Der Islam ganz in unserer Nähe "Der Islam ist keine Religion des Friedens" - schreibt Ayaan Hirsi Ali in ihrem neuen Buch "Reformiert Euch!" (München 2015). Dieser Satz umgreift das ganze Problem. Wer die Bilder vom Berliner Weihnachtsmarkt 2016 gesehen hat, den riesigen Lastzug, der als Werkzeug diente, um hölzerne Buden niederzuwalzen und froh verweilende Menschen zu überfahren, dieses wahnsinnige Töten "im Namen Allahs" - der stimmt ihrem Satz voll zu. Und er fragt sich: Woher kommt solch ein Haß? Aber es ist ja gar nicht Haß gegenüber den zufällig hier anwesenden Personen - es ist kaltes Programm des Tötens. Woher kommt das Programm, das diesen Angriff gesteuert hat, wie auch all die anderen Terrortaten von Islamisten, begangen im friedlichen Europa? Andere Menschen wollen den Satz nicht so stehen lassen, daß der Islam schuld ist an den irrationalen Kapitalverbrechen. Sie sagen, es sei nur die falsche Auslegung des Korans durch bestimmte konservative Islamgelehrte, die den Kampf gegen die "Ungläubigen" predigen und den Kämpfern Allahs reichen Lohn im siebten Himmel versprechen. Jemand hat auf das Zahlenverhältnis verwiesen: Die meisten der in Deutschland lebenden Muslime leben doch als fleißige und nette Mitbürger unter uns, achten Gesetze und tun niemandem etwas zuleide. Von 5000 Islamgläubigen ist statistisch nur ein Mensch ein radikaler Islamist, die andern sind tiefbetrübt über die Geschehnisse. Der Koran, so wird gesagt, rufe auf zu Toleranz, zu Religionsfreiheit, man lese Sure 109: "Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen! Sprich: O ihr Ungläubigen, Ich diene nicht dem, dem ihr dienet... Euch euer Glaube und mir mein Glaube"; oder Sure 18, 29: "Die Wahrheit ist von euerm Herrn; und wer will, der glaube, und wer will, der glaube nicht". Aber es gibt auch Gewalt im Koran selbst und es gab sie schon in den Anfängen von Mohammeds Gemeinde. Abdel-Hakim Ourghi lehrt Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. Er sagt, die Gewalt ist ein Tabuthema im innerislamischen Diskurs ( "Das ungelöste Problem der Gewalt im frühen Islam", Bericht der Südd. Zeitung vom 19. 1. 2015). Es gibt einige Koranverse und Berichte vom Handeln des Propheten selbst, auf die sich die Islamisten berufen, und das sind kanonische Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre! Der Terror stützt sich auf eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie. Mohammed ging in Medina militärisch gegen seine Widersacher vor, gegen arabische Heiden, Dichter und Juden, die er versucht hatte zu bekehren. Wer sich nicht bekehrte, wurde getötet - Sure 33, Vers 26: Allah "warf Schrecken" in die Herzen der Ungläubigen: "Einen Teil erschlugt ihr, und einen Teil nahmt ihr gefangen". Und Sure 2, 191: "Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt". Das Phänomen der Gewalt, so Ourghi weiter, zieht sich durch die ganze Frühgeschichte des Islam. Nach dem Tod des Propheten kam es zum Schisma der ersten Gemeinde, und das politisch motivierte Töten erreichte seinen ersten Höhepunkt. Drei der vier ersten Kalifen, das waren die Leiter der islamischen Gemeinde, wurden von Muslimen ermordet. Es ist 1 gefährlich, im Koran die Unterscheidung zu treffen zwischen friedlichen Lehren, nämlich den frühen Suren, die dem Propheten in seiner Zeit in Mekka 610 bis 622 nach Chr. offenbart wurden, und den militanten Sprüchen aus der kämpferischen Zeit in Medina von 622 bis 632. Das tat der sudanesische Mystiker Mahmud Taha in seinem Buch "Die zweite Botschaft des Islam" (in englischer Übersetzung erschienen 1987 in New York). Er schrieb, die späten Koranstellen müsse man historisch-kritisch werten, müsse sie aus der Zeit verstehen, sie könnten nicht Handlungsanweisung des modernen Islam sein. Mahmud Taha wurde im Sudan der Apostasie angeklagt. Er wurde am 18. 