitive Beeinträchtigung > Gedächtnisverlust > intellektuelle Beeinträchtigungen > neurologische Herdzeichen (z.B. Gesichtsfeldausfälle) -> Einsicht und Urteilsfähigkeit können relativ lange gut erhalten bleiben * Ätiologie: -> dementielles Syndrom entsteht durch viele kleine oder mehrere größere Infarkte im Gehirn aufgrund von Arteriosklerose („Verkalkung“) -> Verstopfung eines Blutgefäßes bewirkt Absterben von Gehirngewebe * Beginn: meist in höherem Lebensalter * Verlauf: -> oft plötzlicher Beginn -> schrittweise Verschlechterung der Symptomatik -> dazwischen Plateauphasen 127 * Risikofaktoren: wie bei anderen Gefäßerkrankungen (z.B. hoher Cholesterinspiegel, Rauchen, wenig Bewegung,...) Psychologische Demenzdiagnostik: a) 1. Diagnose der Demenz: * Anamneseerhebung * Fremdanamnese mit Angehörigen (wichtig, wenn schon stärkere kognitive Beeinträchtigung vorhanden!) * „Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz vom Alzheimer-Typ, der Multi-Infarkt-Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD-10“ (SIDAM) * „Demenztests“ (z.B. > MMSE = Mini Mental Status Examination; > SKT = Syndrom-Kurztest > ADAS = Alzheimer’s Disease Assessment Scale > BAT = Berliner Amnesietest * kognitive Leistungstests: z.B. > NAI = Nürnberger Alters-Inventar > AKT = Alters-Konzentrations-Tests * neurologische Tests * Fremdratingskalen (z.B. Reisberg-Skalen) * ADL-Skalen b) Differentialdiagnostik: auszuschließen sind * leicht kognitive Störung * Delir * isolierte kognitive Störungen * Pseudodemenz bei Depression c) Diagnose der DAT: * Ausschluß aller anderen Ätiologien * Nachweis des typischen Verlaufs * Stützen der Diagnose durch bildgebende Verfahren d) Diagnose der vaskulären Demenz: * Risikofaktoren-Anamnese: Ischämie-Skala (HACHINSKI) 128 Behandlung und Prävention: a) Elemente der Behandlung: * Förderung der Selbständigkeit: -> Betroffene sollen möglichst lange in möglichst vielen Bereichen selbständig bleiben (bzw. wieder werden) -> Überforderung vermeiden (Frustration!) * symptomatische Behandlung der Gedächtnisstörung: -> kognitives Training (zur Verbesserung des Gedächtnisses) -> Training von kompensatorischen Strategien („Gedächtnishilfen“) -> Reduktion der Anforderungen an das Gehirn durch entsprechende Gestaltung der Umwelt * Training anderer kognitiver Fähigkeiten * Realitäts-Orientierungs-Training * emotionale Unterstützung der Betroffenen * Stützen des sozialen Netzes (Angehörige), Information * Validation (entwickelt von Naomi FEIL): Methode für den verstehenden Umgang mit desorientierten Menschen * Nootropika: -> = Medikamente, die die kognitiven Leistungen verbessern sollen -> sind noch umstritten * wenn möglich, zusätzlich Behandlung der Ursachen / Risikofaktoren b) Prävention: * Minderung der Risikofaktoren * Früherkennung, um rechtzeitig entsprechende Unterstützungsmaßnahmen einleiten zu können b) Delir: * Symptomatik: gleichzeitig bestehende Störungen von -> Bewußtsein -> Aufmerksamkeit -> Wahrnehmung -> Denken -> Gedächtnis -> Orientierung -> Psychomotorik -> Emotionalität -> Schlaf-Wach-Rhythmus 129 * Differentialdiagnostik: auszuschließen ist: Demenz * Epidemiologie: -> ca. 30-50% aller Patienten mindestens 1x Aufenthalt in Institution -> 10-15% nach Operation * Ursachen: vielfältig, oft multikausal -> Intoxikationen durch Medikamente -> Stoffwechselstörungen -> Operationen und Infektionen / Fieber * Verlauf: -> fluktuierende Symptomatik und Intensität -> bei Behandlung: Rückbildung meist innerhalb von 4 Wochen -> 1-Jahres-Mortalität: unbehandelt ca. 40% * Behandlung: -> pharmakologisch -> unterstützende Maßnahmen (z.B. Lichtquelle im Zimmer) -> Aufklärung der betreuenden Personen B) PRIMÄR PSYCHISCH BEDINGTE STÖRUNGEN: 1) Depression: * Besonderheiten der Symptomatik bei älteren Menschen: -> mehr somatische Beschwerden -> stärkere motorische Verlangsamung -> (subjektive) Gedächtnisschwierigkeiten * Epidemiologie: 15-20% der Bevölkerung über 65 Jahre weisen depressive Symptome (nicht das Vollbild!) auf * Ursachen, Auslöser, Korrelate: -> körperliche Erkrankungen -> (multiple) Verluste -> Isolation 130 * Verlauf: -> ohne Behandlung Tendenz zur Chronifizierung -> mit adäquater Behandlung gute Prognose -> im höheren Lebensalter verstärktes Suizidrisiko: > Suizidversuche sind seltener als in jüngeren Jahren, führen aber öfter tatsächlich zum Tod > bei Männern: Suizidrate nimmt von Jugend an linear zu, Maximum erst bei über 80 Jahren > bei Frauen: Maximum bei 50 Jahren, dann leichter Rückgang des Risikos * Diagnostik der Depression: -> Befindlichkeit -> Verhaltensbeobachtung -> kognitive Tests * Differentialdiagnostik: auszuschließen ist Demenz * Behandlung: -> psychodynamische Therapie -> kognitive und Verhaltenstherapie -> Gesprächstherapie -> systemische Ansätze -> kreative Therapieformen -> Gruppentherapie -> Antidepressiva 2) Wahnhafte Störungen: * Wahn = komplexes Ideengebäude von Vorstellungen unwahren Inhalts und objektiv falschen Überzeugungen, die mit subjektiver Gewißheit erlebt werden und durch Erfahrung und zwingende Schlüsse unkorrigierbar sind * Wahnvorstellungen = realistischer, betreffen verstärkt Menschen der eigenen Umgebung als bei Jüngeren * Epidemiologie: -> in der Bevölkerung ca. 2% -> unter stationären Patienten paranoide Symptome bei bis zu 30% * Ursachen, Auslöser, Korrelate: -> sensorische Beeinträchtigungen (vor allem Schwerhörigkeit) -> Isolation -> Delir / Demenz -> Störung / Disposition in früheren Jahren 131 * Verlauf: unbehandelt Tendenz zur Chronifizierung * Therapie: -> Stützen, emphatisches Vorgehen, Vertrauensverhältnis herstellen, erst dann ev. Bearbeitung der Wahnideen -> Tranquilizer -> wenn möglich, Beseitigung der „Ursachen“ 3) Substanzmißbrauch: * Besonderheiten bei Alten: -> weniger Alkoholabhängigkeit / Alkoholmißbrauch -> Abhängigkeit von illegalen Drogen sehr gering (Kohorteneffekt) * Medikamentenmißbrauch und - abhängigkeit: -> Pharmakodynamik und Pharmakokinetik im Alter verändert, daher oft stärkere oder andere Nebenwirkungen -> „unabsichtlicher“ Mißbrauch: > zu geringe ärztliche Aufklärung > Beipackzettel unverständlich oder zu klein gedruckt > Non-Compliance (= fehlende Bereitschaft, bei therapeutischen Maßnahmen mitzuarbeiten); daher: Vertrauensverhältnis zum Arzt ist besonders wichtig! -> Abhängigkeit besonders bei Schlafmitteln (Barbiturate, Benzodiazepine); bei Frauen öfter als bei Männern -> Gefahr einer Fehldiagnose! (und zwar Demenz) 4) Schlafstörungen: * Symptomatik: -> Schlafunterbrechungen -> Einschlafschwierigkeiten -> Schlafverkürzung -> Tagesmüdigkeit * Epidemiologie: -> bis zu 45% -> mehr Männer als Frauen * Ursachen: -> altersbedingte Veränderungen des Schlafmusters -> somatische Krankheiten, Schmerzen -> Schlaf-Apnoe (= Atemstörungen) -> Medikamente -> Depression, Angst, Streß -> Mangel an physischer Aktivität 132 -> schlechte Schlafgewohnheiten * Behandlung: -> Schlafmittel (nur kurzfristig, da Suchtgefahr!) -> Beratung, Information -> Entspannungstraining -> Schlafhygiene