In: Widerspruch Nr. 26 Ästhetik des Nationalen (1994), S.77

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In: Widerspruch Nr. 26 Ästhetik des Nationalen (1994), S.77110
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Dirk Baecker (Hg)
Probleme der Form
Frankfurt/Main (Suhrkamp-Verlag),
291 S., 22.80 DM.
„Laws of Form“ - so lautet der Titel
eines Werkes des Logikers George
Spencer Brown, eines Werkes, dessen Bedeutung für die Systemtheorie insbesondere durch seine Rezeption im Oeuvre Luhmanns forciert
wurde und nun kaum noch überschätzt werden kann. Dieses Werk
bzw. die in ihm ausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten sowie Luhmanns
Schriften bilden daher auch die Angelpunkte der von Dirk Baecker herausgegebenen Aufsatzsammlung
Probleme der Form. Ansonsten aber sind die dort zu findenden Abhandlungen äußerst heterogen. Von
Fragen der Literatur- bzw. Kunstsoziologie über die Semiotik bis hin
zu einer Theorie der Entwicklung
der Geldwirtschaft aus der Frühe(n)
Form der Münze (Michael Hutter),
wird allerlei von dem „ausprobiert“,
was sich für die Theoriebildung innerhalb der verschiedensten Forschungsrichtungen aus der Integration der Logik Spencer Browns in
die Systemtheorie gewinnen lassen
können sollte. Alle dreizehn Beiträge gehen auf eine Tagung zurück,
die 1991 in Hamburg stattfand.
Der
Grundgedanke
Spencer
Browns läßt sich in gewagter Kürze
etwa so umreißen, daß sowohl für
Natur- wie für Denkgesetze gilt, daß
sie mit Bezeichnungen arbeiten und
daß man nur dann etwas als etwas
Bestimmtes bezeichnen kann, wenn
man zuvor eine Unterscheidung getroffen hat, deren eine (innere) Seite
bezeichnet wird (marked state) und
deren andere (äußere) Seite unbezeichnet bleibt (unmarked state),
wobei der „unmarked state“ der
markierten Seite aber erst ihre Bestimmtheit verleiht. „Draw a
distinction“ - eine Aufforderung
und kein Axiom steht dabei am Anfang von Spencer Browns Logik
und verleiht ihr einen operationalen
Charakter, der auf Voraussetzungslosigkeit bewußt verzichtet, wie Elena Esposito in ihrem Aufsatz
Zwei-Seiten-Formen in der Sprache
ausführt. Mit „Form“ wird also eine
Unterscheidung bezeichnet, sofern
sie von dem durch sie Unterschiedenen unterschieden wird. „Form“
ist also paradox: sie muß Unterscheidungen etablieren (also schon
gegeben sein); um sich von diesen
Unterscheidungen unterscheiden zu
können als das, was sie selbst ist: die
Form jeder Unterscheidung. Mit
„Form“ wird hier also kein Begriff
bezeichnet, der noch durch die traditionelle Unterscheidung von Form
und Inhalt (Materie) zu verstehen
wäre: „Die Form ist so materiell wie
die Materie formal bestimmt“, erklärt Dirk Baekker in der Einleitung.
Und wenn immer nur die „innere“
Seite (der marked state) bezeichnet
und also beobachtet werden kann,
weil die „äußere“ Seite der Unterscheidung nur zur Bestimmung der
inneren verhilft, selbst aber unbestimmt bleiben muß, dann bleibt
diese äußere Seite einer Form immer ein blinder Fleck, wie David
Roberts ausführt. Die unbezeichnete Seite jeder Form muß blind bleiben, denn würde sie bestimmt, so
müßte man sich auf ihre andere Seite stelle, um sie beobachten zu können, womit dann umgekehrt nun
diese unbezeichnet gehalten werden
müßte, um der anderen ihre Bestimmtheit zu verleihen. Will man
also beide Seiten einer Form
zugleich beobachten, so muß man
innerhalb der bezeichneten Seite eine weitere Unterscheidung einführen, womit die Form also nun in
sich selbst wiedereintritt (Spencer
Brown: „re-entry“) - und paradox
wird. David Roberts gelingt es nicht
nur, diese Paradoxie der Form in
der Literatur des Deutschen Idealismus bei Fichte unter der Bezeichnung „Reflexion“ wiederzufinden:
„Die Handlung der Freiheit, durch
welche die Form der Form ihres
Gehaltes wird und in sich selbst zurückkehrt, heißt Reflexion“ (Fichte).
Vielmehr wendet er die Theorie der
Form auch auf eine Theorie der
Evolution der Literatur an, die den
Weg von der (traditionellen) „Objektkunst“ zur (modernen) „Weltkunst“ (Luhmann) auf den geschichtlichen Prozeß der Transformation der Gesellschaft von einer
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stratifizierten zu einer funktional
differenzierten
nachzuzeichnen
weiß.
Niklas Luhmann widmet seinen Beitrag dem Zeichen als Form. Historisch ansetzend zeichnet er den Weg
von einer antiken Ontologie der
Sprache über de Saussure, Peirce
und Roland Barthes bis zu den
Konsequenzen einer Anwendung
der Laws of Form innerhalb der
Semiotik nach. „Zeichen“ wird nun
verstanden als die Differenz von
Bezeichnetem und Bezeichnendem,
so daß einerseits nicht mit Barthes
davon ausgegangen werden kann,
daß es referenzlose Zeichen gebe
und man andererseits gezwungen
wird, die Referenz nicht mehr als
etwas zeichenexternes (einen äußeren Gegenstand, etwas Gedachtes
oder ein „Meinen“) anzusehen,
sondern als eine Seite der Differenz,
die das Zeichen selbst ist. Wer hier
dekonstruktivistische Anleihen wittert, liegt sicherlich nicht ganz
falsch. Ausgehend von Kants Entdeckung, daß schon im Begriff der
Form die Unterscheidung von
Form und Materie steckt, entwickelt
der Pädagoge Karl Eberhard Schorr
in Zu Formenanalyse und Formgebrauch in der Logik eine Kritik
der formalen Logik. Nach den so-
genannten Gödel- und FregeKatastrophen, in denen sich die
klassische Logik des „tertium non
datur“ als eine Logik mit eingeschlossenem Ausgeschlossenen (d.
h. mit eingeschlossenem Widerspruch) erwies, läßt sich laut Schorr
auf die Frage: „Wie sind logische
Formen bestimmt, wenn sie nicht
zur widerspruchsfreien Kontrolle
der Prozesse taugen?“, nur noch
antworten: Sie sind zur Herstellung
und Erkennung von Widersprüchen
bestimmt. Dirk Baecker wiederum
macht mithilfe des Formbegriffs in
Das Spiel mit der Form die jedes
Spiel begleitende und im Spiel selbst
unsichtbare Paradoxie sichtbar, eine
Paradoxie, die darin besteht, daß im
Spiel Handlungen vollzogen werden
müssen, die nicht bedeuten was sie
bedeuten. Klaus P. Japp analysiert
dagegen Die Form des Protests in
den neuen sozialen Bewegungen.
Die Protestbewegungen kennzeichnende Differenz ist seiner Meinung
nach die von zugehörig/nichtzugehörig-zu-einer-Bewegung. Rudolf Stichweh analysiert Die Form
der Universität, um die Ausdifferenzierung und die Stabilität des Universitätswesens soziologisch präziser fassen zu können. Helmut
Willke nutzt dagegen seine Untersuchung Kontingenz und Notwendig-
keit des Staates, um sein größeres
Werk Ironie des Staates zusammenzufassen, und Giancarlo Corsi ergründet in Die dunkle Seite der
Karriere die Unmöglichkeit, sich
heute einer Karriere zu entziehen,
denn selbst der „Verweigerer“ kann
eine Karriere nur verweigern, wenn
er sich biographisch an der Unterscheidung (=Form) Karriere/keine
Karriere immer schon orientiert.
Fritz B. Simon schließt den Band ab
und möchte in seinem Beitrag Die
andere Seite der Krankheit zeigen,
daß die systemische Therapie die
Psychotherapie ersetzen kann, indem sie therapeutisch nicht am System Psyche ansetzt, sondern das,
was andere (etwa Freud) als psychische Störung behandeln, lediglich zu
einer Störung des Kommunikationssystems erklärt. Die von ihm erörterten Formen sind verstehbar/nicht-verstehbar sowie gesund/krank. Immerhin stellt er sich
dabei explizit auf die Seite der „verstehenden Wissenschaften“. Das
Problem aber, ob nicht doch beispielsweise eine Phobie schon vor
oder ohne Kommunikation eine
Störung im und für das psychische
System sein kann, so daß nur Psychotherapie helfen kann, wird in
seiner ansonsten sehr aufschlußrei-
chen Untersuchung leider nicht diskutiert.
Dem soziologisch und systemtheoretisch interessierten Leser kann
man den Sammelband wohl als eine
interessante, weil richtungsweisende
Neuerscheinung des letzten Jahres
empfehlen.
Harald Wasser
Arthur C. Danto
Die philosophische Entmündigung der Kunst (The philosophical disenfranchisement)
übersetzt v. Karen Lauer, München
1993 (Fink-Verlag), 255 S., 48.- DM.
Ist Danto ein Vertreter der Postmoderne? - Nein, er ist Intuitionist,
Hermeneutiker, Antihermeneutiker,
Materialist, Anti-Philosoph in einem. Doch scheint es gerade ein
Merkmal von Postmoderne zu sein,
daß verallgemeinernde (die „identifizierenden“) Fragen vermieden
werden sollten, um die Würde des
Einzeldings (was auch immer das
sein mag: es reicht von Natur über
Individuen bis - anscheinend - Nationen) nicht zu unterdrücken.
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Doch der Reihe nach: Die vorliegende Aufsatzsammlung ist mit der
Ehrenrettung der Kunst beschäftigt
und dies aus zwei Gründen: 1) weil
Philosophie die Kunst ins Ephemere abgedrängt habe (und dies offensichtlich nicht hingenommen werden dürfe); 2) wegen der in der modernen Kunsttheorie drängenden
Frage, was eigentlich ein Kunstwerk
konstituiere, wenn es nicht sein
sinnlich Äußeres sei. Danto macht
dies an Duchamps Ready-mades
fest, d.h. Kunstobjekten, die
Gebrauchsgüter wie Flaschentrockner oder Urinale nicht nur darstellen, sondern es tatsächlich sind. Seine dabei entworfene Interpretationstheorie wendet sich sowohl
gegen die Institutionstheorie wie
gegen idealistische Transparenztheorien, nach denen das Kunstwerk
nur ein Medium für eine höhere Entität (Gott, Genie o.a.) sei.
1) Seit Platon, so Danto, sei Kunst
von der Philosophie zur Wirkungslosigkeit verdammt worden. Platon
habe Kunst als Erscheinung von
Erscheinungen marginalisiert, Kant
sie zu einem Zweck ohne Zweck
gemacht. Gemeinsam sei allen, daß
Kunst - gemessen am Maß der Vernünftigkeit (bei Platon die Ideen,
bei Kant Vernunft im Allgemeinen
und reiner Verstand im Besonderen) - auf einer Erkenntnisart niederer Stufe (bei Hegel am deutlichsten: als das noch Sinnenverhaftete)
angesiedelt wurde.
Mit Hegel und Marx habe die Philosophie sich gegen sich selbst gekehrt, da sie das Kriterium der Vernünftigkeit mit der Veränderbarkeit
der Welt identifiziert habe. Dem
„Verdikt“ der Wirkungslosigkeit,
welches Philosophie seit ihren Anfängen über die Kunst verhängte,
mußte Philosophie sich nun selbst
beugen. Gegenüber der Wissenschaft, die Hegel und Marx zur
Richterin der Wahrheit gemacht
hätten, sei Philosophie als Erkenntnisweg unvollkommen geworden.
Das kennen wir: Adorno, Negative
Dialektik, 1.Kapitel, 1.Seite.
Dantos Reaktion auf die Selbstisolierung der Philosophie ist jedoch
von der der postmodernen Urväter
grundverschieden: Wenn Philosophie sich selbst obsolet gemacht
hat, so soll sie diese Rolle auch akzeptieren. Und damit knüpft er die
Frage nach der Rolle der Philosophie an das zweite Problem: was
konstituiert Kunstwerke?
2) „Meine Theorie folgt nicht dem
Geist der Wissenschaft, sondern
dem der Philosophie. Wenn Interpretationen das sind, was die Werke
konstituiert, dann gibt es keine
Werke ohne sie...“ (68) Doch was
sind überhaupt Interpretationen?
Interpretationen seien nicht „außerhalb des Kunstwerkes“, sondern
entständen „gemeinsam im ästhetischen Bewußtsein“ (68). „Die Interpretation ist die Instanz, in der
sich das, was ich Verklärung [wohl:
enchantment] genannt habe, vollzieht“ (104). Diese „Verklärung“
aber läuft letztlich darauf hinaus,
daß ein Ding nicht (nur) buchstäblich bedeute, - eine nicht sehr neue
und in dieser Form sehr dürftige
Theorie.
Besser sind da die weiteren Ausführungen zum Interpretationsbegriff
(in: Tiefeninterpretation). Danto unterscheidet zwischen Oberflächenund Tiefeninterpretationen. Erstere,
die traditionelle Art, drehe sich um
die Frage, was die Identität eines
Kunstproduktes konstituiere, und
besitze als Konvergenzpunkt die Intention des Künstlers. Demgegenüber weise die Tiefeninterpretation
keinen derartig privilegierten Standpunkt auf, da sie nach dem suche,
was verborgen sei, - für den Künstler wie für die Rezipienten. Beispiele
solcher Interpretationen seien: Psychoanalyse, Strukturalismus, Marx'
und Hegels Geschichtsphilosophie.
