Geschichte der Sozialen Arbeit 1

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Wolf Rainer Wendt
Geschichte der
Sozialen Arbeit 1
Die Gesellschaft vor der sozialen
Frage 1750 bis 1900
6. Auflage
Geschichte der Sozialen Arbeit 1
Wolf Rainer Wendt
Geschichte der
Sozialen Arbeit 1
Die Gesellschaft vor der sozialen
Frage 1750 bis 1900
6., überarbeitete und erweiterte Auflage
Wolf Rainer Wendt
Duale Hochschule BW Stuttgart
Deutschland
Die 1. bis 4. Auflage (1983, 1985, 1990, 1995) erschien bei Enke, die 5. Auflage
erschien 2008 bei Lucius & Lucius (UTB).
ISBN 978-3-658-15355-7
ISBN 978-3-658-15356-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-15356-4
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Vorwort
Vorwort
Vorwort
An der Bewältigung von sozialen Problemen, die sich im Leben von Menschen und
in der Gesellschaft stellen, wird ständig gearbeitet. Eine Menge Einrichtungen,
Dienste und sehr viele Menschen sind beruflich oder in freiem Engagement an
dieser Arbeit beteiligt. Sozial wie ihr Gegenstand sind ihre Beweggründe und ihre
Zielsetzungen. Die Gesellschaft hat soziale Arbeit nötig. Zu der Art und Weise der
Problembehandlung, der sie sich widmet, ist es im Laufe der Zeit gekommen. Wie
im Gang der Dinge die Arbeit entfaltet und gestaltet wurde, wie sie, eingeschrieben
in die Kontexte des gesellschaftlichen Wandels, sich in Diskursen, Programmen
und Praktiken entwickelt hat: das ist der historische Prozess, den das vorliegende
Werk nachzeichnen soll.
Im Studium der Sozialen Arbeit an Hochschulen wird die Geschichte dieses
Metiers an vorderer Stelle gelehrt. Die historische Vergewisserung wird gebraucht,
um zu identifizieren, was diese Betätigung ausmacht und umfasst, woher sie
kommt und wohin es mit ihr weitergehen kann. In der Geschichte ist in zivilen
und politischen Prozessen, in sozialer Bewegung, in Theorie und Praxis dasjenige
professionelle und fachlich differenzierte Handeln geformt worden, für das heute
und morgen ausgebildet wird. Auf die in der historischen Entwicklung gebahnten
Wege begibt sich, wer beruflich sozial zu arbeiten beginnt.
Historische Entwicklungen sind in ihrem Fortschritt ein Gegenstand der Reflexion. Die Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, geschieht und geschehen
soll, ist selber ein bewegender Faktor in der Arbeit und in der Auffassung von ihr.
Die Geschichte bleibt in der Vergegenwärtigung dessen, was gewesen und was
geworden ist, nicht unverändert. Sie wird in ihrer Auslegung zeitgenössisch zur
Selbstverständigung Sozialer Arbeit in Gebrauch genommen. In der vorliegenden
Abhandlung wird sie in diskursiver, konzeptioneller, interdisziplinärer und internationaler Breite erörtert, um einer Engführung zu begegnen, die mal professionsintern, in der Lehre und in der Praxis Sozialer Arbeit, mal in der Zuschreibung
ihres Charakters von außen zu beobachten ist.
V
VI
Vorwort
Begonnen wird mit der historischen Vergewisserung vorberuflich, in gemeinnützigen Aktivitäten, in den Modi der Armenpflege und der Wohltätigkeit, aber
schon unter dem Gesichtspunkt ihrer späteren Transformation in ein methodisches
Arbeiten. Projekte werden einbezogen, die in sozialprofessionelles Handeln übergehen, und Reformen in Staat und Gesellschaft, welche die soziale Betätigung bewegen oder von ihr bewegt werden und den Spielraum für sozial engagierte Akteure
neu bestimmen. Der Darstellung des Geschehens und seiner Umstände liegt die
Auffasung zugrunde, dass eine Menge Vorgänge in wechselseitiger Beeinflussung
nebeneinander und nacheinander die soziale Arbeit vorangebracht haben, dass ihre
Geschichte also nicht in erster Linie und dem Umfange nach darin besteht, was
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter getan haben und tun.
Erörtert werden die Gestalten der Kommunikation, der Kontroversen und
der Verständigung in sozialen Belangen und über angemessene Praktiken in der
Bearbeitung und zur Lösung sozialer Probleme. Insoweit bietet das Werk eine
Diskursgeschichte. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert verlaufen in Europa die
Diskurse zuerst in den Gesellschaften der Bürger, sodann parallel auf politischer,
glaubensgemeinschaftlicher, administrativ-pragmatischer und wissenschaftlicher
Ebene. Man tauscht sich über die Grenzen hinweg aus; deshalb finden sich gleiche
oder doch vergleichbare Entwicklungen in England, Frankreich, in deutschen und
in anderen Ländern. Die vorliegende „Geschichte“ will die Entfaltung sozialer Betätigung unter modernen Verhältnissen umfassend beschreiben; die Darstellung
kann sich darum nicht auf den deutschsprachigen Kontext beschränken.
Das Werk umfasst zwei Bände. Die Gesellschaft arbeitet über lange Strecken an
ihren Zuständen, bevor funktional eine Profession möglich wird, die sich ihnen in
spezifischer Weise sozial widmet. Eine Untersuchung bloß zur Berufsgeschichte
erreichte die Ursprünge und die Beweggründe nicht, von denen die Soziale Arbeit
herkommt. Die Zeitspanne, über die sich die Ausführungen im vorliegenden ersten
Band erstrecken, beginnt mit der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert
und endet in den Jahren um 1900 mit der Frauenbewegung und der in ihr veranlassten Professionalisierung. Die Entfaltung der Berufstätigkeit und das weitere
Schicksal des sozialen Berufs sind Gegenstand des zweiten Bandes. Erst in ihm
ist es eigentlich gerechtfertigt, den Ausdruck „Soziale Arbeit“ groß zu schreiben
in der Absteckung, welche die akademischen Vertreter der Sozialarbeit und der
Sozialpädagogik in Deutschland Ende des 20. Jahrhunderts vornahmen, um die
Vielfalt der Betätigungen und der Aufgabengebiete auf einen begrifflichen Nenner
zu bringen. Die Auslegung Sozialer Arbeit unterliegt fortwährend historischen
Einflüssen; der zweite Band trägt im Hinblick auf sie den Titel „Die Profession im
Wandel ihrer Verhältnisse“.
Vorwort
VII
Bewusst verzichtet wird in beiden Bänden auf längere sozialgeschichtliche und
wirtschaftsgeschichtliche Ausführungen. Mithin fehlt auch die eindrückliche
Schilderung des Lebens und der jeweiligen Lage der Armen und Elenden als den
Adressaten des guten Tuns der Helfenden. Wenn für den Leser erkennbar wird,
dass Soziale Arbeit aus sozialen, das heißt gesellschaftlichen Gründen geschieht
und nicht als individuelle Nothilfe dem Altruismus oder der Barmherzigkeit entspringt, ist schon ein Zweck des Buches erfüllt. Es gibt das eine oder andere Motiv,
welches Personen veranlasst, sich hilfreich für andere Menschen einzusetzen,
aber daraus wird nicht das soziale Werk in seiner Struktur und Funktion in der
Gesellschaft. Auch wird niemandem heute einfallen, Hilfesendungen gegen den
Hunger in Afrika der Sozialen Arbeit zuzurechnen. Die bloße Verteilung von Geld
und Lebensmitteln an Bedürftige, die Pflege eines Hilflosen, die Aufnahme von
verlassenen Kindern, die Beratung bei psychischen Problemen oder die Intervention
bei einer Krise und in einem Konflikt bedeuten je für sich allein noch nicht das,
was Soziale Arbeit ausmacht.
Wir finden sie konstituiert in einem gesellschaftlichen Zusammenhang von
Absichten, Vorhaben und Veranstaltungen. Diesem Zusammenhang folgt die Darstellung im vorliegenden Werk. Das Interesse gilt andauernden und umgreifenden
Prozessen, denen viele Daten, Einzelereignisse und beteiligte Akteure zuzurechnen
sind. Geboten wird mithin keine Ereignisgeschichte, aber auch keine bloße Strukturgeschichte. Gemeinsam und aufeinander bezogen treten sozialaktive Personen auf,
welche eine fortwirkende Arbeit leisten. Sie handeln in einem mentalen Austausch
in der Gesellschaft, stehen lokal, national und international in Verbindung, greifen
Ideen auf und treten in gesellschaftliche, der sozialen Frage gewidmeten, Diskurse
ein. Die moderne Gesellschaft hat diese Frage, die ihre inneren Zustände betrifft, seit
Anfang des 19. Jahrhunderts zu beantworten. Soziale Arbeit ist, von ihrer Genese
her und im ganzen betrachtet, eine andauernde praktische Antwort auf die soziale
Frage, was zur Bewältigung von Problemen, an denen die Gesellschaft leidet, die
sie sich anzulasten hat und die von ihren Angehörigen nicht einfach hinzunehmen
sind, getan werden kann und muss.
