Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk.

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Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk.
Dr. Reinhard Schinzer, Stadt Allendorf, Sdilesierstraße 30
Mit der Annahme, daß es ein besonderes religiöses Apriori neben
anderen apriorischen Vernunftsbeständen gebe, ist Rudolf Ottos Name
eng verbunden. Allerdings vertreten die meisten Forscher die Auffassung,
daß gerade die Konstruktion eines religiösen Apriori in Ottos Werk eher
belastend als erleuchtend wirkt. Man begrüßt die vorzüglichen phanomenologischen Untersuchungen Ottos, wendet sich aber von dem philosophischen Unterbau kopfschüttelnd ab. Hätte es Otto doch nur bei seiner
Analyse der Andachtserfahrung belassen, so könnte man wünschen, dann
wäre ihm der Lorbeer der Wissenschaft gewiß gewesen. Aber warum
wertet er die Gefühle der Andacht zu Erkenntnissen auf? Und mit welchem Recht heftet er diesen »gefühlsmäßigen Erkenntnissen« die Auszeichnung der Apriorität an? Hier häufen sich in der Literatur zu Rudolf
Otto die Fragezeichen.
Um dieser auf den ersten Blick recht undurchsichtigen Lehre vom
religiösen Apriori auf die Spur zu kommen, soll hier ein bisher unzugängliches Hilfsmittel herangezogen werden. Rudolf Otto hat zwei gut erhaltene systematische Vorlesungen hinterlassen, die im Rudolf-Otto-Archiv
in Marburg aufbewahrt werden und von mir in einer Dissertation (1967)
gesichtet worden sind. Neben dem Hauptwerk >Das Heilige< (= DH)1
sollen hier diese Vorlesungsentwürfe zur Sprache kommen, da sie über das
religiöse Apriori aufschlußreiche Ausführungen in sich bergen. Unsere
Untersuchung zielt darauf ab, am Schluß zu dem Buch von Ansgar Paus
Stellung zu beziehen2, das für uns eine deutliche Fehlinterpretation Ottos
vorträgt.
In seinen Vorlesungen behandelt Rudolf Otto die Frage der apriorischen Erkenntnis nur an einer Stelle sehr ausführlich. Sonst läßt er hier
und da eine beiläufige Bemerkung fallen, in der er den terminus »a priori«
aufgreift. Der einfachste, einleitende Hinweis begegnet in der Urstandslehre. Otto geht auf die Frage ein, ob der Mensch schöpfungsmäßig mit
angeborenen Ideen ausgestattet sei. Schon in DH hat Otto die Theorie
der ideae innatae zurückgewiesen. Er bestreitet angeborene Ideen, weil
sie der eigentümlichen Selbsterfahrung des Menschen nicht entsprechen.
Zu jeder Erkenntnis, auch zur religiösen, gehört die Empfindung,
etwas wirklich wahrzunehmen 3 , wirklich zu erkennen. Wer erkennt, ist
durch die Sache selbst überführt. Er hat nicht den Eindruck, bloß etwas
1
2
3
Wir benutzen die 31.—35. Aufl. München 1963.
Ansgar Paus, Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft und Wesen der Aprioritheorie
Rudolf Ottos. Leiden 1966.
DH 167.
N. "eitsdir. f. systemat. Theologie 11
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Reinhard Schinzer
ihm angeborenes zu memorieren. Und nur dieser Eindruck, als wenn zufällig diese oder jene Vorstellung in meinem Inneren haust, würde angeborenen Ideen entsprechen. Denn angeborene Ideen haben keinerlei
Objektbezug, sondern sind rein innerlich. Damit aber werden sie nicht
im Wechselspiel zwischen Subjekt und Objekt stabilisiert und bleiben
folglich zufällig. Wer sich rein phänomenologisch am Erkenntnisvorgang
orientiert, kann nach Otto nicht angeborene Ideen befürworten. Denn sie
würden das Sich-zeigen des Objekts der Erkenntnis überflüssig machen.
Ein Objektbezug der Erkenntnis würde sich erübrigen. Das Wesen, das
mit angeborenen Ideen ausgestattet wäre, brauchte wie Leibniz' Monaden
keine Fenster, um zu erkennen.
Die Theorie der ideae innatae stößt sich an der Selbstbeobachtung
beim Erkenntnisvorgang. Ebenso argumentiert Otto 1925 A 2094. »Erkennen kann ich Dinge und Wahrheiten nur, wenn sie sich mir als Erkenntnisfähigem zeigen, wenn sie mir offenbar werden. Das gilt gerade
auch von allen Erkenntnissen a priori. A priori darf hier nur heißen, wie
es Kant auch definiert: unabhängig von Sinneserfahrung, aber keineswegs
unabhängig, wie der Transzendentalismus meint, vom erkannten Gegenstande selber«. Auch Gott muß sich daher dem Menschen zeigen, um
erkannt werden zu können. Er muß nicht nur als Schöpfer hinter dem
Menschen stehen, sondern ihm sich offenbarend entgegentreten. Wäre
Gott nur der Schöpfer, so führt Otto aus, so könnte er nicht erkannt werden. Gott muß sich fühlbar offenbaren, muß mir entgegentreten, damit
ich ihn erkennen kann. Aber ist dies die Voraussetzung der Erkenntnis
auf Seiten des Objekts, so muß doch auch das Subjekt Erkenntnis — fähig
sein, also Eigenschaften mitbringen, die eine Erkenntnis ermöglichen.
Diese Fähigkeit steht selbstverständlich zur wirklichen Erkenntnis
in einem zeitlichen Prioritätsverhältnis. Otto bezeichnet diese Fähigkeit
als Anlage oder Veranlagung. So heißt es in DH 140: »Anlage als >Veranlagung< für etwas ist zugleich eine ideologische Determinante, ein a
priori der Richtung von Erleben, Erfahren, Verhalten — ein a priori
Eingestelltsein auf etwas«. Hier hat das Apriori eine andere Bedeutung
als noch eben. Hier ist nicht von einer Erkenntnis a priori, sprich unabhängig von Sinneserfahrung, die Rede. Vielmehr geht es hier um die Voraussetzungen dieser Erkenntnis. Die Veranlagung zur Wahrnehmung
bestimmter Gegenstände geht ja zweifellos der Wahrnehmung selbst
voraus. Otto verwirft zwar angeborene Ideen, aber nicht Ideen, die der
Erfahrung vorgegeben sind. Für diese Ideen verwendet Otto die Ausdrücke »Anlage«, »Quell« (DH 139 usw.). Es ist nun die Frage, wie sich
diese der Erfahrung vorgegebenen Ideen zur Erfahrung selbst verhalten.
Insofern wie wir oben hörten Erkenntnisse a priori nur möglich sind,
4
Die Vorlesungsseiten aus 1924/25 werden mit Siglum »A« zitiert, die Vorlesungsschrift aus 1927 mit Siglum »B«.
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wenn sich der Gegenstand zeigt, können diese Ideen nicht als Erkenntnis
apostrophiert werden. Andererseits erweckt Otto immer wieder den
Eindruck, als seien auch diese vorgegebenen Ideen schon wirkliche Erkenntnisse. Charakteristisch dafür ist folgende Ausführung Ottos, in der
die Anlage angesprochen wird »als notwendige Veranlagung für das
Erlebnis des Heiligen, nämlich die im Geiste angelegte Kategorie des
Heiligen selber als dunkle Erkenntnis apriori« (DH 188). Hier werden
Veranlagung und Kategorie und diese schließlich noch mit einer dunklen
Erkenntnis gleichgesetzt. Veranlagung deutet zweifellos auf einen defizienten Modus von Erkenntnis, auf etwas, das unvollkommen bleibt.
Ähnlich steht es mit der Bezeichnung als Kategorie. Denn eine Kategorie
ist in sich keine selbständige Erkenntnis, sondern erschließt den unter
sie subsumierten Gegenstand der Erkenntnis. Daß Otto das Heilige als
Kategorie a priori definiert, dürfte also recht aufschlußreich sein. Es
beweist m. E. immerhin, daß Otto für die religiöse Erkenntnis mehr verlangt, als bloß den subjektiven Ideengrund und die sog. religiöse Anlage.
Denn Kategorien bewähren sich erst an Gegenständen — und zwar an
äußeren Erscheinungen —, die sie für die Erkenntnis sozusagen aufbereiten5. Ohne solche Wahrnehmung haben sie keinerlei Erkenntniswert.