1. 1985 im Alter von 75 Jahren vor Tausenden Zuschauern gehängt. Im Westen Empörung, von muslimischen Gelehrten - Glückwünsche! Muslimische Denker, die in Deutschland für eine kritische Lesung des Korans und für eine Reform des Islam eintreten, werden aus der Ferne bekämpft und bedroht. Einer, der hier nur noch unter Polizeischutz leben kann, durfte im Fernsehen über seine Situation sprechen und fügte sichtlich bewegt hinzu: "Glauben Sie, daß ich so leben möchte?" Es sind ja nicht nur ein paar konservative Gelehrte, Mullahs, Ajatollas, Imame, die den harten Islam vertreten, und von denen vielleicht zu hoffen wäre, sie würden sich einem Dialog öffnen. Es ist die fatale Entwicklung des Islam selbst! In den Jahrzehnten nach Mohammeds Tod, gezeichnet durch blutige Konflikte innerhalb der Gemeinschaft der Muslime, wollte man dem Koran oder wenigstens dem Leben des Propheten klare Richtlinien des Handelns entnehmen. Das führte zur Erfindung zahlreicher Hadithe, zu Texten mit Worten oder Taten Mohammeds und seiner engsten Gefolgsleute. Ihre Zahl ist unüberschaubar, sie wurden nur zum Teil als kanonisch anerkannt, sie enthalten fundamentale Widersprüche. Über Jahrhunderte wurden sie zu einer islamischen Offenbarungsquelle, die zur Auslegung des Korans diente und dann sogar dem Koran vorgeordnet wurde. Heutzutage werden Hadithe mit staatlicher Gewalt als gültige Gesetze durchgesetzt. Mit ihnen läßt sich ein auf religiöser Macht und Strenge gegenüber der Bevölkerung beruhendes Gesellschaftssystem begründen, aus ihnen werden brutale Strafen der Scharia und frauenfeindliche Verschleierung und Gängelung abgeleitet. "Der Islam in seiner politischen Form ist zur Zeit dabei, den friedlichen Islam zu verdrängen und sogar abzuschaffen". Er bekämpft sich selbst. Radikale Islamisten sagen dem Rest der Welt: "Ihr seid unsere Feinde, solange ihr so lebt, wie ihr lebt, und glaubt, woran ihr glaubt. Ihr seid Ungläubige, und wir sind die einzig wahren Gläubigen", so berichtet Abdel-Hakim Ourghi an andrerer Stelle ("Der Islam braucht eine Reformation", FAZ vom 27. 8. 2016); westliche Rationalität und Lebensweise werden zum Feind erklärt! Der Krieg richtet sich gegen alles, was diese ultrareligiösen Prediger als Gesellschaft ansehen, gegen alles, was sie als Götzendienerei begreifen (Reinhard Schulze, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern: "Die Logik der Mörder", FAZ vom 16. 11. 2015). Es gibt einen "Strategieplan" von Al Qaida von 2005, es gibt die Propaganda des IS: Die Zeit ist gekommen, die Tempel der Götzendienerei im Westen anzugreifen. Die Angreifer erwartet als Lohn ein süßer Tod und die Katharsis: Durch sein Tun, das Streiten auf dem Wege Gottes, dem Dschihad, läßt der Muslim den Islam "in sich wahr werden". 2 Hier also stoßen wir auf das kalte Programm des Tötens, das vor unseren Augen durchgeführt, exekutiert wird, und das angesichts staatlicher Ohnmacht noch weitere Opfer in den Tod reißen wird. Die Rede, die Navid Kermani bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 in der Paulskirche gehalten hat, wurde in der Frankfurter Allgemeinen auf zwei Seiten ungekürzt abgedruckt (19. 10. 