Dieser erste Band zur Geschichte Sozialer Arbeit hat den Titel „Die Gesellschaft
vor der sozialen Frage“ auch deshalb erhalten, weil gesellschaftliche Zusammenhänge und die problembezogene Kommunikation in ihnen es sind, welche die
gemeinte Arbeit nach und nach hervorbringen und ihre Formate erzeugen. Moral
und Ökonomie, Recht und Politik nehmen auf die Art und Weise der Betätigung
Einfluss, und es sind weder die Armut generell noch besondere Notlagen, welche den
sozialen Charakter der Wohltätigkeit bestimmen. Die Gesellschaft ist betroffen und
die Arbeit an ihren Missständen bleibt immer auch eine Auseinandersetzung mit
ihren Verhältnissen, eine Beschäftigung mit der conditio humana in Gesellschaft.
VII
VIII
Vorwort
Soziale Arbeit ist in der Praxis und als Konstrukt dem Wandel unterworfen. Ein
hinreichender Grund, sich mit der Diachronie der Prozesse zu befassen, in denen
Soziale Arbeit entfaltet wurde, besteht darin, sie gegenwärtig in der Synchronie des
Geschehens und der Handlungsbereiche, in denen auf vielfältige Weise sozial und
humandienstlich gearbeitet wird, verstehen zu wollen. Bei all den Verzweigungen,
in denen wir die Soziale Arbeit heute vorfinden, muss auf den Stamm und nach
den Wurzeln der Profession gesehen werden, um sie noch als eine einheitliche
begreifen zu können.
Die „Geschichte“ wurde in der Zeit um 1980 geschrieben und ist in erster Auflage
Anfang 1983 erschienen. Gegenüber der fünften Auflage ist die vorliegende in allen
Abschnitten durchgesehen, in Teilen ergänzt und auch neu bearbeitet worden. Zu
den Perioden der Entwicklung sozialer Betätigung konnten in der Zwischenzeit
veröffentlichte Beiträge zusätzlich mit ihrer je spezifischen Sicht auf zeitgenössisches und vergangenes Geschehen berücksichtigt werden. Manche Publikationen,
die in den letzten Jahren erschienen sind, rekonstruieren auf neue Weise, was
zuvor berichtet und interpretiert worden ist. Kommt hinzu, dass im Fortschritt
der Digitalisierung heute viele Quellen erschlossen vorliegen, die vor zwei, drei
Jahrzehnten nur schwer zugänglich waren. Ein Bild des Vergangenen lässt sich
damit differenzierter zeichnen, nicht unbedingt deutlicher und klarer.
Die Geschichte entstand als ein Arbeitsbuch, gedacht für den Gebrauch in Vorlesungen und Seminaren und für die Hand derer, die ein Verständnis Sozialer Arbeit
dadurch gewinnen wollen, dass sie ihrer Herkunft und ihren Entwicklungslinien
forschend nachgehen, sowie als Wissensbasis, die sich für die Auseinandersetzung
über die Natur der Profession und der Disziplin der Sozialen Arbeit, für ihre parteiliche oder zivile Ausrichtung nutzen lässt. In dieser mehrfältigen Funktion hat
sich das Werk in den fünf Auflagen bewährt, die es seit 1983 erfahren hat. – Dabei
ist die Lektüre gewiss nicht einfach; sie setzt einige historische Grundkenntnisse
voraus und hält zur Verfolgung verschiedener Bezüge an, denen der Text selber
nicht im einzelnen nachgeht. Orientierung soll die Gliederung der beiden Bände
in selbständige Abschnitte bieten. Sie haben jeweils einen Schwerpunkt, behandeln
einen zeitlich abgegrenzten Themenkreis und sind mit einem eigenen Literaturverzeichnis versehen. Zur Orientierung beitragen können Zeittafeln in der Einleitung
zu jedem Band, der Tenor, der den einzelnen Kapiteln vorangestellt ist und das
Sachverzeichnis am Schluss beider Bände. Insgesamt bleiben die Ausführungen zur
Historie der Sozialen Arbeit ein „work in progress“, der real sich fortschreibenden
Geschichte gleich.
Inhalt
Inhalt
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . 1
2 Ökonomie und Aufklärung: Erziehung zur Industrie
und bürgerlicher Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Anfänge der Armenzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Mit der Policey zur besseren Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Mit der Pädagogik zur Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Menschenliebe und Menschenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5 Auf Freiheit und auf Rechten gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
22
28
31
35
40
3 Versammlungen des Interesses: Soziale Aufgaben der
bürgerlichen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Raum für Öffentlichkeit und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Gemeinnützig und patriotisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Das Muster der Hamburgischen Armenanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Zweckmäßige Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Von bürgerlichen Gesellschaften zur politischen Gesellschaft . . . . . .
57
58
62
68
72
77
4 Der Pauperismus und die soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
4.1 Der Vorgang der Verarmung auf dem Lande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
4.2 Das Muster von Speenhamland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
4.3 Diskurse über die Ursachen von Armut und Verarmung . . . . . . . . . . 104
4.4 Erörterungen zur sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
4.5 Ideologische Profile und sozial-politische Parteien im
gesellschaftlichen Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
IX
X
Inhalt
5 Die frühen Sozialisten und die Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Diskurs, Bewegung und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Die Projekte Robert Owens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Sozialistische Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4 Die Anfänge der Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.5 Assoziationen und ihre Unterstützer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
137
142
147
151
158
6 Sozialer Konservatismus und christliche Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Wendung zu den Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Christliche Erweckung und karitative Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 Anfänge neuer Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4 Das Werk Wicherns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.5 Chalmers’ christliche Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.6 Internationale Kommunikation über Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . 179
180
182
185
190
196
200
7 Disziplinäre Neuerungen: Techniken des sozialen Eingriffs und
ihre wissenschaftlliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
7.1 Jeremy Benthams Armenplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
7.2 Wissenschaftliche Menschenbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
7.3 Pädagogik für die Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
7.4 Wissenschaftliche Heilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
7.5 Soziale Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
7.6 Pädagogische Reform und soziale Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
8 Das Armenrecht und seine Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Debatte um die Praxis der öffentlichen Armenpflege . . . . . . . . 8.2 Gérandos „Armenbesucher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Neue Armengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.4 Öffentliche Ordnung, gesunde Verhältnisse und Sozialschutz . . . . 263
264
268
273
282
9 Organisierte freie Fürsorgearbeit – das Unternehmen COS . . . . . . . . . 9.1 Rationale Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die Entstehung der COS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Wissenschaftliche Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.4 Die amerikanische Ausprägung der COS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
300
305
310
314
Inhalt
XI
10 Der soziokulturelle Impuls – Settlement Work . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1 Der soziale Idealismus der Gebildeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.2 Die Praxis der ersten Settlements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.3 Die sozialen Settlements in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Soziale Werke und Volksheime auf dem europäischen
Kontinent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
336
341
346
11 Staatliche Sozialpolitik und soziale Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1 Der soziale Anspruch an den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.2 Der Weg von der Arbeiterfrage zur Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3 Bismarcks Versicherung der Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.4 Der französische Solidarismus und die Sozialwirtschaft . . . . . . . . . 11.5 Die Fabier und die Empirie der Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.6 Hinwendung zur nationalen Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
373
378
382
389
394
399
12 Der soziale Beruf der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12.1 Emanzipative Praxis in der festen Ordnung der Geschlechter . . . . 12.2 Frauenvereinigung, Frauenbildung und Mütterlichkeit . . . . . . . . . . 12.3 Ethische Kultur und soziale Hilfsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12.4 Wegbereitung zur sozialen Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
425
427
437
440
354
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
XI
Einführung: Zur historischen Identität
der Sozialen Arbeit
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
1
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit ist eine moderne Tätigkeit und Aufgabe, eingeschrieben in Kontexte
des Wandels. Historisch kommt sie im Zuge der bürgerlich-gesellschaftlichen
Entwicklung und wirtschaftlichen Umwälzung seit dem 18. Jahrhundert zustande.
