Der Islam ganz in unserer Nähe

Werbung
Der Islam ganz in unserer Nähe
"Der Islam ist keine Religion des Friedens" - schreibt Ayaan Hirsi Ali in ihrem neuen Buch
"Reformiert Euch!" (München 2015). Dieser Satz umgreift das ganze Problem.
Wer die Bilder vom Berliner Weihnachtsmarkt 2016 gesehen hat, den riesigen Lastzug, der
als Werkzeug diente, um hölzerne Buden niederzuwalzen und froh verweilende Menschen
zu überfahren, dieses wahnsinnige Töten "im Namen Allahs" - der stimmt ihrem Satz voll
zu. Und er fragt sich: Woher kommt solch ein Haß? Aber es ist ja gar nicht Haß gegenüber
den zufällig hier anwesenden Personen - es ist kaltes Programm des Tötens.
Woher kommt das Programm, das diesen Angriff gesteuert hat, wie auch all die anderen
Terrortaten von Islamisten, begangen im friedlichen Europa?
Andere Menschen wollen den Satz nicht so stehen lassen, daß der Islam schuld ist an den
irrationalen Kapitalverbrechen. Sie sagen, es sei nur die falsche Auslegung des Korans
durch bestimmte konservative Islamgelehrte, die den Kampf gegen die "Ungläubigen"
predigen und den Kämpfern Allahs reichen Lohn im siebten Himmel versprechen. Jemand
hat auf das Zahlenverhältnis verwiesen: Die meisten der in Deutschland lebenden Muslime
leben doch als fleißige und nette Mitbürger unter uns, achten Gesetze und tun niemandem
etwas zuleide. Von 5000 Islamgläubigen ist statistisch nur ein Mensch ein radikaler
Islamist, die andern sind tiefbetrübt über die Geschehnisse. Der Koran, so wird gesagt,
rufe auf zu Toleranz, zu Religionsfreiheit, man lese Sure 109: "Im Namen Allahs, des
Erbarmers, des Barmherzigen! Sprich: O ihr Ungläubigen, Ich diene nicht dem, dem ihr
dienet... Euch euer Glaube und mir mein Glaube"; oder Sure 18, 29: "Die Wahrheit ist von
euerm Herrn; und wer will, der glaube, und wer will, der glaube nicht".
Aber es gibt auch Gewalt im Koran selbst und es gab sie schon in den Anfängen von
Mohammeds Gemeinde. Abdel-Hakim Ourghi lehrt Islamische Theologie an der
Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. Er sagt, die Gewalt ist ein Tabuthema im
innerislamischen Diskurs ( "Das ungelöste Problem der Gewalt im frühen Islam", Bericht
der Südd. Zeitung vom 19. 1. 2015). Es gibt einige Koranverse und Berichte vom Handeln
des Propheten selbst, auf die sich die Islamisten berufen, und das sind kanonische Quellen
der islamischen Rechts- und Religionslehre! Der Terror stützt sich auf eine gewalttätige,
theologisch gut fundierte Ideologie. Mohammed ging in Medina militärisch gegen seine
Widersacher vor, gegen arabische Heiden, Dichter und Juden, die er versucht hatte zu
bekehren. Wer sich nicht bekehrte, wurde getötet - Sure 33, Vers 26: Allah "warf
Schrecken" in die Herzen der Ungläubigen: "Einen Teil erschlugt ihr, und einen Teil nahmt
ihr gefangen". Und Sure 2, 191: "Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt". Das
Phänomen der Gewalt, so Ourghi weiter, zieht sich durch die ganze Frühgeschichte des
Islam. Nach dem Tod des Propheten kam es zum Schisma der ersten Gemeinde, und das
politisch motivierte Töten erreichte seinen ersten Höhepunkt. Drei der vier ersten Kalifen,
das waren die Leiter der islamischen Gemeinde, wurden von Muslimen ermordet. Es ist
1
gefährlich, im Koran die Unterscheidung zu treffen zwischen friedlichen Lehren, nämlich
den frühen Suren, die dem Propheten in seiner Zeit in Mekka 610 bis 622 nach Chr.
offenbart wurden, und den militanten Sprüchen aus der kämpferischen Zeit in Medina von
622 bis 632. Das tat der sudanesische Mystiker Mahmud Taha in seinem Buch "Die zweite
Botschaft des Islam" (in englischer Übersetzung erschienen 1987 in New York). Er schrieb,
die späten Koranstellen müsse man historisch-kritisch werten, müsse sie aus der Zeit
verstehen, sie könnten nicht Handlungsanweisung des modernen Islam sein. Mahmud
Taha wurde im Sudan der Apostasie angeklagt. Er wurde am 18. 1. 1985 im Alter von 75
Jahren vor Tausenden Zuschauern gehängt. Im Westen Empörung, von muslimischen
Gelehrten - Glückwünsche!