Alle diese Tiefentheorien seien antimaterialistisch, insofern sie die Identitätsthese (nach der mentale
Zustände mit neuronalen oder materiellen Zuständen identifiziert
werden könnten) ablehnen würden,
und dies in einer bestimmten Weise:
im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Materialismus würden
diese geisteswissenschaftlichen Tiefeninterpretationen erstens notwendig Ausnahmen zulassen und seien
zweitens konstitutiv intensional.
„Tiefeninterpretation“ bedeute also,
daß das Interpretandum (das
Kunstwerk) durch die Interpretantia
überdeterminiert sei, indem es viele,
gleichrangige Tiefeninterpretationen
desselben Objektes gäbe, ohne daß
dabei die Oberflächeninterpretation
(die Intention des Künstlers) unbestimmt werde.
Abgesehen von einem gründlichen
Mißverständnis naturwissenschaftlicher Theoriebildung (Charakter von
wissenschaftlichen Allaussagen, Extensionalität) - Danto macht nicht
klar, was an intensionalen Beschrei-
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bungen „tief“ oder „verborgen“
sein soll! Ebenso drückt sich Danto
um eine Stellung zu dem Problem,
wie verborgene Zustände - zu denen übrigens auch neuronale Zustände gehören! - ein Phänomen
überdeterminieren können durch
die bloße Tatsache, daß es deren
viele gibt? Anders ausgedrückt:
What the heck is Overdetermination if not simple pluralism?
Die Vermutung liegt nahe, daß hier
Geisteswissenschaft gegen Naturwissenschaft ohne Not ausgespielt
wird, und die Wortwahl das postmoderne Unbestimmtheitspostulat
kaschiert.
Die Aufsätze Das Ende der Kunst und
Kunst, Evolution und das Bewußtsein der
Geschichte behandeln Dantos These:
die Kunst sei an ihrem Ende angekommen, indem sie zu Philosophie
geworden sei (für die Literatur: Die
Philosophierung der Literatur).
Danto verbindet dabei die postmoderne Entgrenzungsthese mit der
Hegelschen Geschichtsphilosophie.
Die Unterschiede zwischen Künstler und Kritiker, Werk und Rezeption lösten sich in dem Maße auf, in
dem Kunst nicht mehr an bestimmte Personen und Objekte gebunden
sei. Die (Post)moderne Kunst habe
sich durch konsequenten Interpretationismus selbst zum Objekt gemacht und damit auch noch den
Unterschied von Subjekt und Objekt aufgehoben. Nach Hegel falle
aber das Ende von Geschichte mit
der Aufhebung der Subjekt-ObjektDialektik (dem absoluten Wissen)
zusammen. Kunst sei in ihrem
posthistorischen Zeitalter zu sich
selbst gekommen, indem sie zu Philosophie geworden sei. „Die weitere Geschichte (ist) ... jetzt Sache der
Philosophie“ (243).
Doch diese Entgrenzung gehe weiter: sie „bewirkt einen Wandel der
gesamten Kultur“ (244). Der Pluralismus der Tiefeninterpretationen
(=Philosophien) sei nunmehr auf
der Höhe der Zeit, habe diese „auf
den Begriff gebracht“.
Mit (Hegels) Geschichtsphilosophie
läutet Danto das Ende von
(Kunst)Geschichte ein. Im Gegensatz zu seinen postmodernen Kollegen (wie etwa Lyotard) bedient sich
Danto der Metaerzählungen, um
das Paradies des ästhetischen Pluralismus zu verkünden, als dessen
Propheten er sich selbst betrachtet
(244). Das schöne Ideal von der
Gleichberechtigung der Lebensformen wird „gestützt“ von der post-
modernen Annahme: „Geschichte
hat ein Ende, die Menschheit aber
bleibt bestehen“ (142).
Für Danto verbleibt die Geschichtsphilosophie als Surrogat
von Tiefeninterpretationen, aus denen keine Konsequenzen gezogen
werden dürfen außer derjenigen,
daß es deren viele gibt. Diese autosuggestive Vorstellung von Kunst
und Geschichte wird sich aber auch
mit der selbstproklamierten These
auszusetzen haben, sie sei ja auch
nur eine Interpretation unter vielen.
Es überrascht nicht, daß sie eben
dies nicht tut.
Wolfgang Melchior
Terry Eagleton
Ästhetik. Die Geschichte ihrer
Ideologie
Stuttgart-Weimar 1994 (MetzlerVerlag), engl. Br., 447 S., 78.- DM.
Um eine Geschichte der Ästhetik
handelt es sich bei diesem Werk
nicht. Zu viele bedeutende Ästhetiker werden mit Stillschweigen übergangen, zu wenig werden die behandelten Autoren und Werke sys-
tematisch
entfaltet.
Eagleton
verfährt exemplarisch; von der englischen Aufklärung (Shaftesbury,
Hume) bis zur französischen Postmoderne (Foucault, Derrida) stellt
er einzelne Ästhetiker und ästhetische Konzepte vor: Kant und Schiller, Hegel, Schopenhauer, Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Freud, Heidegger,
Benjamin,
Adorno.
Kenntlich gemacht wird dabei das
Prinzip oder der Begriff des Ästhetischen, von dem aus die Phänomene des Schönen, des Häßlichen oder
der Kunst dargestellt oder entschlüsselt werden.
Zum einen will Eagleton die sozialen und moralischen Fragen transparent machen, die in den Begriffen
des Ästhetischen enthalten sind und
in denen sich der „Kampf der Mittelklasse um politische Hegemonie“
ausdrückt. Zum anderen versucht
er, über die Widersprüchlichkeit
und Ambiguität dieser Begriffe, den
Zugang zu den zentralen Fragen der
europäischen Moderne freizulegen.
Dieser Zugang besteht für Eagleton
insbesondere in zwei Tendenzen.
Erstens versucht er den Nachweis
zu führen, daß die moderne Philosophie selbst die Form und Struktur
des Ästhetischen annimmt. Hegel
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hatte die Kunst der Philosophie
bzw. der Wissenschaft mit dem Argument untergeordnet, die prosaische Wirklichkeit könne im Medium
der Sinnlichkeit nicht adäquat dargestellt und begriffen werden. Nun
rächt sich die Kunst gewissermaßen,
indem sie der Philosophie selbst den
Stempel des Ästhetischen aufdrückt.
Bei Marx wird die Kunstproduktion
zum Modell der freien, selbstbestimmten Arbeit, während die Ware
das Schandmal des „mißlungenen
Kunstwerks“ auf der Stirn trägt
(213 und 218). Bei Nietzsche erscheint der Wille zur Macht in der
„inneren Form eines Kunstgebildes“; der Übermensch ist nach dem
Vorbild des Künstlers geformt
(258). Freud faßt den primärnarzistischen Zustand des Menschen,
in dem Objekt- und Ichlibido noch
miteinander verschmolzen sind, als
einen ästhetischen Zustand (273).
Heidegger ästhetisiert sowohl das
menschliche Dasein, das im Vorlauf
zum Tode seine Zufälligkeit überwinden und sich eine innere Notwendigkeit geben will, als auch
(nach der Kehre) das Sein selbst
(306 und 315).
Was die Grundbegriffe der verschiedenen Philosophien mit dem
Ästhetischen verbindet, ist die Ein-
heit von Freiheit und Notwendigkeit, von Einzelnem und Allgemeinem, von Faktum und Wert, aber
auch der Charakter des Selbstzweckhaften. Die ästhetisch gewordene Philosophie zeichnet sich dadurch aus, daß sie jene Themen und
Inhalte aufbewahrt, die der verdinglichten Rationalität der Wissenschaft
und des Positivismus fortlaufend
zum Opfer fallen. Von Schelling
führt der Weg über Nietzsche und
Heidegger so geradewegs in die
Postmoderne.
Eine zweite Entwicklungstendenz
der Philosophie sieht Eagleton in
der zunehmenden Emanzipation
des Sinnlichen, Körperlichen, Einzelnen aus seiner geistigen Beherrschung durch das Allgemeine. Entstanden ist die Ästhetik als „Diskurs
über den Körper“. Sie hat sich (bei
Baumgarten) als Herrschaft über
das bisher Unbeherrschte etabliert,
als Kolonialisierung der Sinnlichkeit
und des Gefühls durch die Rationalität. Der klassischen Ästhetik gelingt es noch, beide Seiten zu vermitteln und Körper/Neigung und
Geist/Pflicht als schöne Harmonie
darzustellen. Mit dem Zerfall der
klassischen Ästhetik zerfällt diese
Einheit jedoch. Das sinnlich Einzelne befreit sich (etwa in Nietz-
sches Begriff des Dionysischen oder
des Lebens) aus seiner Kolonialisierung und Disziplinierung. Luk cs,
der am Begriff der Totalität festhält
(und die Zersplitterung als durch die
Totalität produziert begreift), wird
ausdrücklich abgelehnt. Benjamins
und Adornos Konzept des Splitters,
der „Konstellation“ dagegen, die
das Einzelne gegen seine begriffliche Identifizierung verteidigt, als
der „originellste Versuch“ (341) gewürdigt, im Zeitalter der Moderne
mit der Totalität zu brechen. In Michael Bachtins Bild des Karnevals,
der Geburt und Tod, Hohes und
Niederes, Zerstörung und Erneuerung durcheinanderwirbelt, ist diese
Logik zu Ende geführt.
Der Begriff der Ideologie, den Eagletons Werk im Untertitel trägt,
verweist darauf, daß die Ästhetik
nicht als abgehobene Geistesgeschichte behandelt, sondern auf die
wirkliche Geschichte bezogen wird.
Über den klassischen Ideologiebegriff geht Eagleton dabei insofern
hinaus, als er die Ästhetik weniger
als Reflex von Klassenkämpfen, als
„Diskurs über den Körper“ begreift. Die Ästhetik wird auf diese
Weise zur Gegenbewegung, zum
Hort des Widerstands gegen die reale Geschichte, die den Körper, die
Sinnlichkeit, das Konkrete oder die
„Lebenswelt“ zunehmend unter die
Gewalt der verdinglichten Rationalität zwängt, d.h. in ihr System preßt.
Übereinstimmung in diesem Ausgangspunkt besteht nicht nur mit
Adorno und der Frankfurter Schule,
sondern auch mit dem „intellektuellen Milieu des modernen Frankreich“, in dem sich Eagleton beheimatet weiß. Es sind vor allem die
späten Schriften Paul de Mans und
die darin durchgeführten Dekonstruktionen, zu denen eine unerwartete Verwandtschaft besteht.
Die Moderne beginnt mit der Auflösung der Einheit von Wahrem,
Schönem und Gutem. Mit ihr beginnt das Ästhetische zugleich seine
„Guerillataktik geheimer Subversion“, durch die es sich störrisch gegen seine Vereinnahmung durch das
Allgemeine verhält und gegen seine
Überformung durch das System behauptet.
In
dieser
„linksästhetischen“ Tradition, die die
Postmoderne prägnant zu Ende
führt, bekommt auch Marx seinen
Platz zugewiesen. Bei ihm erscheint
das schlechte (Mathematisch-) Erhabene in der schlechten Unendlichkeit der Warenbewegung und
der Akkumulation. Das gute Erhabene hingegen, das Unaussprechli-
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che, dessen Inhalt über alle Form
hinausweist, erscheint in dem Programm der sozialistischen Revolution. Sie ist die „absolute Bewegung
des Werdens“, die ihre Poesie nicht
aus dem Bekannten, Vergangenen
bezieht (wie z.B. die Französische
Revolution, die sich in ein antikes
Kostüm kleidete), sondern allein aus
dem Unsagbaren der Zukunft
schöpft.
Im Gegensatz zu Adorno erscheint
das Erhabene, Nichtidentische bei
Eagleton aber nicht als das nur Negative, das sich dem Weltlauf spröde
widersetzt und das „ganz Andere“
aufblitzen läßt. Es ist zugleich der
positive Vorschein einer zukünftigen und wünschenswerteren Welt.
Mit Marx und Habermas hält Eagleton daran fest, daß die Utopie im
gegenwärtigen System „irgendwie
vorhanden“ ist und sich daher „aus
unserer gegenwärtigen Praxis“ (421)
entwickeln lassen muß.
Konrad Lotter
Peter Glotz
Die falsche Normalisierung. Die
unmerkliche Verwandlung der
Deutschen 1989 bis 1994. Essays
Frankfurt/Main 1994 (SuhrkampVerlag), 272 S., 19.80 DM.
Seit Deutschland nach der Wiedervereinigung 1990 seine volle Souveränität zurückerhalten hat, reißen
die Diskussionen um seine veränderte Stellung in Europa und der
Welt nicht ab. Meist enden diese
Diskussionen, wie z.B. in dem kürzlich erschienenen Buch des Politologen Hans-Peter Schwarz „Die
Zentralmacht Europas“, mit der
naheliegenden
These:
Wenn
Deutschland auf dem Weltmarkt
schon eine ökonomische Kraft sei,
die man nicht übergehen könne,
dann müsse sich diese Stärke nach
Wiedervereinigung und Erlangung
voller Souveränität auch in einer
dementsprechenden Außenpolitik
niederschlagen. Alte Zurückhaltungen, geprägt von der Nachkriegssituation, seien aufzugeben. Deutschland müsse sich der 'Normalität'
und den 'Üblichkeiten' der anderen
europäischen Nationalstaaten, vor
allem an England und Frankreich,
angleichen: ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat, weltweites militärisches
Engagement, unbeschränkter Waffenexport und die Option auf Che-
mie- und Atomwaffen. Daß Peter
Glotz sich derartigen Meinungen
nicht anschließt, geht schon aus
dem Titel seines Buches hervor, das
diverse in Tageszeitungen und Magazinen veröffentlichte Essays aus
der Zeit zwischen 1990 bis 1994
versammelt. Interessant sind seine
Begründungen.
