Bernhard Weßels Erosion des Wachstumsparadigmas

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Bernhard Weßels
Erosion des Wachstumsparadigmas :
Neue Konfliktstrukturen im politischen System
der Bundesrepublik ?
Schriften des Zentralinstituts fiir sozialwissenschaftliche
Forschung der Freien Universität Berlin
ehemals Schriften des Instituts
Band 63
rur politische Wissenschaft
Bernhard Weßels
Erosion des Wachstumsparadigmas:
Neue Konfliktstrukturen
im politischen System
der Bundesrepublik ?
Westdeutscher Verlag
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© 1991 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere rur Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-531-12261-8
ISBN 978-3-322-93608-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-93608-0
Vorwort
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Herbst
1989 vom Fachbereich für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin
angenommen wurde. Wenn auch die Verantwortung für diese Studie allein bei mir
liegt, so ist sie doch nicht im "einsamen Kämmerlein" entstanden. Sie verdankt den
Diskussionen mit den Kollegen im Zentralinstitut für sozialwissenschaftliehe Forschung der Freien Universität (ZI6), an dem ich während der Ausarbeitung als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, vielfältige Anregungen. Insgesamt haben das
gute Forschungsklima und die überwiegend günstigen Arbeitsbedingungen im Institut am Gelingen der Arbeit einen nicht unwesentlichen Anteil.
Vor allem danke ich Hans-Dieter Klingemann, der das Vorhaben von Anfang an
unterstützt und in den verschiedenen Phasen wohlwollend begleitet hat; auf seinen
Rat und seine Hilfe habe ich mich stets verlassen können. In gleichem Maße bin
ich Theo Pirker, dem langjährigen wissenschaftlichen Leiter des Instituts, zu Dank
verpflichtet Er hat die Arbeit von Anfang an gefördert und nicht zuletzt durch
seine wissenschaftliche "Ungeduld" zu ihrem Gelingen beigetragen. Dietrich Herzog verdanke ich eine Vielzahl von fruchtbaren Diskussionen und Anregungen
sowie den Freiraum, der für diese Arbeit notwendig war. Verpflichtet bin ich auch
Dirk Martens für seine vielfältige technische Unterstützung bei der Datenerhebung
und Datenaut'bereitung, Nicholas Watts vom Wissenschaftszentrum Berlin, ohne
dessen Kooperlgionsbereitschaft die zeitvergleichende Perspektive dieser Arbeit
nicht hätte eingelöst werden können und der Poststelle des Zentralinstituts, namentlich Frau Paul, ohne deren Hilfe und Verständnis die umfangreiche Versendungsaktion der Fragebögen sicherlich nicht so komplikationslos verlaufen wäre.
Danken möchte ich auch dem Verwaltungsleiter des Instituts, Albrecht Schultz, für
seine organisatorische Unterstützung und insbesondere Franke Burian für die redaktionelle Bearbeitung des Textes.
Berlin, im August 1990
Bemhard Weßels
INHALT
"ollVort
5
1. Einleitung
11
1.1. ÖkologiscM Gefährdung und geselischlJftlicM
Entwicklung: ein ProblemIJufriß
1.2. Zentrale Fragen der Untersuchung
1.3. Verwendetes DatenmtJterial
11
17
18
2. Gesellschaftliches KonOiktpotential und KonOikttheorie
19
3. Wachstumsparadigma und gesellschaftlicher
Grundkonsens
28
3.1. Soziales ParadigmIJ industrieller GesellschlJften
3.2. Basiskonsens und Verfassungskonsens
in der BundesrepubliJc
4. GesellschartIicher Grundkonsens und Muster
geseilschartIicher Leitvorstellungen
4.1. ParadigmIJ, Werte, Einstellungen:
Operationale VorkltJrung
4.1.1. Operalionale "orlc1ärung:
Werte und Einstellungen
4.1.2. Operalionalisienmg des Wachstumsparadigmas:
Zur Konstruktion der Werteskalen
4.2. Wertkonsens und Wertdissens
4.2.1. WerteinsteIlungen von Umweltschützern.
Managern und allgemeiner Bevölkerung
4.2.2. Muster gesellschaftlicher Wertorienlierungen:
Basiskonsens. ökonomischer Individualismus
und neue Politik
28
31
39
39
39
42
49
49
55
8
Inhalt
5. Träger des Konflikts: Generationen und Klassen?
62
63
63
5.1. Generationen und Konjliktpotential
5.1.1. Zum Begriff "Generation"
5.1.2. Konflikttheoretische Dimension
5.1.3.
5.1.4.
des Generationenkonzepts
Methodischer Ansatz zur Identifikation von Generationseffekten in Querschniusbefragungen
Politische Generationen in der
Gesellschaft der Bundesrepublik
5.1.5. Politische Generationen und Muster
gesellschaftlicher Leitvorstellungen
5.2. Sozialstruktur und Konjliktpotential:
Zur Diskussion um die "neue Klasse"
5.2.1. Zum Begriff "neue Klasse"
5.2.2.