Muslimische Denker, die in Deutschland für eine kritische Lesung des Korans und für eine
Reform des Islam eintreten, werden aus der Ferne bekämpft und bedroht. Einer, der hier
nur noch unter Polizeischutz leben kann, durfte im Fernsehen über seine Situation
sprechen und fügte sichtlich bewegt hinzu: "Glauben Sie, daß ich so leben möchte?"
Es sind ja nicht nur ein paar konservative Gelehrte, Mullahs, Ajatollas, Imame, die den
harten Islam vertreten, und von denen vielleicht zu hoffen wäre, sie würden sich einem
Dialog öffnen. Es ist die fatale Entwicklung des Islam selbst!
In den Jahrzehnten nach Mohammeds Tod, gezeichnet durch blutige Konflikte innerhalb
der Gemeinschaft der Muslime, wollte man dem Koran oder wenigstens dem Leben des
Propheten klare Richtlinien des Handelns entnehmen. Das führte zur Erfindung zahlreicher
Hadithe, zu Texten mit Worten oder Taten Mohammeds und seiner engsten Gefolgsleute.
Ihre Zahl ist unüberschaubar, sie wurden nur zum Teil als kanonisch anerkannt, sie
enthalten fundamentale Widersprüche. Über Jahrhunderte wurden sie zu einer islamischen
Offenbarungsquelle, die zur Auslegung des Korans diente und dann sogar dem Koran
vorgeordnet wurde. Heutzutage werden Hadithe mit staatlicher Gewalt als gültige Gesetze
durchgesetzt. Mit ihnen läßt sich ein auf religiöser Macht und Strenge gegenüber der
Bevölkerung beruhendes Gesellschaftssystem begründen, aus ihnen werden brutale
Strafen der Scharia und frauenfeindliche Verschleierung und Gängelung abgeleitet.
"Der Islam in seiner politischen Form ist zur Zeit dabei, den friedlichen Islam zu
verdrängen und sogar abzuschaffen". Er bekämpft sich selbst. Radikale Islamisten sagen
dem Rest der Welt: "Ihr seid unsere Feinde, solange ihr so lebt, wie ihr lebt, und glaubt,
woran ihr glaubt. Ihr seid Ungläubige, und wir sind die einzig wahren Gläubigen", so
berichtet Abdel-Hakim Ourghi an andrerer Stelle ("Der Islam braucht eine Reformation",
FAZ vom 27. 8. 2016); westliche Rationalität und Lebensweise werden zum Feind erklärt!
Der Krieg richtet sich gegen alles, was diese ultrareligiösen Prediger als Gesellschaft
ansehen, gegen alles, was sie als Götzendienerei begreifen (Reinhard Schulze, Professor
für Islamwissenschaft an der Universität Bern: "Die Logik der Mörder", FAZ vom 16. 11.
2015). Es gibt einen "Strategieplan" von Al Qaida von 2005, es gibt die Propaganda des
IS: Die Zeit ist gekommen, die Tempel der Götzendienerei im Westen anzugreifen.
Die
Angreifer erwartet als Lohn ein süßer Tod und die Katharsis: Durch sein Tun, das Streiten
auf dem Wege Gottes, dem Dschihad, läßt der Muslim den Islam "in sich wahr werden".
2
Hier also stoßen wir auf das kalte Programm des Tötens, das vor unseren Augen
durchgeführt, exekutiert wird, und das angesichts staatlicher Ohnmacht noch weitere
Opfer in den Tod reißen wird.