Glotz' Gedankengang beginnt mit
einem für das Buch neu verfaßten
Exkurs über der These vom sog.
deutschen „Sonderweg“. Um Verwirrungen zu vermeiden, sei eine
kurze Begriffsklärung eingeschoben.
Die Sonderweg-These ist ursprünglich eine 'linke' These und bezieht
sich auf die historische Sonderentwicklung Deutschlands im 18. und
19.Jahrhundert. Während die Entwicklung in Europa durch die Fortschritte der Ökonomie, die Schaffung einheitlicher Staatsgebilde und
die Übernahme der politischen
Macht durch ein demokratisches
Bürgertum gekennzeichnet war, war
das deutsche Reich - bedingt durch
seine territoriale Zersplitterung seit
dem Mittelalter - ökonomisch und
politisch zurückgeblieben. Diese
Zurückgebliebenheit hemmte die
Herausbildung eines starken Bürgertums als Agent der ökonomischen
Entwicklung und Träger eines fort-
schrittlich demokratischen Bewußtseins. Die nationale Einheit, eine
zentrale Forderung des deutschen
Bürgertums - im zentralistischen
Frankreich schon durch den Absolutismus Ludwigs XIV. durchgesetzt
- wurde für das deutsche Reich erst
im Zuge der Reichsgründung von
1871 realisiert. Diese Reichsgründung, die von den alten Eliten militärisch und gewaltsam vollzogen
wurde, war zugleich der politische
Sieg des ancien regime und die Niederlage des deutschen Bürgertums.
Dessen Assimilationsbewegung an
das Wilhelminische Reich endete in
der Kapitulation: der bedingungslosen
Übernahme
adligantidemokratischer, militaristischgewalttätiger und antizivilisatorische
Normen. Das Resultat des deutschen Sonderweg ist, wie der Soziologe Norbert Elias dies benannt hat,
jene deutsche „eigentümliche Spielart des Bürgertums“, die dadurch
gekennzeichnet ist, daß „bürgerliche
Menschen die Lebenshaltungen und
die Normen des Militäradels zu den
ihren machten“. Kurz gesagt, bezeichnet also der Begriff „Sonderweg“ das völlige Versagen des deutschen Bürgertums als einer emanzipatorischen geschichtlichen Kraft.
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Peter Glotz beschäftigt sich zunächst mit diesem Begriff, weil er
neuerdings von nationalkonservativen Kreisen in die Diskussion gebracht worden ist. Allerdings in einer spezifischen, umgedeuteten
Form: Der Begriff wird von der
sachlichen Beschreibung faktischer
geschichtlicher Entwicklung abgezogen und auf Bewußtseinsformen
und bewußte, willentliche Entscheidungen übertragen. Glotz referiert
diesen neuen Sprachgebrauch: Verstanden wird unter diesem Begriff
jetzt das „Sonderbewußtsein des
deutschen Kaiserreiches, mit dem
sich seine traditionellen, vormodernen Führungsgruppen vom 'Westen'
abschotteten“ (34), und „der Sonderweg deutscher Tiefe und deutscher Gemeinschaft, der gegen die
Oberflächlichkeit westlicher Zivilisation und westlicher Gesellschaft
gesetzt worden war“ (37). Diesem
umgedeuteten
Sprachgebrauch
scheint sich leider auch Glotz anzuschließen, wie dies vor allem in seiner Frage zum Ausdruck kommt:
„Muß die Linke eigentlich in die
semantische Falle tappen, besondere Lernschritte, die die Deutschen
aus ihrer Geschichte folgern, mit
dem zu recht verabscheuten Begriff
'Sonderweg' zu belegen?“ (40). Man
möchte antworten: Sie muß nicht.
Aber statt die semantische Falle zu
umgehen und den beschreibenden
Gehalt des Begriffs aufzugeben,
könnte man die Falle als Scheinfalle
entlarven.
Dies vor allem dann, wenn man das
Interesse, das sich in der Umdeutung artikuliert, so klar durchschaut,
wie Glotz dies tut. Der so verstandene „Sonderweg“ soll alles Beharren auf (womöglich auch noch geschichtlich begründete) 'Besonderheiten' deutscher Politik (z.B. der
Verzicht auf Atomwaffen und Rüstungsexporte) prinzipiell und von
vorneherein diskreditieren, indem
der Eindruck erweckt wird: Wer
heute für Besonderheiten und Abweichungen deutscher Politik vom
europäischen Standard redet, steht
in der direkten Linie und der Tradition des elitären 'Sonderbewußtseins' wilhelminischer Prägung.
Eine offensivere Argumentation täte dem Anliegen Glotz' keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Sein Anliegen besteht ja gerade in einem
Plädoyer gegen die 'Normalisierung'
deutscher Politik am Maßstab der
europäischen Nationalstaaten und
für eine Politik der bewußten und
reflektierten, sich auf die Geschichte beziehenden Besonderheit. Glotz
neigt der Sache nach mit vorsichtigen Einschränkungen der Ansicht
zu, der deutsche Sonderweg sei
nach 40 Jahren der Einübung in
demokratische Traditionen und einem demokratischen Bürgertum als
„tragender Schicht“ (18) der Bundesrepublik jetzt zu Ende gegangen.
Auf dem Boden dieser - durch die
hohe Arbeitslosigkeit nach der Vereinigung - zwar nicht ungefährdeten, aber doch zivilisierten Normalität, die nur besagt, daß Deutschland
zum Niveau der westlichen Demokratien aufgeschlossen hat, und gegen die Verfechter einer nationalen
'Normalisierung', entfaltet Glotz
sein alternatives Konzept einer Zivilund
Technologiemacht
Deutschlands, das ausdrücklich an
die Erfahrungen der deutschen Geschichte anknüpft: „Die Alternative
zur 'Normalisierung' wäre ein
durchdachtes Konzept der historischen Lernfähigkeit und der internationalen
Arbeitsteilung.
Die
Deutschen, die sich in diesem Jahrhundert in zwei schreckliche Kriege
verwickelt haben (mindestens einen
davon brachen sie selber vom
Zaun), die ein anderes Volk - das
jüdische - vom Erdboden tilgen
wollten und am eigenen Leib erfahren mußten, zu welchen Katastrophen die Pest des Nationalismus
führt, verfolgen mit Billigung ihrer
Partner eine antitraditionelle Politik:
kein Waffenexport, keine Militäreinsätze out of area, keine Kriegsfinanzierung mehr, keine logistische Hilfe
für Kriegsparteien; aber Verteidigung der eigenen Region, ein wirksames Friedenscorps mit hohem
technischen Bildungsstand und modernstem Gerät, große Investitionen
zum Wiederaufbau und zur ökologischen Stabilisierung dieser gefährdeten Welt, eine besondere Aufgeschlossenheit für internationale Organisationen und eine internationale
Rechtsordnung“ (92 f.).
Aus der Besonderheit der geschichtlichen Erfahrung von jahrzehntelanger Teilung läßt sich statt einer
Behinderung ein „Erkenntnisvorsprung“ (40) ableiten: „Deutschland
besteht darauf, aus der Geschichte
der ersten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts etwas Besonderes gelernt zu haben“ (147). Glotz' Stellungnahme hinsichtlich des Prozesses der europäischen Vergemeinschaftung setzt gerade diese
Forderung um. Denn aus den Erfahrungen seiner Geschichte und
der Teilung habe Deutschland ein
besonderes, gesteigertes Interesse
an einem ökonomisch und politisch
vergemeinschafteten Europa: „Das
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vereinigte Deutschland dürfte nach
sechs oder acht Jahren ernster Beanspruchung durch die Integration
seiner östlichen Länder als stärkste
ökonomische Macht Europas wieder handlungsfähig sein. Entweder
ist es dann als separierbare historische Gestaltung, sozusagen als
'Staatskerl', der sich mit anderen
'Staatskerlen' mißt, verschwunden,
weil integriert. Oder es wird zur regionalen Vormacht Europas, was
auf dem Hintergrund deutscher
Schuld selbst beim besten Willen aller Beteiligten - der kaum vorauszusetzen ist - zu endlosen und altvertrauten Verwicklungen (wenn auch
in neuen Verkleidungen) führen
dürfte“ (172 f.). Vor diesem Hintergrund absehbarer Komplikationen
entfaltet Glotz sein Plädoyer für die
Besonderheiten einer deutschen Politik, die sich durch ein besonderes
europäisches Engagement auszeichnet und am Konzept eines vertieften Kerneuropas ausrichtet.
gemeinschaftung weit hinausgeht,
ist entscheidend von den Voraussetzungen und Bedingungen Nachkriegseuropas geprägt. Der Versuch,
dieses Konzept auf ein, nach dem
Zusammenbruch des Ostblocks
1989 nach dem Osten hin geöffnetes Europa zu übertragen, müsse
scheitern. Das dabei zu überwindende nationalstaatliche Prinzip habe gerade durch die Renationalisierung der Staaten Osteuropas wieder
an Bedeutung gewonnen. Wer diese
Staaten nicht nur in eine ökonomischen Gemeinschaft einbeziehen
will (was bei den Unterschieden der
Produktivkraftentwicklung problematisch genug wäre), sondern sie
darüberhinaus in eine Politische Union Gesamteuropas integrieren
möchte, verlangsamt den Vereinigungsprozeß bis zum Stillstand. Insofern ist die Öffnung des Ostens,
wie Glotz bedauert, für den europäischen Einigungsprozeß 10 Jahre zu
früh gekommen.
Glotz Kritik am europäischen Vereinigungsprozeß bei grundsätzlicher Bejahung zielt immer auf denselben Punkt: das Konzept einer
Politischen Union Gesamteuropas,
also einer Union mit gemeinsamer
Außen- und Sicherheitspolitik, das
über eine bloß wirtschaftliche Ver-
Die Alternative, die sich jetzt, nach
1989, stellt, lautet kurz zusammengefaßt: Entweder die Europäische
Gemeinschaft wird vertieft, und das
heißt, sie wird auf ein supranationales, wirtschaftlich und politisch vergemeinschaftetes Kerneuropa (etwa
Frankreich, Deutschland, Italien
und die Benelux-Staaten) beschränkt, da nur in solch einem beschränkten Kerneuropa eine Währungsunion und eine übernationale
Vergemeinschaftung der Außenund Sicherheitspolitik in absehbarer
Zeit umsetzbar wäre; oder aber, so
sieht es der jetzt eingeschlagene
Kurs vor, die Gemeinschaft wird
vor allem nach Osten hin erweitert,
was eine drastische Verlangsamung
des Vereinigungsprozesses mit sich
brächte, und, wenn überhaupt, lediglich auf einen vereinheitlichten
Wirtschaftsraum
Gesamteuropas
hinausliefe - unter Beibehaltung des
nationalstaatlichen Prinzips. Dessen
Überwindung liege aber im besonderen, geschichtlich begründeten
Interesse Deutschlands, da nur sie
die Konflikte, die sich aus der deutschen Vergangenheit und einer zukünftigen 'konventionellen' Großmachtpolitik Deutschlands für Europa ergäben, entschärfen könne.
Gegen das Konzept der europäischen Föderalisten hat nun aber vor
kurzem - zu Glotz' großem Bedauern - das deutsche Verfassungsgericht die Idee eines europäischen
„Zweckverbandes“ mehr oder weniger festgeschrieben. Setzt sich diese Idee eines Zweckverbandes
souveräner Staaten durch, wäre die
Folge in jedem Fall der Verzicht auf
die ursprünglich einmal angestrebte
Politische Union Europas. Die Verwicklungen und Querelen, die sich
aus der Beibehaltung des nationalen
Prinzips und der ökonomischen
Vorherrschaft Deutschlands für
Europa ergeben, sind aufgrund von
Glotz' Analysen bereits jetzt absehbar.
Wolfgang Thorwart
Raul Hilberg
Unerbetene Erinnerung. Der
Weg eines Holocaust-Forschers
aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt/Main 1994 (Fischer-Verlag), 175 S., 34.- DM.
Alles, was Raul Hilberg, einer der
ersten und bedeutendsten Historiker der Vernichtung der europäischen Juden, schrieb, war unerwünscht, stieß auf Ablehnung und
offene Feindseligkeit oder schlimmer noch: es wurde, nicht nur hierzulande, mißachtet und totgeschwiegen. Als der junge Student
1948 seinen Doktorvater mitteilte,
er wolle seine Dissertation über
„das ungeheure Thema“ (12)
schreiben, lautete die Antwort: „Das
Bücher zum Thema
ist Ihr Untergang.“ So schlimm kam
es zwar nicht - zum Glück des Autors, zum Gewinn der Geschichtsschreibung und zum Nutzen der
Leser -, aber in welche Einsamkeit
und Hoffnungslosigkeit sich begibt,
wer sich mit dem monströsen, ganz
unsinnig als „Holocaust“ bezeichneten Verbrechen der Deutschen befaßt, das erfährt man in bedrückender Deutlichkeit aus dem soeben bei
S. Fischer erschienenen Buch Raul
Hilbergs, das im amerikanischen
Manuskript „The Politics of Memory“ heißt, in der deutschen Erstveröffentlichung den Titel „Unerbetene Erinnerung“ trägt. Damit liegen
nicht die voluminösen Memoiren
eines allgemein anerkannten emeritierten Gelehrten vor, der mit Stolz
und Eitelkeit auf ein umfangreiches
Werk und erfülltes Leben zurückblicken kann, sondern der Leser ist
mit einem schmalen, kühlen Erfahrungsbericht konfrontiert, aufgezeichnet in einem präzisen parataktisch-schmucklosen Stil, den die
Übersetzung, die bemerkenswerter
Weise vor dem Originaltext publiziert wurde, nicht immer gerecht
wird.