Es ist also gewiß nicht von ungefähr, wenn Otto das »Heilige als Kategorie a priori« auffaßt. Audi damit wird der notwendige Objektbezug
religiöser Erkenntnis ausgelegt.
Aber im gleichen Atemzug spricht Otto denn doch von »dunkler
Erkenntnis«. Das scheint ein glatter Widerspruch zu sein. Denn eine
Katego-rie ist ja keine Erkenntnis. Otto drückt sich darüber hinaus sehr
unklar aus. Denn was soll eine »dunkle Erkenntnis« sein? Otto übernimmt diesen terminus von J. F. Fries und dessen Schüler Apelt (Paus,
a.a.O., S.45 bzw. 56).
So schreibt Apelt8 über die dunklen Erkenntnisse folgendermaßen:
»Dunkel ist eine Erkenntnis, die wir haben, ohne uns ihrer unmittelbar
bewußt zu sein, d. i. ohne auch in jedem Augenblick zu wissen, daß wir
sie haben. Einer solchen Erkenntnis können wir uns nur mittelbar, d. i.
nur durch Begriffe bewußt werden. Die Erkenntnis durch Begriffe ist
gedachte Erkenntnis«. Demnach handelt es sich auch bei Ottos »dunkler
Erkenntnis a priori« um Erkenntnis, die wir wirklich haben.
Das geht nun auch aus bestimmten Ausführungen Ottos in DH ganz
eindeutig hervor. Besonders interessant sind hier die Stellen, wo Otto
über das »Gesetz der Gefühls-Gesellung« spricht. (DH 57—60) Mit diesem Gesetz meint Otto erklären zu können, wie das Gefühl des Numinosen wach wird. Das Gesetz der Gefühlsgesellung soll besagen, daß ein
(
Gefühl, das etwa noch auf der Ebene rein ästhetischen Bewunderns liegt,
< ein anderes wecken kann, das bereits numinos zu nennen ist. Ja, es kann
5
8
Vgl. s. v. »Kategorie« im Kröners Philos. Wörterbuch, 14. Aufl. 1957.
K. F. Apelt, Metaphysik S. 13, zitiert bei Paus, a. a. O., S. 54.
13*
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sogar geschehen, daß ich auf das ästhetische Erlebnis nicht mit einem Gefühl aus dem ästhetischen Bereich antworte, sondern stattdessen ein religiöses Gefühl hege. Durch eine solche » G e f ü h l s - V e r w e c h s l u n g «
(DH 58) kann nach Otto auch das numinose Gefühl angeregt worden sein.
Dabei bemerkt Otto ausdrücklich, Gefühl bedeute für ihn, »dunkle Vorstellungsgehalte mit emotionalem Charakter« (DH 57 Anm.). Aus diesen
Erklärungen über das Erwachen numinoser (und apriorischer) Vorstellungen ergeben sich schwerwiegende Resultate.
Der entscheidende Punkt dieser Anschauung ist ja der, daß das numinose Gefühl ausgelöst wird und die numinosen Vorstellungen aktiviert
werden, obwohl sich kein numinoses, sondern nur ein ästhetisch aufgeladenes Objekt zeigt. Denn die dem Gegenstand angemessenen Gefühle
sollen ja nur ästhetische oder natürliche Gefühle sein. Und nur, weil diese
in gewissen Ähnlichkeiten dem numinosen Gefühl entsprechen, wecken
sie nach Otto auch dieses mit auf. Die religiösen Vorstellungen und Gefühle a priori treten also in Funktion, auch ohne daß sich ein numinoses
Objekt bemerkbar macht. Vielmehr entzünden sie sich an bloß scheinbar
entsprechenden Gefühlen. Ja Otto scheut sich nicht, hier auch wirklich
»Verwechselungen«, also Irrtümer für möglich zu halten. Das nun ist
allerdings sehr verwunderlich. Denn es besagt ohne Zweifel, daß die
dunklen Erkenntnisse a priori unabhängig vom numinosen Gegenstand
vorhanden und sogar bewußt zu machen sind.
Andererseits aber handelt es sich um eine Täuschung, wie Otto ausführt, wenn das numinose Gefühl mit seinen Bewertungen a priori durch
nur ästhetische und natürliche Gegenstände hervorgerufen wird. Es unterläuft der Vernunft eine Verwechselung von natürlichen und numinosen
Gefühlen. Und das bedeutet, daß die a priori im menschlichen Geiste
vorhandenen Vorstellungen des Numinosen irrtümlich angewendet werden können. Daß Otto dies tatsächlich annimmt, geht aus seinen Erörterungen sehr deutlich hervor. Otto spricht davon, daß sich das numinose
Gefühl »nach Reizen der Gefühls-Gesellung auf Naturgegenstände ablenken läßt indem es sie fälschlich für numinos nimmt« (DH 151). Oder
er erklärt die Rohheit der Anfänge der Religion damit, daß die Undeutlichkeit der numinosen Empfindung »Veranlassung gibt zu f a l s c h e n
V e r w e c h s l u n g e n und Vermischungen mit >natürlichen< Gefühlen«
(DH 161), und noch auf derselben Seite ist von »falschen Schematisierungen« die Rede. Wir haben es nach Otto also bei den a priori einwohnenden Vorstellungen der Vernunft mit einen Apriori zu tun, das infolge
seiner Dunkelheit f a l s c h e Erkenntnisse zeitigt. Zitieren wir dazu noch
ausführlich DH 172, zumal diese Stelle später noch in Paus' Interpretation herangezogen werden muß: »Als Zeichen hat von der Zeit der primitivsten Religion an immer alles das gegolten, was imstande war das
Gefühl des Heiligen im Menschen zu reizen, es zu erregen und zum Ausbruch zu bringen, alle jene Momente und Umstände von denen oben die
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Rede war: das Fürchterliche das Erhabene das Übermächtige das Auffallend-Frappierende und ganz besonders das Unverstanden-Geheimnisvolle
das zum portentum und miraculum ward. Alle diese Umstände aber, so
sahen wir, waren n i c h t Zeichen im e c h t e n Sinne sondern nur Gelegenheits-Ursachen für das religiöse Gefühl sich aus s i c h s e l b s t zu
regen, und das Verursachende lag in einem Momente bloßer Ähnlichkeit
aller dieser Umstände zum Heiligen. Daß sie als wirkliche Erscheinung
des Heiligen selber gedeutet wurden war eine Verwechslung der Kategorie
des Heiligen ...«
Aus diesen Sätzen darf man nicht schließen, es gebe überhaupt kein
äußeres Objekt, auf das das religiöse Apriori hingeordnet sei. Und die
eigentliche numinose Wirklichkeit zeige sich nur innerlich. Vielmehr
nennt Otto als eigentlichsten numinosen Gegenstand Jesus selbst (DH183).
Nur diese Gegenstände sind nicht die richtigen, nicht grundsätzlich alle
Wesen außer mir. Aber es ist sehr aufschlußreich, daß gerade diese — im
Grunde verkehrten — Gegenstände am Anfang der Religion die Vorstellungen der apriorischen Vernunft hervorziehen. Denn weil es die falschen Gegenstände sind, muß ja die numinose Erkenntnis rein aus dem
Inneren des Menschen stammen. Eine Begegnung mit dem numinosen
Objekt ist für die Entfaltung dieser vernunftimmanenten Erkenntnis nicht
notwendig. Es genügen durchaus nur entfernt ähnliche Erfahrungen, um
das religiöse Apriori in Bewegung zu setzen.
Nicht einmal die Idee Gott braucht auf eine echte Begegnung zurückgehen. Auch sie kann der rein innersubjektiven Phantasie entspringen.
Otto schreibt der Kategorie a priori »Setzungen von Gegenständen und
Wesenheiten deren Formen ... offensichtlich Produkte der Fantasie sind«
zu (DH 138 vgl. 141 und 152). Damit wird nochmals unterstrichen:
innerhalb der Vernunft liegen wirkliche E r k e n n t n i s s e apriori. Aber
zugleich fehlt diesen Erkenntnissen etwas. Sie werden als bloße Verwechslungen bzw. als Produkte der Phantasie wieder entwertet.
Damit erschließt sich uns ein überraschendes Ergebnis: Otto weiß um
einen Erkenntnisschatz in einer Tiefenschicht des Menschen, die er als
religiöses Apriori bezeichnet. Diese Erkenntnisse sind aber dunkel, und
sie werden durchaus nicht richtig, sondern verkehrt verwendet.