5.2.3.
Die konflikttheoretische Interpretation im
Konzept der "neuen Klasse"
"Neue Klasse" und Muster
gesellschaftlicher Zielvorstellungen
5.3. Generationenbezogene Bildung sozialer Milieus
statt "neue Klasse"?
6. Umweltschutz, Verteilungsfrage und politischer Konflikt
6.1. Die ökologische Herausforderung als
"moderner" Veneilungskonjlikt
6.1.1. Grundzüge verteilungspolitischer Überlegungen
der Umweltökonomie
6.1.2. Umweltschutz als Verteilungskonflikt:
Analogien zur Sozialpolitik
6.1.3. Verteilungspolitisches Konfliktpotential
im Umweltschutz
6.2. Ökologie und politischer Protest
66
70
76
83
93
95
102
106
117
124
126
126
128
131
150
6.2.1.
Die Operationalisierung
politischer Beteiligung
151
6.2.2.
Protestpotentiale bei Umweltschützern
im Vergleich
153
6.2.3.
Staatliche Umweltpolitik und
politischer Protest
Konsequenzen und Funktionen politischen
Protests
6.2.4.
161
168
9
[nhall
7. Zur RoDe von Bewegungsorganisationen und
öffentlicher Kritik im Umweltschutz
7.1. Bewegungsorganisationen:
Struktur. Bedeutung und "Vernetzung"
171
171
7.1.1.
Begriffliche Vorüberlegung zu Organisation
und Mitgliedschaft
7.1.2.
7.1.3.
Struktur des "organisierten" Umweltschutzes
171
174
Informelle Organisationen als
Gelegenheitsstruktur und Ausdruck politischer
Interessenartikulation
179
Neue soziale Bewegungen:
Universalistische Netzwerke?
186
7.1.4.
7.2. Zur Bedeutung von öffentlicher Kritikfür den
industriellen Umweltschutz
193
8. Zusammenfassung und Ausblick
201
TabeDenanhang
207
218
221
223
231
239
TabeDenverzeichnis
Verzeichnis der Schaubilder und Übersichten
Studienbeschreibungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
1. Einleitung
1.1. Ökologische Gefährdung und gesellschaftliche Entwicklung:
ein Problemaufriß
Das Problem Umweltverschmutzung hat entgegen der Einschätzung zahlreicher
Politiker - darunter Helmut Schmidt, der dieses Problem noch Mitte der siebziger
Jahre als ein Modethema gelangweilter Mittelständler abtat 1 - nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Weder sind die Störungen natürlicher Gleichgewichte und Lebensbedingungen geringer geworden noch hat dieses Problem im Bewußtsein der Bevölkerung an Bedeutung verloren; eher ist von der gegenteiligen Entwicklung auszugehen: Ereignisse mit massiven Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit
der Menschen sind wohl kaum seltener geworden, und die Bedeutung von Umweltschutz ist in der Sicht der Bürger 1985 gegenüber 1981 noch gestiegen; einzig
die Massenarbeitslosigkeit wird als das noch wichtigere gesellschaftspolitische
Thema angesehen2• Im Gegensatz zu anderen politischen Problemen handelt es
sich beim Umweltschutz um ein Issue, so Max Kaase, das nach spektakulärer Karriere einen Dauerplatz in der politischen Diskussion erobert hat3•
Die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen von Mensch, Tier und
Pflanze ist seit der umweltpolitischen Offensive der sozialliberalen Koalition in
den Jahren 1970 bis 1974 und seit der Formierung einer ökologisch orientierten
politischen Opposition Ende der siebziger Jahre nicht geringer geworden. Im
Gegenteil: Das globale Ausmaß der Umweltzerstörung ist erst in letzter Zeit mit
den Berichten zum Ozonloch, zum Waldsterben, zur zunehmenden Zerstörung des
tropischen Regenwaldes, zur Lage der Trinkwasserversorgung und zum Robbensterben, so massiv in den Blickwinkel der Öffentlichkeit gerückt worden. Eines ist
ganz offenbar: Es handelt sich nicht um ein Problem der Natur und nur mittelbar
um eines des Verhältnisses von Gesellschaft und Umwelt. Vielmehr ist es ein Pr0blem gesellschaftlicher Art mit verschiedenen Dimensionen:
- ein Problem tauschförmiger Steuerungsprozesse: Die Folgen der Nutzung und
Vernutzung der Umwelt in der Form eines kollektiven Guts verursacht zwar,
1 VgI. Norbert Plötzl, Riesenhaft dimensioniertes Stückwerk - Die Umweitpolitik der
sozialliberalen Koalition, in: Wolfram Bickerich (Hrsg.), Die 13 Jahre, Reinbek b.
Hamburg: Rowohlt/Spiegell982, S. 103-124, hier S. 108.
2 Vgl. Max Kaase , Die Entwicklung des Umweltbewußtseins in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft, Gesellscholt - Wege
zu einem neuen Selbstverständnis, im Auftrag des Staatsministeriums Baden-Württeßlberg 1985, S. 289-316, hier S. 303f.