Das Soziale hat seine Inkubationsperiode in der „Sattelzeit“ zwischen 1750 und
1850. Soziale Arbeit, weit gefasst, formt sich nach dem Ende der alteuropäischen
Ökonomik und Politik in den Wechselbeziehungen von bürgerschaftlichem
Engagement, rechtlichen Ansprüchen, wirtschaftlichen Verwerfungen und
staatlicher Regulation aus. In diesem prozessualen Bezugsrahmen nehmen
die gesellschaftlichen Vorhaben, einzelne Menschen und ihre Verhältnisse zu
bessern, der Armut entgegen zu wirken, sozialen Frieden zu erreichen und das
gesellschaftliche Leben zu reformieren, nimmt schließlich Soziale Arbeit unterschiedlich Gestalt an. Sie wächst sich nach hundert Jahren amtlicher und freitätiger
Armenpflege zu professionellem Handeln aus. Die Praxis der sozialen Profession,
ihr Konzept und ihre Identität verstehen sich im Zusammenhang einer breiteren
Arbeit der Gesellschaft an sich selbst in ihrer fortwährenden Veränderung. Das
Schicksal der sozialen Berufstätigkeit bleibt über die Zeiten den ökonomischen
und den politisch-rechtlichen Konstellationen im Feld ihres Einsatzes verhaftet.
Die moderne Gesellschaft hat angesichts der Probleme, die sie ihren Angehörigen
in ihrer Lebensführung bereitet, beständig eine Arbeit nötig, mit der versucht wird,
diese Probleme zu lösen. Die soziale Betätigung richtet sich auf zu ändernde Zustände
und sie zielt auf das Befinden und Verhalten von Menschen, auf Bewältigung von
Lebenslagen und auf Besserung von Verhältnissen. Soziale Arbeit erfolgt, wie wir
sie heute verstehen, professionell, aber auch in einem freien Engagement und im
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017
W.R. Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit 1,
DOI 10.1007/978-3-658-15356-4_1
1
2
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Zusammenwirken von Personen und von Organisationen, die sich Belangen der
Wohlfahrt in Staat und Gesellschaft widmen.
Die breite und vielfältige Arbeit, die mit dem Attribut sozial belegt ist, bezieht
ihr Selbstverständnis aus ihrer diachronen Entwicklung. Schon weil sich die Soziale
Arbeit fortwährend wandelt, ist es wichtig, ihr Herkommen zu studieren. Sie ist den
Umständen herkunftsverbunden, aus denen ihre Aufgabenstellung rührt, und sie
bleibt von den Umständen abhängig, die jetzt und künftig zu einer angemessenen
Praxis nötigen. Der Blick zurück kann Wege deutlich machen, die weiterführen, und
lehren, sie von denen zu unterscheiden, die weniger versprechen. Die vorliegende
historische Darstellung soll zur Orientierung beitragen, vergangene und gegenwärtige Standpunkte in ihrem zeitgenössischen Kontext klären und die Chancen
beruflicher Sozialer Arbeit wie der informellen Betätigung, die ihr zuzurechnen
ist, bestimmen helfen. Wer Soziale Arbeit und ihre Wissenschaft studiert, kann
das historische Bewusstsein brauchen, in kategoriale Vorgaben des Denkens und
Handelns, in andauernde Prozesse sozialer Reform und vielfältiger Hilfstätigkeit
eingebunden zu sein und anzuknüpfen an leitende Vorstellungen von Solidarität,
Gerechtigkeit, Wohlfahrt und Menschenwürde, welche Vorstellungen, gezeichnet
von ihren Schicksalen, in der Praxis noch längst nicht abgegolten sind.
Seit den Zeiten der Aufklärung zieht man gesellschaftliche Angelegenheiten
ins öffentliche Gespräch. Mit den Debatten jener Epoche begannen der Austausch
über soziale Fragen und eine Betriebsamkeit, welche sie lösen sollte, sie zumindest
konkret zu bearbeiten versprach. Soziale Probleme bilden den Gegenstand lang
währender Auseinandersetzungen, theoretischer Erörterungen und politisch-administrativer Maßnahmen. Die Umbruchphase zwischen 1750 und 1850, die
Reinhardt Kosselleck „Sattelzeit“ genannt hat, prägte in der westlichen Welt die
Bedeutsamkeit des Sozialen, seine Denkmuster und seine Handlungsmuster, aus. [1]
Die erste Voraussetzung der Konstitution einer sozialen Arbeit und eines sozialen
Werkes, nämlich die Wahrnehmung dessen, was sozial heißen soll und was sozial
getan werden kann, kommt in jener Epoche zustande.
Die moderne Gesellschaft reflektiert in Befassung mit dem Sozialen ihren
eigenen Zustand bezogen auf das Ergehen ihrer Angehörigen in dürftiger Lage.
Ihre Benachteiligung, wo nicht Ausbeutung, wird erkannt. Arme und Notleidende
beanspruchen seitdem ein Recht auf Teilhabe am allgemeinen Fortschritt und auf
ein menschenwürdiges Dasein. Die Leitmotive dafür hat die Französische Revolution mit den großen Worten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geliefert, und
soziale Bewegung zwischen Revolution und Reform bestimmt fortan die Arbeit an
den Mängeln, in denen die Verhältnisse der Vernunft widersprechen, welche die
bürgerliche Gesellschaft sich zugute hält.
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
3
Soziale Betätigung
In der industriellen Gesellschaft – und das wird in postindustriellen Zeiten nicht
anders – nötigen wirtschaftliche und soziale Veränderungen von einem vorher
unbekannten Ausmaß zur Beschäftigung mit den Versorgungs- und Lebensproblemen vieler einzelner Individuen und ganzer gesellschaftlicher Gruppen. Auf
die Behandlung dieser Probleme ließ sich die bürgerliche Mentalität zwangsläufig
ein: Aufklärung und Moral der Bürger legten bestimmte Lösungen nahe. Sie reichen von fallweiser persönlicher Hilfe bis zur alle Unterschiede des Standes und
der Privilegien niederreißenden revolutionären Gewalt, von philanthropischen
Erziehungsprojekten über religiös fundierte Erneuerungsbestrebungen bis zur
nationalstaatlichen Gesetzgebung.
Soziale Arbeit darf das Insgesamt der in der Gesellschaft vorkommenden Aktivitäten mit dem Ziel genannt werden, die Lebensverhältnisse innerhalb des Gemeinwesens für die ihm angehörenden Menschen zu verbessern. In der Generalisierung
dessen, was die an diesen Vorhaben Beteiligten als ihren Auftrag wahrnahmen,
fanden sie den Ausdruck „soziale Arbeit“ bzw. „social work“ erst nach 1890. Der
ambitionierte Begriff unterstellt, dass Leistungen erbracht werden, die anders
als die erwerbswirtschaftlichen, jedoch ebenso mit Mühe und Fleiß, aus sozialer
Verantwortung erfolgen und die in wachsendem Maße unter den herrschenden
Bedingungen notwendig sind.
Es gibt in der Gegenwart die berufliche Sozialarbeit und es gibt ein formenreiches freitätiges Engagement in der sozialen Hilfe und in gemeinwesenbezogenen
Unternehmungen. Sie können sich auf den Nahraum eines Wohngebietes, auf die
Lebensbedingungen der einen oder anderen Personengruppe oder auf die Kultur
des Zusammenlebens in der Gesellschaft generell beziehen. In der Öffentlichkeit
wirken Politiker, Verbandsvertreter und Publizisten für soziale Ziele. Andere helfende Berufe weisen auf ihre humanitären Aufgaben hin, mit denen sie zur sozialen
Wohlfahrt beitragen. Historisch zu wiederholten Malen und bis in die Gegenwart
kommen breite Bewegungen in der Gesellschaft vor – die christliche Erweckungsund eine Lebensreformbewegung, die Arbeiterbewegung mit ihren verschiedenen
Richtungen, Frauenbewegungen und Jugendbewegungen. In ihnen allen wird das
Streben gesellschaftlicher Gruppen nach einer entschiedenen Veränderung ihrer
Lebensverhältnisse und der Zustände im Gemeinwesen wirksam. Der Prozess der
sozialen Arbeit in der Gesellschaft schließt diese vielseitigen Aktivitäten ein. Im
historischen Durchgang und gegenwärtig – diachron und synchron – kann die
Rede also nicht nur vom Beruf der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter (oder
Sozialpädagogen) sein. Die Geschichte umfasst mehr als eine Berufsgeschichte.