2015). Er hat als Student die Schönheit, die geistige Weite, die humane Größe des Islam in seiner mittelalterlichen Blüte kennen gelernt und bewundert, und muß erschüttert feststellen: "Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islam, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von islamischer Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft - es gibt sie nicht mehr". Kermani sieht einen vollständigen Bruch mit der Tradition, den Verlust des kulturellen Gedächtnisses. Auch die eigene alt-islamische Kultur wird bekämpft. "In SaudiArabien stehen praktisch keine Altertümer mehr. In Mekka haben die Wahhabiten die Gräber und Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das Geburtshaus des Propheten zerstört... Woimmer die Islamisten Fuß faßten, angefangen schon im 19. Jh. im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen". Die Ideologie, die dahinter steht, ist nicht neu, es ist der Wahhabismus, "der heute bis in die hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus gerade auch für Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist... Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrorisiert, verächtlich macht und beleidigt". Kann man auf Änderung hoffen? Angesichts des traurigen Verlustes der mittelalterlichen Islam-Kultur, und der schon langanhaltenden tiefen Verwurzelung der islamistischen Ideologie, sagt Hamed Abdel-Samad, einer der an seiner Religion verzweifelt ist: "Der Islam ist nicht reformierbar!" (Film bei Arte, gezeigt am 11. 4. 2017 : "Europas Muslime"). Mit diesem Satz könnte man diesen Bericht schließen, er könnte richtig sein. Er würde den an den Eingang gestellten Satz von Ayaan Hirsi Ali bestätigen: "Der Islam ist keine Religion des Friedens." Es gibt aber doch auch Stimmen, die ein anderes, ein neues Bild des Islam beschwören. Es lohnt sich sehr, diese Stimmen anzuhören. Der Religionsgelehrte Abdullah Al Salmi aus dem Oman will dem Furor der Islamisten einen toleranten Islam entgegenstellen. In seinem Buch "Religiöse Toleranz. Eine Vision für eine Neue Welt" (Hildesheim 2015) kann er sich auf die von ihm erlebte Wirklichkeit eines friedlichen Islam berufen, nämlich auf den ibaditischen Islam im Sultanat Oman. Der behauptet sich zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam und hat den Staat 3 am indischen Ozean zu einem der tolerantesten Länder der arabischen Welt gemacht. Im Oman geht, unauffällig, die Weiterentwicklung der Religion an die veränderten Bedingungen der Welt vor sich. Ich selbst habe dort kleine Einblicke ins soziale Leben genommen; ich konnte mit jungen Frauen in einer sie ernst nehmenden Ausbildungsstätte, einer Hotelfachschule, sprechen; ich erfuhr von Gefängnissen, in denen die Männer nicht abgeschoben seien, sondern in Kontakt blieben mit der Gesellschaft, die ihnen zuruft: Komm bald wieder, wir brauchen dich. Die Schulbildung breitet sich aus. Fern der Küste sah ich zwischen kahlen Felsen Wasserläufe, die abgeschiedenes dörfliches Leben ermöglichen, weil es Dattelpalmen und winzige Anbauflächen gibt. Dorthin fahren jetzt Busse, um Jungen und Mädchen zur Schule zu bringen - nicht mit Schulpflicht, sondern als ein kostenloses Angebot, das zunächst von wenigen, dann aber von vielen angenommen wurde. Sultan Qaboos Al Said hat in seiner Hauptstadt Muskat eine wundervolle neue Moschee gebaut und die Schönheit alter islamischer Baukunst aufgenommen, das Titelfoto sei dafür pars pro toto. Abdullah Al Salmi stützt sich natürlich auch auf den Koran, er zieht die Stellen heran, die zu Glaubensfreiheit für andere Völker auffordern und zur Achtung ihres Rechts auf ein Leben in eigener Gesellschaftsordnung (also kein Kampf "gegen den Westen"!). In Kenntnis der aggressiven Zitate fordert er eine kritische Auslegung des Korans und sagt, die arabische Welt brauche dringend eine Religionsreform. Ein großes Wort, und ein so schwieriges Vorhaben! Zur Auslegung des Korans erhebt Ömer Özsoy, Professor an der Universität Frankfurt a.M. seine Stimme, und er spricht, wie er sagt, auch für seine Kollegen von der Universität Ankara. Er zeigt seinen Studenten eine verstehende, hermeneutische Lesung des Korans. Wenn er die schon genannten aggressiven Verse aus der 2. Sure behandelt, dann