3 VgI. ebd., S. 293.
12
Einleitung
wie wir wissen, Kosten (z.B. im Gesundheitswesen, in der Denkmalspflege, in
der Forstwirtschaft). Diese werden allerdings weitgehend nicht von den Verursachern getragen. Sie bleiben "externe Kosten", d.h. sie gehen nicht in die
individuellen, betrieblichen und staatlichen Kostenrechnungen ein, sondern
werden auf die Allgemeinheit als Ganzes abgewälzL Die Natur selbst setzt hier
keine Restriktionen; diese muß die Gesellschaft selbst definieren und anwenden;
- ein Problem von Zielprioritäten: Die Auseinandersetzung um gesellschaftliche
Zielprioritäten, die sich am deutlichsten im behaupteten Gegensatz von
Wachstum und technischem Fortschritt auf der einen und Umweltschutz auf der
anderen Seite ausdrückt, ist seit Jahren im Gang. Längst schon wird die These
von einer neuen Spannungslinie im sozio-politischen System und die "Erosion
des Wachstumsparadigmas" diskutiert;
- ein Verteilungsproblem: Anscheinend latent, in konkreten Auseinandersetzungen um Abgabenregelungen, kostenintensive Grenzwerte u.a. aber offen zutage
tretend, geht es im Umweltschutz in zunehmendem Maße auch um die Frage,
wer die enormen Kosten tragen soll, die für Reparatur und Abwendung von
Umweltschäden sowie für die Vorsorge anfallen: ob der Staat mittels seiner
gesellschaftlichen Einkünfte, ob der Konsument oder der Produzent umweltgefährdender oder solcher Güter, die aus umweltgefährdenden Produktionsprozessen stammen.
Diese Problemdimensionen sind praktisch kaum voneinander zu trennen und
fließen in die politische Auseinandersetzung mit jeweils eigener Konfliktträchtigkeit ein. Ob es um Fragen der Risikodefinitionen geht, ob um Fragen der Internalisierung von Kosten der Umweltzerstörung oder um weitreichendere Modelle gesellschaftlicher Organisation und schließlich um Zielprioritäten und Trade-Offs
oder um die Zuweisung von Schuld und damit um die Übernahme von Verantwortung - die unterschiedlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Problems
Umweltschutz erweisen sich als stark interdependent und spannungsreich.
Die daraus resultierenden Konfliktkonstellationen sind vielschichtig: Vordringlich und wohl am sichtbarsten sind die von Ökologie-, Anti-Kernkraft- und Umweltschutzbewegten an die staatliche Umweltpolitik gestellten Forderungen und
deren Kritik. Auch zwischen Politik und Wirtschaft entsteht mit wachsender staatlicher Interventionskapazität im Umweltschutz ein SpannungsverhäItnis. Zunehmend häufiger kommt es darüberhinaus zu direkten Konfrontationen zwischen
Wirtschaft(sunternehmen) und Umweltschützern, die nicht selten von spektakulären Aktionen wie Schornsteinbesetzungen o.ä. begleitet sind.
Zwar läßt das Problem selbst sich aus den Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten scheinbar objektivierender, marktvermittelter Bewertungsprozesse von Gütern verstehen. Die politische Bedeutung und die Bewertung des Problems Umweltverschmutzung entsteht aber aus einem "subjektiven Faktor", aus
der Unterschiedlichkeit der Sichtweisen und Interpretationen von gesellschaftlichen Situationen.