Das Buch gewährt erhellende Einblicke in das Entstehen und mühevolle Gelingen einer großen Lebens-
leistung. Jahrzehnte lang in vielen
Archiven forschend, versuchte Hilberg, die einem einzelnen eigentlich
unzumutbare Aufgabe zu bewältigen, den ganzen von der nazistischen Gesellschaft gnadenlos vorangetriebenen, durch seine „gegenrationale“ Logik höchst komplexen
Prozeß der Ausgrenzung und Vernichtung zu dokumentieren und die
Täter aus Partei, Staat, Wirtschaft
und Wehrmacht zu benennen. Dem
Forscher war von Anfang an klar,
daß sein historischer Gegenstand
sich grundlegend von allen anderen
unterschiedet, und wir wissen, daß
er gegenwärtig bleiben wird in unabsehbarer Zeit. Mit „trüben Tröstungen“ (126) hatte Hilberg nie etwas im Sinn: er wollte tiefer blicken.
Nicht Mahnung oder der Wunsch,
das kollektive Gewissen zu verkörpern, treiben ihn, sondern die Zeitgenossen und Nachgeborenen,
wenn sie denn irgendwann Abwehr
und Widerstand überwänden, sollten aus seinen Büchern das notwendige Wissen erfahren und erkennen, was geschah. Wissen aber
bedeutet noch nicht, die absolute
Sinnlosigkeit des millionenfachen
Mordes zu verstehen. Dem resümierenden Autor war das stets bewußt, was sein Leben nicht leichter
machte. Die Täter dagegen quälte
nie, was sie verbrochen hatten.
Hilberg wurde 1926 in Wien geboren. Lakonisch, fast sarkastisch erzählt er auf wenigen Seiten die Geschichte seiner Eltern und Verwandten - viele von ihnen
verschwanden spurlos in den deutschen Todeslagern. Eher beiläufig,
scheinbar ohne Zorn und Haß, die
Trauer hinter kargen Worten versteckt, wurde die Flucht der dreiköpfigen Familie über Kuba in die
USA erwähnt. Kurze Zeit diente
Hilberg in der amerikanischen Armee, und nach seiner Entlassung
begann er, unter anderem bei Rosenberg und Neumann politische
Wissenschaft zu studieren. Er gehörte zu den ersten, die mit den in
amerikanische Archive überführten
deutschen Akten aus der Zeit des
Nationalsozialismus arbeiten durften. Bis zu seiner Emeritierung 1991
lehrte Raul Hilberg Politologie an
der Universität Burlington in Vermont.
Mit seinem Entschluß, die Verbrecher aus der Perspektive der Täter
zu beschreiben - „Die Judenvernichtung war ein deutsches Werk,
ausgedacht in deutschen Amtsstuben, in einer deutschen Kultur“ (54)
- begannen Jahre der Isolation, allein mit Tausenden von Dokumenten, die gesichtet, zugeordnet und
bewertet werden mußten, wahrlich
„ein einsames Projekt“. Und außerhalb der geschlossenen Welt der
Akten herrschte der Kalte Krieg
und das kalte Vergessen. In einem
der wenigen politischen Kommentare des Buches heißt illusionslos:
„In einer Atmosphäre, die das
Augenmerk der amerikanischen
Juden auf Israel und Araber
richtete, während die breite Masse
der Amerikaner hauptsächlich den
Kalten Krieg mit der Sowjetunion
verfolgte, wurde mein Thema
rigoros in die Vergangenheit
verbannt. Damals riet man allen, die
von Erinnerungen geplagt wurden wie die Überlebenden -, möglichst
schnell zu vergessen, was geschehen
war. So wurden die Nürnberger
Prozesse weniger geführt, um die
deutsche Geschichte aufzuarbeiten,
als um etwas Unerledigtes abzuschließen, damit man Deutschland
angesichts der kommunistischen
Bedrohung als „ehrbares“ Mitglied
des nordatlantischen Bündnisses
wiederaufbauen konnte.“ (61)
Ausführlich beschreibt Hilberg all
die Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die ihm die Publikation
Bücher zum Thema
seines nach vielen Jahren fertiggestellten Typoskripts bereitete. Nervenkraft und Lebenszeit kostete die
Suche nach dem richtigen Verlag,
auch um die Finanzierung der
Druckkosten mußte der Autor sich
selbst bemühen, und noch die Gestaltung des gewichtigen Bandes trug
die Male der Nachlässigkeit und Indifferenz.
Aber das erwies sich geradezu als
harmlos gegen den - wie der Autor
es nennt - „dreißigjährigen Krieg“,
der nach dem Erscheinen seines
Buches „The Destruction of the
European Jews“ von Seiten jüdischer Kritiker gegen ihn ausbrach.
Nicht daß er sich auf die Täter, den
von ihnen entfesselten Prozeß der
Vernichtung konzentriert hatte, rief
Befremden und oft genug polemische Ablehnung hervor, sondern
daß
er,
scheinbar
herzlosunbeteiligt, den ins Zentrum des
Unvorstellbaren führenden, äußerst
diffizilen Komplex der Beteiligung
der Opfer an ihrer Entmenschlichung und Ermordung aufrührte.
Er hatte das Verhalten der jüdischen Gemeinden in seine Schilderung aufgenommen, weil er sie als
verlängerten bürokratischen Apparat des nazistischen Deutschlands
ansah. Schmerzhaft war auch die
nüchterne Feststellung, „daß es so
gut wie keinen jüdischen Widerstand und so gut wie keine Opfer
auf deutscher Seite gab“ (110). Diese Kontroverse hat sich bis heute
nicht beruhigt; immer noch mußte
sich Hilberg Gefühlskälte und
Gleichgültigkeit gegenüber den Ermordeten vorwerfen lassen. Aber
wenn auch ein Unterton der Verbitterung nicht zu überhören ist, so
versucht er doch weiterhin, auch in
diesem Buch, mit Hinweisen auf
Fakten und Argumente zu reagieren. Besonders scheint ihm die Kritik Hannah Arendts verletzt zu haben, die seinen Arbeiten so viele
Einsichten verdankt und doch
mehrfach, etwa in Briefen an Karl
Jaspers, geringschätzig über den Autor urteilte. Hilbergs böser Kommentar zu ihren Schriften ist zweifellos ungerecht und nur aus der zugefügten Kränkung zu erklären.
Ein besonderes und wahrlich deprimierendes Kapitel bildet der Bericht über den Versuch, in den 60er
Jahren eine deutsche Ausgabe seines
Hauptwerks erscheinen zu lassen.
Jahrelang zogen sich die Verhandlungen mit namhaften westdeutschen Verlagen hin, die schließlich
alle mit fadenscheinigen Begründungen absagten. Erst 1982 veröf-
fentlichte ein kleiner Berliner Verlag, der längst nicht mehr existiert,
das Buch. Inzwischen gibt es bei S.
Fischer, dem Verlag, der sich ernsthaft um Hilbergs Werk und seine
Verbreitung bemüht hat, eine überarbeitete dreibändige Taschenbuchausgabe - die zweite deutschsprachige Fassung also: vielleicht ein
Durchbruch und mit ihren zahlreichen Ergänzungen die wohl endgültige Version.
Seine „unerbetene Erinnerung“ beschließt der Autor mit einem kurzen
Bericht vom Wiedersehen seiner
Geburtsstadt Wien nach mehr als
50 Jahren; in der Wohnung seiner
Eltern leben noch jene, die sie 1938
daraus vertrieben. Ohne Erregung
wird es mitgeteilt; Hilberg zielt nicht
auf Verständnis, sondern auf den
Verstand des Lesers. Und doch
werden wie im Vorwort so auch auf
den letzten Seiten die Erschöpfung
und Leere spürbar, die diese ungeheuere Anstrengung des Forschens
und Erklärens stets begleiten. Selbst
in solchen Momenten hält Hilberg
seine Gefühle unter Kontrolle, weist
er jede wehleidige Regung und falsche Einfühlung ab. Indirekt nur
läßt er einen Blick in sein „innerstes
Wesen“ zu, indem er eine längere
briefliche Äußerung von H.G. Adler
zu seiner Person und seinem Buch
aus dem Jahre 1964 zitiert. Die
Schlußpassage lautet:
„Am Ende bleibt nichts als die Verzweiflung über alles und der Zweifel
an allem, denn für Hilberg gibt es
nur ein Erkennen, vielleicht auch
noch ein Begreifen, aber bestimmt
kein Verstehen.“
Norbert Hofmann
Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker
Unbeobachtbare Welt. Über
Kunst und Architektur
Bielefeld 1990 (Haux-Verlag), 104 S.
Beim Beobachten, schreibt Luhmann in dem zentralen Aufsatz
„Weltkunst“ des Bandes, werden
stets Unterscheidungen gehandhabt.
Beobachten stelle eine Unterscheidung zwischen Beobachtetem und
Unbeobachtetem her. „Welt“, äußere und innere, erweise sich als unbeobachtbar, wenn und weil sie in
ihr beobachtet wird. Unterscheidungen setzten sich über die Resultate, die Unterschiede, selbst voraus.
Paradoxerweise müßten sie sich aus
dem kontingenten Unterschiedenen
Bücher zum Thema
ausschließen, aus dem, was sie gerade unterscheiden können (vgl.
Luhmann, Die Wissenschaft der
Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992,
S.526).
Seit der Renaissance, so Luhmann
reagiert die Malerei auf das Paradoxon der Unbeobachtbarkeit von
Welt: durch die Beschäftigung mit
der Zentralperspektive wird die
Wahrnehmung zum Gegenstand
von Malerei, seit der klassischen
Moderne auch die Beobachtung von
Kunst als Beobachterin, und bereits
mit der Romantik lasse sich ein Übergang von einem dingbezogenen
zu einem weltbezogenen Formbegriff verzeichnen: „Das Kunstwerk
erscheint nun als unterscheidbare
Form, die aus Formen besteht“
(16).
Luhmanns Begriff der Form ist an
den von George Spencer Brown
angelehnt: Form als Zwei-SeitenForm des Beobachteten und des
Unbeobachteten, deren Einheit
vorausgesetzt werden muß, und die
beobachtend nicht einzuholen ist[1].
Vor dem Hintergrund dieser Formauffassung markiere ein Kunstwerk
- als fiktional Reales unter Realem zwei Realitätsebenen und entziehe
die 'reale Realität' dem Blick. „Die
Kunst hat es mithin mit dem Paradox der Beobachtbarkeit des Unbeobachtbaren zu tun, und ihre Bemühung um Form löst dieses Paradox auf... Aber die Auflösung läßt
das Paradox intakt, sie invisibilisiert
es nur und läßt ihm die Möglichkeit,
in anderen Umständen andere Formen zu kreieren“ (20). Die Kunstbetrachtung macht also eine ansonsten, auch für ästhetische Theoriebildung, latent bleibende Erfahrung
möglich: die des Paradoxon der
Unbeobachtbarkeit von Welt. Diesen Zusammenhang nennt Luhmann, im Unterschied zu einer
„Objektkunst“, „Weltkunst“.
Von seiner Analyse einer Kunstbetrachtung erhofft sich Luhmann Erträge für „einen ausreichenden Begriff der Modernität der Gesellschaft
und ihrer Funktionssysteme“ (42).
Hierzu fehlt jedoch eine genauere
Konstruktion. Es bleibt unklar, ob
er Erträge für eine soziologische
Theoriebildung oder allgemeiner eine Kunstbetrachtung in Erkenntnisfunktion meint. Beides scheint gemeint zu sein, und über beides läßt
sich streiten.
Auch bleibt offen, an welche Objekte mit welchen Charakteristika zu
welcher Zeit der Wahrnehmung ge-
dacht wird, wenn von „Weltkunst“
im Gegensatz zur „Objektkunst“
die Rede ist. Die zeitgenössischen
Werkbezüge des Bandes jedenfalls
beschränken sich auf Arbeiten des
Malers F.D. Bunsen (46 ff; 51 ff),
und der systemtheoretische Aufsatz
von D. Baecker (67 ff) befaßt sich
anwendend mit dem allgemeineren
Thema von Innen und Außen in der
Architektur. So fehlt Exemplarisches, obwohl es Luhmann doch
um Beschreibungen geht. Ein verallgemeinernder Bezug auf 'Kunst'
muß mit dem binären Form- und
Beobachtungskonzept in Zusammenhang gebracht werden. Im folgenden einige Überlegungen zum
Verhältnis von Beobachtung, Betrachtung, Wahrnehmung, Erfahrung und Sprache.
Von einer Ebene unreflektierten
Beobachtens ausgehend unterscheidet Luhmann kybernetische Ordnungsebenen: Beobachten, Beobachten des Beobachtens, Beobachten
des
Beobachtens
des
Beobachtens. So wird eine Unterscheidung zweier Unterscheidungshinsichten möglich. Mit der zweiten
Ebene, der des Beobachtens von
Beobachten und Beobachtern, wird
die Position eines partiell unbeobachtbaren Beobachtens selbstbezüg-
lich. Diese Selbstbezüglichkeit prägt
Luhmanns Beschäftigung mit der
Beschäftigung mit Kunst in der ästhetischen Theoriebildung: die systemtheoretische Reduktion, die mit
der binären Codierung von Beobachtetem/Unbeobachtetem arbeitet, ermöglicht eine genaue Ebenenanalyse sogenannter ästhetischer
Diskurse. Stets geht es Luhmann
um das sozusagen erscheinende Paradoxon der Beobachtbarkeit eines
Unbeobachtbaren.