schiebt er sie nicht einfach zur Seite, sondern weist nach, daß Stichworte des arabischen Originaltextes sehr unterschiedliche Übersetzungen möglich machen. Er sagt dann: Wenn die Wortanalyse nicht zu einem eindeutigen Sinn verhilft, muß der Koranexeget sein eigenes Wissen anwenden, er muß eine von außen kommende Information hinzufügen. Er muß auf die historischen Umstände der Offenbarung schauen. Diese Art ähnelt der historisch-kritischen Methode, oder man kann sagen, es ist ihr Beginn. Ömer Özsoy weist darauf hin, daß es in Deutschland zur historisch-kritischen Auslegung der Bibel ein jahrhundertelanger Weg gewesen ist. Deutlicher wird Mouhanad Khorchide, seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Er tritt für eine historisch-kritische Koranauslegung ein, um einen aufgeklärten, humanistischen, einen europäischen Reformislam heraufzuführen. Er arbeitet für einen vernünftigen Islamunterricht an staatlichen Schulen und für eine ordentliche Ausbildung der Religionslehrer, so wie es an dem Zentrum in Münster geschieht. Im Jahre 2015 studierten dort 750 junge Männer und Frauen, die zumeist Religionslehrer werden wollten oder sonst Imame. Im folgenden Jahr machten die ersten ihren Master. Und dann werden Jahr für Jahr bis zu 100 neue Absolventen an einer Reform des Islam "von unten" mitwirken, wie Khorchide hofft. Er sagt: "Ich bin überzeugt, daß es dem Islam um ethische Werte und eine innige 4 Beziehung zu Gott geht, in welcher der Mensch frei mit Gott im Dialog steht". Nach den Terroranschlägen von Paris hat ihn die Al-Azhar-Universität nach Kairo eingeladen, und dort hat man ihm gesagt: "Diesen Islam, den Sie in Münster lehren, den Islam der Barmherzigkeit, den humanistischen Islam, den brauchen wir in der islamischen Welt. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen an einer Konzeption arbeiten". Es wurde auch bekannt, daß Nigeria Kontakt aufgenommen hat und seine Imame in Münster bei Khorchide ausbilden lassen will. Christian Geyer berichtete (in der FAZ vom 14. 1. 2015) von der "Konjunktur" der historisch-kritischen Koranwissenschaft, die an amerikanischen und europäischen Universitäten betrieben wird, als Schrittmacher einer innerreligiösen Reform, und fährt fort: "Wie im Christentum muß eine religiöse Reform des Islam aber nicht als Bruch mit der Tradition erscheinen, sondern als Vertiefung, Reinigung, Freilegung. Die Theologen müssen, wollen sie Einfluß gewinnen, den Nachweis einer Kontinuität zum Stifter der Religion darlegen. Im Islam, in dem es ja keine zentrale Lehrautorität gibt, liegt eine Fülle von liberalen Traditionen parat - reiche mittelalterliche Schätze kultureller Blüte - , die nur gehoben werden müssen". In der Presse wie auch im Internet wurde 2016 eine "Freiburger Deklaration" bekannt gemacht mit dem Titel "Islam anders". Es ist ein Aufruf liberaler Muslime aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (es sind Islamwissenschaftler, Theologen, Lehrer, Soziologen, Ärzte und Psychologen dabei), der von fundamentalistischen Moscheeverbänden bekämpft wird, denn er wirbt für eine aufgeklärte muslimische Gesellschaft, die sich als Teil der europäischen Gesellschaft versteht und Freiheitswerte und Menschenrechte bejaht. Als das Mittel für diese Reform wird auch hier die historisch-kritische Lesung des Korans vertreten. Navid Kermani hat 2015 in seiner schon angeführten Rede in der Paulskirche den Abbruch der islamischen kulturellen und liberalen Tradition nachgezeichnet. Er ist durch seine Reden, Bücher und Essays aber auch zu einer in Deutschland sehr vernehmbaren Stimme geworden, die immer wieder deutlich macht, daß zwischem dem Islam als Glauben und dem Islamismus als von Kuweit und Saudi-Arabien finanzierter Eroberungsideologie zu unterscheiden ist. Durch Kermani haben Religionsfragen "wieder Einzug in deutsche Feuilleton-Debatten gehalten"; der in Deutschland aufgewachsene Muslim "vermochte Aufmerksamkeit für Spiritualität zu wecken und ihr wieder einen Platz im öffentlichen Gespräch zu verschaffen" (Paul Ingendaay, FAZ vom 30. 