Aber gerade daß sich die intuitive Erkenntnis a priori in ihrem
Objekt täuscht und das eigentliche Objekt verfehlt, hat doch wohl seine
Bewandtnis. Obwohl zunächst fälschlich Naturgegenstände, »weltliche
und sinnliche Gegebenheiten« (DH 138) mit den Ideen der Heiligkeitskategorie behaftet werden, also Fehltritte der Anlage stattfinden, kommt
gerade darin zum Ausdruck, wie objektbezogen diese Kategorie ist. Nicht
sämtliche Gegenstände der äußeren Erscheinungswelt sind nämlich unechte Offenbarungsträger. Ottos Lehre von der Divination beweist das
Gegenteil (DH 172). Diese Abhängigkeit von der äußeren Offenbarung
verspürt man an der eigentümlichen Hilflosigkeit des religiösen Apriori.
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R e i n h a r d Schi nzer
Es enthält zwar wirkliche Erkenntnisse. Sonst könnten nicht Gegenstände,
die an sich nicht numinos sind, mit numinoser Erkenntnis überzogen werden. Aber diese wirklichen Erkenntnisse kommen nicht zum Ziel. Sie werfen sich sozusagen auf die falschen Gegenstände, nur um einen Gegenstand zu finden. Aber sie irren doch völlig ziellos durch Natur und Geschichte. Das mit sich allein gelassene religiöse Apriori verstrickt sich unweigerlich in Irrtümer.
Das ist neu und man fragt sich, ob es mit einer Erkenntnis a priori
im Kant'schen Sinne überhaupt zu vereinbaren ist. Nach ihm zeichnen
sich Erkenntnisse a priori durch Allgemeinheit und Notwendigkeit aus.
Jede Einsicht a priori ist objektiv allgemein und umfaßt alle möglichen
Gegenstände überhaupt. Das gilt auch für die nachkantischen Philosophen, von denen sich Otto in seiner Frühzeit stark beeindruckt zeigte.
E. F. Apelt z. B. wählt als Leitfaden zur Eruierung des a priori gegebenen
Vernunftbesitzes die logisdien Urteile. Jedes logische Urteil enthält einen
Überschuß über die reine Sinneserfahrung, welcher a priori ist. Weil aber
diese Urteile a priori notwendige Voraussetzungen für das Erkennen jedes
nur denkbaren Gegenstandes sind, können sie nicht falsch angewendet
werden. Sie erstrecken sich, wie Paus in seinem Referat betont (S. 59), auf
alle möglichen Dinge überhaupt. Das trifft auch für J. F. Fries zu (Paus
50). Diese apriorischen Prinzipien können also nicht auf einen falschen
Gegenstand angewendet werden, weil sie zur Erkenntnis jedes nur möglichen Dinges erforderlich sind. Sie lassen sich mit Recht auf jeden
nur möglichen Gegenstand überhaupt anwenden. Das aber gilt für Ottos
Kategorie des Heiligen nicht. Ja, alle Naturgegenstände sind sogar von
der Anwendung dieser Kategorie nach Otto ausgeschlossen (— übrigens
ja auch von der Anwendung sittlicher Kategorien —). Sie ist demnach
nicht die Form aller Erkenntnis überhaupt und somit irrtumsfrei in jeder
Erkenntnis mitenthalten. Die Heiligkeitskategorie sträubt sich dagegen,
wie sie ja auch schon logischen Urteilen deswegen nicht innewohnt, weil
sie die Logik transzendiert7. Paradox verläuft nach Otto die Klärung der
religiösen Vernunftsprinzipien a priori parallel mit dem Abziehen solcher
Vorstellungen von immer mehr Gegenständen. Je klarer die apriorischen
Gefühle sich werden, umso kleiner wird ihr Anwendungsbereich. Dem
religiösen Apriori Ottos fehlt das Charakteristikum der A l l g e m e i n h e i t . Und daraus folgt, daß es irrtümlich angewendet wird.
Nun erst wird offenbar, was das religiöse Apriori bei Otto will. Es
enthält zwar wirkliche Erkenntnisse und Vorstellungen. Diese sind derart
lebendig, daß sie sogar durch rein äußerliche Anlässe geweckt werden.
Aber dadurch werden sie auf falsche Objekte gelenkt. Die dunklen Erkenntnisse a priori können also zwar den eigentlich numinosen Gegenstand, das numinose Objekt, denken, aber nicht f i n d e n ! Die Kategorie
7
Vgl. DH 108, wo es heißt, religiöse Erschauungen seien der Systematisierung und
logischen Folgemacherei garnicht fähig.
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Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk
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des Heiligen bedeutet ein a priori Eingestelltsein auf etwas (DH 140),
aber solange sich dieses etwas nicht zeigt, suchen diese Ideen vergeblich
nach dem ihnen angemessenen Gegenstand.
Mag sich die Vernunft über ihre religiösen Erkenntnisse a priori noch so
klar werden, so wendet sie doch schließlich diese Erkenntnisse auf falsche
Gegenstände an. Das religiöse Apriori ist zwar Erkenntnis, aber gerade
als solche ist sie durchaus unzureichend. Denn nicht die Erkenntnis Gottes,
die richtigen Vorstellungen über ihn (DH 141), erfüllt die Gläubigen,
sondern die Erfahrung seiner Gegenwart. Die Religion erschöpft sich
nicht in I d e e n , sondern e r l e b t das Numinose. Freilich setzt das
Erleben des Göttlichen die Ideen voraus, was aber nicht bedeutet, daß es
sich auf die Ideen reduzieren läßt. Mit Hilfe seiner a priori besessenen
Vorstellungen kann der religiöse Mensch zwar angeben, wie das Wesen
beschaffen ist, das er sucht, aber das bedeutet keineswegs, daß er es schon
gefunden hat. (DH 172) Paus hat das nicht erkannt. Er reduziert die
religiöse Erfahrung auf die religiösen Ideen (a. a. O., 164), während nach
Otto die Ideen a priori erst durch die Erscheinung des Heiligen in der
Geschichte zur Religion ergänzt werden. Mit Recht stellt Paus fest
(S. 108): »daß es Otto darauf ankommt, die Objektgeriditetheit und -bezogenheit der unmittelbaren Erkenntnis zu betonen. Es ist dabei nicht
sofort klar ersichtlich, ob er unter diesem Objekt immer ein bewußtseinsjenseitiges, oder aber ein immanentes Objekt versteht«. An dieser Feststellung ist richtig, daß die Vernunft in sich selbst eine Vorstellung von
diesem Objekt hat, das insofern als vernunftimmanent erscheint; andererseits aber kann dieses Objekt auch wirklich begegnen. Otto sieht wohl im
religiösen Apriori die Erkenntnis des numinosen Objektes gegeben. Damit
ist aber nicht gesagt, daß auch das Objekt selbst gegeben ist. Denn »infolge
einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein wirkliches oder
v e r m e i n t l i c h e s Objekt kann als deren Reflex das Kreaturgefühl im
Gemüt entstehen«. (DH 11) Die Kategorie vermag sich also, weil sie ein
Objekt a u ß e r m i r (DH 11) intendiert, auch auf falsche Objekte zu
stürzen. Aber richtig angewendet wird die Kategorie doch nur dann,
wenn sie auf ihr wirkliches Objekt trifft. Für Otto sind also die Erkenntnisse a priori gegeben, auch wenn ihr Objekt noch nicht gegeben ist. Der
Gegenstand, auf den sich diese Ideen legitim beziehen, tritt erst nach
ihnen auf.
Das religiöse Apriori besagt, daß ich Erkenntnisse a priori vom
Numinosen schon habe, b e v o r es sich selber zeigt! Zeigt es sich dann,
so erkenne ich an ihm nur wieder, was mir schon vorher als dunkle Erkenntnis vorschwebte (DH 172).
Die Erkenntnis vom religiösen Gegenstand (dem Numinosen) ist mir
vor dem Gegenstand selber gegeben.
Damit aber läßt sich nun erklären, warum Religion möglich ist und
zugleich theologisch nicht gleichberechtigt neben dem Christentum steht.