Ökologische Gefährdung und gesellschaftliche Entwicklung
13
Die Relevanz des Problems für die Zukunft der Industriegesellschaften ergibt
sich zum einen aus seiner naturbezogenen, aber mehr noch aus seiner
gesellschaftspolitischen Dimension. Zwar erhält es seine Dringlichkeit durch die
Gefährdung der Kompensations- und Selbstreinigungskräfte der natürlichen Infrastruktur. Die objektive Situation der Umwelt ist aber für die Existenz neuer
Spannungen und Konflikte lediglich notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Vielmehr kollidiert zumindest in industriekapitalistischen Gesellschaften die
Forderung, bereits existierende Risikolagen abzuwenden und zukünftige zu vermeiden, mit den gewachsenen infrastrukturellen Bedingungen und den weitgehend
marktmäßigen Steuerungsbedingungen der Güterproduktion. Hinter der scheinbar
naturwissenschaftlich-technischen Notwendigkeit und Forderung von Umweltschutz verbirgt sich auch eine "Verteilungsfrage" von enormen Ausmaßen. Sie
richtet sich nicht nur daran aus, wer die Kosten für Sanierung und Vorsorge tragen
so1l4, sondern beinhaltet längst auch, ob und wo noch welche Produktionsstandorte
entstehen können oder ob Interessen an der Verteidigung von Lebensräumen
dagegenstehen. In der Verschränkung von Integrationsproblemen (bezogen auf die
Vermittlung differenzierter Interessen in der Gesellschaft) und Adaptionsproblemen (heraufziehender Ressourcenmangel, Gefährdung der physischen Reproduktion) liegt die Schwergewichtigkeit der Problemlage für das politische System. Die
Widersprüche zwischen Einzel- und Gesamtinteresse, zwischen kurzfristigen und
langfristigen Bestandsinteressen kennzeichnen das gesellschaftliche Dilemma: Das
Umweltproblem ist durch tauschförmige Prozesse hervorgebracht worden, kann
aber nicht durch sie bearbeitet werden. Beschreibt Talcott Parsons die Funktion der
Wirtschaft noch dahingehend, daß sie nicht nur technologische Verfahren sozial
regeln müsse, sondern vor allem die Aufgabe habe, "Technologie in das Sozialsystem zu integrieren und sie im Sinne der individuellen oder kollektiven Interessen
zu kontrollieren"s, so steht dies heute mit Blick nicht nur auf die Umweltproblematik6 wohl eher in Frage. Bei den unabsehbaren ökologischen und sozialen Folgen der Industrialisierungsprozesse stellt sich die Aufgabe umgekehrt: Nicht die
Wirtschaft muß die Technologie in das soziale System integrieren, sondern gesellschaftliche Ziele hinsichtlich der für die Erhaltung der Umwelt geeigneten
Produktionsformen müssen qua politischer Entscheidung in das Wirtschaftssystem
4 Nach SchätzWlgen von Lutz Wicke werden jährlich Werre in Höhe von etwa 100 Milliarden DM dmch UmweltverschmutzWlg vernichret Das sind sechs Prozent des
Bruttosozialprodukts oder - anders ausgedrückt - etwa das Doppelte des Bonner VerreidigWlgsetats. Vgl. Lutz Wicke, Die ökologischen Milliarden, München: Kösel-Verlag
1986.
5 Talcott Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978,
S.136.
6 In der Diskussion über Probleme Wld Ziele der Technikfolgen-AbschätzWlg wird die
politische EinwirkWlg auf die Technik-Wahl ebenso - in ökologischer wie in sozialer
Perspektive - als Notwendigkeit angesehen. Vgl. Meinolf Dierkes, Technikfolgen-Abschätzung als Inreraktion von Sozialwissenschaften und Politik, in: Meinolf Dierkes/Thomas Potermann/Volker von Thlenen (Hrsg.), Technik und Parlmnent, Berlin:
edition sigma 1986, S. 115-145, hier S. 143.
14
Ein1eitrmg
integriert werden7• Zunehmend werden die von der Natur selbst nicht durchsetzbaren Restriktionen dem Wirtschaftsprozeß politisch auferlegt.
Das zentrale Problem aus sozialer und politischer Perspektive liegt nicht in der
Zerstörung von natürlicher Umwelt und Lebensräumen. Es sind vielmehr die "Nebenfolgen der Nebenfolgen" (Beck), die darüber entscheiden, welche Entwicklung
industrielle Gesellschaften nehmen und letztendlich auch darüber, wie und ob sie
die naturbezogenen negativen Nebenfolgen der Industrialisierung bewältigen können.
Als zentrale politische "Nebenfolge" der Negativeffekte der Industrialisierung
wird seit längerer Zeit das Entstehen einer neuen Konflikt1inie in den westlichen
Industriegesellschaften diskutiert. Welcher wissenschaftstheoretischen und wissenschaftlichen Provinienz die neueren vorgelegten Analysen auch immer zuzurechnen sind, ihnen ist gemeinsam, daß sie komplexe Gesellschaften an einer Schwelle
zu neuen Formen von Bestandsproblemen sehen. Schon die jeweils gewählten Begrifflichkeiten deuten dies an: Postindustrielle Gesellschaft, Spätkapitalismus,
Postfordismus oder auch Risikogesellschafl Die jeweiligen Ansatzpunkte unterscheiden sich zwar sowohl im Abstraktionsniveau als auch in Deutung und Bewertung der Entwicklungen; gleichwohl stimmen sie darin überein, daß sich in allen westlichen Gesellschaften deutliche Tendenzen der Erosion ehemals konsentierter Wertsysteme zeigen und sich offenbare Hinweise auf die Grenzen traditioneller Integrations- und Steuerungsmechanismen ergeben. Aus kulturkritischer