9. 2016). Kermani argumentiert nicht so sehr theologisch, sondern poetisch, philosophisch und politisch. In der Dankesrede hören wir von der "Spiritualität Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der Geschichtsschreibung Ibn Khalduns, der poetischen Theologie Abdulqaher alDschurdschanis, der Philosphie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas" und von den Geschichten von Tausendundeiner Nacht, "die weltlich sind, ja, weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans". Kermani sagt, der Koran ist ein Text, "der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt". Bis ins 20. 5 Jahrhundert hinein gab es, so sagt er, diese islamische Volksfrömmigkeit, die vom Geist der Mystik durchdrungen war, von den Gedanken der Sufis. Es gibt einen Bericht aus dem Leben einer Familie im heutigen Islam, der dies schön bestätigt. Den hat ein Sohn geschrieben im Erinnern und Schildern der Frömmigkeit seines Vaters. Er spricht ihn an: "Ich nehme den Koran in die Hand, das Exemplar aus dem du jeden Freitag laut vorgelesen hast. Auf den Blättern wirken die Wörter in der schwungvollen Schrift des großen Buches ewig jung und frisch. In sieben Jahren hat der Kalligraph seinen Koran vollendet... Ich verstehe, warum du immer das Original des Korans jeder Übersetzung vorgezogen hast, denn der Sinn der Wörter ist reiselustig, vergänglich und mißverständlich, ihr Klang aber ist ewig. In diesem Klang ist die ewig gewordene Einsamkeit Gottes, ist der all-einzige Gott, der zu uns spricht." Dann berichtet er vom Lesen des Vaters: "Wenn er aus dem Koran sprach, um seine Gebete zu verrichten, verwandelten sich die Wörter auf seiner Zunge in Lieder. Dieser melancholische Grundton des Koranvortrags, der aus Wörtern, die man nicht versteht, Klänge einer vertrauten Musik macht... Ich nenne es die magische Dimension des Korans. Seine Unverständlichkeit wird zu einem Credo. Es hüllt den Körper ein und benützt das Ohr, weil es vor allem für das Ohr geschaffen worden ist... So versteht das Herz vielleicht, was das Auge liest. Wer den Koran als Kind gehört hat, ist ein Leben lang im Bann seiner Melodie... Die verfeinerte Rezitationskunst des Islam, die Musik, die Architektur und die Dichtung wurden so inspiriert." Es ist das Buch von Zafer Senocak "In deinen Worten, Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters" (München 2016). Senocak sieht den Zwiespalt zwischen altgewohntem Glauben und moderner Erscheinungsform des Islam, und er leidet darunter. "Der Islamgläubige heute ist mit einem Fuß im siebenten, mit dem anderen Fuß im einundzwanzigsten Jahrhundert verwurzelt. Daraus resultieren zahlreiche Konflikte, die sich weder geistig noch sozial lösen lassen". Ob der Koran, der Islam heilbar ist? Er kennt den Zweifel daran: "Der Islam hat seinen Charakter als Weltreligion weitgehend verloren und die Züge einer Sekte angenommen, die nicht mehr mit der Außenwelt kommuniziert... Die islamischen Gärten der Weisheit wurden irgendwann nicht mehr bewässert". Zafer Senocak hofft darauf, daß sich eine Lehrschule heranbildet, die an die freisinnigen Denker der islamischen Zivilisation erinnert und bei ihnen anschließt. Auch der schon genannte Hamed Abdel-Samad empfing den alten Glauben von seinem Vater, denn der war ein Imam in einem Dorf am Nil. Heute zeigt er Distanz und möchte den Koran neu für die Gegenwart deuten: "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses" (München 