3
4
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Zielgerichtet bilden sich aus sozialer Not, wo sie drückend wird, zwar bestimmte
Kernbereiche der gemeinten Tätigkeit aus, so die Fürsorge für Kinder, Hilfe bei
Krankheit oder Behinderung, Vermittlung von Bildung, die Besserung von Wohnverhältnissen, Beschäftigung für Arbeitslose, Organisation von Selbsthilfe. Solche
Maßnahmen und auch die Hinwendung zum Einzelfall bleiben aber eingebettet in
eine breitere Befassung mit den Zuständen im großen und ganzen. „Die Wohlfahrt“,
von der im Sprachgebrauch oft abschätzig in Verbindung mit ihren „Empfängern“
gesprochen wird, zehrt materiell und auch ideell von dem Gemeinwohl, auf das
öffentliche und freie bürgerschaftliche Tätigkeit in der Neuzeit verpflichtet worden
ist. In ihm findet soziale Arbeit ihren generellen Beweggrund. Die Nachzeichnung
der Geschichte von social work bedient sich deshalb des Rahmens von social welfare.
[2] In diesem Bezugsrahmen finden wir alle Bestrebungen und Programme vor, die
dem Wohlergehen der einzelnen Menschen in einem Gemeinwesen zugute kommen sollen. In Kontinentaleuropa bezeichnet er anfangs die Bindung des objektiv
berechneten Wohles der Untertanen an die amtliche Förderung des „gemeinen
Besten“ im absolutistischen Staatswesen.
In den angelsächsischen Ländern war und ist die Beziehung auf das Staatswesen
eine andere. Dort konnte sich privat organisierte Wohltätigkeit in ihrer Distanz
zum government nachhaltiger als auf dem Kontinent den Armuts- und Verelendungsproblemen widmen. Wohlfahrt war unter liberalen Vorzeichen als eine in
den Einzelheiten des Wirtschaftens und des (sittlichen) Zusammenlebens zu elaborierende begreifbar. Wer darin nicht zurechtkommt, dem mangelt es habituell an
Charakter – und an ihm ist zu arbeiten. Menschen, die tüchtig sind, widmen sich in
dieser Arbeit denjenigen, denen es an Tüchtigkeit fehlt. Die öffentliche Hand hatte in
diesem Verständnis zwar disziplinierend viel, aber sozial lange nichts zu besorgen.
Ohne Zweifel liegen die Angelpunkte der Sozialgeschichte in der Wirtschaftsgeschichte. Soziale Arbeit folgt der Industrialisierung. Zuvor war die „soziale“
Form des Wirtschaftens im alten Europa das „ganze Haus“ (griech. oikos). Alle
Belange der gemeinsamen Lebenspraxis, des Wohnens, der Pflege des persönlichen
Umgangs, der Gesundheit, der Erziehung und der Krisenbewältigung gehörten in
diese Ökonomik. Ihr Zerfall war eine Nebenfolge zunehmender und erfolgreicher
Erwerbstätigkeit ungebundener Individuen außer Haus. Sie und ihre Geschäfte
erzwangen eine Neubegründung der Politik und der Ökonomie (nun als „politische
Ökonomie“ verstanden) im 17. und 18. Jahrhundert. Der modern „verstaatlichten“
Politik gegenüber bildeten die bürgerlichen Akteure der fortschreitenden Entwicklung ihren eigenen Interessen- und Handlungsbereich „in Gesellschaft“ als die
eigentlich soziale Sphäre aus, in der nicht zuletzt diejenige Arbeit nötig wurde, deren
nachmalige Ausbreitung und Spezifizierung im historischen Prozess zu verfolgen ist.
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
5
Wenn in der vorliegenden Darstellung der Sozialarbeitsgescchichte die Wirtschaftsgeschichte nicht näher behandelt und als bekannt vorausgesetzt wird, dann
um die Weiterungen dieser Thematik zu meiden. Begreifen wir das Wirtschaften
in einer Gesellschaft aktiv handelnder Subjekte in einem ökologisch umfassenden
Sinne, dann schließt es die stattfindende soziale Arbeit bereits ein. Sie erfolgt in
kleineren oder größeren Versuchen, eine herrschende Wirtschaftsweise abzuwandeln, ihre Wirkungen zu kompensieren, zu verbessern oder zu überwinden. Die
Widersprüche zwischen Makroprozessen (des gesellschaftlichen Fortschritts) und
Mikroprozessen (in den Notlagen arbeitender und arbeitsloser Menschen) erfordern
in einer durchaus ökonomischen Strategie eine soziale Behandlung und Lösung.
Ein darauf bezogenes ökologisches Verständnis Sozialer Arbeit hat der Autor an
anderer Stelle dargelegt [3] und die ökosoziale Theorie in der Sozialwirtschaftslehre
[4] weiterentwickelt.
Wie ökonomische Zusammenhänge und Entwicklungen die soziale Aufgabenstellung bestimmen, so wird sie auch von Maßgaben des positiven Rechts geformt. Die
normative und ordnende Funktion rechtlicher Regelungen ist in der Neuzeit nach
Trennung von Recht und Moral um die Dimension von zivilen Rechten erweitert
worden, welche die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Bürgers (gegenüber
dem Staat) sichern. Mit den im 18. Jahrhundert proklamierten Menschenrechten
wird das Problem drängend, wie diese Rechte bzw. die damit begründeten Ansprüche
sich in politischer und sozialer Hinsicht verwirklichen lassen. Ob sie auch für arme
und unmündige Menschen gelten, auch für das Landvolk und nicht nur für gebildete
Städter, für den stimmfähigen Vollbürger oder inwieweit für den Tagelöhner, nicht
nur für Männer, sondern auch für Frauen, wie sich Rechte und Pflichten der einen
wie der anderen zueinander verhalten – das beschäftigt die Akteure im sozialen
Feld. Die wirtschaftliche Emanzipation eines Teils der Gesellschaft zieht über die
allgemeingültige rechtliche Ausgestaltung freien Handelns eine politisch-soziale
Emanzipation anderer Teile der Gesellschaft nach sich. Sie rufen wiederum nach
einer wirtschaftlich ausgleichenden Gerechtigkeit: ein sich aufschaukelnder Prozess,
der im gegebenen rechtlichen Rahmen immer mehr zu tun gibt. [5]
Phasen der Entwicklung
Nach einer längeren Vorgeschichte sozialer Arbeit folgt eine Ausprägungsphase,
in der sie ihren funktionalen Charakter gewinnt, institutionalisiert wird und in
verschiedenen Formen der sozialen Praxis Gestalt annimmt. Die Darstellung ihrer
Geschichte beginnt im vorliegenden Band mit dem ersten Kapitel in einer Zeit, in
der von einer explizit sozialen Betätigung noch nicht die Rede ist. Vorhanden ist ein
5
6
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Geschehen, dessen Transformation soziale Arbeit veranlasst. Ihm entspricht eine
Mentalität, die sich wandelt. Der Wandel (in der Zeit des Humanismus und dann
der Aufklärung) ist als Modernisierungs- und Zivilisierungsprozess beschrieben
worden. Er geht der eigentlichen Moderne voraus. Für die Entwicklung der Sozialwissenschaften hat Heilbron (1995) eine Einteilung in eine vordisziplinäre und
disziplinäre Phase (und anschließend eine postdisziplinäre Phase) vorgenommen.
[6] Entsprechend zeichnet das erste Kapitel Prozesse nach, die noch nicht im Licht
sozialer Erkenntnis erfolgten, aber zu solcher Wahrnehmung hinführen.