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Denn alles, was sonst an religiösen Erscheinungen auftritt und dem Historiker begegnet, läßt sich nun auf die dunkle Erkenntnis a priori, die dunklen »Momente a priori« (DH 169) im Geiste zurückführen, die aber noch
keine echte Begegnung des Heiligen bedeuten. Deshalb kann Otto ja auch
von »Fantasiebildung von Göttergestalten« (169) berichten. Hier erfindet
also offensichtlich das religiöse Gemüt seine religiösen Objekte selbst unter
dem Druck der a priori vorhandenen Vorstellungen. »Die Anlage, die
der menschliche Geist beim Eintritt der Gattung Mensch in die Geschichte
mitbrachte, ward als Veranlagung auch ihr teils durch Reize von außen
teils durch Druck von innen her zum Triebe nämlich zum religiösen Triebe,
der in tastender Regung, in suchender f a n t a s t i s c h e r Vorstellungsbildung, in immer vorwärtstreibender Ideenerzeugung sich über sich
selber klar werden will und klar wird durch Auswicklung der dunklen
Ideen-grundlage...« (DH 141). Mit solchen phantastischen Vorstellungen hat es also die Religionsgeschichte aufgrund des religiösen Apriori zu
tun, noch nicht mit dem echten Gegenstand der Religion! Der Religionshistoriker verfolgt »Setzungen von Gegenständen und Wesenheiten deren
Formen... offensichtlich Produkte der Phantasie sind« (DH 138). Nicht
weiter kommt die Erkenntnis a priori, als daß sie sich den Gegenstand
nur einbildet, von dem sie Kenntnis hat. Um es mit den scholastischen
termini auszudrücken: die essentia des numinosen Objekts ist der Vernunft a priori bekannt, nicht jedoch die existentia. Der Sprung vom Denken, vom gedachten Wesen zum Sein, kann nicht innerhalb der »reinen
Vernunft im tiefsten Sinne« (DH 139) erfolgen. Er erfolgt deswegen nicht
vor der Offenbarung. Als gedachte Wesenheit ist das religiöse Objekt a
priori gegeben, nicht jedoch als existierendes Seiendes. Dies geschieht erst
in der D i v i n a t i o n (DH 172ff.). Bevor sich Gott selber zeigt, ist
jedoch Divination ausgeschlossen. Und Religion ist vordem auch nur Erkenntnis eines Wesens, dessen Existenz mir nicht gegeben ist. Sonst würde
sie ja nicht erst durch Phantasie gesetzt werden müssen.
So ergibt sich ein bestimmter Schluß über den Sinn des religiösen
A priori bei Otto. Es ist im strengen Sinne ein a priori der Anschauung
von einem religiösen Objekt. Das heißt, ohne diese Vorstellung oder
Kategorie kann der eigentliche Gegenstand der Religion mir garnicht
begegnen. Es wäre so, wie wenn ein zweidimensional denkendes Wesen
eine Kugel sehen sollte: es kann das nicht. Otto denkt die Kategorie a
priori als Bedingung der Möglichkeit, Gott überhaupt als Gott erkennen
zu können.
Darin liegt der fundamentale Unterschied etwa zu Kant. Diesem
ging es ja um die Metaphysik, wenn er nach der Möglichkeit synthetischer
Urteile a priori fragte. Er wollte also mittels der Urteile a priori, und
zwar mit ihnen allein, eine Metaphysik erstellen. Bei ihm soll also eine
a priori mögliche Erkenntnis ausreichen, um die g a n z e Metaphysik zu
tragen. Ja, es kommt entscheidend darauf an, die metaphysischen TatUnauthenticated
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Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk
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Sachen ganz ohne Einmischung empirischer Urteile nachzuweisen, um eine
sichere Grundlage für eine feste Metaphysik zu haben. Für die Metaphysik sind nur Urteile a priori brauchbar, und sowie sich empirische Wahrinehmungen einschleichen, beginnt das Gebäude der Metaphysik zu wanken. Für Kant ist also das Kriterium, an dem die Gewißheit steht und
ifällt, die Apriorität der Erkenntnisse. Reichen unsere Kenntnisse a priori
nicht aus, so ist Metaphysik unmöglich. Es kommt also bei Kant alles
darauf an, jede Erkenntnis a posteriori auszuscheiden. Denn nur was ich a
priori erkenne, ist gewiß.
Für Otto aber ist das A priori gerade dazu notwendig, daß ein
a posteriori, nämlich die geschichtliche Offenbarung, erkannt werden
kann. Für Otto sind Erkenntnisse a priori völlig unzureichend, um Religion wirklich zu begründen. Sie sind nichts weiter als Vorbedingungen,
d a m i t geschichtliche Offenbarung stattfinden kann. Erst wenn der
Objektbezug zu der Erkenntnis a priori hinzutritt, kann man von wirklicher Religion sprechen. Während also bei Kant die Urteile a priori
selbstgenügsam sind und deswegen keinerlei a posteriori erfahrene Einsicht bei sich dulden, sondern ihrer Ungewißheit wegen sogar abstoßen,
ist nach Otto die Erkenntnis a priori solange unvollendet, wie das a
posteriori der Offenbarung nicht dazukommt. Otto bestätigt das auf der
letzten Seite seines Hauptwerkes (DH 204) »Erkenntnisse a priori sind
nicht solche, die jeder Vernünftige hat (das wären angeborene), sondern
die jeder haben kann. Höhere Erkenntnisse a priori sind solche, die jeder
haben kann aber erfahrungsgemäß nicht durch sich selber sondern erweckt
durch andere höher Befähigte. Die allgemeine >Anlage< ist hier nur das
allgemeine Vermögen der Empfänglichkeit und ein Prinzip der Beurteilung ...« Es wird hier betont, was bei Kant unerhört wäre, daß ohne
die Offenbarung, also ein a posteriori Erscheinendes, nicht in der Vernunft
selbst Notwendiges, die Anlage dunkler Erkenntnisse a priori nicht zur
Religion werden kann. Während Kants Vernunftkritik auf eine strenge
Scheidung a priori erkannter oder erkennbarer von a posteriori empfangenen Tatsachen hinausläuft, kommt es Otto darauf an, ein Zusammenspiel a priori gegebener Erkenntnis mit dem a posteriori auftretenden
Objekt zu erläutern. Die Selbstgenügsamkeit apriorischer Erkenntnis bei
Kant steht einer Unvollständigkeit derselben bei Otto gegenüber. Das
religiöse Apriori ist also bei Otto nicht der z u r e i c h e n d e Grund der
Religion, sondern ohne sein Objekt nur ein defizienter Modus von Religion. Zu der apriorischen Anlage muß etwas hinzukommen, das aber
etwas qualitativ andres ist. Otto unterscheidet hier zwischen dem Propheten, der das Vermögen der Divination besitzt, und schließlich der höchsten
Offenbarung, wo das Objekt der Divination (Gott selbst) in Jesus Mensch
wird (DH 205). Die Ideengrundlage a priori wird erst durch diese völlig
anderen religiösen Erscheinungen ergänzt, vervollständigt zur Religion.
Eine in sich ungenügende Erkenntnis a priori, das ist der Widerspruch zu
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allen früheren Begriffen vom a priori. Denn alle früheren Konzeptionen
des a priori beruhen ja auf der völligen Zureichendheit und In-sich Abgeschlossenheit der apriorischen Ideen. Daß und warum Otto so ganz anders
denkt, erklärt uns erst ein Abschnitt aus seiner Vorlesung 1924—25. Otto
entfaltet dort im Zusammenhang mit der Urstandslehre seine Anthropologie. Er projiziert den Urständ nicht an einen zeitlichen Anfang der
Geschichte, sondern in die intelligible Tiefe des Menschen. (A 207). Aus
diesem Urständ und Urfall in der intelligiblen Tiefe des Menschen ergeben sich sowohl das Gewissen wie auch das religiöse Apriori. Otto schreibt
(A 207) »Wie aber (die) Urschuld und das heißt das Gefühl um den Fall
aus der iustitia originalis in der Erscheinung der Zeit fühlbar wird in der
apriorischen Anlage des Gewissens, so ist zu erwarten, daß gleicherweise
im Gemüte des Menschen die revelatio originalis in der Zeitreihe erscheint
in einer prinzipiellen religiösen apriorischen Anlage: die bleibende capacitas infiniti, aus der sich erklären die Geheimnisse der Tiefe des Menschen
und damit zugleich (A 208) die Tatsache der religiösen Entwicklung der
Menschheit außerhalb Christi«. Das religiöse Apriori ist der Überrest
einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an das intelligible Wesen des
Menschen. Deswegen ist es in sich ungenügend und keineswegs causa
sufficiens der Religion.