2016). Er wagt zu sagen, den Koran müsse man säkular lesen, nicht als ewiges Wort Gottes. Man findet im Koran, so schreibt er, wichtige Werte für das Zusammenleben, die Gerechtigkeit, den Ausgleich von Arm und Reich, das Sorgen für Witwen und Waisen und generell für Schwache, das Streben nach Wissen, Ethik, Mystik, Spiritualität wie im Thronvers der Sure 2, 255, "erhaben wie Bibelverse". Die gelungene Rezitation eines solchen Koranverses kann Muslime, auch ihn selbst, zu Tränen rühren. Der Thronvers lautet: "Allah! es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem Ewigen! Nicht ergreift Ihn Schlummer und nicht Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf 6 Erden... Weit reicht Sein Thron über die Himmel und die Erde, und nicht beschwert Ihn beider Hut. Denn Er ist der Hohe, der Erhabene". Dieser Vers ziert, kalligraphisch arabisch an Wände geschrieben, zahlreiche Moscheen. Der stellvertrende Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Italien, Imam in Mailand, Yahya Pallavicini sagt, im Abendland gebe es (oder kann und werde es geben) einen integrierten Islam. Es gebe keinen aus dem Koran ableitbaren Kampf gegen das Christentum, keinen Kampf Morgenland gegen Abendland. Wie gemeldet wurde, ist er zu Papst Franziskus gegangen, um ihm ein Buch zu überreichen, in dem der kanadische Islamwissenschaftler John Andrew Morrow selten beachtete Quellen übersetzt und veröffentlicht hat, nämlich 6 von Mohammed selbst stammende Schutzbriefe für Christen in Persien, Assyrien und Mekka und für die Mönche im Sinai-Kloster. Dieser Brief vom Jahr 628 wird im Topkapi-Museum in Istanbul aufbewahrt und ist mit dem Abdruck der Hand des Propheten besiegelt und von einem seiner Begleiter unterzeichnet. Der Imam berichtete, der Papst habe das Buch mit tiefem Ernst entgegengenommen und ihn dann mit einer brüderlichen Geste umarmt. Halis Albayrak lehrt in der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara, und ist Mitherausgeber beim "Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam" (Herder 2013). Er sagt, wer den Koran nach Buchstabentreue liest, beginne, dem Text die eigenen Absichten aufzuzwingen. Den Koran solle man nicht wie ein Buch, sondern wie einen Diskurs lesen. Der Koran, und er zitiert die Verse, rufe die Angehörigen aller Glaubenstraditionen zu einem Wettbewerb auf, der dann schließlich der Menschheit zugutekommen werde. Ein Wettbewerb? Der Gedanke ist auch Christen nicht fremd. Hans Küng sagt in seinem Buch "Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg" (München 6. Aufl. 2004) im Blick auf Christentum und Islam, ein Wettstreit um das tiefere Gottesverständnis sei durchaus erwünscht. Ein Wettbewerb, der nicht am Ende nur einen Sieger kennt. Vielmehr ist es eine Einladung zum Dialog, der davon ausgeht, daß es sich bei den Religionen um menschliche Wahrnehmungen handelt, die sich auf denselben, den einen Gott beziehen. Christen können Muslime danach befragen, was sie über Gott erfahren haben und könnten Gedichte des islamischen Mystikers Rumi in ihren Gottesdienst einstellen wie das, welches beginnt: "Mit deiner Seele hat sich meine Gemischt, wie Wasser mit dem Weine". So schlägt es Klaus-Peter Jörns vor ("Lebensgaben Gottes feiern", Gütersloh 2007). Evangelische wie katholische Theologie ist bereit, nach den Schätzen zu suchen, die gehütet werden in anderen Religionen, oder nach Strahlen der Wahrheit (so gesagt in Texten des 2. Vatikanischen Konzils), die sich auch in ihnen finden lassen. Es ist der Traum vom weltweiten ökumenischen Dialog, vom vertrauensvollen Gespräch mit allen Menschen der Erde im gemeinsamen Haus (oikos) des einen Gottes. Der Weg zur Verständigung der Religionen und zum Frieden der Welt! Traumhaft schon waren einige Szenen in dem genannten, bei Arte am 11. 