Ein Grundzug der ganzen Entwicklung ist das Erwerbsinteresse. Mit der seit der
Renaissance und der Reformation zunehmenden Individualisierung der Menschen
bei Entfesselung ihrer Produktivkraft gewinnt das Bestreben, Eigentum haben, es
mehren und dafür arbeiten zu wollen, eine auf alle Verhältnisse durchschlagende
Bedeutung. Der erfolgreiche Versuch vermögender und findiger Bürger, mit ihrem
auf Erwerb gerichteten Handeln Macht und Geltung zu gewinnen, verbreitete sich
über viele kulturelle Vermittlungen zum Anspruch jeder mündigen Person auf
Selbständigkeit und Anerkennung als bürgerliches Subjekt. Die Vereinzelung der
Menschen machte wiederum politische und gemeinschaftliche Vorkehrungen nötig
sowie Techniken, mit denen sich das Verhältnis von Teil und Ganzem regulieren
lässt. Michel Foucault hat die notwendige neue Kunst des Regierens auf den Begriff
der Gouvernementalität gebracht und ihn auf die Beherrschung der Bevölkerung und
der Disziplinierung des Verhaltens eines jeden Einzelnen, auf seine Selbstführung
und Selbstkontrolle angewandt. [7]
Als Steuerungsweise fällt der Pädagogik schon seit Luthers Zeiten zunehmend
und vollends im 18. Jahrhundert die Aufgabe zu, die Individuen für die neue
Ökonomie vorzubereiten und sie zugleich moralisch-sozial zu disziplinieren. Erziehung stellt somit eine noch undifferenzierte, gewissermaßen verpuppte soziale
Arbeit dar: die große Didaktik der Industrie, wobei die pädagogische Regulation
zuweilen analog zur Konstruktion und Bedienung der Maschinen gedacht wird, auf
welche das aufgeklärte Zeitalter so stolz ist. [8] Die Förderung der Industriosität,
der Tugend fleißiger Betriebsamkeit, geht der Befassung mit den Problemen der
Industrialisierung voraus. Die Bereitschaft, sich über die „Bildung“ des gemeinen
Mannes hinaus der Bearbeitung spezifischer sozialer Probleme in Theorie und
Praxis zuzuwenden, wird erleichtert bzw. gebahnt von der analytisch-synthetischen
Methode, mit der man an jeglichen Gegenstand in Natur und Gemeinwesen heranzugehen sich gewöhnt: Was einzeln vorkommt, kann als Element eines Systems
begriffen werden, dessen Beherrschung die Sonderung der Partikel voraussetzt und
ihre richtige, zweckmäßige Anordnung. Die mechanistische Auffassung auch vom
Menschen und vom menschlichen Verhalten erlaubt es, die Menschenbehandlung
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
7
zu einer selbstverständlichen, wissenschaftlich wie ökonomisch zu rechtfertigenden
Praxis und zu einer fachlichen Angelegenheit in der Gesellschaft zu machen. [9]
Von vornherein ist Gesellschaft, als Kollektivsingular verwandt und als Subjekt
gegenwärtigen und geschichtlichen Geschehens begriffen, nicht vorhanden. Ihrer
Konstitution als Einheit und umfassendes Sozialsystem – realisiert in der Französischen Revolution – gehen die vielfältigen Gesellschaften als freie und gleichermaßen zweckgebundene Vereinigungen von Bürgern im 18. Jahrhundert voraus. Die
Kommunikation in diesen Gesellschaften ist der Anfang des sozialen Diskurses
und dann auch des sozialen Handelns im eigentlichen Sinne von „sozial“. Es sind
gemeinsame Angelegenheiten, die in den Versammlungen bedacht und bearbeitet
werden. Ihr sozietärer Beziehungsaufbau, ihre zivile Selbstverpflichtung und ihre
gemeinnützigen Aktivitäten bilden den Gegenstand des zweiten Kapitels. Sie schließen – musterhaft in der Hamburgischen Armenanstalt von 1788 – eine spezifische
Hinwendung zum armen Mitbürger ein. Als Leistung der vereinigten Bürgerschaft
in Hamburg verdient der Einsatz von Armenpflegern die Zuschreibung, sozial zu
sein. Die individualisierte Armenpflege ist hauptsächliche eine edukative, insoweit
sie die Adressaten der Zuwendung dahin bringen soll, tüchtig zu werden und ein
eigenes Auskommen zu finden.
Erst nach der edukativen Funktion und an zweiter Stelle wird die wohltätige
Aktion zu einem Merkmal sozialer Betätigung. Philanthropie verbindet beide Charakterzüge des Handelns. Soziale Arbeit wurde begonnen und setzt immer wieder
neu an in einer Situation des Mangels. Worin er besteht, mochte unterschiedlich
verstanden werden. Soweit der Mangel den armen Mitbürger betrifft, kann der
vermögende Bürger die Not mit einer Spende, gutem Rat und menschlicher Zuwendung begegnen. Mit persönlicher Wohltätigkeit lässt sich aber die Bedürftigkeit
einer großen Zahl von Menschen, eines nicht geringen Teils der Bevölkerung nicht
beheben. Diese Not ist Ausdruck von Zuständen, mit denen sich eine Gesellschaft,
die gemeinnützig, ökonomisch und patriotisch sein will, zu beschäftigen hat. Sobald sie nicht mehr nur Bürger vereinigt, sondern sich mit dem sozialen Körper
des ganzen Gemeinwesens identifiziert, ist es ihr gesellschaftlicher Zustand selber,
der beschädigt ist und gebessert werden muss. Der Gesellschaft stellt sich in den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer drängender die soziale Frage, wie
es zu den elenden Zuständen in ihr kommt und wie ihnen nachhaltig abgeholfen
werden kann.
7
8
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Parteiung und Bewegung
Die Antworten auf die soziale Frage fielen sozialistisch, konservativ und liberal aus.
Bereits 1840 wurden sie in Europa dermaßen klassifiziert. Bis heute können die drei
Stränge in den sozialpolitischen Programmen demokratischer Parteien verfolgt
werden. Ihnen lassen sich die unterschiedlichen Formen sozialer Arbeit zuordnen.
In sozialistischer Perspektive wurden Genossenschaften gegründet, Kooperative
der Arbeitenden, solange die große Umverteilung nicht erreichbar schien, in der
mit dem Zustand wirklicher Gleichheit die Gerechtigkeit endgültig eingetreten ist.
Konservative Erneuerung manifestierte sich in christlichen Liebeswerken und in
einer wertebezogenen Solidarität, in der Gemeinschaft über Trennungen hinweg
bekräftigt oder wiederhergestellt werden sollte. Demgegenüber entsprach es liberalem Verständnis, eine individuelle Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und dazu eine
Intervention zu organisieren, die das Verhalten von Menschen den Anforderungen
des Erwerbslebens anzupassen geeignet ist. Zu dieser Art von „Fallbearbeitung“,
casework, gehörte ein rationales, wissensbasiertes Vorgehen, für das sich die Helferinnen und Helfer beruflich zu qualifizieren begannen.
Soziale Arbeit wird in der einen oder anderen Form produktiv, indem eine Beziehung zwischen Menschen hergestellt wird, in der sich personbezogen auf eine
Problembewältigung hinwirken lässt. Generell besteht menschliche Arbeit, soweit
sie sich nicht auf Beherrschung und Ausbeutung der äußeren Natur, sondern auf
andere Personen, auf soziale Gruppen und die Natur des Zusammenlebens richtet, in produktiver Kommunikation. Im Nahbereich der Erfahrung gehören dazu
alle Formen zielgerichteten individuellen Umgangs; makroskopisch zählen dazu,
aus der Distanz betrachtet, die „sozialen Bewegungen“. Das gesellschaftliche Geschehen setzt sich, zumal wenn es eigens unternommen wird, aus aktiv geleisteter
Kommunikation zusammen. Bevor Soziale Arbeit – als Werk und Wirken – sich
in der arbeitsteiligen Gesellschaft beruflich etablierte und sich als Profession zu
profilieren suchte, finden wir sie im 19. Jahrhundert eingebettet in soziale Bewegungen. Die soziale Aktivität äußerte sich in Vereinsgründungen, in publizistischen
Auseinandersetzungen, in der Schaffung von Einrichtungen, in „friendly visiting“,
in Bemühungen um Bildung und Kultur, Bekehrung und Erbauung, Sozialprotest
und revolutionären „Umtrieben“. Vielfältig trat die intermediäre Kommunikation
in sozialen Bewegungen unter Handwerkern und Arbeitern, in den christlichen
Gemeinden, unter Frauen, unter Jugendlichen und Studenten und in der sozial
interessierten Intelligenz in Erscheinung.
Soziale Arbeit heißt zunächst: man lässt sich von sozialen Problemen bewegen
und arbeitet an ihrer Lösung. Die Betätigung zeigt, und so wird sie öffentlich
wahrgenommen, dass man besorgt ist, sich kümmert, etwas unternimmt, sich
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
9
christlich, sittlich oder einfach „menschlich“ engagiert. Dabei trifft der Impuls,
Verhältnisse zu verändern, auf den Impuls, Verhältnisse zu bewahren. Zusammen
bilden die Beweggründe einen Widerspruch aus, in dem die soziale Arbeit ihre
Dialektik besitzt. Bewegungen rufen Gegenbewegungen auf den Plan und in ihnen
Apologeten, Vermittler, Reformer und Radikale. Sie alle leben in dem Betroffensein
von Zuständen im Gemeinwesen. Sie sind beschäftigt mit öffentlich gewordener
Not, Krankheit, Gebrechen und anderem Elend. Sie setzen sich selbst und ihre
kommunikativen Möglichkeiten ein, um Abhilfe zu schaffen. Sie gehen dazu Wege,
die entweder bereits strukturell gebahnt sind (wenn Helfer in umschriebenen
Diensten eine Funktion übernehmen), oder sie organisieren Strukturen, in denen
neue Wege gangbar werden.
