M. Esfeld, Sommer 03 Einführung in die Philosophie des Geistes 18 Universität Freiburg, Sommer 2003 Einführung in die Philosophie des Geistes Michael Esfeld Vorlesung 5: Interpretationismus (28. April 2003) Ziel der Vorlesung: Verständnis der These, dass wir nur denkende Wesen sind, insofern wir uns wechselseitig als denkende Wesen interpretieren, Kenntnis der realistischen und der antirealistischen Variante dieser These sowie deren Konsequenzen für die Philosophie des Geistes 1. Interpretationismus als Voraussetzung für Davidsons anomalen Monismus • Problem: Ist Davidsons Argument für die Anomalie des Mentalen, wie in Vorlesung 4.6 dargestellt, überzeugend? Auch für die Zuschreibung von Physikalischem gilt, dass die betreffende Zuschreibung im Lichte neuer Evidenz revidiert werden kann. Das Prinzip der Kohärenz gilt selbstverständlich auch für jede physikalische Theorie. Worin besteht also der Unterschied zwischen der Zuschreibung von Mentalem und der Zuschreibung von Physikalischem? • die Antwort, die sich aus Davidsons Texten ergibt: Im Falle von Physikalischem ist das Sein unabhängig von der Zuschreibung (Physikalisches existiert unabhängig davon, ob wir es erkennen). Im Falle von Mentalem ist die Zuschreibung wesentlich für das Sein. Æ die Voraussetzung für Davidsons anomalen Monismus: Im Falle von Mentalem sind die Zuschreibungsbedingungen identisch mit den Seinsbedingungen. Im Falle von Physikalischem sind die Zuschreibungsbedingungen nicht identisch mit den Seinsbedingungen. • Grundidee des Realismus in Bezug auf x: (a) Das Sein von x ist unabhängig von unseren Überzeugungen über x (ontologisch unabhängig, kausal unabhängig). (b) Es superveniert auf der Beschaffenheit von x, welche unserer Überzeugungen über x wahr sind und welche nicht wahr sind. Realismus in Bezug auf das Physikalische: (a) Die physikalische Welt besteht unabhängig von unseren Überzeugungen. (b) Es superveniert auf der Beschaffenheit der physikalischen Welt, welche unserer Überzeugungen über die physikalische Welt wahr sind und welche nicht wahr sind. Realismus in der Mathematik: (a) Die mathematischen Gegenstände bestehen unabhängig von unseren Überzeugungen. (b) Es superveniert auf der Beschaffenheit der mathematischen Gegenstände, welche unserer mathematischen Überzeugungen wahr sind und welche nicht wahr sind. Realismus in Bezug auf moralische Werte: (a) Moralische Werte bestehen unabhängig von unseren Überzeugungen. (b) Es superveniert auf der Beschaffenheit der moralischen Werte, welche unserer moralischen Überzeugungen wahr sind und welche nicht wahr sind. • Interpretationismus: Das Sein von x ist nicht unabhängig von unseren Überzeugungen über x in folgendem Sinne: Es ist eine notwendige Bedingung dafür, ein x zu sein, als ein x erkannt / interpretiert zu werden. zum Vergleich: radikaler Konstruktivismus: Es ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, ein x zu sein, als ein x erkannt / interpretiert / konstruiert zu werden. M. Esfeld, Sommer 03 • Einführung in die Philosophie des Geistes 19 Interpretationismus in Bezug auf das Mentale: Als ein mentaler Zustand interpretiert zu werden, ist eine notwendige Bedingung dafür, ein mentaler Zustand zu sein. Interpretationismus in Bezug auf moralische Werte: Als ein moralischer Wert interpretiert / anerkannt zu werden, ist eine notwendige Bedingung dafür, ein moralischer Wert zu sein. • Interpretationismus und Konstruktivismus in Bezug auf Bewusstsein: Etwas ist ein bewusstes Phänomen dann und nur dann, wenn es als ein bewusstes Phänomen wahrgenommen / erlebt wird. • die Konstruktion sozialer Rollen: Etwas hat eine soziale Funktion genau dann, wenn es so behandelt wird, dass es die betreffende soziale Funktion hat. Geld ist, was als Geld anerkannt wird; Präsident ist, wer als Präsident anerkannt wird etc. Æ Im Falle von Bewusstsein und im Falle sozialer Rollen ist es nicht denkbar, dass die Zuschreibungsbedingungen verschieden von den Seinsbedingungen sein könnten. Es scheint, dass im Falle von Bewusstsein und im Falle sozialer Rollen ein Interpretationismus oder sogar ein Konstruktivismus verträglich ist mit einem Realismus unter einem entsprechend erweiterten Konzept von Realismus (Bewusstsein gibt es wirklich, gerade weil es nur besteht, insofern es erlebt wird etc.). • sozialer Interpretationismus in Bezug auf denkende Wesen und Überzeugungen: Es ist eine notwendige Bedingung dafür, ein denkendes Wesen zu sein, von anderen in sozialen Beziehungen als ein denkendes Wesen interpretiert / behandelt zu werden. Genauer: Es ist eine notwendige Bedingung dafür, über den Begriff p zu verfügen – und Überzeugungen, die den Begriff p enthalten, bilden zu können („Dies ist p“) –, von anderen in sozialen Interaktionen so interpretiert zu werden, dass man über den Begriff p verfügt. • Davidsons Argument für den sozialen Interpretationismus: Um überhaupt über einen Begriff zu verfügen und um Überzeugungen bilden zu können, muss man über den Begriff objektiver Wahrheit verfügen, dass heisst, wissen, dass Überzeugungen einer Unterscheidung zwischen korrekt und inkorrekt / wahr und falsch unterliegen. Diese Unterscheidung steht einer Person in Isolation betrachtet nicht zur Verfügung. Wechselseitige Interpretation ist die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, über diese Unterscheidung zu verfügen. • Frage: Ist im Falle von Überzeugungen ein interpretationistischer Realismus möglich? Genauer: Kann das, was im Falle von Bewusstsein und im Falle sozialer Rollen plausibel klingt, auf Überzeugungen übertragen werden? (Überzeugungen gibt es wirklich, weil wir uns wechselseitig so interpretieren, dass wir Überzeugungen haben.) (Davidson ist Realist in Bezug auf intentionale Zustände). 