Familiäre Beziehungsstörungen und Essstörungen

Werbung
9 Familien- und paartherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
169
Der Zusammenhang zwischen familiären Beziehungen und Essstörungen kann inzwischen
als empirisch gesichert gelten (s. Reich 2003a, b, 2005 und die dort zitierte Literatur). Dies
gilt für:
➤➤Beziehungen insgesamt: Jugendliche, die ihre Familien als wenig funktional erleben, sehen auch die Atmosphäre und den Stellenwert gemeinsamer Mahlzeiten als negativ an.
Beides wiederum hängt eng mit einer Störbarkeit des Essverhaltens und einem nega­
tiven Körperbild der Jugendlichen zusammen, insbesondere bei Mädchen.
➤➤Organisation und Zusammenhalt: Familien Essgestörter sind oft schlechter organisiert
als die von Vergleichsgruppen. Der Zusammenhalt ist oft beeinträchtigt. Diese Pro­bleme verstärken Unsicherheiten von Jugendlichen bezüglich ihres Selbstgefühls und
ihrer Autonomie.
➤➤Ablösung: Essstörungen gehen mit Ablösungsproblemen einher. Familien essgestörter
Patientinnen ermutigen die Unabhängigkeit der Patientinnen weniger als Familien von
Vergleichsgruppen. Sie üben mehr Kontrolle aus bzw. binden dann, wenn eigentlich die
Autonomie ermutigt werden sollte. Auf der anderen Seite bieten sie wenig Zusammenhalt, wenn dieser benötigt wird (Kog et al. 1989).
➤➤Kommunikation: Hier zeigen sich ebenfalls deutliche Probleme: Eltern setzen die Probleme ihrer Kinder in ihrer Bedeutung herab oder sind unwillig, sie wahrzunehmen. Der
Gefühlsausdruck ist ebenfalls oft gestört.
➤➤Normen und Regeln: Diese sind oft einschränkender als in Familien Nichtessgestörter
(Gillet et al. 2009).
Familienbeziehungen bei Anorexie
Crisp, Harding und McGuiness (1974) fanden heraus, dass sich der psychoneurotische
Status der Eltern (z. B. Depressionen der Mütter) verschlechterte, als die magersüchtigen
Töchter ihr ursprüngliches Gewicht wieder erreicht hatten. Dies stützt die Hypothese der
Konfliktumleitung durch die anorektische Symptomatik. Es konnte zudem gezeigt werden,
dass in Familien anorektischer Patientinnen erhebliche Probleme mit den interpersonellen
Grenzen bestehen (Goldstein 1981; Kog u. Vandereycken 1989b). Diese Familien weisen in
empirischen Untersuchungen folgende Merkmale auf (vgl. hierzu Reich 2005, 2008a und
die dort zitierte Literatur):
➤➤stärkere Konfliktvermeidung als nicht essgestörte und bulimische bzw. gesunde Vergleichsfamilien
➤➤Behinderung der Ablösung der Patientinnen von der Familie durch die Mütter
➤➤stärkere Rigidität, Überfürsorglichkeit und Verstrickung als in Familien von nicht essgestörten Jugendlichen
➤➤höhere Leistungsorientierung und stärkerer Perfektionismus als in Familien von nicht
essgestörten Jugendlichen
➤➤höhere Erwartungen seitens der Eltern an Anorektikerinnen als an deren gesunden
­Geschwister, außerdem stärkere elterliche Kontrolle
➤➤mehr Sorgen um Aussehen und Gewicht bei den Müttern
➤➤geringere Selbstbestimmtheit bei Müttern, Vätern und Patientinnen als in einer normalen Vergleichsgruppe
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
Familiäre Beziehungsstörungen und Essstörungen
M. Cierpka, G. Reich
Das Ausmaß der Symptomatik korreliert mit der elterlichen Kontrolle sowie mehrgenerational mit der mangelnden Fürsorge der Großmutter gegenüber der Mutter (Canetti et al. 2008).
Auch nach der Beseitigung der Anorexie erleben ehemalige Patientinnen die Familienbeziehungen als komplizierter und weniger befriedigend als nicht essgestörte Probandinnen.
Krankheits- bzw. Besserungsverlauf und die Qualität der familiären Beziehungen hängen
zusammen (Wewetzer et al. 1996). Anorektikerinnen neigen allerdings dazu, ihre Kindheit
insgesamt als unbelasteter darzustellen als Bulimikerinnen und depressive Frauen (Webster u. Palmer 2000).
Familien bulimischer Patientinnen unterscheiden sich in empirischen Studien von Familien anorektischer Patientinnen sowie von gesunden und nicht essgestörten Vergleichsgruppen durch (vgl. Reich 2003a, b, 2005 und die dort zitierte Literatur):
➤➤schlechteres allgemeines Funktionieren
➤➤höhere Raten depressiver Erkrankungen (Fairburn et al. 1997, 1999a; Reich 2003b)
➤➤stärkere offene Konflikte
➤➤heftigerer Affektausdruck (in Familien anorektischer Patientinnen sind die Eltern überfürsorglicher)
➤➤mehr Indifferenz, Mangel an Fürsorge, Antipathie und körperliche Misshandlungen als in
Familien von Anorektikerinnen
➤➤weniger Zusammenhalt als in Familien von Anorektikerinnen sowie zum Teil geringere
Kohäsion als in nicht essgestörten und gesunden Vergleichgruppen
➤➤stärkere Störung der ehelichen Dyade – Störungen der elterlichen Ehebeziehung sind ein
Prädiktor für bulimische Symptome
➤➤Beeinträchtigung der emotionalen Resonanz
➤➤stärker gestörte Impulskontrolle
➤➤häufigere Suchterkrankungen und Substanzmissbrauch
➤➤ähnlich starke Leistungsorientierung wie bei Anorektikerinnen, die höher ist als bei Vergleichsgruppen
Insgesamt zeigt sich in Familien von Anorektikerinnen eine Tendenz zu einem kontrolliertem, affektiv zurückgenommenen Familienstil. Die Patientinnen erscheinen als „konsensus-sensitiv“ (Kog u. Vandereycken 1989b; nach Reiss 1971). Bei Familien von Bulimikerinnen lassen sich ein impulsiv-konflikthafter Stil und eine affektive Instabilität beobachten.