Soziale Arbeit vollzieht sich von Anfang an auf mehreren Ebenen und zwischen
ihnen. Auf der Makroebene wird eine Regie- und Ordnungsfunktion wahrgenommen, für die der alte Wortsinn von „Policey“ passte. Sie war durchaus nicht „sozial“.
Historisch übernimmt soziale Arbeit ihre Funktion in den Zwischenzuständen
der Desorientierung, wo immer man sich auf gesellschaftliche Probleme bezogen
neu einrichten musste und diese Einrichtung sozial betreiben wollte. [10] So hielt
sich die soziale Aktion (sozialistisch, konservativ oder liberal ausgeprägt) nicht
etwa bei der gewöhnlichen Armenpflege auf, sondern sie setzte pädagogische und
therapeutische Absichten um. Ihre Impulse erhielt sie aus den Strömungen der
allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung und akzentuierte sie auch mit ihren
Unternehmungen. Wo sie sich aber auf der Mikroebene ihrer dienstlichen Ausgestaltung fest einrichtete, stellte die soziale Arbeit sich nicht selten selbst in den
Weg: sie konservierte, was ihre Akteure ändern wollten. Sie nahm in Fürsorge
und Pflege der Gesellschaft Probleme ab und „entsorgte“ sie zur Beruhigung von
Politik und Öffentlichkeit.
Soziale Arbeit gedeiht in liberalen und demokratischen Verhältnissen. Die
Beschäftigung mit dem „Sozialen“ besitzt im Wirtschaftsliberalismus kompensatorischen Wert. Sie machte zum Beispiel in der Blütezeit des Kapitalismus nach 1850
in England und später auch in den USA und anderswo moralische Kultur zu ihrem
Gegenstand. Sie sollte ein Ethos unter denjenigen Umständen behaupten, welche
es negieren. [11] Ethos, der Haushalt der Menschlichkeit, rechtfertigt den unaufhörlichen Versuch, gegen eine in ihren Auswirkungen inhumane Wirtschaftsweise
aufzukommen und die von ihr bedingten Lebens- und Produktionsverhältnisse
schrittweise und stückweise oder auch bloß im Einzelfall der Bedürftigkeit zu
humanisieren.
9
10
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Berufliche Ausdifferenzierung
Sehen wir die sozial geleistete Arbeit im facettierten Licht ihrer gesellschaftlichen
Funktionen, so erscheint sie differenziert als pädagogische (Bildungs-) Arbeit, als
Theoriearbeit, als Arbeit an und in ökonomischen Projekten, als Angstarbeit (nach
der Französischen Revolution), als politische Arbeit, (christliche) Liebesarbeit,
Friedensarbeit (zur Überbrückung von Klassengegensätzen), weibliche Kulturarbeit. Im 19. Jahrhundert haben wir noch keine fachlich und dienstlich gegliederte
Sozialarbeit vor uns. Es gibt die öffentliche und die private Armenpflege und in
ihrem Rahmen die Ansätze einer auf Kinder- und Jugendliche konzentrierten
Heimerziehung, einer Behindertenarbeit, Wohnungslosen- und Trinkerfürsorge,
der Krankenfürsorge und der Straffälligenhilfe.
In England (und anschließend in den USA) beginnt mit der Charity Organisation
Society um 1870 der Betrieb einer sich wissenschaftlich ausweisenden Wohltätigkeit.
Diese Sozialagentur prägt nach und nach eine personenorientierte Dienstgestaltung
aus, die fachliches Können einfordert. In ihr beginnt berufsmäßige Sozialarbeit sich
auszuprägen. Deren sozialer Charakter wird indes nicht in der individualisierten
Fürsorge der Charity Organisation Societies realisiert, sondern in den mit ihnen im
Feld der offenen Armenpflege durchaus konkurrierenden anglo-amerikanischen
Settlements, die nicht das bedürftige Individuum, sondern die Kultur des Zusammenlebens im Gemeinwesen zum Gegenstand haben. Die Frauen, die in beiden
Institutionen einen Hauptteil der praktischen Arbeit leisten, bringen am Ende die
Geschäfte der COS und die der Settlements auf den Nenner von social work. Sie haben
bei allen Unterschieden in ihrem Einsatz ein sie verbindendes Interesse an einer
Berufstätigkeit, die sich im Zuge der Frauenbewegung als ein spezifisch weibliches
Aufgabengebiet ausweisen lässt. Es bietet sich an zur Realisierung von Reformen,
die am Ende des 19. Jahrhunderts in der modernisierten Gesellschaft anstehen.
Die Rede von Sozialer Arbeit als Beruf kommt zeitlich parallel in Deutschland,
in Großbritannien und in den USA auf. [12] Damals besetzten die Begriffe Sozialreform – Sozialpolitik – soziale Arbeit und je nach Position auch „Sozialismus“ für
eine Weile das gleiche semantische Feld; sie überschnitten sich in ihrer Bedeutung
und wurden auch synonym gebraucht. [13] In ihrem Auftreten profilierte sich die
Soziale Arbeit als Reformarbeit und fand in diesem Verständnis eine Anerkennung,
die sie in der Fürsorge für Bedürftige nicht erlangen konnte. Die Verberuflichung
verdankt den Schub, mit dem sie vorankam, einer Bewegung nicht auf der Ebene
des Dienstes, der nun qualifiziert und mit Expertise geleistet werden sollte.
Der Weg der Professionalisierung wird im zweiten Band der Geschichte der
Sozialen Arbeit verfolgt werden. Die berufliche Ausübung bleibt aber auch im 20.
Jahrhundert und darüber hinaus an die zivilen, ökonomischen, politischen, morali-
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
11
schen und rechtliche Kontexte gebunden, die bereits Thema des vorliegenden ersten
Bandes sind. In diesen Kontexten legitimiert sich die Soziale Arbeit, mag sie sich
im direkten Dienst am Menschen auch noch so sehr auf dessen Befinden einlassen
und sich in einzelnen Hilfestellungen verlieren. Sie hat ihren Handlungsspielraum
in Antworten auf die soziale Frage gewonnen und mit den Aufgabenstellungen
besetzt, die ihr von daher zugeordnet wurden oder die sie sich selber im praktischen Engagement erschlossen hat. Soziale Arbeit kann ihre Spielräume mehr oder
weniger ausfüllen, sich auf diskrete Funktionen beschränken oder Bewegungen
und Reformen anstoßen. Dass beides zur Identität Sozialer Arbeit gehört, ist von
Protagonisten der Profession wie Mary Richmond und Jane Addams erkannt und
1929 von Porter Lee in der amerikanischen National Conference of Social Work
auf die Formel „social work – cause and function“ gebracht worden. [14]
Bereits die christlich-soziale Arbeit eines Johann Hinrich Wichern in den 1840er
Jahren war doppelt angelegt, bezog sich auf den Zustand der Gesellschaft und auf
die Not von einzelnen Menschen. Und vor ihm verband die Hamburgische Armenanstalt von 1788 die Hilfestellung, die sie armen Mitbürgern angedeihen ließ,
mit der Absicht, dem Wohl des städtischen Gemeinwesens zu dienen. Der Gründer
des ersten amerikanischen Settlements 1886, Stanton Coit, stellte es als ein Werk
vor, das den gesellschaftlichen Fortschritt befördert. Soziale Arbeit beginnt im
Selbstverständnis ihrer Protagonisten als ein ziviles Wirken.
Gleichzeitig wird das Werk, das sich Frauen und Männern in organisierter
Weise zu leisten vornehmen, zu Zwecken in Anspruch genommen, die den hehren Absichten gar nicht entsprechen. Die Hilfswilligen in der Fürsorge braucht
man in der amtlichen Armenpflege für eine Kontrolle der Armen, zur Befriedung
beunruhigenden Verhaltens, später um Gruppen von Anspruchsberechtigten
bestimmte Dienste angedeihen zu lassen. Die Arbeit im Kleinen und im Alltag
der Helferinnen und Helfer weist somit andere Züge auf als der Charakter, der ihr
von denen zugeschrieben wird, die sie eingerichtet haben und öffentlich vertreten.
Was Soziale Arbeit ausmacht und worin ihre Professionalität besteht, fragen sich
die Berufsvertreter seitdem sie mit der Verberuflichung angefangen haben. Das Für
und Wider der Ausrichtung, derv Funktion und der Identität Sozialer Arbeit wurde
in Deutschland wie in anderen Ländern im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen
und der Akademisierung der Ausbildung in den 1970er Jahren in neuer Schärfe
virulent. Damals begann man auch, die Positionen der Sozialarbeit durch Rückblick
in ihre Historie zu begründen und zu sichern. [15] Je nach Ausgangsstellung und
Leitideen erschlossen die Erkundungen unterschiedliche Perspektiven.