Hier liegen übrigens auch die Grenzen der Otto'schen Mystik. Er
hält die innere Offenbarung im Menschen — also Erkenntnis unabhängig
von Sinneserfahrung, g e r a d e n i c h t für ausreichend. Und insofern
ist er auch wieder kein Mystiker. Und diesen fundamentalen Unterschied
zur Mystik hält er fest (B 40). »Die Mystik behauptete das verbum
internum, mit Vernachlässigung des externum. Eckart: Ihr habt alle
Wahrheit in euch. Diese Aussage ist ersichtlich falsch, wenn es wahr ist,
wovon alle Christenheit überzeugt ist, daß das Heil8 und seine Erlangung
hängt an großen facta oder gesta Dei. Diese facta kann ich, so wenig wie
irgend sonst ein factum apriori wissen. Sie müssen mir als ein factum,
und das heißt als ein mir zunächst äußerliches Gegebenes entgegentreten,
\mc] so ernannt werden ... Aber gerade in dem was wir über den >Glauben< ausgeführt haben und über den Geist und das Zeugnis des Geistes
liegt zugleich, daß es mit dem verbum externum nicht getan ist. Das
äußere Wort ist wiederum nur ein Schaum auf dem Bier, wenn es nicht
realisiert wird, d. h. aber wenn es nicht zum verbum internum wird«. Ein
äußeres, a posteriori mir entgegentretendes factum ist nicht zu umgehen.
Aber der Sinn dieses factum ist mir nicht ebenso a posteriori mitgegeben,
sondern wird a priori — d. h. ohne einen sinneswahrnehmlichen Anlaß —
dem factum beigelegt. Diese Sinnerfassung geschieht zwar am Objekt,
jedoch nicht auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung — und deshalb a
priori. Von innen her. (B 40:) »Das Moment des >internum< tritt uns in
N. B. Heil ist »einziges religiöses Prinzip a priori« (A 114)!
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Das Religiöse Apriori in iRudolf Ottos Werk
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der Schullehre entgegen in der Lehre vom testimonium sp(iritus) sancti
internum. Zwei Momente werden hier verbunden: Geist und Innerlichkeit, oder ein Zeugnis von innen her«. Dieses von innen setzt Otto gleich
mit a priori, (ebd:) »Das heißt aber ein Zeugnis a priori. Was hier internum heißt, dasselbe kehrt wieder in der profanen Sprache als Erkenntnis
a priori«. Otto will demnach nicht den Fehler der Mystik (und nach
ihr Kants) aufrecht erhalten, wonach Erkenntnis a priori zureichend und
vollständig ist. Sie bedarf der äußeren facta durchaus, um wirklich Heilserkenntnis zu werden. Bei Otto gibt es keine Alternative zwischen a priori
und a posteriori, sondern ein dialektisches Zusammenspiel.
Die rein innerliche Erkenntnis erschließt mir die äußeren facta der
Heilsgeschichte. Und nun kommt es darauf an, daß die a priori in mir
liegende Erkenntnis die facta richtig interpretiert. Oder die richtigen
facta interpretiert. Wir haben gesehen, daß das nicht immer der Fall ist,
weil nicht alle möglichen Gegenstände der Erfahrung mit Recht numinos
apperzipiert werden. Letztlich bleibt sogar das einzige Objekt, an dem
sich die Kategorie des Heiligen bewahrheitet, Christus.
Auch das entspricht in keiner Weise dem Kant'schen Begriff. Hier
sind ja die Vernunftideen a priori gerade die Schranke, die eine Erkenntnis der Dinge an sich selbst verhindern. Die an sich schon eingeschränkte
Rolle der empirischen Erkenntnisse — sie sind ja immer nur zufällig —
wird durch die Vernunftprinzipien a priori noch mehr eingeschnürt. Denn
die Prinzipien a priori in der Vernunft gestatten keine echte Wahrnehmung der Dinge an sich mehr, sondern nur noch ihrer als Erscheinungen
Hingegen soll bei Otto die Kategorie a priori erst die Erkenntnis Gottes
an sich selbst ermöglichen. Während nach Kant a priori bestehende Prinzipien der Vernunft diese von den Dingen an sich trennen und an die
bloßen Erscheinungen verweisen, stellt bei Otto die Kategorie a priori
ganz im Gegenteil die Bedingungen dafür bereit, daß unsere Erfahrung
auf nicht empirische Gegenstände wie das Numinose ausgedehnt werden
kann. Kants Absicht wird genau umgedreht: bei Kant die Einschränkung
der Erkenntnis auf bloße Erscheinungen^ bei Ot^o &£ Erweiterung (ki
Erkenntnis über die Erscheinungswelt hinaus.
Von solcher Warte aus versteht man, daß Otto von allen Kantianern
aufs heftigste befehdet worden ist. Aber auch die großen Idealisten des
vorigen Jahrhunderts werden nicht nur an Kant gemessen, und so scheint
es sehr fraglich, ob es Otto recht geschah, daß er von Kantischen Kritikern
zerrissen wurde 9 . Man wird aber bei Ottos philosophischer Arbeit nicht
vermuten dürfen, daß er sich über seinen toto coelo verschiedenen Begriff
des a priori gegenüber Kant nicht bewußt gewesen wäre. Er hat Kants
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Schleiermachers Reden, sowie
E. F. Apelts Metaphysik ediert und war, wie seine Kant-Fries'sche Reli9
Friedrich K. Feigel, »Das Heilige«, Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos
gleichnamiges Buch, 2. Aufl. 1948. Diese Abhandlung wird Otto nicht gerecht.
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Reinhard Schinzer
gionsphilosophie beweist, mit der Philosophie wohl vertraut. Was aber
hat ihn dennoch bewogen, ein religiöses A priori zu behaupten?
Der Beweggrund, warum Otto ein religiöses Apriori unterstellte,
war allem Anschein nach ein anderer als der philosophische, der Vernunfterkenntnis Allgemeinheit und Notwendigkeit beizulegen. Otto sagt
ausdrücklich, der Anspruch religiöser Erfahrungen auf Geltung sei »nicht
beweislich«10. Ein Vernunftbeweis für die Religion steckt im religiösen
Apriori nicht. Was aber ist es dann, das Otto veranlaßte, ein religiöses
Apriori einzuführen?
Auch hier geht Otto von der religiösen Erfahrung aus. Und an dieser
Erfahrung fällt auf, daß sie nicht bloß Gefühl zu sein beansprucht, wie
Schleiermacher annahm. Auch ist Glaube nicht »ein Annehmen für wahr
ohne zureichenden Grund« (B 26). Seiner eigenen Überzeugung nach ist
Glaube vielmehr E r k e n n t n i s . Und eben dieses Selbstverständnis des
Glaubens wird durch das Apriori ausgelegt.
Sehr aufschlußreich zum Beweis dieser Behauptung ist Ottos Stellungnahme zur Frage der Autorität. Diese besagt einen äußeren Druck, der
midi überredet, dies oder jenes zu »glauben«. Aber Otto stellt fest, daß
religiöse Aussagen solcher Autorität als Stütze durchaus entbehren können. Das gilt z.B. für die at-lichen Propheten. DH 166: »Auch Amos als
er Jahveh als den Gott des unbeugsamen und des allgemeinen Rechts
schlechthin verkündet sagt etwas Neues, und doch etwas das er w e d e r
beweist noch für das er sich auf A u t o r i t ä t e n beruf t.
Er appelliert an Urteile a priori, nämlich an das religiöse Gewissen
selber«. Die Erkenntnis a priori bedarf keinerlei Versicherung durch
Autorität und Beweis! Und zwar kann sie darauf verzichten, weil sie
innerlich völlig gewiß ist. Da sind äußere Bestätigungen wie Autoritäten
und Beweise völlig überflüssig. Ja, sie können nicht einmal helfen. Denn
hätte beispielsweise Jesus autoritär seinen Anspruch auf die Messianität
erhoben, so könnte aus dieser »Selbstaussage ja gerade das n i c h t erfolgen wovon wir hier reden: sie könnte wohl Glaube auf Autorität hin
We&en aber nidlt da§ eigene Erlebnis, die spontane Einsicht und Anerkenntnis zuwege bringen wie sie der Satz meint: >Nun haben wir s e l b e r
e r k a n n t daß du bist Christus< «. (DH 184) Die Überwindung des
bloßen Autoritätsglaubens liegt Otto am Herzen. Ihm stellt er die Erkenntnis a priori entgegen!