Perspektive wird konstatiert, daß die eigenlogische Entwicklung von Wirtschaft,
Kultur und Politik zu einer Kluft zwischen sozio-kulturellen Funktionserfordemissen der Wirtschaft und der kulturellen Sphäre geführt habe. Der Erfolg "gegenkultureller Deutungen" von Avantgarden - ermöglicht durch Massenproduktion und
Massenkonsum und damit verbundener Umorientierung in der Rechtfertigung des
Kapitalismus durch Kategorien wie Arbeit, Leistung oder Eigentum auf die Rechtfertigung durch Statussymbole und Ausweitung des Vergnügens - habe die protestantische Arbeits- und Pflichtethik verdrängt und zur Dominanz der "hedonisti-
7 Schon Pigou, Nationalökonom und Schüler Marshalls, wies Anfang dieses Jahrhunderts am Beispiel der Rauchbelästigung darauf hin, daß die Güterproduktion die
Gesellschaft mit Kosten belaste, die nicht von den Verursachern getragen wurden und
die nicht in die Preise eingingen. Hierin sah er einen schwerwiegenden Fehler im System des laissez-faire. Er ist der erste gewesen, der explizit auf Unterschiede zwischen
privaten und sozialen Kosten hingewiesen hat (Wealth and Welfare, 1912. Vgl. Joan
Robinson/John Eatwell, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a.M.: Fischer 1977, S. 430f.). Inzwischen ist die Literatur beträchtlich. Richtungweisend war
der Aufsatz von Robert M. Solowaus dem Jahre 1970: Umweltverschmutzung und
Umweltschutz aus der Sicht eines Ökonomen, in: Hans Möller/Rigmar Osterkamp/Wolfgang Schneider (Hrsg.), Umweltökonomik, Königstein!fs.: Anton Hain
1982, S. 3042. Einen guten Überlick über die Ansätze der Umweltökonornie gibt Lutz
Wicke (unter Mitarbeit von Wilfried Franke), Umweltökonomie, München: Vahlen
1982. Konkrete Vorschläge zu "fungiblen Emissionsrechten" macht u.a. Holger Bonus,
Kommerzialisierung von Umweltqualität?, in: Gilnter Kunz (Hrsg.), Die ökologische
Wende, München: dtv 1983, S. 189-209.
Ökologische Gefährdung und gesellschlJftliche Entwicklung
15
sehen Ethik" gefühnB• Aus institutionenkritischer Perspektive erweist sich die
Entwicklung des Staates zum Sozialstaat. zum Staat der Daseinsvorsorge. als Faktor fUr den steten Bedeutungsverlust alter "Selbsteingrenzungswerte" und "Selbständigkeitswerte" und leitet damit eine Entwicklung ein. die zu einer ständigen
Steigerung der Erwartungen an die "Glücksgewährleistungen" von anderen Instanzen als ego führe. so Klages9• Aus ökonomischer Perspektive ergibt sich fUr westliche Industriegesellschaften das Dilemma, daß mit der zunehmenden Erfüllung
der Bedürfnisse und Dienstleistungen mit öffentlichem Charakter der Punkt inzwischen überschritten wird. ab dem sich die Nutzungsbedingungen solcher Güter
wieder verschlechtern. Derartige "Flaschenhalseffekte" begegnen jedem. z.B. in
Form des bei zunehmender Verbreitung abnehmenden Grenznutzens des Individualverkehrs. Nach Hirsch kommt es zu einem sich verstärkenden Verteilungskampf von Individuen und Gruppen um Positionsgüter wie gute Wohnumwelt. unbeschädigte Natur. Karrieregates usw. 10 Soziale Wandlungsprozesse nehmen im
Vergleich zu den vorgenannten Ansätzen jedoch den umfassendsten Raum fUr die
Erklärung der Transformationsprozesse in westlichen Gesellschaften ein. Auf Basis der schnellen sozialstrukturellen Veränderungen entstehen Prozesse verstärkter
"Individualisierung"ll und der zunehmenden Heterogenisierung sozialer Konflikte12• Traditionelle Vergesellschaftungsprozesse verlieren an Durchdringungskraft. Bindungsverluste und die Erschwerung sozio-kultureller Identitätsbildung
durch Zersetzung klassenbestimmter Milieus sind die Folge. verbunden mit Tendenzen der Differenzierung der Bevölkerung in Zentrum und Peripherie. in industriellen Leistungskern und von Modemisierungsprozessen negativ Betroffenen.
Konflikte entstehen damit vermehrt "quer" zu Klassengrenzen und sind in zunehmendem Maße nicht mehr durch die traditionellen Agenturen der Interessenaggregation zu vermitteln. Aus systemtheoretischer Perspektive werden neue Probleme
komplexer Gesellschaften in zweifacher Hinsicht thematisiert Für Habermas stellt
sich das Problem. daß die wachsende Ausdifferenzierung von "System und Lebenswelt" bei gleichzeitiger Zunahme der Eingriffe des Wirtschaftssystems und
des Staates in die kommunikativ aufgefüllten lebensweltlichen Bezüge der Gesellschaft zu Tendenzen der "Kolonialisierung der Lebenswelt" führe. Dies rufe in der
Gesellschaft eine Gegenbewegung hervor. mit der die Überformung von Lebensformen durch Systemimperative verhindert werden solle. Kennzeichen der hier
entstehenden Konfliktlinie sei es. daß sie sich nicht mehr an Verteilungsfragen entspanne. sondern an der "Nahtstelle von System und Lebenswelt" um die "Gram8 Vgl. Daniel Bell. Die 1IIJChindustrieiie Gesellscho,{t, Frankfurt a.M.: Campus 1985, z.B.