Die Patientinnen erscheinen als „distanz-sensitiv“(Kog u. Vandereycken 1989b; nach Reiss
1971).
Mischgruppen: bulimische Anorektikerinnen
Patientinnen mit voll ausgeprägten Anorexien und gleichzeitig voll ausgeprägtem bulimischen Verhalten sind eher selten, Übergänge von einer Bulimie in eine Anorexie ebenfalls.
Dagegen gibt es häufiger Übergänge von einer Anorexie in eine Bulimie oder in bulimisches
Verhalten. Zudem sind gelegentliche Essanfälle bei weitgehend restriktiven Anore­xien
nicht selten (vgl. Kap. 2). Das gemeinsame Auftreten einer voll ausgeprägten Anorexie und
einer ebensolchen Bulimie deutet auf eine schwere Störung hin. Dementsprechend ähneln
Familien bulimischer Anorektikerinnen in den meisten Untersuchungen denen von Bulimikerinnen: Sie zeigen ein stärker beeinträchtigtes allgemeines Funktionieren, mehr Konflikte und mehr negative Gefühle als Familien von Anorektikerinnen (vgl. Reich 2003a, b und
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
170
9 Familien- und paartherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
171
die dort zitierte Literatur). Bei diesen Patientinnen der „Mischgruppe“ sind weitere Studien
zur Familieninteraktion erforderlich, welche die jeweilige Ausprägung und ­Schwere der
bulimischen und anorektischen Symptomatik sowie die Ko-Morbidität mitberücksichtigen
(Reich 2005).
Fälle von männlicher Anorexie und Bulimie sind nach wie vor selten. In Familien anorektischer Patienten wurden Häufungen von Essstörungen, insbesondere anorektischer Art,
und anderer psychiatrischer Erkrankungen festgestellt. Die oberflächlich betrachtet normal funktionierenden Familien entmutigen Autonomieschritte. Die späteren Patienten
erscheinen als eng an ihre Mütter gebunden und von diesen kontrolliert. Vonseiten der
Väter besteht eine ablehnende oder abwertende Beziehung, sodass sie sich nicht von der
Mutter lösen und mit dem Vater identifizieren können, zumal die Mütter die Väter oft offen
oder verdeckt ablehnen. Mehrgenerational wurde beobachtet, dass die Mütter die späteren
­Patienten mit einem Geschwisterkind gleichsetzten, mit dem sie rivalisierten. Von daher
ist deren Beziehung zum späteren Patienten ebenfalls ambivalent. Auch bei Bulimikern
werden eine enge, ambivalente Mutterbindung und eine ablehnende oder distanzierte Beziehung des Vaters zu den späteren Patienten beschrieben. Bei beiden Krankheitsbildern
soll dementsprechend die sexuelle Kernidentität gestört sein. Die Patienten haben Schwierigkeiten, sich als ein sexuell begehrendes Wesen zu erleben (vgl. Reich 2003a und die hier
enthaltene Falldarstellung).
Typische Familiendynamik bei essgestörten Patientinnen
Spezifität versus typische Muster
Klinische Systematisierungen von familiendynamischen Merkmalen sind für die diagnostische Orientierung und das behandlungstechnische Vorgehen relevant. In der Diagnostik
von Familien mit essgestörten Patientinnen geht es darum, ob das dysfunktionale Essverhalten innerhalb des familiären Systems eine bestimmte Funktion hat. Im Gegensatz zu
den individuumzentrierten psychotherapeutischen Ansätzen betont das systemische Modell die Interdependenz und die zirkuläre Interaktion der beteiligten Personen.
In der Familientheorie und -therapie spielen Annahmen über einen Zusammenhang
zwischen einer spezifischen Familieninteraktion und einem definierten Krankheitsbild des
Patienten eine große Rolle. Man geht dann von mehr oder weniger starken kausal-linearen
Verknüpfungen zwischen Familienpathologie und individueller Erkrankung aus. Bei solchen Spezifitätsannahmen wird jedoch meistens der unterschiedliche Beitrag von individuellen, familiären und Umweltkomponenten bei der Entstehung einer seelischen Krankheit nicht genügend berücksichtigt. Auch wenn eine Systematisierung der beobachteten
Beziehungsstörungen für die klinische Arbeit wertvoll ist, gibt es doch keine Spezifität der
Interaktionsstörungen, z. B. für die Magersucht. Die Magersuchtsfamilie gibt es nicht. Deshalb spricht man von typischen und nicht von spezifischen Merkmalen.
Klinische Typen sind Zusammenfassungen von Merkmalen prägnanter Einzelfälle. Klinische Typologien stellen oft Extremgruppen gegenüber, wobei häufig unklar ist, ob sie
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
Familiendynamik bei männlichen Patienten mit Anorexie oder Bulimie
Herunterladen