4. 2017 gezeigten Film: In Granada ging man durch die ätherisch feinen Räume der Alhambra mit 7 ihren Höfen, Säulen, Brunnen und Gärten, dem Wahrzeichen vergangener islamischer Hochkultur. Nach jahrhundertelanger Verbannung des Islam wurde jetzt auf einem Hügel gegenüber der Alhambra und in Sichtkontakt der erste Neubau einer Moschee errichtet, und dort feierte man gerade ein Fest der islamischen Gemeinde, zu der zahlreiche Spanier und mit schönsten Kopftüchern bedeckte/geschmückte Spanierinnen hinzugestoßen sind! Ayaan Hirsi Ali (deren Buch den Satz am Anfang dieses Berichtes enthält: "Der Islam ist keine Religion des Friedens") sieht klar den innerislamischen Konflikt: Die einen verteidigen die Unvereinbarkeit des Islam mit der Moderne bis zum bitteren Ende der IS, Boko Haram, die Taliban, Al Qaida, die islamistischen Milizen wie al Shabaab. Die anderen wollen ihren Glauben neu definieren. Viele Muslime sehnen sich danach, "die letztlich unerträglichen Anforderungen dieser Ideologie infrage zu stellen". Wir brauchen, sagt sie, ein anderes Menschenbild ohne die so verkehrte Überhöhung des Jenseits als dem Lebensziel des Einzelnen. Die Jenseitsverklärung nützt den todbringenden Milizen. Sie fördert einen Fatalismus gegenüber dem irdischen Leben, der jeden Fortschritt hemmt. Die mutige Autorin weiß sich tief verbunden mit den vielen Oppositionellen, denen nur die Flucht aus islamistisch regierten Staaten bleibt - von denen viele schon mit dem Leben bezahlt haben. Sie ruft alle, gerade auch die westliche Welt dazu auf, die zu ermutigen, die sich auf den Weg zu einer Reform, ja zu einer Reformation des Islam gemacht haben. Sie brauchen unseren Schutz! Sie denkt, ein Wandel ist noch möglich. Sie hält an ihrem Glauben fest, daß es - wie bei anderen Revolutionen oder Reformationen in der Geschichte - auch bei dieser Freiheitsbewegung gelingen werde, das Ziel zu erreichen, nämlich muslimisches Leben mit der Welt des 21. Jahrhunderts zu versöhnen. Am Ende dieses Berichts, in dem ich Stimmen zum Islam aus jüngster Zeit versammelt habe, frage ich mich: Was gilt nun? Gibt es ein Ergebnis? Es ergibt sich mir die Erkenntnis, daß es den Islam nicht gibt. Schon seit Anbeginn gab es ja das Schisma in sunnitischen und schiitischen Islam, es entstanden weitere religiöse Abspaltungen; der heutige Islam in Indonesien ist anders als der in Saudi-Arabien, als der im Iran, in der Turkei, im Oman oder in Afrika. Der Satz: "Der Islam ist keine Religion des Friedens" ist durchaus wahr, wenn man seine Geschichte betrachtet und, heutzutage, die bei Salafisten herrschende, islamistisch genannte Ideologie, die sich weltweit ausbreitet und gar dabei ist, den friedlichen Islam zu verdrängen! Der Satz gilt aber nicht für die vielen, vielen Muslime, die als friedlich erlebt werden und 8 die auf dem Weg sind, wie oben gezeigt wurde, zu einem neuen, aufgeklärten Islam. Das sind zwei verschiedene Begriffe "Islam" - man kann sie nicht in eins setzen! Zwischen dem Islamismus und dem Islam als Glauben müssen wir unterscheiden. Ähnlich steht es mit dem Satz: "Der Islam ist nicht reformierbar". Orthodoxe, islamistische Religion, seit langem schon auf dem Vormarsch, wird alle Reformvorschläge verlachen. Sie weiß es ja besser. Andere, aufgeklärte Muslime brauchen keine Reform. Sie sind Träger der Reform in vielfacher schöner Bemühung. Zwischen diesen beiden Gruppierungen herrscht erbitterter Kampf. die Tragödie von säkularem Ausmaß. Das ist Welche Seite wird am Ende das Feld behalten? Das weiß keiner. Für die europäische, aber auch die außereuropäische Welt ist das nicht beruhigend. Dießen am Ammersee, zu Ostern im April 2017 9