S.363.
9 Vgl. Helmut Klages, ()berlasteter Staat - verdrossene Bürger?, Frankfurt a.M./New
YOlle: Campus 1981.
10 Vgl. Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
1980.
11 Vgl. Ulrich Beck. RisikogesellschlJft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.
12 Vgl. Joachim HirschIRoland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalisnuu, Hamburg: VSA
1986.
16
Einleitruag
matik cD' Lebensformen"!3. Luhmann sieht aufgrund des prekären VerhIltnisses
von Systemen und ihren Umwelten massive Probleme der Resonanz und der Steuerung auf moderne Gesellschaften zukommen. Die zunehmende Differenzierung
von Subsystemen mit jeweils eigenen "Codes" und "generalisierten
Kommunikationsmedien" führe zur Ausblendung bestimmter, nicht in diesen
"Sprachen" ausdrückbarer Probleme. Die ökologische GeBhrdung ist ein solches
zentrales Problem, für das bisher weder eine Resonanzfilhigkeit im Wirtschaftssystern noch in der Politik unmittelbar existiere!4. Damit aber, so sein Befund, ergäben sich einerseits neue Steuerungsprobleme, andererseits aber "Sinnzweifel" in
Bezug auf fast alle Funktionssysteme: Hinter Intentionen würden nicht-intendierte
Folgen vermutet, jede gute Absicht habe schlimme Nebenfolgen. Auf dieser Basis
entstünden neue soziale Bewegungen, die - Luhmann zufolge - denkbar seien als
"ein Protest gegen die funktionale Differenzierung und ihre Effekte". Sie bildeten
damit eine "neue Art der Selbstbeobachtung von Gesellschaft"!s.
So stark sich die verschiedenen Ansätze auch voneinander unterscheiden, sie
gehen insgesamt von einer ausgeprägten Konfliktträchtigkeit der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen aus. Ohne Zweifel ist die "Institutionalisierung" einer entlang der benannten Dimensionen aufscheinenden neuen Konfliktlinie in der Bundesrepublik am weitesten fortgeschritten. In keiner anderen Nation
sonst haben sich neue soziale Bewegungen in einem solchen Ausmaß konstituiert
wie hier, nirgendwo sonst haben sie soviel Stabilität auch über "Latenzphasen"
hinweg bewiesen l6• Trotz einer Vielzahl von Analysen zu neuen Protestpotentialen
und neuen sozialen Bewegungen steht eine empirische, konflikttheoretische Analyse zu diesen Entwicklungen noch aus. Auch die hier vorliegende Arbeit erhebt
nicht den Anspruch, diese Lücke vollständig schließen zu können. Wohl aber soll
sie empirischen und theoretischen Aufschluß geben über zwar nur einen, allerdings
zentralen Bereich neuer Konfliktpotentiale: über die sozialen, wertbezogenen und
organisatorischen Bedingungen ökologischen Protests in der Bundesrepublik der
achtziger Jahre.
Jilrgen Habennas, Theorie des kommunikativen Randelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 539f:
14 Niklas Luhmann, Okologische Kommunikation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986,
S. 122, 176.
15 Ebd., S. 234.
16 Hirsch/Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus (Anm. 12), S. 213.
13
ZenJraJe Fragen der UnJersuchung
17
1.2. Zentrale Fragen der Untersuchung
Eine zentrale Dimension in der Diskussion neuer Konfliktpotentiale und neuer
Spannungslinien ist die Veränderung und Entwicklung neuer kultureller Orientierungen und Deutungen, gemeinhin als Wertewandel benannt. Ob und in welchem
Maße traditionelle kulturelle Bestände des für die Bundesrepublik typischen Basisund Verfassungskonsenses erodieren und in welchem Umfang dies geschieht, ist
Gegenstand des dritten und vierten Kapitels.
Nach wie vor von einer endgültigen Klärung weit entfernt ist auch die Frage, wo
die Ursachen für diese Wandlungstendenzen in den Wertmustern und kulturellen
Geltungsansprüchen zu suchen sind und welche Dauerhaftigkeit sie haben. Diese
Dimension ist für die Ausformung einer neuen Konfliktlinie zentral: Gehen die
aktuellen Konflikte und Proteste im Ökologiebereich auf eine fest zu umreißende
(sozial-)strukturelle Basis zurück, so ist von ihrer Persistenz und damit festen
Formierung und Etablierung in der Konfliktstruktur der Bundesrepublik auszugehen. Kapitel 5 untersucht diese Frage sowohl vor dem Hintergrund der These vom
intergenerativen Wertewandel als auch mit Blick auf die Diskussion über die "neue
Klasse" als strukturelle Basis neuer kultureller Geltungsansprüche.