Auch das Petrusbekenntnis von Cäsarea-Philippi wird dazu herangezogen. Hier sieht Otto in der erstaunten Feststellung Jesu (Mt 16, 17)
»Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im
Himmel«, einen »Beweis, daß Petri Erkenntnis nicht eine a u f A u t o r i t ä t h i n gelernte sondern selber gefundene, eine E n t d e c k u n g
war...« (DH 187). Diese Entdeckung aber ist, wie Otto sofort hinzu10
Das Gefühl des Überweltlichen (= GdO), München 1932 S. 49.
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Das Religiöse Apriori .in Rudolf Ottos Werk
201
setzt, nur möglich durch »die notwendige Veranlagung für das Erlebnis
des Heiligen nämlich die im Geiste angelegte Kategorie des Heiligen selber
als dunkle Erkenntnis a priori« (DH 188). Nur mit Hilfe der Aprioritheorie gelingt es Otto, den bloßen Autoritätsglauben auszuschließen
(vgl. DH189!).
»Eine jede Religion, die mehr sein will als nur T r a d i t i o n s - und
A u t o r i t ä t s g l a u b e , die vielmehr ... auf Überzeugung, auf eigenes
persönliches inneres Überführtsein das heißt aber auf eigene innere Erkenntnis ihrer Wahrheit ausgeht, muß Erkenntnisprinzipien voraussetzen,
nach denen sie als wahre selbständig anerkannt werden kann. Diese Prinzipien aber müssen Prinzipien a priori sein...« (DH 202) Ein Hauptanliegen der Lehre vom religiösen Apriori bei Otto ist es, den Glauben auf
Autorität hin, wie er seit Augustin von der katholischen Kirche vertreten
wird, zurückzuweisen11. Denn bloß autoritäre Mitteilung würde nur eine
schwache Überzeugung mit sich bringen. »Aus bloßer Verkündigung, aus
bloßer a u t o r i t a t i v e r Selbst-Aussage (sc Jesu) kommen solche massiven Gewißheiten, solche starken Impulse, solcher Trieb und Kraft zur
Selbstbehauptung nicht zustande, wie sie zum Entstehen der christlichen
Gemeinschaft erforderlich waren und wie sie als ihr Wesenszug klar zu
erkennen sind«. (DH 185).
Glaube ist also weder Unterwerfung unter eine Autorität12, noch
blinde Befolgung äußerlicher Mitteilung. Vielmehr ist ihm eigentümlich,
daß er »spontan« wach wird. Man denke an Kants »Spontaneität der
Vernunft«. Es wird im Glauben nicht nur etwas zur Kenntnis genommen.
Das bloße Zur-Kenntnis-Nehmen gilt allerdings für rein empirische Erkenntnisse. Sie kann ich nicht ohne die ständige Überprüfung durch Experimente beweisen. Und deswegen kann ich nicht von innen her zustimmen,
wenn ich empirische Daten erfahre. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis. Jene ist niemals
Ü b e r z e u g u n g , weil sich empirische Data ständig ändern können.
Religiöse Erkenntnis aber hat den Charakter der E i n s i c h t . Das ist ein
Überschuß über bloß empiri§chs§ Kennenlernen. Dieser Überschuß kommt
in der orthodoxen Dogmatik im Unterschied von fides historica und fides
als fiducia zum Ausdruck. Und diesen Überschuß über empirische Kenntnisnahme hält Otto seit seiner Frühzeit fest. Schon in der >Kant-Fries'schen Religionsphilosophie< spricht Otto davon, daß es wesentlich für den
Glauben sei, »daß wir selber e i n s e h e n , daß etwas so ist«13. Und in
DH 166 heißt es: »Das aber ist das Kennzeichen aller Erkenntnisse a
priori, nämlich daß sie mit der Gewißheit eigener Einsicht in die Wahr11
Zu Augustins Autoritäsglauben vgl. Fr. Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 6. Aufl. Tüb. 1959, S. 295.
l
· Sünde und Urschuld, München 1932 (·.-- SU), S. 150 f.
11
Kanusch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie,
Tüb. 1909, 2. Aufl. 1921 S. 44 zitiert bei Paus, a. a. O., S. 186.
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Reinhard Schinzer
heit einer Behauptung auftreten kann, wenn die Behauptung selber klar
ausgesprochen und verstanden ist«.
Was für die Wissenschaften des empirischen Bereichs unumgänglich
ist, nämlich die Offenheit für bessere Belehrung und die Revidierbarkeit
jeder Erkenntnis14, wirkt sich auf den Grad der Gewißheit so aus, daß.
immer nur zufällige Wahrheiten und bloße Kenntnisse vorliegen, keine·
eigentlichen Überzeugungen. Ganz anders im Glauben. Hier beugt sich der
Mensch nicht nur den Realitäten, sondern er stimmt innerlich zu. Es ist die·
I n n e r l i c h k e i t dieser Zustimmung, die (s. o. S. 199) auf einen spontanen Akt der Vernunft schließen läßt. Und diese innere Zustimmung, dieein Zuschuß zur rein äußerlichen Kenntnisnahme ist, ist der hervorstechende Zug der Erkenntnis a priori. Das Phänomen spontaner eigener
Einsicht ist der empirischen Kenntnisnahme fremd. Darauf weist Otto»
noch in besonderem Zusammenhange hin.
Eine seinerzeit besonders umstrittene Sache war der sog. Urmonotheismus. In den primitiven Religionen hatten sich monotheistische
»Reste« gefunden, die manche Forscher als Beweis einer geschichtlichen
Uroffenbarung ansahen. »Erinnerungen an eine geschichtliche Uroffenbarung< « sollten hier aufbewahrt worden sein. Otto hält das aufgrund
der Tatsache für verkehrt, daß für den Monotheismus ein »Selbstzeugnis
im eigenen Gemüte« spricht (DH 158). Dieses Zeugnis aber ist gegenüber
empirischen Daten — wie etwa einer lange zurückliegenden geschichtlichen Uroffenbarung, die ja nur eine von Lessings >zufälligen Geschichtswahrheiten< wäre, — undenkbar. »Beruhten die berühmten Vorkommnisse auf nichts anderem als auf geschichtlichen Überlieferungen und verdunkelten Erinnerungen an eine geschichtliche Uroff enbarungs so könnte
es dieses Zeugnis von innen her mit diesem Momente eigenen Anerkennens ebensowenig geben«, wie wenn es sich um psychische Sublimierungen
handelte (DH 158 f.). Wohl aber wird dieser beobachteten innerlichen
Bezeugung des Monotheismus die Theorie vom religiösen Apriori gerecht
(DH 157).
Der Unterschied zwischen Erkenntni§§en a priori und a posteriori
liegt demnach in ihrer Gewißheit. Das ist allerdings gut Kantisch. Um
z.B. die Ethik auf ein sicheres Fundament zu stellen, sucht Kant nach
einem ethischen Prinzip a priori und findet es in der Gesetzmäßigkeit. Die
Fundierung a priori ermöglicht überhaupt erst Ethik, ebenso wie Erkenntnistheorie. Für Kant ist allerdings die Gewißkeit ein Ergebnis der Apriorität. Deswegen müssen die gegebenen Ideen a priori auch wieder a priori
nachgewiesen werden (Paus 195). Otto jedoch sucht die Gewißheit der
religiösen Urteile nicht durch den transzendentalen Beweis, sondern er
erhebt phänomenologisch die Gewißheit am religiösen Erkenntnisakt.
Und er folgert: Weil Gewißheit aus der spontanen Tiefe eigener Einsicht,
14
Vgl. F. Buri, Dogmatik als Selbstverständnis des christlichen Glaubens, Bern 1956
Teil I, 103 ff., wo die Grenzen empirischen Wissens gut herausgearbeitet werden.
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Das Religiöse A priori in Rudolf Ottos Werk
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darum Erkenntnis a priori. Für Otto gehören Gewißheit und Apriorität
zusammen; aber nicht so, daß die Gewißheit in der Apriorität gründet,
sondern so, daß diese an jener abgelesen wird. Weil die Gewißheit des
Glaubens diese bestimmte Beschaffenheit der Einsicht hat, muß Erkenntnis a priori vorliegen. Otto will nicht die religiöse Gewißheit erst fundieren, sondern nur ihre besondere Art beschreiben. Diese Gewißheit geht
zurück auf »die rein aus dem Innern selbst entgegenkommende spontane
Einsichtskraft, die, vom Glauben als Geistesbesitz verstanden, zugleich
deutlich die formalen Züge einer Erkenntnis a priori an sich trägt« (B 42).