Die Rede, die Navid Kermani bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandels 2015 in der Paulskirche gehalten hat, wurde in der Frankfurter Allgemeinen
auf zwei Seiten ungekürzt abgedruckt (19. 10. 2015). Er hat als Student die Schönheit, die
geistige Weite, die humane Größe des Islam in seiner mittelalterlichen Blüte kennen
gelernt und bewundert, und muß erschüttert feststellen: "Nichts, absolut nichts findet sich
innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islam, das auch nur annähernd vergleichbar
wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf
die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von islamischer
Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft - es gibt sie nicht
mehr". Kermani sieht einen vollständigen Bruch mit der Tradition, den Verlust des
kulturellen Gedächtnisses. Auch die eigene alt-islamische Kultur wird bekämpft. "In SaudiArabien stehen praktisch keine Altertümer mehr. In Mekka haben die Wahhabiten die
Gräber und Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das Geburtshaus des
Propheten zerstört... Woimmer die Islamisten Fuß faßten, angefangen schon im 19. Jh. im
heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein
Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen".
Die Ideologie, die dahinter steht, ist nicht neu, es ist der Wahhabismus, "der heute bis in
die hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus gerade auch für
Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist... Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem
Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken
ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft,
terrorisiert, verächtlich macht und beleidigt".
Kann man auf Änderung hoffen? Angesichts des traurigen Verlustes der mittelalterlichen
Islam-Kultur, und der schon langanhaltenden tiefen Verwurzelung der islamistischen
Ideologie, sagt Hamed Abdel-Samad, einer der an seiner Religion verzweifelt ist:
"Der Islam ist nicht reformierbar!" (Film bei Arte, gezeigt am 11. 4. 2017 : "Europas
Muslime").
Mit diesem Satz könnte man diesen Bericht schließen, er könnte richtig sein. Er würde den
an den Eingang gestellten Satz von Ayaan Hirsi Ali bestätigen: "Der Islam ist keine Religion
des Friedens."
Es gibt aber doch auch Stimmen, die ein anderes, ein neues Bild des Islam beschwören.
Es lohnt sich sehr, diese Stimmen anzuhören.
Der Religionsgelehrte Abdullah Al Salmi aus dem Oman will dem Furor der Islamisten
einen toleranten Islam entgegenstellen. In seinem Buch "Religiöse Toleranz. Eine Vision
für eine Neue Welt" (Hildesheim 2015) kann er sich auf die von ihm erlebte Wirklichkeit
eines friedlichen Islam berufen, nämlich auf den ibaditischen Islam im Sultanat Oman. Der
behauptet sich zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam und hat den Staat
3
am indischen Ozean zu einem der tolerantesten Länder der arabischen Welt gemacht.
Im Oman geht, unauffällig, die Weiterentwicklung der Religion an die veränderten
Bedingungen der Welt vor sich. Ich selbst habe dort kleine Einblicke ins soziale Leben
genommen; ich konnte mit jungen Frauen in einer sie ernst nehmenden Ausbildungsstätte, einer Hotelfachschule, sprechen; ich erfuhr von Gefängnissen, in denen die Männer
nicht abgeschoben seien, sondern in Kontakt blieben mit der Gesellschaft, die ihnen
zuruft: Komm bald wieder, wir brauchen dich. Die Schulbildung breitet sich aus. Fern der
Küste sah ich zwischen kahlen Felsen Wasserläufe, die abgeschiedenes dörfliches Leben
ermöglichen, weil es Dattelpalmen und winzige Anbauflächen gibt. Dorthin fahren jetzt
Busse, um Jungen und Mädchen zur Schule zu bringen - nicht mit Schulpflicht, sondern als
ein kostenloses Angebot, das zunächst von wenigen, dann aber von vielen angenommen
wurde. Sultan Qaboos Al Said hat in seiner Hauptstadt Muskat eine wundervolle neue
Moschee gebaut und die Schönheit alter islamischer Baukunst aufgenommen, das Titelfoto
sei dafür pars pro toto.
Abdullah Al Salmi stützt sich natürlich auch auf den Koran, er zieht die Stellen heran, die
zu Glaubensfreiheit für andere Völker auffordern und zur Achtung ihres Rechts auf ein
Leben in eigener Gesellschaftsordnung (also kein Kampf "gegen den Westen"!). In
Kenntnis der aggressiven Zitate fordert er eine kritische Auslegung des Korans und sagt,
die arabische Welt brauche dringend eine Religionsreform. Ein großes Wort, und ein so
schwieriges Vorhaben!
Zur Auslegung des Korans erhebt Ömer Özsoy, Professor an der Universität Frankfurt a.M.
seine Stimme, und er spricht, wie er sagt, auch für seine Kollegen von der Universität
Ankara. Er zeigt seinen Studenten eine verstehende, hermeneutische Lesung des Korans.