Wie die gegen die negativen Nebenfolgen der Industrialisierung (z.B. Umweltverschmutzung) und gegen das Eindringen zweckrationaler Systeme in die Lebenswelt (z.B. Vemechtlichung) gerichteten neuen Wertmuster in politische Forderungen überführt werden können und welche Reichweite ein hieraus entstehender Konflikt haben könnte, wird im darauffolgenden Kapitel (Kap. 6) anhand der These von der "ökologischen Herausforderung" als "moderner Verteilungsfrage" untersucht. Die neuen Konflikte verweisen nicht lediglich auf "Verteidigung", sondern reichen mit den Interessen an der Verteidigung von Lebensräumen weit in Richtung auf eine Umgestaltung gesellschaftlicher Zielprioriäten, die
sich nicht nur in ihren Extremformen als Trade-Off zwischen wirtschaftsbezogenen
Interessen und Interessen an der Minimierung ökologischer und sozialer Risiken
darstellen. Welche Konfliktträchtigkeit von der Blockierung solcher Forderungen
ausgehen könnte, darauf verweist die Analyse der Bereitschaft zum politischen
Protest und zum zivilen Ungehorsam von Umweltschutzaktivisten in diesem Kapitel.
Die für viele unerwartete Dauerhaftigkeit des ökologischen Protests über inzwischen zwei Jahrzehnte hinweg ist nicht zu verstehen, ohne eine Analyse seiner "organisatorischen" Struktur und der "Vernetzung" neuer sozialer Bewegungen. Welche Struktur die Umweltschutzorganisationen und -initiativen aufweisen und welche Bedeutung diese Infrastrukturen für das individuelle politische Handeln und
die individuelle Konfliktbereitschaft haben, untersucht das 7. Kapitel. Die dort
vorgenommene Analyse der Vernetzung neuer sozialer Bewegungen zeigt, daß die
18
Einkitruag
Thesen von Ein-Punkt-Bewegungen die Realität nicht treffen. Vielmehr muß von
einer Absicherung relativ universalistiscller Ansprüche dmch die ausgeprägte Verklammerung der verschiedenen Sektoren der neuen sozialen Bewegungen ausgegangen werden. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels verweist auf die Anfonlerungen an die Umweltpolitik durch die "Institutionalisienmg" öffentlicher Kritik in
Form von Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen und auf die Bedeutung der zunehmend auch direkt an Industriebetriebe gerichteten Beschwerden und
Proteste von Bürgern für den industriellen Umweltschutz.
Das Buch schließt mit einer zusammenfassenden Bettachtung und Bewertung
der Ergebnisse und liefert einige interpretierende Thesen zur Zukunft der Konfliktpotentiale in der Bundesrepublik.
Den theoretischen Leitfaden der Analysen bilden einige Überlegungen zur
Funktion, Reichweite und Art von Konflikten in Kapitel 2, die in der Auseinandersetzung mit den Theorien und Thesen von Dahrendorf, Habermas, Luhmann und
Boudon gewonnen wurden. Sie erweitern bisherige konflikttheoretische Ansätze
um die systematische Berücksichtigung von Wertkonflikten und konzipieren ein in
der Abfolge mögliches, nicht jedoch als zwangsläufig zu interpretierendes "Stufenmodell" von Konflikten, das in dieser Weise den Aufbau und die Analysen der
Arbeit leitet.
Auf den Versuch, einen darüber hinausgehenden umfassenden theoretischen
Bezugsrahmen zu setzen, wurde bewußt verzichtet. Der empirischen Analyse geht
einleitend in jedem Kapitel ein auf die Fragestellung zugeschnittener theoretischer
Bezugsrahmen voraus, der jeweils versucht, den Zusammenhang zu den konflikttheoretischen Überlegungen in Kapitel 2 deutlich zu machen.
1.3. Verwendetes Datenmaterial
Grundlage aller Analysen sind insgesamt sieben vergleichbare, für die Bundesrepublik repräsentative Umfragen unter Umweltschützern, Managern und Unternehmern und der allgemeinen Bevölkerung. Für die Umweltschützer und Wirtschaftsführer stehen jeweils Umfragen für die Jahre 1980, 1982 und 1988 zur Verfügung.
Die Erhebungen von 1980 und 1982 gehen auf ein Projekt zum Umweltbewußtsein
in westlichen Industriegesellschaften am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) zuruck, die Umfragen von 1988 sind Eigenerhebungen des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Eine zu diesen Befragungen von Spezialpopulationen vergleichbare allgemeine Bevölkerungsumfrage
stand nur für das Jahr 1982 zur Verfügung. Auch diese Erhebung beruht auf dem
genannten Projekt des Wissenschaftszentrums. Die wesentlichen Informationen
über die Umfragen sind im Anhang dokumentiert.
2.