War nach 1968 ausgemacht, dass Sozialarbeit eine Institution im wesentlichen
zur Reproduktion von Arbeitskraft darstellt, ließ sich folgern, dass die Geschichte
der Sozialarbeit in erster Linie einen Funktionswandel entsprechend den Krisen
11
12
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
der kapitalistischen Produktionsweise zum Inhalt hat. [16] Die Mentalität, aus
der die soziale Tätigkeit jeweils vorgeschlagen, begonnen, verworfen und neu
begründet wurde, schien demgegenüber sekundär. Beschäftigen wir uns weniger
ideologisch voreingenommen mit der historischen Identität Sozialer Arbeit, können Überlegungen zur „kognitiven“ und „sozialen“ Identität [17] nicht außen vor
bleiben. Diese Bezüge bzw. das in ihnen eingerichtete Selbstverständnis stellen
sich zu einer durchgehenden Interpretation quer. Jedes Kapitel dieses Buches und
des an es anschließenden zweiten Bandes steht für einen gesonderten Prozess, mit
eigenen Gründen und mit Zügen, die ihn von anderen Vorgängen, selbst wenn sie
gleichzeitig erfolgen, unterscheiden.
Eine Möglichkeit, in der Historiographie der Schwierigkeit zu entgehen, in
einem ausufernden Geschehen navigieren zu müssen, besteht darin, sich auf einen
Strang der Entwicklung zu konzentrieren. Das kann die Berufs- und Methodengeschichte Sozialer Arbeit sein [18], eine Geschichte der Berufsausbildung [19], eine
Geschichte der Sozialpädagogik [20] oder die Darstellung der sozialpolitischen und
wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Jeweils mit Beschränkung auf den nationalen
Kontext [21] Wie in den deutschsprachigen Titeln zu der Thematik, gibt es diese
Eingrenzung auch in der englischsprachigen Literatur. [22] Soziale Arbeit hat sich
nun aber, nachgerade in ihren Anfängen, in einem internationalen Austausch, in
einer Korrespondenz und über Kontroversen in den Fragen wie in den Antworten,
entwickelt.
Es gibt Schwerpunkte der Entwicklung, die zuzeiten einmal in England, dann
wieder in Frankreich oder in Deutschland liegen. Die einzelnen Kapitel im Buch
behandeln solche Schwerpunkte: die Gemeinnützigkeit gesellschaftlicher Aktivität
im deutschsprachigen Raum, Pauperismus in England, Ideologie und Restauration
in Frankreich, englische Armengesetzgebung und ihre europaweite Nachahmung,
organisierte Wohltätigkeit in Großbritannien und den USA, deutsche Sozialpolitik.
Jedes Kapitel steht für einen Problem- und Aufgabenbereich und eine Domäne
seiner Bearbeitung.
Die Darlegungen in diesem Buch und im zweiten Band suchen die Entwicklungen in der sozialen Arbeit auf mehreren Ebenen und in einem weiten Horizont
aufzuzeichnen. Es handelt sich um eine Diskursgeschichte inklusive Ideen- und
Theoriegeschichte – und um eine Realgeschichte relevanter Ereignisse und Personen
sowie um eine Institutionengeschichte. Es gibt die Ebene leitender Begriffe, ihrer
Konstitution und ihres Wandels, die Ebene wirtschaftlicher Prozesse und politischer
Transaktionen und die Ebene konkreten sozialen Handelns. [23] Während die
Ideengeschichte sich auf das Denken der intellektuellen Eliten in sozialen Belangen
konzentrieren kann, zeigt sich mentalitätsgeschichtlich, dass sich in der Folge jenes
Denkens allgemeine Auffassungen bis in alltägliche Praktiken in sozialer Arbeit
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
13
verbreiten, dass sich mithin die Akteure Arbeit bewusst oder unbewusst an ein
Grundverständnis bzw. an Leitlinien in dieser Arbeit halten. [24]
Die Evolution der Arbeit, die eine soziale genannt wird, erfolgt in diskursiven
Prozessen. In ihnen verbinden sich die Entwicklungslinien von Zivilität und
überhaupt der sozialen Beziehungen, der politischen Ansichten und der von ihnen
beherrschten Administration, der sozialwirtschaftlichen Vorhaben und der sozialwissenschaftlichen Auffassungen. Alle diese Entwicklungslinien lassen die soziale
Arbeit zu und fordern sie in bestimmter Weise ein. Sie beeinflussen sowohl, was
inhaltlich diese Arbeit ausmacht, als auch ihre soziale Erscheinung, die Vorstellung
der Akteure davon, was sie tun und wie sie es tun.
Von sozialer Betätigung kann erst die Rede sein, wenn die an ihr Beteiligten sich
explizit als soziale Akteure verstehen. Ich gebrauche deshalb das Adjektiv „sozial“
bezogen auf das Denken und Handeln nicht vor der Zeit der Gesellschaften im
18. Jahrhundert. In diesem Buch wird auch nicht von der sozialen Frage vor dem
19. Jahrhundert, nicht von Sozialpolitik vor Bismarck, nicht vom Wohlfahrtsstaat
vor den 1920er Jahren gesprochen. Bestrebungen, die bürgerliche Gesellschaft von
Grund auf umzugestalten, ließen es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im
Sprachgebrauch angebracht erscheinen, von den gesellschaftlichen Belangen generell
die besonderen sozialen zu unterscheiden. Das geschieht in Deutschland nicht vor
1840. Die soziale Frage lässt Aufgaben erkennen, die entweder zur Abwehr oder
zur Beförderung eines Wandels im Gemeinwesen erfüllt werden müssen und die
in Diensten an den Menschen, von ihnen in Selbsthilfe oder mit ihnen in gemeinsamen Projekten abzuarbeiten sind.
Die „Geschichte“ kann bei ihrem sozialen Thema den fortwährenden Diskursen
folgen, die sich mit ihm von Anfang an und immer wireder befasst haben. Die Ausführungen in den einzelnen Kapiteln dieses Buches stützen sich auf zeitgenössische
Quellen, auf Selbstzeugnisse der Beteiligten und auf die Literatur, die sich der sozialen
Frage und ihrer Bearbeitung widmet. Alle Texte, die herangezogen werden, geben
nicht einfach Fakten wieder, sondern ihnen liegen bestimmte Auffassungen zugrunde und sie enthalten Deutungen und Wertungen. Ihre Behauptung in einer Zeit
schafft selber Fakten. Das Soziale ist immer auch eine Konstruktion derjenigen, die
es betreiben. Eine Geschichte, die sich bei zeitgenössischen Verständnissen aufhält,
belässt sie in dem Ausdruck, den sie in ihrer Zeit fanden, und sucht den Wandel in
den Auffassungen und in den von ihnen bestimmten Praktiken nachzuzeichnen.
13
14
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Chronologie: Marksteine der Entwicklung
Act for the Relief of the Poor
1601
Rousseaus „Contrat social“
1762
Hamburgische Armenanstalt
1788
Französische Revolution1789
Speenhamland System1795
Gérandos „Armenbesucher“
1820
Kommune „New Harmony“
1824
New Poor Law1834
Wicherns „Innere Mission“
1848
Elberfelder Modell1853
Charity Organization Society
1869
Verein für Socialpolitik
1873
Sozialpolitik: Kaiserliche Botschaft
1881
Toynbee Hall1884
Hull House1889
Mädchen- und Frauengruppen
1893
Erste Ausbildung in New York
1898
Soziale Frauenschule1908
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
15
Die Zeiträume der Kapitel
Ökonomie und Aufklärung
1600 – 1750
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Versammlungen des Interesses
1750 -1800
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Pauperismus und soziale Frage
1800–1850
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sozialismus und Arbeiterbewegung
1800–1860
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Konservatismus und christliche Erneuerung
1800–1860
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Disziplinäre Neuerungen
1790–1860
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Reform des Armenrechts
1820–1850
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Charity Organisation
1860–1880
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Settlement Movement
1860–1890
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Staatliche Sozialpolitik
1870–1900
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Frauenbewegung und Frauenberuf
1840–1910
15
16
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
Anmerkungen
Anmerkungen
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
Kosselleck 1972, S. XIII. „Sattelzeit“ meint die Periode des Übergangs, in der diskursgeschichtlich das moderne Denken sich im Wandel der Sprache abzeichnet – in
unserem Kontext mit der Auflösung der ständischen Ordnung bei Entfaltung des
Sinns von „sozial“.