Welche aber sind die virtuellen Bezüge der ästhetischen Diskurse und
der sprachlichen Kommunikation
über Kunst und Kunstbetrachtung?
Der reduktive Terminus des Beobachtens ist, trotz der Beschränkung auf die zwei Seiten einer
Form, ambivalent angelegt. Es geht
um Wahrnehmungsereignisse und
damit um Erfahrungen. Trifft Luhmanns Konstruktion überhaupt die
jeweils im Spiel befindlichen Betrachtungsereignisse? Wie etwa soll
eine Rückkehr von einer Betrachtung des Betrachtens zum betrachteten Betrachten stattfinden können? Es wird unterstellt, ein kategorial Gleiches wieder vorfinden zu
können. Luhmann ist der Ansicht,
ein erstes Beobachten ließe sich sozusagen in methodischer Einstel-
Bücher zum Thema
lung trivialisieren und zurückholen.
Das Moment 'Zeit' aber läßt Wiederholungen im strengen Sinne
nicht zu. So bleibt das Verhältnis
von Naivität und Reflexion klärungsbedürftig und damit das mit
der Theoriesprache des systemtheoretischen Ansatzes Beschriebene.
Luhmann würde ein Entschwinden
von Betrachtungsereignissen, im
Sinne der Bestätigung der Paradoxie, unter die Beobachtung eines
Unbeobachtbaren einordnen. Aber
was beobachtet die nach Ebenen
operierende Anwendung der Theorie nicht? Und womit gibt sie sich
zufrieden?
Was wäre z.B. über Erfahrungen in
der Betrachtung von Bildern des
Malers Francis Bacon auszumachen? Gemeint ist ein häufiger bekundetes Changieren von Erregung
und Distanzierung vor den Bildern,
keineswegs einsinnig und sukzessive
aber, sondern diskontinuierlich im
Wechsel von Affektion und Beschäftigung mit dem eigenen Betrachten. Müßten nicht solche aus
kybernetischer Sicht eher ungeordneten Erfahrungsereignisse den
funktionalen Blick auf Welterkenntnis verstellen und irritieren, nur weil
die Theorie die Ereignisse nicht
einholt, und die Folge der Beobachtungsebenen durcheinandergerät?
Hat man es da noch mit „Weltkunst“ zu tun?
Mit diesen Fragen zum Verhältnis
von ästhetischer Erfahrung einerseits und Sinnkonstruktionen und
Kohärenzbemühungen in der Theoriebildung andererseits eröffnet sich
ein Spannungsverhältnis zur sog.
„Ästhetik des Erhabenen“. Für
Luhmann ist „das Erhabene ein
Abwehrbegriff für Beliebigkeit“, der
„die Selbstkompositionsleistung eines Kunstwerks“ verfehle (66); damit aber auch die Anbindung der
Kunstbetrachtung an die Funktionssysteme einer Gesellschaft.
Wenn J.F. Lyotard etwa die Ausdruckslosigkeit von Betrachtern einer Ästhetik des Geschmacks oder
einer interpretierenden Bemühung
um Kohärenz gegenüberstellt, dann
tut er dies mit dem Akzent der
Verweigerung einer Systemeinbindung. Deskriptiv einbezogen sind
für Lyotard die Ausdruckskulturen
des Alltags sowie die systemischen
Einbindungen der Theoriebildung.
„Wir sind alle, ob wir wollen oder
nicht, im Dienste von ..., im Dienste
einer Verbreitung der Leistung des
Systems“, so Lyotard im Juni 1994
auf dem Symposion „Die Deutsch-
Französischen Dialoge in der Philosophie“ der Universität Düsseldorf.
Gerade daher sei es „konstitutiv
falsch, abstrakte Einheiten gegen die
Singularitäten romantisch zu ersehnen.“ „Ein offenes System“, so Lyotard, „braucht Träume, weiße Flecken, um der Entropie zu entgehen... Wahrheit funktioniert nicht;
ein schrecklicher Ausdruck: á marche, es funktioniert.“
Eine Erörterung des Spannungsverhältnisses zwischen den Ebenen
hätte es nicht nur mit auseinandergehenden Dispositionen der kunstsoziologischen Betrachtung Luhmanns und der philosophischen Ästhetik Lyotards zu tun. Zumindest
dürfte sie nicht bei einer Gegenüberstellung von Erklären und Erfinden stehenbleiben. Klärungsbedürftig ist, wie oben umrissen,
Luhmanns reduktive Auffassung
der Kunstbetrachtung. Zu erörtern
wäre die Anwendung und Anwendbarkeit des anderweitig, etwa in epistemologischen Zusammenhängen, ausgearbeiteten Unterscheidungsmodells der Systemtheorie
Luhmanns auf ästhetische Erfahrungen, die Luhmann gewiß nicht
so bezeichnen würde.
Ignaz Knips
Niklas Luhmann
Die Wissenschaft der Gesellschaft
Frankfurt/Main 1992 (Suhrkamp),
732 S., 34.- DM.
Wir glauben immer noch an „Natur“-Wissenschaften, an sie sogar in
erster Linie. Wir sprechen immer
noch von Entdeckung“. Aber eigentlich ist alles Konstruktion eines
Beobachters für andere Beobachter.“ (151)
Mit einer Flut von Veröffentlichungen bietet Niklas Luhmann die
Funktionsweise sozialer Systeme aus
einem konstruktivistischen Verständnis heraus dar. Die Botschaft
lautet, da die Konstitution der
menschlichen Struktur die Voraussetzung jeglicher Erkenntnis ist.
Diese individuelle menschliche Voraussetzung wird transferiert in die
sozialen Systeme der Welt, der Begriff Intersubjektivität ausgeschlossen
und das jeweilige System entlang
menschlicher Konstitution personifiziert. Religion, Pädagogik, „Weltkunst“ und in diesem Band Wissenschaft werden als selbstreferentielle
Funktionssysteme innerhalb der
Bücher zum Thema
Gesellschaft oder auch Welt denn
Gesellschaft ist zu verstehen als
Weltgesellschaft gesehen und ihre
Botschaften und Erkenntnisfähigkeit relativiert.
In diesem Buch beschreibt Niklas
Luhmann, als Beobachter von Beobachtungen, eine Gesellschaftstheorie, in der er die Wissenschaft als ein
besonderes Funktionssystem innerhalb anderer sozialer Systeme herausarbeitet. Die Funktionsweise von
Wissenschaft (wie auch der Systeme, die Gegenstand anderer Veröffentlichungen sind) innerhalb des
sozialen Systems Gesellschaft wird
im wesentlichen durch zwei Ansätze
beschrieben:
1. Luhmann bezieht sich auf die
konstruktivistische Erkenntnistheorie des chilenischen Biologen Humberto Maturana (H. Maturana, F.
Varela: Der Baum der Erkenntnis,
Bern, München, Wien 1987). Das
Phänomen des blinden Flecks,
durch zahlreiche Versuche, insbesondere mit Farben belegt (nicht
das Spektrum des einfallenden
Lichts bestimmt unsere Farbwahrnehmung, sondern „die individuelle
Struktur jeder Person“. Maturana),
läßt darauf schließen, daß die
menschliche Konstitution die Be-
dingung aller Erkenntnis sein muß.
Wie ist es möglich, daß dennoch für
eine mögliche Erkenntnis die Welt
als Ganzes gegeben ist? Der Begriff
der Beobachtung wird für Luhmann
zum entscheidenden Kriterium für
die Erkenntnisfähigkeit von Systemen (Niklas Luhmann u.a., Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorie, München 1992; Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und
Architektur. Bielefeld 1990). Da die
Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis systemimmanent angelegt
ist, müssen die vom System vollzogenen Operatio-nen (Erkennen und
Handeln) beobachtet werden und
dieses Beobachten kann wiederum
beobachtet werden. Durch Beobachten von Beobachtung wird eine
Differenz erzeugt. Es kann unterschieden werden zwischen systeminterner und systemexterner Erkenntnis. Auch die Wissenschaft
versteht sich nicht als „weltexterner
Weltbeobachter“, sondern Wissenschaft ist ein in sich geschlossenes
spezifisches Funktionssystem innerhalb der Gesellschaft: „Da die
Wissenschaft ein Funktionssystem
der Gesellschaft ist, also in allem,
was sie tut immer auch Gesellschaft
vollzieht und folglich nicht anders
operieren kann als durch Kommunikation, ist und bleibt sie durch
Sprache in die Gesellschaft eingebettet“ (388).
2. Von diesem erkenntnistheoretischen Ansatz, angewandt auf eine
Gesellschaftstheorie, kommt Luhmann in seiner Argumentation zum
zweiten Ansatz, nämlich den Problemen von Zirkularität und Paradoxie selbstreferentieller Systeme. Die
Grundlage dieses Ansatzes bildet
die Logik von George Spencer
Brown (Laws of Form, New York
1977). Es geht hier um die Form
der Form. Dabei darf Form nicht
als ontologischer Status aufgefaßt
werden, sondern als Zwei-SeitenForm, die den Unterschied des Beobachtens markiert, denn gerade
dieser wird durch Beobachtung explizit: es wird möglich, zwei Seiten
zu sehen, die eine, die eliminiert
wird, und die andere, die für weitere
Optionen relevant wird. Beide Seiten bilden eine Einheit. Durch den
Zeitfaktor soll die Paradoxie aufgehoben werden.
Beobachtet man nun die Wissenschaft mit Luhmann auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung,
also als Beobachter von Beobachtungen, stellt sich die Wissenschaft
in zwei Formen dar, als selbstreferentielles und fremdreferentielles
System. Die Wissenschaft ist zum
einen ein selbstreferentielles System,
wenn man voraussetzt, daß die Bedingungen der Erkenntnis die strukturellen Gegebenheiten des Systems
sind. Dies bedeutet eine Umstellung
von asymmetrischen Begründungsannahmen auf Zirkularität. Das hat
Auswirkungen auf die Wahrheitswerte „wahr und „unwahr“, die nur
im Wissenschaftsystem entscheidbar
sind. Ist andererseits der Druck der
Gesellschaft zu groß, reagiert die
Wissenschaft mit einer „Inflationierung des Wahrheitsmediums“.
Luhmann beschreibt zwei Extrempole: es entwickelt sich entweder eine unverständliche Eigensprache
oder es kann alles erklärt werden.
Ein konstruktivistisches und differenztheoretisches Selbstverständnis
des Wissenschaftssystems bedeutet,
so Luhmann, einen Verzicht auf
Autorität oder führt zum Autoritätsverlust. Eine erhöhte Unsicherheit im gesellschaftlichen Alltag, der
seine Erwartungen nach gesichertem Wissen, nach dem „Richtigen“
und „Vernünftigen“ seitens der
Wissenschaft nur noch in der funktionierenden Technik erfüllt sieht,
ist die Folge. Dieser auf konstruktivistischer Erkenntnis basierenden
Funktionsweise von Wissenschaft
wird Referenzverlust oder auch
Bücher zum Thema
Sinnverlust vorgeworfen. Luhmann
fragt nun nach der anderen Seite der
Form von Referenzverlust: was ist
Referenz? In der zweiwertigen Logik gibt es einen einzigen Wert für
Wahrheit, der damit auch Sein artikuliert und Referenz bezeichnet.
Der differenztheoretische Ansatz
designiert ein zweistufiges Referenzproblem. Referenz ist die Bezeichnungsleistung einer Beobachtung und bezeichnet damit das Objekt
oder
die
Operation.
Differenziert man nun, so Luhmann, zwischen der Beobachtung
und der Operation, so entscheidet
man zwischen Selbstreferenz und
Fremdreferenz. „Real ist das, was
als Unterscheidung praktiziert,
durch sie zerlegt, durch sie sichtbar
und unsichtbar gemacht wird: die
Welt“ (707).
Luhmann sieht ein Problem zwischen dem Wirklichkeitsbild der
Wissenschaften und dem Wirklichkeitsbild des gesellschaftlichen Alltags, welches ontologisch und im
„Eins-zu-eins-Denken“ geblieben
ist. Ein „polykontexturales“ Weltbild, welches anerkennt, da die Realität der Welt nur die Konstruktion
eines Beobachters ist und sich
durch Unterscheidungen und Limitationen konstruiert, führt zu Ver-
unsicherungen und einer Zunahme
von
Wahrscheinlichkeitsaussagen
statt Bestimmtheitsaussagen. Eine
Reduktion komplexer Strukturen
vermittelt Überschaubarkeit und
damit Sicherheit. Während Luhmann die Funktionsweise von sozialen Systemen beschreibt und psychische Systeme (Individuen) untergeordnet sieht, begründet er dieses
Problem in der Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums.
Es ließe sich folgern, psychische
Systeme sind sozialen Systemen in
ihrer Konstitution unterlegen, aber
gleichzeitig ist deren Konstitution
Grundlage für soziale Systeme, ohne daß dabei der Aspekt der
Intersubjektivität thematisiert wird.
Die
Systeme
nach
ihren
erkenntnistheoretischen
Voraussetzungen zu befragen,
enthebt sie eines absoluten Wahrheitsanspruchsdenkens und entideologisiert und entmystifiziert sie.
Luhmann öffnet dabei den Blick für
den daraus resultierenden Unsicherheitsfaktor, der im gesellschaftlichen Alltag entsteht, wenn verschiedene Erkenntnisvoraussetzungen kollidieren. An dieser Stelle
sollte gefragt werden, wie sich die
menschliche Konstitution entwickelt, um entweder ein ontologisches oder ein konstruktivistisches
Weltbild zu entwerfen. Erheben wir
uns mit Luhmann auf eine MetaMeta-Beobachtungsebene und fragen, was die andere Seite konstruktivistischer Erkenntnistheorie ist.