Ottos Verfahren kann als phänomenologisch charakterisiert werden.
Neben der Form religiöser Erkenntnis steht ihr Inhalt. Auch der Inhalt
des religiösen Apriori fällt aus der natürlichen Sinneswahrnehmung heraus. Und so stellt Otto auch für die religiösen Wertideen fest: »Und
ebenso ist schon f ä n o m e n o l o g i s c h festzustellen... daß diese Bewertungen ... rein a priori sind« (GdÜ 59). Phänomenologisch ist die
Unabhängigkeit religiöser Ideen von allen anderen Ideen der Vernunft
sowie von sinnlichen Gegenständen festzustellen.
Wenn das religiöse A priori letztlich ein phänomenologischer Baustein ist, so kann nicht mehr davon die Rede sein, daß Otto mit den
Kapiteln über die Kategorie a priori in DH aus der Methode seiner
phänomenologisch angelegten Schrift herausgefallen sei15. Die Behauptung
des religiösen A priori ist vielmehr ausschließlich an den Phänomenen
selbst abgelesen. Mit einer gültigkeitstheoretischen Frage hat es eigentlich nichts zu tun. Das zeigt sich schon dadurch, daß Otto in etwas fragwürdiger Diktion den nicht religiösen Leser bittet, seine Lektüre schon
auf S. 8 abzubrechen. Ein Beweis soll demnach ja wohl nicht versucht werden. Ein nicht religiöser Mensch kann hier nichts lernen. Für Otto ist also
nicht wie bei Kant die Gewißheit in der Apriorität begründet, sondern
umgekehrt. Die Apriorität ergibt sich aus der Gewißheit. Denn empirische Erkenntnisse erreichen nie den Grad religiöser Gewißheit. Folglich
muß es sich um Erkenntnisse a priori handeln.
Es Heße sich natürlich fragen, ob der gültigkdtstheofeti§eh §0 stark
belastete Begriff >a priori< so einfach phänomenologisch verwendet werden kann. Otto hat es jedenfalls getan. Er meint den Terminus immer rein
deskriptiv — in der Bedeutung »Nicht-Gegebensein durch Sinneswahrnehmung« (GdÜ 58). Ein Geltungsanspruch ist jedoch hiermit nicht erhoben. Nicht der Nachweis der Apriorität beantwortet schon die Geltung
einer Idee. Sondern diese Geltung kann nur gefühlsmäßig anerkannt werden. (GdÜ 59)1
So Paul Seifcrt, Die Religionsphilosophic bei Rudolf Otto, Düsseldorf 1936 S. 90
»Indem die gefühlsmäßige Ideengrundlage a priori<, kurz die Apriorität der
>Anlage< zum Ausgangspunkt gemacht wird, ist nicht nur der Kantische, sondern
gerade auch der phänomenologischc Ansatz aufgegeben.«
Auch Kant kann ja die Geltung des Sittengesetzes als Idee a priori nur durch das
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Reinhard Schinzer
Damit rückt uns Otto theologisch wesentlich näher. Er hat nicht
einen Vernunftsbeweis für die Religion gesucht. Das religiöse A priori
bietet eben keine transzendentale Deduktion der Notwendigkeit der
Religion. Diese wäre ja mit der Beweisbarkeit identisch (DH 79). Was
beweisbar ist, kann ich auch lehren.
Aus demselben Grunde kann Otto auch nicht Kants Weg der transzendentalen Deduktion einschlagen, um die religiöse Kategorie a priori
nachzuweisen17. Für Otto ist Apriorität ein phänomenaler Tatbestand.
Er braucht nicht transzendental deduziert zu werden.
Ansgar Paus hat in seinem bereits häufig zitierten Buch den Versuch
unternommen, Rudolf Ottos Theorie vom religiösen Apriori aus der
Fries'-Apelt'schen Tradition her zu erklären. »Bei unserem Versuch —
schreibt er S. 120 — einer aus dem Werk Ottos auf den ersten Blick nicht
klar erkennbaren Einordnung der Gedanken in ein Bewußtseinssystem,
werden wir uns an die >Metaphysik< von Apelt halten. Die Gesamtuntersuchung muß zeigen, ob dieser methodische Versuch richtig war oder
nicht«. Offensichtlich war dieser Versuch nicht richtig. Schon deshalb nicht,
weil für Otto Philosophie niemals der Theologie vorgeordnet ist. Die
Philosophie greift nach Otto auf religiöse Intuitionen zurück. Die Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge, die auch in Ottos KantFries'scher Religionsphilosophie eine so entscheidende Rolle spielt (dort
S. 61 Paus S. 122), beruht auf religiöser Intuition der Totalität der Welt.
(A 193) »Das totum, fühlbar aus der religiösen Sfäre entlehnt, wird zur
konstruktiven Idee in der Filosofie«. Ebenso ist der Monotheismus von
der Religion her in die philosophische Spekulation eingedrungen.
(A 166 f.) »Schöpferwesen in Vielzahl setzen ist irgendwie Wahnsinn. Das
fühlt man religiös unmittelbar ... Rational entwickelt ist dieses Moment
in den theistischen Erwägungen von Kant und Fries«. Die Philosophie
borgt nach Otto bei der Theologie, ihre Ideen sind »Absenker« der Religion18. Das gilt sogar auch für den hier zur Debatte stehenden Begriff
»ä priori« §elber19. Sein Ursprung liegt nach Otto in der Mystik, und die
rationale Bewußtseinsphilosophie ist nur noch eine verkümmerte Nach-
17
18
19
Gefühl der Achtung begründen. Vgl. Kritik der prakt. Vernunft, Hamburg 1963
S. 86 »also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen
intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir
völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können.« Auch
Kant kann die Geltung also nicht aus der Apriorität des Sittengesetzes deduzieren.
Feigel, Das Heilige-Kritische Abhandlung über R. Ottos gleichnamiges Buch, 2. Aufl.
Tübingen, 1948, S. 73 f.: »Denn der Weg, auf dem Otto zu diesem Apriori kommt,
ist nicht entfernt dem dornigen, steilen Pfad vergleichbar, auf dem Kant die transzendentale Deduktion< der reinen Anschauungen und der reinen Verstandesbegritfe
erreicht.«
R. Otto, West-östliche Mystik, 2. erg. Auflage, Gotha 1929, 54 Anm. 1.
Ebd.
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Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk
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folgerin der mystischen Intuition. Bei einem derartigen Vorrang der
Theologie vor der Philosophie ist es s<chwer denkbar, daß Otto sich auf
eine bestimmte, nämlich die Apelts, festgelegt haben sollte.
Als Inhalt der Kategorie a priori gibt Paus an: »die Grundvorstellung von der Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge« (128).
Diese Inhaltsangabe wird dem »Heiligen« nicht gerecht. Denn ist etwa
diese Grundvorstellung von Einheit und Notwendigkeit auch nur im
entferntesten n u m i n o s ? Was soll an dieser Vorstellung tremendum,
was fascinans sein? Schon diese Bestimmung des religiösen Apriori bestätigt, was wir eben von Otto hörten: die philosophischen Reste religiöser
Intuition sind fade Rückstände gegen die ursprüngliche religiöse Intuition.
Die Grundvorstellung von der Einheit und Notwendigkeit im Wesen
der Dinge heißt bei Apelt die ursprüngliche formale Apperzeption20.
Paus hofft nun, den Beweis für die Übereinstimmung von UFA (= ursprünglich formale Apperzeption) und religiösem Apriori führen zu
können. Er meint, die Verbindung von irrationalen und rationalen Momenten in der komplexen Heiligkeitskategorie (DH 165 f.) zurückführen
zu können auf das, »was Apelt >die ursprünglich dauernde, sich gleichbleibende Tätigkeit der einen Erkenntniskraft in unserer Vernunft<«
(S. 152) genannt hatte. Die Einheitsfunktion der UFA soll auch die Einheit von rationalem und irrationalem Gehalt in der Idee des Göttlichen
bewerkstelligen.
Damit aber ist das Problem bei Otto gänzlich verkannt. Otto fragt
ja garnicht nach der Einheit aller Gegenstände im Bewußtsein. Er stellt
die Frage, wieso an einem nicht subjektimmanenten Wesen irrationale
und sittliche Momente verschmelzen. Es geht also nicht um irgendeine
Verbundenheit von Rationalem und Irrationalem, sondern um ihre Verbindung im numinosen Objekt, in Gott.