Wenn er die schon genannten aggressiven Verse aus der 2. Sure behandelt, dann schiebt
er sie nicht einfach zur Seite, sondern weist nach, daß Stichworte des arabischen
Originaltextes sehr unterschiedliche Übersetzungen möglich machen. Er sagt dann: Wenn
die Wortanalyse nicht zu einem eindeutigen Sinn verhilft, muß der Koranexeget sein
eigenes Wissen anwenden, er muß eine von außen kommende Information hinzufügen.
Er muß auf die historischen Umstände der Offenbarung schauen. Diese Art ähnelt der
historisch-kritischen Methode, oder man kann sagen, es ist ihr Beginn. Ömer Özsoy weist
darauf hin, daß es in Deutschland zur historisch-kritischen Auslegung der Bibel ein
jahrhundertelanger Weg gewesen ist.
Deutlicher wird Mouhanad Khorchide, seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Er tritt für eine
historisch-kritische Koranauslegung ein, um einen aufgeklärten, humanistischen, einen
europäischen Reformislam heraufzuführen. Er arbeitet für einen vernünftigen Islamunterricht an staatlichen Schulen und für eine ordentliche Ausbildung der Religionslehrer,
so wie es an dem Zentrum in Münster geschieht. Im Jahre 2015 studierten dort 750 junge
Männer und Frauen, die zumeist Religionslehrer werden wollten oder sonst Imame. Im
folgenden Jahr machten die ersten ihren Master. Und dann werden Jahr für Jahr bis zu
100 neue Absolventen an einer Reform des Islam "von unten" mitwirken, wie Khorchide
hofft. Er sagt: "Ich bin überzeugt, daß es dem Islam um ethische Werte und eine innige
4
Beziehung zu Gott geht, in welcher der Mensch frei mit Gott im Dialog steht". Nach den
Terroranschlägen von Paris hat ihn die Al-Azhar-Universität nach Kairo eingeladen, und
dort hat man ihm gesagt: "Diesen Islam, den Sie in Münster lehren, den Islam der Barmherzigkeit, den humanistischen Islam, den brauchen wir in der islamischen Welt. Wir
wollen gemeinsam mit Ihnen an einer Konzeption arbeiten".
Es wurde auch bekannt, daß Nigeria Kontakt aufgenommen hat und seine Imame in
Münster bei Khorchide ausbilden lassen will.
Christian Geyer berichtete (in der FAZ vom 14. 1. 2015) von der "Konjunktur" der
historisch-kritischen Koranwissenschaft, die an amerikanischen und europäischen
Universitäten betrieben wird, als Schrittmacher einer innerreligiösen Reform, und fährt
fort: "Wie im Christentum muß eine religiöse Reform des Islam aber nicht als Bruch mit
der Tradition erscheinen, sondern als Vertiefung, Reinigung, Freilegung. Die Theologen
müssen, wollen sie Einfluß gewinnen, den Nachweis einer Kontinuität zum Stifter der
Religion darlegen. Im Islam, in dem es ja keine zentrale Lehrautorität gibt, liegt eine Fülle
von liberalen Traditionen parat - reiche mittelalterliche Schätze kultureller Blüte - , die nur
gehoben werden müssen".
In der Presse wie auch im Internet wurde 2016 eine "Freiburger Deklaration" bekannt
gemacht mit dem Titel "Islam anders". Es ist ein Aufruf liberaler Muslime aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz (es sind Islamwissenschaftler, Theologen, Lehrer, Soziologen,
Ärzte und Psychologen dabei), der von fundamentalistischen Moscheeverbänden bekämpft
wird, denn er wirbt für eine aufgeklärte muslimische Gesellschaft, die sich als Teil der
europäischen Gesellschaft versteht und Freiheitswerte und Menschenrechte bejaht. Als das
Mittel für diese Reform wird auch hier die historisch-kritische Lesung des Korans vertreten.