Gesina Stärz
Jean-Francois Lyotard
Die Analytik des Erhabenen.
Kant-Lektionen
Aus dem Französischen von Christine Pries, München 1994 (FinkVerlag), kart., 273 S., 48.- DM.
Immer wieder kann man in letzter
Zeit die Ansicht vernehmen, daß
der Zeitgeist die Philosophie der
sog. Postmoderne verabschiedet
habe. Dies betrifft insbesondere
auch die Theorie Jean-Francois Lyotards, der sich in den 80er Jahren als
Vordenker der „postmodernen“
Strömung auch hierzulande einen
Namen machte. Möglicherweise ist
ja auch seine Philosophie des „Dissens“ in einem philosophisch wie
politisch zum harmonisierenden
Konsens und zu homogenisierender
Identität neigenden Deutschland
nicht mehr willkommen. Keineswegs eine quantité negliable sind die
„linken“ Motive des Lyotardschen
Denkens, umfaßt doch seine Verwerfung einer totalisierenden Vernunft gleichermaßen die in ihr gegründeten Systeme politischer, nationaler wie globaler Herrschaft,
ideologisches Hegemoniestreben,
wie den Universalismus einer Rationalität der Ware, die sich auch in der
Nivellierung der sprachlichen und
kulturellen Diskurse festschreibt.
Die Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem Denken
Lyotards entspringen der philosophischen Umsetzung dieses Anspruchs. Dies läßt sich vielleicht am
Unterschied des Lyotardschen Ansatzes zu dem der älteren Kritischen
Theorie aufzeigen. Für diese ist jene
prozeßhaft-dialektische Spannung
unverzichtbar, die in bestimmter
Negation der transzendentalphilosophischen Konstitution einerseits,
des systemphilosophischen Identitätsbegriffs andererseits zwar das
„Offene“ der Kantischen Philosophie aufhebt, jedoch im Begriff der
Wahrheit den historisch und gesellschaftlich vermittelten „Zeitkern“
reflektiert. So enthält das „NichtIdentische“ immer das Moment der
bestimmten Negation des gesellschaftlich Bestehenden, wie Kunst
als „gesellschaftliche Anti-Thesis
zur Gesellschaft“ zu begreifen ist.
Bücher zum Thema
Für Lyotard steht jedoch eine derartige geschichtsphilosophische Konstruktion mit ihrer - wie dialektisch
auch
immer
universalemanzipatorischen Ausrichtung unter dem Verdacht der metaphysischen „großen Erzählungen“ der
Moderne, deren Unhaltbarkeit er
sowohl in wissenschaftstheoretischer Hinsicht, als auch eingedenk
ihrer katastrophischen Folgen auszuweisen bestrebt ist. Da Lyotards
Denken andererseits nicht einem
radikalen Skeptizismus verfallen will
(als einer Form „umgekehrter“ Metaphysik), versucht er gewissermaßen auf der Ebene (sprachlicher) Intentionalität in paradoxalen Konstellationen
ein
Allgemeines
anzuvisieren, dessen Kern eben jene
(abstrakte) Negativität, des „Widerstreits“ ist. (Daß auch dieser „regulativer Ideen“ bedarf, ist sich Lyotard bewußt; rekurriert er doch in
seinen Überlegungen auf Versatzstücke der „großen Erzählungen“
wie die Idee der „Gerechtigkeit“.)
Lyotards sich als work in progress
entwickelnde Philosophie läßt sich
vielleicht am zutreffendsten als ein
kritisch gewendeter transzendentalphilosophischer Idealismus charakterisieren. Da ein derartiger Denkansatz keine Vermittlung von „Sol-
len“
und
geschichtlichgesellschaftlichem „Sein“ zuläßt,
ließen sich Lyotards Konzepte als
„Modelle“ begreifen, deren Gültigkeit sich beispielsweise in der Sphäre des Politischen zu erproben hätte.
Die Essenz des „Widerstreits“ beschreibt Lyotard als den „instabile(n) Zustand und (das) Moment
der Sprache, in dem etwas, das in
Sätze gebracht werden muß, noch
darauf wartet ... Was diesen Zustand
anzeigt, nennt man normalerweise
Gefühl ... Es bedarf einer
anstrengenden Suche, um die neuen
Formations- und Verkettungsregeln
für die Sätze aufzuspüren, die dem
Widerstreit, der sich im Gefühl zu
erkennen gibt, Ausdruck verleihen
zu können ... Für eine Literatur, eine
Philosophie, sogar eine Politik geht
es darum, den Widerstreit zu bezeugen, indem man ihm ein entsprechendes Idiom verschafft.“
Auch in dieser stark verkürzten
Darstellung sind die Momente erkennbar, die die Affinität zur Ästhetik in Lyotards Denken andeuten.
Denn um in der Analyse von Diskursarten und der zu herausarbeitenden Heterogenität die Momente
des Widerstreits aufzudecken, be-
darf es einer zu entwickelnden spezifischen „Empfänglichkeit“ (aisthesis). Zunächst von dieser Elementarfunktion von aisthesis ausgehend,
sucht Lyotard in seiner spezifischen
Deutung des Erhabenen eine ästhetische Fundierung seines Ansatzes.
In seinem in den 80er Jahren Furore
machenden Essay über „Das Erhabene und die Avantgarde“ konzipiert Lyotard in der Auseinandersetzung mit einem Selbstverständnis
der Avantgarde, wie er es vor allem
in der amerikanischen Malerei der
Nachkriegszeit vorfindet, einen
Begriff des Erhabenen, bei dem das
Undarstellbare nicht auf ein metaphysisches „übersinnliches Substrat“ verweist, sondern auf ein
schlechthin Unbestimmbares. Entsprechend wäre die spezifische
„Angstlust“ des erhabenen Gefühls
beim Rezipienten als das Gefühl einer Irritation zu verstehen, die der
paradoxe Versuch auslöst, dieses
Nicht-Darstellbare transparent zu
machen. Daß einerseits Lyotard in
seiner Argumentation den Heideggerschen Terminus des „Ereignis“
gebraucht, andererseits auf den
kunsthistorischen Kontext bezogen
das „Nicht-Darstellbare“ als der Akt
des Zeigens selbst zu verstehen wäre, hat ebenso zur Verwirrung beigetragen, wie die Merkwürdigkeit,
daß sich Lyotard dezidiert auf die
Avantgarde der klassischen Moderne bezieht, um sich gleichzeitig von
der sog. „postmodernen“ Kunst abzugrenzen. Schon Burghart Schmidt
hat darauf aufmerksam gemacht,
daß Lyotards Versuch der Verbindung der Erhabenheitsansicht mit
der Moderne etwas willkürliches
anhaftet. Denn habe Hegel, so
Schmidt, „die Intentionalität der
Kunst“, nicht gerade „in der klassischen Kunstform erfolgreich am
Werk gesehen, wo die Idee ganz zu
ihrem sinnlichen Scheinen gekommen sei und als Idee gar nicht mehr
ausgesprochen werden müsse - solche Bildhaftigkeit ringt ja auch um
Darstellen des Undarstellbaren.“
Interessant wäre beispielsweise auch
die Frage, warum Lyotard nicht unter dem Gesichtspunkt des Dynamisch Erhabenen, das in seinen Überlegungen kaum Raum einnimmt,
nicht auch jene Avantgarde betrachtet, die das Groteske, Absurde, Obszöne und „Trashige“ thematisiert.
Mit dem vorliegenden Buch über
Die Analytik des Erhabenen scheint
Lyotard nicht nur der Forderung
der Kritik gefolgt zu sein, seinen
schillernden Begriff des Erhabenen
in der Auseinandersetzung mit der
Theorie Kants zu präzisieren, son-
Bücher zum Thema
dern auch ein Beispiel seiner Methode liefern zu wollen, verfestigte
Denk- und Wahrnehmungsformen
zu verflüssigen, um die Aufmerksamkeit auf Unbeachtetes, Übersehenes zu lenken. So ist vielleicht die
Herausgabe eines Buches zu rechtfertigen, das nicht in der Form einer
strukturierten geschlossenen Abhandlung erscheint, sondern als eine
Art Provisorium Einblick in das Laboratorium des Denkens gewährt.
Daß damit allerdings, zumindest an
diejenigen, die keine Experten der
Kantischen Philosophie sind, hohe
Anforderungen gestellt werden, sollte nicht verschwiegen werden. Lyotard selbst räumt einleitend ein, daß
es sich bei den vorliegenden Notizen „um einen Zettelkasten mit
Vorbereitungsnotizen zur mündlichen Erklärung“ handle, wie andererseits um einen Zwischenschritt
zu einem sich in Arbeit befindlichen
Buch. Das Publikum muß nicht nur
mit den „Schwerfälligkeiten“ eines
nicht durchformulierten Textes zurecht kommen, sondern sollte auch
umfassende Kenntnisse der Kantischen Philosophie mitbringen, da
Lyotards „Kant-Lektionen“ sich
nicht auf eine bloße Texterklärung
beschränken - auch wenn Lyotard
weitgehend dem Text folgt - sondern einen Deutungsansatz präsen-
tieren, der auf Umwegen das gesamte Kantische Ouevre mit einbezieht.
Hinsichtlich der oben genannten
Unklarheiten in Lyotards Konzeption des „Erhabenen“ sollte man sein
Buch unter der Perspektive einer
wechselseitigen Erhellung lesen.
Lyotard legt eine Deutung der Theorie Kants vor, die als Kritik einer
Lesart zu verstehen ist, „die der
Sorge um das System verpflichtet
ist“, wie sie die Einleitung der Kritik
der Urteilskraft nahelegt. Lyotards
„Lektionen“ zielen hingegen darauf
ab, „in Kants Text die Analyse eines
Widerstreits im Gefühl zu isolieren,
die zugleich Analyse eines Gefühls
des Widerstreits ist“. Diesen
neuralgischen Punkt, der in Kants
Theorie
des
Schönen
und
insbesondere
des
Erhabenen
aufscheint und die Instabilität, die
„Zerbrechlichkeit“
der
transzendentalen Einheit transparent macht, erblickt Lyotard im
Vermögen der ästhetischen reflexiven Urteilskraft, „weil sie im Rahmen der Ästhetik die reflexive Manier des Denkens offenbart, die im
ganzen kritischen Text am Werk
ist.“ Lyotards gewissermaßen als
ent-hierarchisierend zu charakterisierende Sichtweise versucht so eine
Art sensitiver Grundstruktur, ein
sich in den ästhetischen Kriterien
von „Lust“ und „Unlust“, „fühlendes Denken“ auszuloten, wie er weiterhin den „tautegorischen“, „heuristischen“ und „produktiven“ modus ästheticus (Manier) gegenüber
dem „domizilierenden“ modus logicus (Methode) nicht nur aufzuwerten, sondern als die heimliche vereinigende Kraft auszuweisen bestrebt
ist. Als die durchgängige Argumentationslinie von Lyotards Interpretationsverfahren könnte man den
Versuch beschreiben, diesen subkutanen „Widerstreit“ zwischen den
Vermögen, wie die Modi und die
Strategien seiner Vermeidung aufzudecken. Was in der Sphäre der
Moral im Gefühl der „Achtung“
oder im Bereich des Schönen durch
das Zusammenspiel von Verstand
und Einbildungskraft unter dem
Aspekt der „subjektiven Zweckmäßigkeit“ noch gelingt - das Herstellen der Einheit - muß sich unter
dem Gesichtspunkt des „Erhabenen“, so Lyotard, als „eine Art
Spasmus“ enthüllen in dem Versuch
der Vernunft, den Menschen sich
über die jegliche Form der Einbildungskraft übersteigenden schrecklichen und bedrohenden Phänomene innerlich als moralisches Wesen
erheben zu lassen. Lyotard erblickt
hierin ein „Prinzip des Mitgerissenseins des Denkens. Herausforde-
rung seiner eigenen Endlichkeit.
Begehren nach Grenzenlosigkeit,
die es im erhabenen Zustand fühlt:
Glück und Unglück. ... Es verbietet
sich das Absolute gerade deshalb,
weil es das Absolute noch immer
will. Daraus resultiert eine Art
Spasmus im Denken, und die Analytik des Erhabenen skizziert diesen
Spasmus ...“
Gleichzeitig erblickt Lyotard in der
„Negativität“ der Analytik des Erhabenen einen Bruch, der den Ursprung moderner Ästhetik markiert,
„weil sie von einer naturlosen Ästhetik kündet ..., also das moderne
Denken der Kunst den Platz einer
von nun an unmöglich gewordenen
Poetik der natürlichen Ordnung eingenommen hat“, denn „unter dem
Namen der 'Analytik des Erhabenen' zerbricht eine denaturierte
Ästhetik oder besser eine Ästhetik
der Denaturierung die schickliche
Ordnung der natürlichen Ästhetik
...“.
Wie weit es Lyotard nun gelungen
ist, einen Deutungsansatz der Kantischen Philosophie vorzulegen, der
Neuland erschließt und ob dieser en
detail strenger philologischer Überprüfung stand hält, wird sicher noch
Bücher zum Thema
diverse Oberseminare und Kongresse beschäftigen. Im Gesamtkontext seiner eigenen Philosophie gesehen bleibt Lyotards Ansatz mehrdeutig. Trotz seiner dezidierten
Metaphysikkritik scheint sich Lyotard in seinem Bestreben den
Zwängen der „Repräsentation“ zu
entkommen in den Netzen der Intentionalität, der Selbstreflexivität
und Selbstreferentialität des Denkens zu verstricken. Wie sich sein
Philosophieren so als Chiffre der
Suche nach dem verlorenen philosophischen Gegenstand lesen läßt,
so enthält dies einen „dunklen“
Zug, dem das kritische Denken
selbst zum Opfer fallen könnte.