2. • Dennetts Theorie der Intentionalität intentionale Einstellung (intentional stance): ein System so behandeln, als ob es ein rationaler Agent ist, das heisst, Wünsche und Überzeugungen hat. Gegeben die Position des Systems in seiner Umwelt und die Interessen des Systems (Selbsterhaltung etc.) werden dem System diejenigen Überzeugungen und Wünsche zugeschrieben, die es rationalerweise haben sollte. Auf dieser Grundlage wird sein Verhalten vorausgesagt. Das System ist genau dann ein intentionales System, wenn die so gewonnenen Voraussagen seines Verhaltens im Grossen und Ganzen erfolgreich sind und keine andere, ebenso erfolgreiche Methode zur Voraussage des Verhaltens des Systems verfügbar ist. M. Esfeld, Sommer 03 • • • Einführung in die Philosophie des Geistes zum Vergleich: physikalische Einstellung (physical stance): das Verhalten eines Systems aufgrund seiner physikalischen Zusammensetzung voraussagen und diese Voraussagen experimentell überprüfen. Ein System ist genau dann ein physikalisches System, wenn diese Methode der Voraussage erfolgreich ist. funktionale Einstellung (design stance): das Verhalten eines Systems aufgrund seiner funktionalen Eigenschaften voraussagen und diese Voraussagen überprüfen. (Einstellung des Benutzers zu seinem Computer oder Fernseher, der Hausfrau zu ihren Küchengeräten etc.). Ein System ist genau dann ein funktionales System (hat eine Funktion / ein Design), wenn diese Methode der Voraussage erfolgreich ist. die Reichweite der intentionalen Einstellung: Die intentionale Einstellung kann zu Systemen verschiedener Art eingenommen werden – einschliesslich Tieren, Pflanzen, Computern (Schach-Computer), Thermostaten etc. –, sofern mit dieser Einstellung etwas für die Voraussage des Verhaltens des betreffenden Systems gewonnen wird. die Bedeutung der intentionalen Einstellung: Als ein intentionales System behandelt zu werden, ist die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, ein intentionales System zu sein. Die Frage, ob ein System, dessen Verhalten erfolgreich durch die intentionale Einstellung vorausgesagt wird, wirklich in intentionalen Zuständen ist, macht keinen Sinn. Es bestehen gewisse Muster (patterns) der Organisation und des Verhaltens. Wenn man auf diese Muster so Bezug nimmt, dass man aufgrund ihrer zu dem System die intentionale Einstellung einnimmt und mit dieser Einstellung einen Voraussage-Erfolg hat, der anders nicht zu erreichen ist, dann und nur dann ist das System in intentionalen Zuständen. 3. Zusammenfassung: Realismus und sozialer Interpretationismus 3.1 realistischer, sozialer Interpretationismus • • • 3.2 • 20 Grundidee: So interpretiert zu werden, dass man in intentionalen Zuständen ist, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, in intentionalen Zuständen zu sein. Durch soziale Praktiken wechselseitiger Interpretation werden intentionale Zustände geschaffen. partizipierender Beobachter: Die intentionalen Zustände, die durch Praktiken wechselseitiger Interpretation geschaffen werden, sind nur durch aktive Teilnahme an diesen Praktiken zugänglich. Aktive Teilnahme an Praktiken wechselseitiger Interpretation ist das hinreichende Kriterium dafür, in intentionalen Zuständen zu sein. Problem: Was genau ist der ontologische Status intentionaler Zustände? Es soll kein Eigenschafts-Dualismus sein. Es soll Identität der Vorkommnisse (token identity) von intentionalen Zuständen mit physikalischen Zuständen, weit gefasst, bestehen; aber diese Identität lässt sich nicht gemäss dem Konzept funktionaler Eigenschaften explizieren. anti-realistischer, sozialer Interpretationismus Grundidee: Es ist nicht mehr dran an intentionalen Zuständen, als erfolgreich so interpretiert zu werden, als ob man in intentionalen Zuständen ist. • aussenstehender Beobachter: Die Methode der Zuschreibung intentionaler Zustände unterscheidet sich nicht prinzipiell von naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden (Voraussagen aufgrund gegebener Datenbasis und experimentelle Überprüfung der Voraussagen). Æ naheliegende Konsequenz: eliminativer Materialismus M. Esfeld, Sommer 03 Einführung in die Philosophie des Geistes 21 Lektürehinweise: Davidson, Donald (1975): «!Thought and talk!» in Davidson, Donald (1984): Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford: Oxford University Press; deutsch Wahrheit und Interpretation. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1986. Kapitel 11. Dennett, Daniel C. (1975): «!True Believers: The Intentional Strategy and Why it Works!». In: A. F. Heath (Hg.): Scientific explanations. Papers based on Herbert Spencer Lectures given in the University of Oxford. Oxford: Oxford University Press. S. 53–75. Wieder abgedruckt in Rosenthal, David M. (Hg.): The Nature of Mind. Oxford: Oxford University Press 1991, S. 339–350. Kontakt [email protected] http://www.unil.ch/philo/pages/epistemologie/philo_epistemologie.html