Navid Kermani hat 2015 in seiner schon angeführten Rede in der Paulskirche den Abbruch
der islamischen kulturellen und liberalen Tradition nachgezeichnet. Er ist durch seine
Reden, Bücher und Essays aber auch zu einer in Deutschland sehr vernehmbaren Stimme
geworden, die immer wieder deutlich macht, daß zwischem dem Islam als Glauben und
dem Islamismus als von Kuweit und Saudi-Arabien finanzierter Eroberungsideologie zu
unterscheiden ist. Durch Kermani haben Religionsfragen "wieder Einzug in deutsche
Feuilleton-Debatten gehalten"; der in Deutschland aufgewachsene Muslim "vermochte
Aufmerksamkeit für Spiritualität zu wecken und ihr wieder einen Platz im öffentlichen
Gespräch zu verschaffen" (Paul Ingendaay, FAZ vom 30. 9. 2016). Kermani argumentiert
nicht so sehr theologisch, sondern poetisch, philosophisch und politisch.
In der Dankesrede hören wir von der "Spiritualität Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der
Geschichtsschreibung Ibn Khalduns, der poetischen Theologie Abdulqaher alDschurdschanis, der Philosphie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas"
und von den Geschichten von Tausendundeiner Nacht, "die weltlich sind, ja, weltlich und
erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom
Geist und den Versen des Korans". Kermani sagt, der Koran ist ein Text, "der sich nicht
etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht,
er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine
arabischen Hörer durch seine Rythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt". Bis ins 20.
5
Jahrhundert hinein gab es, so sagt er, diese islamische Volksfrömmigkeit, die vom Geist
der Mystik durchdrungen war, von den Gedanken der Sufis.
Es gibt einen Bericht aus dem Leben einer Familie im heutigen Islam, der dies schön
bestätigt. Den hat ein Sohn geschrieben im Erinnern und Schildern der Frömmigkeit seines
Vaters. Er spricht ihn an: "Ich nehme den Koran in die Hand, das Exemplar aus dem du
jeden Freitag laut vorgelesen hast. Auf den Blättern wirken die Wörter in der schwungvollen Schrift des großen Buches ewig jung und frisch. In sieben Jahren hat der Kalligraph
seinen Koran vollendet... Ich verstehe, warum du immer das Original des Korans jeder
Übersetzung vorgezogen hast, denn der Sinn der Wörter ist reiselustig, vergänglich und
mißverständlich, ihr Klang aber ist ewig. In diesem Klang ist die ewig gewordene
Einsamkeit Gottes, ist der all-einzige Gott, der zu uns spricht." Dann berichtet er vom
Lesen des Vaters: "Wenn er aus dem Koran sprach, um seine Gebete zu verrichten,
verwandelten sich die Wörter auf seiner Zunge in Lieder. Dieser melancholische Grundton
des Koranvortrags, der aus Wörtern, die man nicht versteht, Klänge einer vertrauten Musik
macht... Ich nenne es die magische Dimension des Korans. Seine Unverständlichkeit wird
zu einem Credo. Es hüllt den Körper ein und benützt das Ohr, weil es vor allem für das Ohr
geschaffen worden ist... So versteht das Herz vielleicht, was das Auge liest. Wer den Koran
als Kind gehört hat, ist ein Leben lang im Bann seiner Melodie... Die verfeinerte
Rezitationskunst des Islam, die Musik, die Architektur und die Dichtung wurden so
inspiriert." Es ist das Buch von Zafer Senocak "In deinen Worten, Mutmaßungen über den
Glauben meines Vaters" (München 2016).
Senocak sieht den Zwiespalt zwischen altgewohntem Glauben und moderner Erscheinungsform des Islam, und er leidet darunter. "Der Islamgläubige heute ist mit einem Fuß
im siebenten, mit dem anderen Fuß im einundzwanzigsten Jahrhundert verwurzelt. Daraus
resultieren zahlreiche Konflikte, die sich weder geistig noch sozial lösen lassen".
Ob der Koran, der Islam heilbar ist? Er kennt den Zweifel daran: "Der Islam hat seinen
Charakter als Weltreligion weitgehend verloren und die Züge einer Sekte angenommen,
die nicht mehr mit der Außenwelt kommuniziert... Die islamischen Gärten der Weisheit
wurden irgendwann nicht mehr bewässert".
Zafer Senocak hofft darauf, daß sich eine Lehrschule heranbildet, die an die freisinnigen
Denker der islamischen Zivilisation erinnert und bei ihnen anschließt.