Andererseits bietet seine Konzeption des „Erhabenen“ bedenkenswerte Erklärungen zur Philosophie der
modernen Kunst, wie darüber hinausgehend sein Versuch, das durch
die Dominanz der instrumentellen
Vernunft unterdrückte und verdrängte „ Gefühl“ - den „Widerstreit des Gefühls/im Gefühl“- zu
beleuchten und die dadurch aufgeworfene Frage nach einem anderen
Subjekt, ernst genommen werden
sollte - eine Problematik, um die
sich übrigens hierzulande Alexander
Kluge seit Jahren bemüht.
Georg Koch
Christoph Menke
Die Souveränität der Kunst
Frankfurt/Main 1991 (SuhrkampVerlag), 311 S., 24.- DM.
Es ist ein ehrgeiziges Projekt, das
Christoph Menke verfolgt. Nichts
weniger als eine ästhetisch begründete Kritik der Vernunft steht auf
dem Programm, wobei sich der Autor nicht mit Kleinigkeiten abgibt.
Es geht um große Fragen der Ästhetik, um das prekäre Verhältnis
zwischen Autonomie- und Souveränitätsanspruch
der
modernen
Kunst, um Negative Dialektik und
Dekonstruktion, und schließlich um
die subversive Wirkung der ästhetischen Diskurse - und das alles hat
System, soll es zumindest haben,
und Menke bietet auch eine Menge
Geduld und Akkuratesse auf, um
schrittweise systematisch vorwärtszukommen, bis er die ästhetische
Erfahrung dort hat, wohin er sie
haben will: als zersetzenden Virus
im Zentrum der Vernunft. Auf dem
Weg dorthin folgt er eine große
Strecke den Spuren Adornos, läßt
die Hermeneutik links liegen, überholt Derrida, und gegen Ende
zweigt er noch kurz Richtung Ha-
bermas ab, zu einer Ehrenrunde
gewissermaßen. Es ist ein artistisches Buch, weil Menke einen
Drahtseilakt wagt über den Abgründen der Metaphysik. Wie es
scheint, fällt er nicht ganz herunter und doch ist nicht ganz sicher, ob es
gut gegangen ist. Am Schluß ist man
eigentümlich ernüchtert, und die
Frage drängt sich auf: War's das,
oder muß da nicht noch 'was kommen?
Die moderne Kunst und vor allem
ihr theoretischer Diskurs haben, so
Menke, ein Problem: Da ist einerseits die Autonomie, auf die die
Kunst pocht: Sie folgt eigenen Gesetzen und findet doch Platz im
ausdifferenzierten Gefüge der modernen Vernunft, wo sie ein Moment neben anderen, nichtästhetischen ist. Und da ist andererseits die
Souveränität, die das Ästhetische
beansprucht. Die Kunst drängt dazu, das Gefüge der pluralen Vernunft hinter sich zu lassen, es notfalls zu sprengen; sie lockt mit dem
Versprechen, in ihr „sei das Absolute präsent“ (Adorno).
Wir haben also eine Antinomie, und
zwar eine, die grundlegend für die
moderne Ästhetik ist. „Auf keine
der beiden Seiten der Antinomie zu
verzichten, sondern sie in ihrer ungemilderten Spannung zur Geltung
zu bringen, definiert die Modernität
der
ästhetischen
Reflexion“,
schreibt Menke (10). Schön und gut,
aber wie? Menke orientiert sich zunächst an Adornos Ästhetik. Dabei
tastet er sich behutsam vor zum
Begriff der ästhetischen Negativität,
dessen präzise Entfaltung mit Adorno allein freilich nicht gelingt,
nicht zuletzt deshalb, weil ästhetische und gesellschaftliche Negativität in Adornos Theorie gelegentlich
durcheinander geraten, was wiederum die Autonomie des Ästhetischen
gefährdet. Besser glückt die Reformulierung der ästhetischen Negation, wenn man sich aus Bergsons
begrifflichem Fundus bedient und
vor allem Derridas dekonstruktive
Theorien in den Dienst stellt. Menkes Überlegungen führen zur Bestimmung des ästhetischen Verstehensvollzugs als „Zaudern zwischen
Laut und Bedeutung“ (R. Jakobson;
52). Das Zaudern tritt ein, weil im
ästhetisch vollzogenen Verstehen
das bedeutungsverbürgende Verknüpfen mißlingt; das wiederum hat
seine Ursache im Scheitern des selegierenden Identifizierens der Signifikanten. „Der Signifikant erzittert
ästhetisch zwischen den beiden Polen, die er als automatisch gebildeter
Bücher zum Thema
zusammenhält: dem Material und
der Bedeutung“ (55). Die Bewegung
zwischen den Polen ist prinzipiell
unendlich, der ästhetische Erfahrungsprozeß findet kein Ziel. Die
ästhetische Erfahrung „negiert genau das automatische Verstehen,
das wir in der Identifizierung ästhetischer Signifikanten versuchen, indem sie es in seine Prozessualität
freisetzt“ (64). Ästhetische Erfahrung ist eine Negation, ist die Erfahrung des Scheiterns des automatischen Verstehens, ist „Selbstsubversion der Signifikantenbildung“
(65).
Die Hermeneutik sieht das natürlich
ganz anders. Sie ist darauf aus, das
ästhetisch vollzogene Verstehen als
gelingendes zu beschreiben, weshalb
sie gegen die Negativitätstheorie mit
starken Argumenten antritt. Menke
benötigt zwei Kapitel, um im Gegenzug eine immanente Kritik der
hermeneutischen Ästhetik zu zelebrieren sowie ein Gegenmodell zu ihrer Theorie ästhetischer Interpretation und Bewertung zu entwerfen.
Letztlich muß sich die Hermeneutik
sagen lassen, einer „latenten Heteronomie“ anzuhängen, weil sie den
ästhetisch verstandenen Sinn als
verändernde Wiederholung von bereits vorweg, außerästhetisch erfah-
renem Sinn begreift“ (128). In der
Auseinandersetzung mit der Hermeneutik entwickelt Menke eine
Bestimmung des Schönen, „das wir
als Grund wie Abgrund unserer ästhetischen Verstehensversuche erfahren“ (184). In der Erfahrung ästhetischer Negativität ist das Material des schönen Gegenstands befreit
von seiner Funktion als Bedeutungsträger. Gleichzeitig erlangt es
„eine von keinem Verstehen mehr
einholbare Überschüssigkeit“ (186).
Noch befindet sich Menke im Hoheitsbereich, den das moderne Postulat ästhetischer Autonomie absteckt. Auch der Begriff der ästhetischen Negativität, wie ihn Menke
im Anschluß an Adorno reformuliert hat, läßt die Grenzen dieses
Hoheitsbereichs vorerst unangetastet. Die Subversion des Verstehens
gilt nur innerhalb der ästhetischen
Wertsphäre; was Gegenstand unseres nicht-ästhetischen Erfahrens ist,
bleibt davon unberührt. Als vernunftkritisches Potential taugt das
Ästhetische nur intern. In diesem
Moment läßt Menke Derrida zu
Wort kommen. Der dekonstruktiven Theorie zufolge „verrät die Negativitätsästhetik ihre eigenen Einsichten in die Logik der Negativität,
indem sie Ästhetik bleibt“ (190).
Souveränität kann die Kunst laut
Derrida aber erst beanspruchen,
wenn die Erfahrung ihrer Negativität auch die Negativität nichtästhetischer Diskurse aufdeckt. Dazu müssen die ästhetischen Zeichen
zu „Texten“ werden, muß ihre Lektüre „textuell“ erfolgen. „Im Prozeß
der souverän gewordenen, nicht
mehr ästhetischen, sondern textuellen Lektüre des Ästhetischen werden
ästhetische
und
nichtästhetische Diskurse zu 'Gattungen'
eines allgemeinen Textes“ (194).
Die Souveränität, die Derrida damit
für die Kunst gewinnt, möchte
Menke zwar auch, aber nicht so.
Menke zufolge passiert der dekonstruktiven Theorie das „romantische Mißverständnis“ (15), die
Kunst sei selbst die Instanz der Vernunftkritik. Also kehrt Menke
wieder zu Adorno zurück. Die Aufgabe bleibt, analog zur ästhetischen
Negativitätserfahrung einen selbstsubversiven Prozeß im Funktionieren anderer Diskurse aufzuspüren.
Der könnte in Gang kommen, wenn
die Vernunft unendliche Ansprüche
erhebt. Mit begrenztem Vermögen
unbegrenzte Ansprüche zu erfüllen
- arme Vernunft! Sie käme gewaltig
ins Schleudern. Die von Ador-
no/Derrida beschworene Krise wäre da.
Und genau dafür läßt Menke wieder
die Negativitätsästhetik in Aktion
treten, freilich anders als Derrida.
Die Wirkung der Kunst ist entscheidend, jene Wirkung, die sich
zur ästhetischen Haltung verdichtet.
„Es ist der Blick des nur noch ästhetisch erfahrenden Ästheten, der
die Gültigkeit dieser Welt vernichtet“ (268). Wird der ästhetische Einstellungswechsel verallgemeinert und nichts kann dies verhindern -,
stürzen die Diskurse in eine Krise,
weil die ästhetische Erfahrung das
Gelingen automatischen Verstehens
negiert, das die nicht-ästhetische
Verwendung von Zeichen zur Voraussetzung hat. Um sich resistent zu
machen gegen den ästhetischen
Zerfall, erhebt die Vernunft absolute Ansprüche - und scheitet an ihren
endlichen Leistungen. Die negative
Dialektik der Vernunft triumphiert;
die Souveränität der Kunst ist gerettet.
Irgendwie wird man am Ende das
Gefühl nicht los, einem Taschenspielertrick aufgesessen zu sein. Alles scheint logisch und plausibel,
und doch steht man am Ende vor
einem Ergebnis, das verblüffend
Bücher zum Thema
und enttäuschend zugleich ist. Der
ästhetische Einstellungswechsel soll
zersetzend
auf
die
nichtästhetischen Praktiken und Diskurse
wirken, soll die Vernunft der Moderne in die Krise stürzen? Nun ja,
die Begründung ist schon kompliziert, aber so ganz überzeugen will
sie nicht. Wie ist das mit der ästhetischen Haltung? Soll der Begriff einen Sinn ergeben, muß immer jemand da sein, der diese Haltung hat:
ein Subjekt also. Von der Vernunft
ist in diesem Kontext freilich nicht
im Sinne einer mehr oder weniger
kontingenten Einstellung die Rede,
sondern sie soll ja gerade in ihrer
begrifflichen Gestalt, als universelles
Konzept der Moderne, die eine bestimmte Haltung zur Welt impliziert, attackiert und in Frage gestellt
werden. Warum aus einem subjektiv
vollzogenen Einstellungswechsel die
Krise aller begrifflich davon nicht
tangierten, vernünftigen Diskurse
notwendig hervorgehen soll, weiß
man auch nach der Lektüre von
Menkes Buch noch immer nicht so
recht. Gleichwohl vermittelt es einen guten Eindruck, worum es geht
in der aktuellen Ästhetik. Zweifelhafte Antworten auf schwierige
Fragen können ja auch aufschlußreich sein - hier sind sie es.
Wolfgang Görl
Zur Verteidigung der Vernunft
gegen ihre Liebhaber und Verächter.
Hg. von Christoph Menke und Martin Seel, Frankfurt/Main 1993
(Suhrkamp-Verlag), 417 S., 27.80
DM.
Das Anliegen der Aufsatzsammlung
ist es, eine „Kritik der Vernunftkritik“ zu thematisieren. Diese Kritik
entfaltet sich dabei von zwei Seiten:
auf der einen im Namen der Vernunft, auf der anderen Seite im
Namen eines „Anderen der Vernunft“, im Sinne einer Metakritik.
Daß auch diese Metakritik ihrerseits
im Namen der Vernunft argumentiert, also zwangsläufig auf das Instrumentarium rationaler Argumentation rekurriert, bezeichnet, wie
Martin Seel und Christoph Menke
es formulieren, den „schmalen
Grat“, auf dem sich jede Vernunftkritik konstituiert: in der Intention
der Vernunft gegen ihre „Liebhaber
und Verächter“ zu verteidigen.
Die Beiträge gliedern sich in vier
Kapitel, die Bereiche theoretische
und praktische Philosophie, als auch
Politik und Ästhetik umfassend.
Gerade die ersten beiden Kapitel
sind dabei erwähnenswert, da mit
ihnen der argumentative Faden der
heterogenen Aufsätze am deutlichsten wird, i.e. die Konfrontation der
zwei erwähnten Vernunftbegriffe.
Hinsichtlich der theoretischen Philosophie ergibt sich das Schisma einer sog. „konstruktiven Vernunftkritik“ gegenüber einer „subversiven Vernunftkritik“, resp. eines
„Anderen der Vernunft“: Der konstruktive Vernunftbegriff versteht
sich dabei, in der Tradition Kants
stehend, als Explikation der immanenten Bedingungen von Erkenntnismöglichkeiten, während der subversive Vernunftbegriff, in der Tradition Nietzsches stehend, gerade
eine Abkehr von der Valutierung
der Vernunft als basaler konstitutiver Erkenntnisinstanz propagiert
(das Andere der Vernunft als
Machtdynamik, Tradition, Lebensform, Einbildungskraft oder Zeichenspiel).