Paus verlegt die Gotteserfahrung ganz in diese UFA. Gott soll sich
ausschließlich darin zu erkennen geben, daß die Vernunft die Vorstellung
von Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge bildet. Damit scheidet jede äußere Offenbarung für Otto angeblich aus21. Otto wird mit
Eckhart auf eine Stufe gestellt (S. 164 u. ö.). Das numinose Objekt ist
letztlich subjektimmanent. Aus unseren Ausführungen aber ergibt sich
klar, daß das nicht stimmt. Otto hält gegen die Mystik an einer äußeren
Offenbarung fest. In seinen Vorlesungen stellt er sich darin ausdrücklich
gegen die Mystik auf die Seite Luthers, der das »Faktische« der Offenbarung in der Geschichte betont. »Der Unterschied gegen die Mystik liegt
"J Paus, S. 146.
21
Paus, S. 164 »Der Weg der Gotteserfahrung führt auch bei Otto in das Innere des
Menschen.« S. 106 Anm. ist es Paus unverständlich, zu behaupten, »Rudolf Otto
habe mit dem, was er >mysterium tremendum< nannte, eine >objektive Wirklichkeit
im Sinne von transsubjektiver Gegenständlichkeit gemeint, die der Mensch auf
irrationale Weise erfahren könne.« — Vgl. S. 88, 108, 128, 142, 163, 166.
N. Zeitschr. f. syuemat. Theologie 11
14
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Reinhard Schinzer
in diesem Faktischen des Wortes. Es hat einen Moment gegeben, da zerriß
Gott den Himmel und fuhr herab, fuhr herab eben mit dem ewigen Worte
vor aller Zeit und sprach sich aus in Menschenform« (B 13).
Der Fehler Paus', der nur noch eine innere Offenbarung im Menschen
sieht, beruht darauf, daß er jede äußere Offenbarung in Bausch und Bogen
ablehnt. Er hat keinerlei Verständnis für die Lehre von der Divination.
Es stört ihn offenbar, daß nach Otto Naturgegenstände und Weltdinge
nur Gelegenheitsursachen für das numinose Gefühl sind. Für sein Verständnis »scheidet die außersubjektive Welt als Offenbarungsquelle aus<«
(S. 86, vgl. 88). Wohl sieht auch er, daß Otto das Numinose wiederholt
als Objekt außer mir kennzeichnet (DH 11, 20 Anm.). Aber sogleich
wehrt er diesen Gedanken ab: »Lassen diese Gedanken den Eindruck entstehen, als ob es unserer Vernunft wirklich möglich sei, das außersubjektive, reale Objekt zu erfassen, so wird man andererseits in dieser Meinung
unsicher, wenn man die okkasionalistischen Darlegungen über die Objekte
als Reizauslöser oder Anreger überdenkt...« (S. 128 Paus).
Aber warum sind Naturgegenstände für Otto nur Reize? Ist damit
ein für alle Mal eine äußere Offenbarung ausgeschlossen? Wir haben doch
vielmehr gesehen, daß Otto sich von der »Vergötterung von Naturgegenständen« (DH 161) distanziert, weil damit gerade das eigentliche Objekt
verkannt wird. Gott offenbart sidi nicht in der Natur, wenn wir die
Natur vergöttern (Rm l, 18 ff!). Aber damit ist nicht jede ä u ß e r e
Offenbarung aufgehoben. Im Gegenteil! Otto kritisiert Schleiermacher
nicht, weil er überhaupt eine Offenbarung Gottes außer mir vertritt. Der
entscheidende Mangel an Schleiermachers Lehre von der Divination der
Erscheinung des Heiligen »ist daß Schleiermacher die Divination gegenüber von Welt und Geschichte zwar sehr warm und anschaulich zu schildern weiß, daß er ihr aber nur knapp in Andeutungen, nicht ausführlich
und deutlich dasjenige Objekt gibt und läßt das ihrer am würdigsten
und am günstigsten ist: die Geschichte der Religion selber und vornehmlich die der biblischen und deren höchsten Gegenstand, Christum selber«
(DH 183)» Di§ Natur ist deswegen nicht Offenbarungsquelle, weil es
eigentlich nur Jesus ist. Die Alternative lautet nicht: Offenbarung in der
Natur oder nur im Menschen. Sie lautet vielmehr: Offenbarung entweder
in der Natur oder in der Heilsgeschichte. Hierüber ist sich Paus völlig im
Unklaren. DH 172 (Vgl. unsereDeutung oben S. 193) spricht vom Heiligen
in der Erscheinung. Paus kann damit nichts anfangen und deutet folglich:
»Wenn die Phänomene... selber als >wirkliche Erscheinungen des Heiligem gedeutet werden, so liegt hier eine >Verwechslung der Kategorie des
Heiligen mit etwas nur äußerlich Entsprechendem< vor« (S. 184). Das sind
zwar Ottos eigene Worte, die aber doch einen ganz anderen Sinn haben.
Otto will sagen, alle die aufgezählten Dinge vom Geheimnisvollen bis
zum Fürchterlichen seien nicht wirklich Offenbarung, weil diese in der
biblischen Geschichte zu sehen sei. Nicht der Gegensatz Außenwelt—
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Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk
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Inneres bestimmt die Darlegung Otto-s, sondern der Gegensatz wahre—
vermeintliche Offenbarung.
Allerdings stützt Paus seine These, Offenbarung gebe es nur im Inneren des Menschen — in der UFA — auf seltsame Formulierungen Ottos
in GdÜ. In dem Abschnitt »Das Uberpersönliche im sensus numinis«
(GdÜ 265 ff.) geht Otto auf die Trinitätslehre ein. Diese wahre einerseits die Transzendenz Gottes, »Sie sichert andererseits die reale Immanenz desselben in seinem Offenbarungsträger als Logos-pneyma«
(270). Paus kommentiert: »Jeder Mensch kann Offenbarungsträger dieses Numen sein«. Das steht zwar nicht da, ist jedoch auch nicht auszuschließen. So vermag Paus auch hierauf zu stützen, im Menschen sei allein
Offenbarung möglich. Aber die ausführlicheren Vorlesungen Ottos belehren uns eines besseren. Auch dort ist Gott als Logos-pneuma den Gläubigen immanent (A 251). Otto führt als Beleg Joh. 5, 38 an. Die »Immanenz
des Wortes ist die Vorbedingung dazu, daß man Jesum sehen kann als
das verbum Dei« (ebd.). Die Johannesstelle »ist darum ganz richtig der
Aussage der Lehre vom inneren Worte, das mit dem ewigen Worte identisch ist. N i c h t u m d i e O f f e n b a r u n g i n C h r i s t o ü b e r f l ü s s i g zu machen oder uns mit ihm auf gleiche Stufe zu stellen, wohl
aber in dem Sinne, daß Göttliches in uns selber real immanent sein muß,
wenn wir es in seiner menschlichen Erscheinung an Christo wiedererkennen sollen«. Otto will also auch mit der Immanenz Gottes im Gläubigen
die äußere Offenbarung in Christo nicht überflüssig machen.
Es ist also eine Verkürzung, wenn Paus nur im Innern des Menschen
Gotteserkenntnis für Otto zugesteht.
Auf dieser Grundthese aber ruht die gesamte Otto-Deutung von
Paus. Ist sie verkehrt, so ist auch die Bestimmung des religiösen Apriori
verfehlt, wonach das religiöse Apriori die UFA sein soll.
In Ottos reiferer Lehre — die frühe Kant-Fries'sche Religionsphilosophie wurde ausgeklammert — ist das religiöse Apriori einerseits der
Rest einer ursprünglichen Offenbarung (oben S. 198), andererseits der
Spiritus sanctus in corde^ der die echte Anerkennung JeSU als des Christus
ermöglicht. Otto entreißt also den terminus »a priori« der Philosophie,
um mit ihm durchaus theologische Sachverhalte wie »Rest der imago Dei«
oder »testimonium spiritus« zu bezeichnen. Hier fangen dann die Probleme an. Denn wenn nicht alles trügt, sind nach Otto die reliquiae
imaginis post lapsum mit dem spiritus sanctus in corde durchaus identisch:
beide sind »das religiöse Apriori«. Diese Verbindung ist allerdings anstößig. Und hier müssen wir es bei einer ungelösten Frage belassen.
K Zeitschr. f. systemat. Theologie 11
14*
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