Auch der schon genannte Hamed Abdel-Samad empfing den alten Glauben von seinem
Vater, denn der war ein Imam in einem Dorf am Nil. Heute zeigt er Distanz und möchte
den Koran neu für die Gegenwart deuten: "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des
Hasses" (München 2016). Er wagt zu sagen, den Koran müsse man säkular lesen, nicht als
ewiges Wort Gottes. Man findet im Koran, so schreibt er, wichtige Werte für das
Zusammenleben, die Gerechtigkeit, den Ausgleich von Arm und Reich, das Sorgen für
Witwen und Waisen und generell für Schwache, das Streben nach Wissen, Ethik, Mystik,
Spiritualität wie im Thronvers der Sure 2, 255, "erhaben wie Bibelverse". Die gelungene
Rezitation eines solchen Koranverses kann Muslime, auch ihn selbst, zu Tränen rühren. Der
Thronvers lautet: "Allah! es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem Ewigen!
Nicht ergreift Ihn Schlummer und nicht Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf
6
Erden... Weit reicht Sein Thron über die Himmel und die Erde, und nicht beschwert Ihn
beider Hut. Denn Er ist der Hohe, der Erhabene".
Dieser Vers ziert,
kalligraphisch arabisch an Wände geschrieben, zahlreiche Moscheen.
Der stellvertrende Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Italien, Imam in
Mailand, Yahya Pallavicini sagt, im Abendland gebe es (oder kann und werde es geben)
einen integrierten Islam. Es gebe keinen aus dem Koran ableitbaren Kampf gegen das
Christentum, keinen Kampf Morgenland gegen Abendland.
Wie gemeldet wurde, ist er zu Papst Franziskus gegangen, um ihm ein Buch zu
überreichen, in dem der kanadische Islamwissenschaftler John Andrew Morrow selten
beachtete Quellen übersetzt und veröffentlicht hat, nämlich 6 von Mohammed selbst
stammende Schutzbriefe für Christen in Persien, Assyrien und Mekka und für die Mönche
im Sinai-Kloster. Dieser Brief vom Jahr 628 wird im Topkapi-Museum in Istanbul
aufbewahrt und ist mit dem Abdruck der Hand des Propheten besiegelt und von einem
seiner Begleiter unterzeichnet. Der Imam berichtete, der Papst habe das Buch mit tiefem
Ernst entgegengenommen und ihn dann mit einer brüderlichen Geste umarmt.
Halis Albayrak lehrt in der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara, und ist
Mitherausgeber beim "Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam"
(Herder 2013). Er sagt, wer den Koran nach Buchstabentreue liest, beginne, dem Text die
eigenen Absichten aufzuzwingen. Den Koran solle man nicht wie ein Buch, sondern wie
einen Diskurs lesen. Der Koran, und er zitiert die Verse, rufe die Angehörigen aller
Glaubenstraditionen zu einem Wettbewerb auf, der dann schließlich der Menschheit
zugutekommen werde.
Ein Wettbewerb? Der Gedanke ist auch Christen nicht fremd. Hans Küng sagt in seinem
Buch "Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg" (München 6. Aufl. 2004) im Blick
auf Christentum und Islam, ein Wettstreit um das tiefere Gottesverständnis sei durchaus
erwünscht. Ein Wettbewerb, der nicht am Ende nur einen Sieger kennt. Vielmehr ist es
eine Einladung zum Dialog, der davon ausgeht, daß es sich bei den Religionen um
menschliche Wahrnehmungen handelt, die sich auf denselben, den einen Gott beziehen.
Christen können Muslime danach befragen, was sie über Gott erfahren haben und könnten
Gedichte des islamischen Mystikers Rumi in ihren Gottesdienst einstellen wie das, welches
beginnt: "Mit deiner Seele hat sich meine Gemischt, wie Wasser mit dem Weine".
So schlägt es Klaus-Peter Jörns vor ("Lebensgaben Gottes feiern", Gütersloh 2007).
Evangelische wie katholische Theologie ist bereit, nach den Schätzen zu suchen, die
gehütet werden in anderen Religionen, oder nach Strahlen der Wahrheit (so gesagt in
Texten des 2. Vatikanischen Konzils), die sich auch in ihnen finden lassen.
Es ist der Traum vom weltweiten ökumenischen Dialog, vom vertrauensvollen Gespräch
mit allen Menschen der Erde im gemeinsamen Haus (oikos) des einen Gottes. Der Weg zur
Verständigung der Religionen und zum Frieden der Welt!