In beiden Fällen nun erscheint das
vernunftkritische Unterfangen als
Antinomie: von Seiten der konstruktiven Vernunftkritik wird eingewandt, daß das subversive Vernunftmodell, trotz der Motivation,
gegen das Vernunftprinzip opponie-
ren zu wollen, dennoch Grundregeln des vernünftigen Diskurses
anzuerkennen habe. Von Seiten der
subversiven Vernunftkritik erscheint
wiederum das konstruktive Modell
als Zirkel: die Begriffsstrategien, auf
die rekurriert würde, setzten bereits
die allgemeine Begründungsinstanz
voraus, die erst legitimiert werden
sollte.
Hinsichtlich der praktischen Philosophie findet sich eine Distinktion
bezüglich eines algorithmischen versus hermeneutischen Vernunftkonzepts. Das algorithmische Modell
deriviert sich aus dem Desiderat,
allgemeine Kriterien argumentativer
Aussagen hinsichtlich der Möglichkeit
konsensuellen
Vernunftgebrauchs zu evaluieren. C. Pereda
beschreibt diese algorithmische
Vernunft „als kriteriales Rekonstruktionsmodell mit feststehenden
und allgemeinen Kriterien, nach denen sich jede gerechtfertigte Annahme auf eine andere ebenso gerechtfertigte Annahme stützt, bis
man endlich auf letzte Annahmen
stößt, die sich selbst rechtfertigen“.
Auf die praktische Philosophie angewandt, entspricht dem algorithmischen Vernunftkonzept ein universalistisches Moralmodell, wie es der
Bücher zum Thema
Utilitarismus verkörpert; dem hermeneutischen Vernunftmodell hingegen ein „reflektierendes Rekonstruktionsmodell“ mit unterschiedlichen Arten von Regeln Verfahrensregeln und Maximen, mit
denen sich keinerlei System konstituieren läßt, da die Beziehungen unter diesen Regeln vielfältig und oft
ungewiß sind, und ihre Bedeutung
von den Praktiken abhängt, innerhalb derer sie angewandt werden:
wir sprechen somit von einem
Skeptizismus, resp. Relativismus.
Wie schon das subversive Vernunftmodell auf epistemologisch
theoretischem Gebiet, konstituiert
sich auch das hermeneutisch skeptizistische Vernunftmodell auf dem
Gebiet der praktischen Philosophie
metakritisch: Moralisches Verhalten
läßt sich somit nur nachträglich unter Bedingungen der Vernunft bringen. In diesem Sinne holt die Vernunft in der universalistischen Moral, ebenso wie in der theoretischen
Philosophie, ihre eigenen Grundlage
ein: „Daß eine Letztbegründung der
Moral nicht möglich ist,“ schreibt
Martin Seel, „hängt damit zusammen, daß wir die Unmöglichkeit, ein
gutes Leben zu führen, in letzter Instanz nicht begründen, sondern nur
hinnehmen können.“
Cyrus Achouri
Lutz Rathenow
Die lautere Bosheit. Satiren,
Faststücke, Prosa
Remchingen
1993
(MaulwurfVerlagsgesellschaft), 19.80 DM.
In der guten alten Zeit der DDR, als
es noch einen Sinn hatte, sinnlos zu
sein, schrieb Lutz Rathenow die Satiren über Staat und Stasi, die wir
heute in Die lautere Bosheit lesen
können. Inwiefern sprechen diese
Texte uns heute noch an? Ein Kritiker einer renommierten bundesdeutschen Zeitung befand sie kürzlich als 'historisch obsolet' und bescheinigte Rathenow nur, das Spiel
mit Spitzeln und Publikum virtuos
betrieben zu haben. Wenige Sätze
später kommt der Vorwurf einer
'etwas billigen Oppositionsgaukelei'.
Was denn nun? Virtuos oder billig?
Rathenow entsprach nie dem Klischee eines leidenden Dissidenten.
Sein geglückter Versuch, in der
DDR auf sehr eigene Art gegen das
System zu leben, eckt bei der FAZ
noch heute an. Solche Rollen, die
der Ostberliner lebte und spielte,
sind im Weltbild manches Altbundesbürger nicht vorgesehen.
Im Westen wurde es in den 80er
Jahren Mode, staatskritische Texte
aus dem Ostblock als 'propagandistisch' abzutun. In solcher Kritik sehe ich mindestens eine gewisse
Faulheit. Geschrieben in den USA
wären solche Texte vielleicht propagandistisch gewesen. Rathenows
eigentlich politischen Texten standen in Zeitungen, sie fehlen in diesem Band. Ein Fehler. Kein anderer
Schriftsteller reflektierte die Auswirkungen der Mauer derart intensiv
wie Rathenow in 'Fluchtbewegungen' 1985 in der 'Zeit'.
Die im Band versammelten Prosastücke gehen eher von den Konditionen marxistischer Literatur aus,
auch wenn sie staatskritisch wirken.
Sie sind nicht die kompliziertesten
Texte von Rathenow - und nicht
immer seine besten. Sie sind eben
diejenigen, die er bei Lesungen in
Wohnungen und Kirchen vor einem
staaatsablehnenden - oft jungen Publikum vorgetragen hat. Die Rhetorik und die Erwartungen des Staates werden parodistisch zurückgespiegelt.
Auffällig ist, daß Menschen nur sehr
selten beim Namen genannt werden. Die meisten Charaktere geben
sich durch Berufe oder ihre Stellung
in der Gesellschaft preis: „Ein Minister“, „Der Regierer“, „Ein Polizist“... Wir stehen hier vor einem
fast brechtschen Verfremdungseffekt. Die linientreue Dichtung zeigte
Individuen, die doch wie Typen
handeln. Rathenow dreht das um:
Seine Typen handeln wie Menschen,
seltsam und unberechenbar.
Ein Hauptthema der ganzen Literatur der DDR, von Brecht bis Christa Wolf, von Biermann bis Rathenow, war immer die Stelle des
„Ich's“, des Individuums in der Gesellschaft. Ständig begegnen wir
Menschen, die versuchen, ihre Identität zu erkennen. Ein Spitzel wechselt seine Erscheinung, um als Stuhl
oder als Tisch zu arbeiten. Ein
Mann verschickt leere Seiten in
Briefen, damit sich die Postüberwacher entspannen. Diese Menschen
versagen und triumphieren zugleich,
sie offenbaren ihr „Ich“ auch dann,
wenn sie es überwinden wollen.
So war es im Ostblock, so scheint es
Geschichte geworden zu sein. Heute leben wir in einer aufgeklärten
Gesellschaft, die Satire überflüssig
Bücher zum Thema
macht. Ein amoralischer Zynismus
sucht verzweifelt nach den letzten
möglichen Geschmacklosigkeiten.
Der hilflose Wettbewerb um die
bösartigste Gesellschaftskritik wird
nicht verhindern, daß der abrupte
Zusammenbruch des Kommunismus uns daran erinnern sollte, wie
plötzlich das eigene System verschwinden kann.
Boria Sax
Wolfgang Welsch (Hg)
Die Aktualität des Ästhetischen
München 1993 (Wilhelm FinkVerlag), 443 S., 48.- DM.
Der vorliegende Band faßt die Beiträge zusammen, die auf dem
gleichnamigen Kongreß im Herbst
1992 in Hannover gehalten wurden.
Die Vielfalt der Themenbereiche,
die von der Ästhetik der Lebenswelt
und Politik, der Neuen Medien und
des Designs, der Wissenschaften,
Kunst und Philosophie reicht, bündelt die These von Wolfgang
Welsch, Mitinitiator des Kongresses, die Ästhetisierung sei ein Trend
der Gegenwart und „das Ästhetische“ eine „Schlüsselkategorie unserer Zeit“. Für diese These führt
Welsch einleuchtende Belege an: In
der Produktion verlagere sich der
Schwerpunkt von der gebrauchswertorientierten Herstellung zur
Produktgestaltung nach ästhetischsymbolischen
Gesichtspunkten.
Diese Verlagerung thematisiert auch
Andrea Branzi. Während sie jedoch
in einer solchen Funktionalisierung
der Kunst bloß einen „Niedergang
der ästhetischen Standards“ erkennt, denkt hier Francois Burckhardt hier weiter und will in der
„dem Verfall geweihten Welt“ dem
„Neuen Design“ der Produktgestaltung eine bedeutende Rolle in der
Formierung einer demokratischen
und fortschrittlichen Massenkultur
zuerkennen.
Nach Welsch veränderten sich über
die Art der Produktion hinaus auch
die Muster, die die soziale Lebenswelt und die Selbstinszenierung der
Individuen organisieren: an die Stelle kulturell vorgegebener moralischer Standards treten mehr und
mehr spielerisch-ästhetische Muster
der Kommunikation und Selbstbeurteilung. Thomas Ziehe stellt diese
Ästhetisierung der Lebenswelt sehr
anschaulich anhand der Entwicklung der Bundesrepublik von den
50er bis zu den 80er Jahre vor, wo
die Hollywood-Schaukel und Os-
wald Kolle den Einbruch der Laszivität und Frivolität in die Sittsamkeit
der Lebenswelt markiert, der dann
durch Rock'n'Roll und Beat-Musik
in den 70er Jahren zu einer kulturellen Pluralität und Flexibilität der
Lebensstile geführt habe.
Als die „fundamentalste aller Ästhetisierungen“ (44) nennt Welsch jedoch die epistemologische. Als Wissen bzw. Wissenschaft gelte nicht
mehr das nach festen methodologischen Standards organisierte Ganze
der Vorstellungen, sondern, wie
Paul Feyerabend schreibt: „Wahrheit ist, was der [jeweilige] Denkstil
sagt, daß Wahrheit sei.“ (Implizit
hat Feyerabend Welschs Feststellung widersprochen; denn er klagt
in einem seiner letzten, gewohnt
spritzigen und polemischen Statements gegenüber den „harten“ Naturwissenschaften die Ästhetisierung
erst ein, von der Welsch meint, sie
sei schon da.)
Diesem „Terror“ der Akzeptanz des
Ästhetischen widerspricht nun KarlHeinz Bohrer auf das entschiedenste. Die dadurch platzgreifende Entgrenzung des Ästhetischen führe zu
einer Banalisierung, die den Kern
des Ästhetischen auflöse. In einer
doch recht altbacken-elitären Weise
will Bohrer gegen eine „hedonistisch entleerte Moderne“ am Eigensinn des Kunstwerks festhalten, das
sich vom Alltag abgrenze und seinen Sinn in sich fände. Kunst
verhübsche nicht, sondern ereigne
sich und berge in sich die Kraft der
Irritation (63). Man wird jedoch
nicht recht klug, wen Bohrer als
„Terroristen“ ausmacht: die Designer und Modellschneider, die PopMusiker und Life-Styler, oder die,
die diese Akzeptanz nur beschreiben? Schlägt er auf den Esel ein,
oder auf den Sack?
Wen Bohrer auch immer meint, Welsch' These und Bohrers Gegenthese zeichnen den Hintergrund,
auf dem sich die Frage nach der
Funktion der Kunst im Zeitalter des
Ästhetischen stellt. Spielen die
Kunst und der Künstler heute die
Rolle, neue Muster, Formen und
Anordnungen zu kreieren, die die
Produktgestaltung,
die
Konsumtionsweisen und insgesamt
den Fluß der Waren je neu beleben,
oder bietet die Kunst das Refugium,
wo
das
Authentische
und
Ursprüngliche, das Selbst und das
Jetzt, ihre Heimat haben? Machen
sich, wie Stephan Schmidt-Wulffen
in
seinem
Beitrag
„Vom
Außenseiter zum Agenten“ schreibt,
die Künstler etwas vor, wenn sie auf
Bücher zum Thema
vor, wenn sie auf Originalität beharren? Dies Insistieren wirke mittlerweile fadenscheinig. „Vom Anspruch auf Ursprünglichkeit ist in
den Augen jüngerer Künstler und
Theoretiker nur noch eine Rhetorik
übrig geblieben, die sich gegen das
zeitgemäße Denken sperrt“ (343).
Was aber ist so schlimm, ließe sich
entgegnen, wenn der Künstler sich
dem Zeitgeist versperrt, wenn seine
Praxis die „der Freisetzung von allen anderen Formen der Teilnahme
an den Dingen der Welt ist“ (Martin
Seel, 412)? Gottfried Böhm macht
geltend, daß die Kunst den abgegrenzten Ort bildet, wo sich „die
Lust Totalitäten zu sehen“ verwirklicht, wo Geschichten erzählt und
Bilder betrachtet werden (368). Und
Armin Wildermuth sieht für die
Kunst erst jetzt die Chance, aus der
traditionellen Bevormundung durch
Theologie und Philosophie auszusteigen, um autonom zu werden.
Trübsinnig hält diesem EntwederOder allerdings Dietmar Kamper
entgegen: was aber ist, wenn die
Kunst, je notwendiger sie ist, sich
desto überflüssiger macht? (340)
So bedauerlich es ist, daß diese Debatte, zu der die teils exzellenten
Beiträge provozieren, nicht geführt
worden ist, und sie der Leser folg-
lich selbst führen muß bzw. darf, ein Gesichtspunkt wurde allerdings
unterschlagen. Ihn hat nur Paul
Feyerabend kurz erwähnt (286). Wo
herrscht der „Terror des Ästhetischen“, den Bohrer fürchtet? In Afrika, in Jugoslawien oder in Mexiko?
Liest man die Artikel auf dem Hintergrund dieser Frage, so relativiert
sich die Aktualität. Ja, es könnte
sein, daß uns andere, schon überwunden geglaubte Bewußtseinsformen erneut „terrorisieren“. Insofern
stellt der Kongreß den Höhepunkt
der Diskussion um die Beurteilung
postmoderner Ästhetik dar, die
trotz der markanten und bleibenden
Beiträge ein historisches Interesse
verdient.
Alexander von Pechmann
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