Vgl. Kidneigh 1965, S. 3 zu dem Erfordernis, die Geschichte der Sozialarbeit einzubetten
in die Betrachtung der Wohlfahrtsbestrebungen allgemein: „In tracing this history,
it is necessary to consider the development of social welfare. As currently used, the
term ‘social welfare’ denotes the full range of organized activities of voluntary and
governmental agencies that seek to prevent, alleviate, or contribute to the solution of
recognized social problems, or to improve the well-being of individuals, groups, or
communities.“
Die Franzosen haben für den weiten Rahmen dieser Betätigungen den Begriff l’action
sociale zur Verfügung, der inhaltlich von der staatlichen Politik im sozialen Sektor bis
zur Einzelhilfe die verschiedensten Formen von travail social umschließen kann. (Lory
1975). In amtlichen Formulierungen heißt es: „L’action sociale comprend l’ensemble de
mesures de prévention, d’aide et de réinsertion dispensées par l’Etat, les communes et
d’autres institutions publiques ou privées pour répondre aux besoins de la population
en matière sociale.“
Wendt 1982, Wendt 2010
Wendt 2002, Wendt 2011
Vgl. zur schrittweisen Implementierung ziviler Rechte im 18. Jahrhundert, politischer
Rechte im 19. Jahrhundert und sozialer Rechte im 20. Jahrhundert Marshall 1950.
“The history of the social sciences … consists of a disciplinary and a predisciplinary
stage. The predisciplinary stage covers the period from about 1600 to the middle of the
nineteenth century. It was during this period that modern notions on human societies
emerged. These notions were formulated within far more general frameworks than
disciplines.” (Heilbron 1995, 3)
Foucault 2004
Vgl. zur Regulierungs- und Industrialisierungsfunktion der Pädagogik im einzelnen
Dreßen 1982. – Im vorliegenden Buch wird die pädagogische Intervention der sozialen
zeitlich vorgeordnet. Insoweit folge ich nicht dem Diktum von Münchmeier in seinen
„Zugängen zur Geschichte der Sozialarbeit“: „Das historisch Neue am Entstehen der
Sozialarbeit war eben der Versuch, auf die soziale Destruktivität der kapitalistischen
Gesellschaft die Kontroll- und Befriedungstechnik von Erziehung und Sozialisation
anzuwenden.“ (Münchmeier 1981, S. 9)
Natur- und Sozialphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert entwickeln der Pragmatik
der wirtschaftlichen Subjekte entsprechend mechanistische Vorstellungen und die
analytisch-synthetischen Weisen des Vorgehens, welche anschließend in der sozialen
Arbeit gebraucht werden. Siehe zur Analogie von „Individuum“ und „Atom“ in der
zeitgenössischen Theorie Freudenthal 1982.
Hans Achinger verortete einmal Sozialarbeit im Übergangsbereich von „Gemeinschaft“
und „Gesellschaft“ (im Sinne von Tönnies): „Der soziologische Ort für das Zustandekommen von Fürsorge ist … weder die Gemeinschaft, noch die Gesellschaft, sondern
jener Zwischenzustand, der, historisch gesehen, gar zu leicht ein Durchgangszustand
Anmerkungen
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sein kann. Daher ist es auch verständlich, dass die Fürsorge sowohl von kleinen,
in sich geschlossenen Gemeinschaften wie auch vom klassenbewussten Proletariat
gründlich gescheut, ja verabscheut wird, wenn sie von einer Gesamtheit ausgeht, die
diese Gegensätze in sich enthält.“ (Achinger 1929, S. 21)
Hierzu Stein 1897, S. 329: „Es soll nicht geleugnet werden, dass der Liberalismus, der
das politische Credo der Industrie ist, die Cultur ganz außerordentlich gefördert hat,
und es wäre ungerecht, wollte man verkennen, dass er ein notwendiger Durchgangspunkt im Entwicklungsprocess der Menschheit war. Das Individuum musste erst
zeigen, wie weit es bei der ungehemmt freien Entfaltung gelangt und was dabei für
das Gesamtwohl der Menschheit herauskommt. Thatsächlich hat uns denn auch der
entfesselte Liberalismus die Lehre ertheilt, dass er ein vortreffliches ökonomisches
Prinzip ist zur Auslese der findigen, strebsamen, combinationslustigen Köpfe, wenn
auch nicht gerade eine Schule des Charakters.“
Seed (1973), der die Sozialarbeit als eine soziale Bewegung aus sozialen Aktionen
innerhalb der Administration, der organisierten freien Wohltätigkeit und der englischen Settlements entstanden sieht, hebt sie entschieden von der Philanthropie und
christlichen Liebestätigkeit ab. „The term ‘social work’ was first used in Britain at the
end of the nineteenth century in connection with the activities of people who had a
sense of belonging to a movement which aimed at social advance based on disciplined
and principled forms of social action. Social work was an attempt to find more realistic
remedies to social problems and to social distress than traditional forms of philanthropy
and charity.“ (Seed 1973, S. 3) An soziokulturellen Bestrebungen innerhalb und außerhalb
der Frauenbewegung ist der Beginn von Sozialarbeit in Deutschland zeitgenössisch
festgemacht worden (nachzulesen insbesondere in den Schriften von Alice Salomon).
Analog lassen mit der Gründung von „Maisons sociales“ durch Frauen Guerrand/
Rupp (1978) in ihrem Geschichtsbuch die französische Sozialarbeit beginnen.
In den angelsächsischen Ländern war der Konnex von Sozialreform und social work
eng, während die Deutschland die Staatstätigkeit auf sozialpolitischem Gebiet beiden
den Wind aus den Segeln nahm. Dafür ergab sich hier eine Dialektik von Sozialpolitik
und Sozialpädagogik, auf die im ersten Kapitel des zweiten Bandes der „Geschichte“
näher einzugehen sein wird.
Lee 1929
Autorenkollektiv 1971, Köhler 1977, Sachße/Tennstedt 1980, Sachße/Tennstedt 1981
So etwa der von Landwehr/Baron herausgegebene Band zur Geschichte der Sozialarbeit
in Deutschland (1983).
Wolf Lepenies trifft diese Unterscheidungen in seinen Sammelbänden zur Geschichte der
Soziologie (Lepenies 1981, S. 1): „Gefragt wird nach der Einzigartigkeit und Kohärenz
soziologischer Orientierungen, Paradigmen, Problemstellungen und Forschungswerkzeuge (kognitive Identität); beschrieben werden die Institutionalisierungsprozesse,
durch die das Fach versuchte, sich organisatorisch zu stabilisieren (soziale Identität);
nachgezeichnet werden schließlich einige der schon früh einsetzenden Bemühungen,
eine disziplinäre Vergangenheit zu rekonstruieren, auf die sich im Prinzip alle Mitglieder der soziologischen Wissenschaftsgemeinschaft berufen konnten (historische
Identität).“
Müller 2013
Amthor 2003, 2016
17
18
1 Einführung: Zur historischen Identität der Sozialen Arbeit
[20] Siehe Niemeyer 1998, Rauschenbach 1999 und (in kritischer Auseinandersetzung mit
der Auslegung von Sozialpädagogik) Reyer 2002.
[21] So auch bei Hering/Münchmeier 2005, s. zur sozialpolitischen Entwicklung musterhaft
Tennstedt 1981.
[22] Siehe professionsbezogen Lubove 1965, Seed 1973, Ehrenreich 1985, institutionsbezogen
Katz 1986, Day 1997, Trattner 1998, Axinn/Stern 2005.
[23] Auf die Gegenüberstellung von Realgeschichte (als „Kette von Ereignissen in den
verschiedenen gesellschaftlichen Feldern“) und Diskursgeschichte (als Deutungen,
Interpretationen und Begründungen der Ereignisse) gehen S. Hering und R. Münchmeier
in ihrer Betrachtung der „Vielschichtigkeit des Gegenstands“ der Geschichte Sozialer
Arbeit ein. Darzustellen sei nicht einfach die Entwicklung von Einrichtungen, Praxis- und Berufsvollzügen, sondern auch „das Werk von Individuen auf der Basis ihrer
Deutungen und Kontroversen“. Eher als Diskursgeschichte denn als Realgeschichte
könne diese Geschichte „lebendige Vergewisserung des Vergangenen und Ort kritischer
Selbstvergewisserung sein“. (Hering/Münchmeier 2000, S. 15)
[24] Der Ansatz der Mentalitätsgeschichte, verstanden im Sinne der Schule der „Annales
d’histoire économique et sociale“ (ab 1929), fokussiert auf kollektive Orientierungsmuster und Einstellungen, nach denen in einer Zeit andauernd gehandelt wird; vgl.
Raulff 1987, Dinzelbacher 1993.
Literatur
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