Traumhaft schon waren einige Szenen in dem genannten, bei Arte am 11. 4. 2017
gezeigten Film: In Granada ging man durch die ätherisch feinen Räume der Alhambra mit
7
ihren Höfen, Säulen, Brunnen und Gärten, dem Wahrzeichen vergangener islamischer
Hochkultur. Nach jahrhundertelanger Verbannung des Islam wurde jetzt auf einem Hügel
gegenüber der Alhambra und in Sichtkontakt der erste Neubau einer Moschee errichtet,
und dort feierte man gerade ein Fest der islamischen Gemeinde, zu der zahlreiche Spanier
und mit schönsten Kopftüchern bedeckte/geschmückte Spanierinnen hinzugestoßen sind!
Ayaan Hirsi Ali (deren Buch den Satz am Anfang dieses Berichtes enthält: "Der Islam ist
keine Religion des Friedens") sieht klar den innerislamischen Konflikt:
Die
einen verteidigen die Unvereinbarkeit des Islam mit der Moderne bis zum bitteren Ende der IS, Boko Haram, die Taliban, Al Qaida, die islamistischen Milizen wie
al
Shabaab.
Die anderen wollen ihren Glauben
neu definieren. Viele Muslime sehnen sich danach, "die letztlich unerträglichen
Anforderungen dieser Ideologie infrage zu stellen". Wir brauchen, sagt sie, ein anderes
Menschenbild ohne die so verkehrte Überhöhung des Jenseits als dem Lebensziel des
Einzelnen. Die Jenseitsverklärung nützt den todbringenden Milizen. Sie fördert einen
Fatalismus gegenüber dem irdischen Leben, der jeden Fortschritt hemmt.
Die mutige Autorin weiß sich tief verbunden mit den vielen Oppositionellen, denen nur die
Flucht aus islamistisch regierten Staaten bleibt - von denen viele schon mit dem Leben
bezahlt haben. Sie ruft alle, gerade auch die westliche Welt dazu auf, die zu ermutigen, die
sich auf den Weg zu einer Reform, ja zu einer Reformation des Islam gemacht haben. Sie
brauchen unseren Schutz!
Sie denkt, ein Wandel ist noch möglich. Sie hält an ihrem Glauben fest, daß es - wie bei
anderen Revolutionen oder Reformationen in der Geschichte - auch bei dieser Freiheitsbewegung gelingen werde, das Ziel zu erreichen, nämlich muslimisches Leben mit der
Welt des 21. Jahrhunderts zu versöhnen.
Am Ende dieses Berichts, in dem ich Stimmen zum Islam aus jüngster Zeit versammelt
habe, frage ich mich: Was gilt nun? Gibt es ein Ergebnis?
Es ergibt sich mir die Erkenntnis, daß es den Islam nicht gibt.
Schon seit Anbeginn gab es ja das Schisma in sunnitischen und schiitischen Islam, es
entstanden weitere religiöse Abspaltungen; der heutige Islam in Indonesien ist anders als
der in Saudi-Arabien, als der im Iran, in der Turkei, im Oman oder in Afrika.
Der Satz: "Der Islam ist keine Religion des Friedens" ist durchaus wahr, wenn man seine
Geschichte betrachtet und, heutzutage, die bei Salafisten herrschende, islamistisch
genannte Ideologie, die sich weltweit ausbreitet und gar dabei ist, den friedlichen Islam zu
verdrängen!
Der Satz gilt aber nicht für die vielen, vielen Muslime, die als friedlich erlebt werden und
8
die auf dem Weg sind, wie oben gezeigt wurde, zu einem neuen, aufgeklärten Islam.
Das sind zwei verschiedene Begriffe "Islam" - man kann sie nicht in eins setzen!
Zwischen dem Islamismus und dem Islam als Glauben müssen wir unterscheiden.
Ähnlich steht es mit dem Satz: "Der Islam ist nicht reformierbar". Orthodoxe, islamistische
Religion, seit langem schon auf dem Vormarsch, wird alle Reformvorschläge verlachen.
Sie weiß es ja besser.
Andere, aufgeklärte Muslime brauchen keine Reform. Sie sind Träger der Reform in
vielfacher schöner Bemühung.
Zwischen diesen beiden Gruppierungen herrscht erbitterter Kampf.
die Tragödie von säkularem Ausmaß.
Das ist
Welche Seite wird am Ende das Feld behalten? Das weiß keiner.
Für die europäische, aber auch die außereuropäische Welt ist das nicht beruhigend.
Dießen am Ammersee, zu Ostern im April 2017
9
Herunterladen