Gesellschaftliches Konfliktpotential und Konflikttheorie
Die einleitend angesprochene These von der Formierung einer neuen Konfliktlinie
in der Gesellschaft der Bundesrepublik verlangt nach einer konkreten Beantwortung der Frage, wer die Träger dieser Konflikte und welcher Art diese Konflikte
sind. Die "Phänomenologie" der Konflikte ist in einer kaum angebbaren Anzahl
von Publikationen weitgehend beschrieben worden!, eine konflikttheoretische, empirisch abgestützte Analyse steht jedoch noch aus. Konflikttheoretische Versatzstücke sind allerdings in einer Vielzahl von theoretischen Ansätzen und empirischen Analysen zu finden.
Es gibt Bemühungen, die KonfliktIagen auf der Folie herkömmlicher und modifizierter Verteilungskonflikte zu interpretieren. So sehen beispielsweise Cotgrove
und Duff insbesondere in den ökologischen Zielsetzungen aufgrund der sozialen
Charakteristik ihrer Trägerschaften einen Kampf der Mittelschichten um die Erhaltung ihrer relativ priviligierten "Lebenschancen"2. Ähnlich, allerdings ausgehend von der paradoxen Entwicklung von Güterproduktion und Konsumnutzen 3,
spricht Bürldin von einem" 'neuen' Klassenkonflikt"4 auf der Basis gerade nicht
von Wohlstand, "sondern als Folge nicht-berücksichtigter Interessenlagen" der
"Versorgungsklasse"; sie will den Grünen über die Wahl "die Kontrolle über die
Regierung und damit das Mandat, durch veränderte Politikprogramme, und damit
geänderte Verteilungsentscheidungen, diese Deprivation zu beseitigen", geben 5•
Die Formulierung "neuer Werte" diene dabei als Mittel ideologischer Politisierung,
um die Korrektur des Verteilungsmodus zu erzwingen - so die Interpretation Bürklins6• Deprivationstheoretisch argumentiert auch Alber, wenn er die neuen Protestpotentiale, insbesondere der Grünen, als "plebejische Intellektuelle" klassifiziert7 •
Als Ausdruck einer neuen Konfliktformation, abseits von Verteilungskonflikten,
sieht Habermas die aktuellen Protestpotentiale und den Wertewandel, wie er von
1 Siehe hierzu insbes. die Literatur zu den neuen sozialen Bewegungen.
2 Vgl. Stephen Cotgrove/Andrew Duff, Environmentalism, Class and Politics, vervielfältigtes Typoskript, University of Bath, 1979.
3 Vg1. zwn sogenannten Aaschenhalseffekt und zwn Kampf wn positionale Güter: Fred
Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1980,
zum Begriff "paradoxer Effekte" in spieltheoretischer Perspektive Raymond Boudon.
Widersprüche sozialen Handelns, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1979, S. 67ff.
4 Wilhelm Bürklin, Grüne Politik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 200.
5 Ebd. S. 205.
6 Vg1. ebd.
7 Jens Alber, Modernization, Changing Cleavage Structures, and the Rise of the Green
Party in Germany, Stein Rokkan Memorial Lecture, ECPR-Joint Sessions, Barcelona
1985.
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Ing1ehart konstatiert wirdB: "In den entwickelten Gesellscbaften des Westens haben
sich in den letzten ein bis zwei 1ahrzehnten Konflikte entwickelt, die in mehreren
Hinsichten vom sozialstaatlichen Muster des institutionalisierten Verteilungskonflikts abweichen•••• Die neuen KonfHkte entstehen vielmehr im Bereich der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der SoziaJisation; ... Kurz, die
neuen Konflikte entzÜDden sich nicht an Verteillmgsproblemen, sondern an Fragen
der Grammotilc der Lebensformen."9
Es ist das Eindringen zweckrationaler Systeme (Staat und Wirtschaft) in die
"Lebenswelten" der Individuen, wie sie sich in der Verrechtlichung sozialer Beziehungen und in der Ökonomisierung beispielsweise solcher Bereiche wie Freizeit
darstellt, das Gegenreaktionen hervorruft, die der "GrenzeIhaltung" des Systems
Lebenswelt10 dienen, mit anderen Worten: dem Schutz des Komplexes aus Kultur,
Gesellschaft und Personl1 • Derzeit sieht Habermas drei zentrale Problemlagen,
denen Widerstand entgegengesetzt wird: großindustriellen Eingriffen in ökologische Gleichgewichte und Verknappungen nicht-regenerierbarer Naturschätze
("'grÜße' Probleme"), Zerstörungspotentiale militärischer Art, Kernkraftwerke,
Atommüll, Genmanipulation und zentrale Nutzung privater Daten ("Probleme der
Überkomplexität") sowie Prozesse der einseitigen Rationalisierung der Alltagspraxis ("Überlastungen der kommunikativen Infrastruktur")12.
Zwar Jiefert Habermas damit ein theoretisches Instrument, mit dem er "den Widerstand eigensinniger kultureller Muster gegen funktionale Imperative" 13 erklären
kann, theoretisch ungeklärt aber bleibt, wann und unter welchen Bedingungen mit
"Widerstandsreaktionen" zu rechnen ist Es ist jedoch fraglich, ob eine derartige
Theorie überhaupt denkbar ist Theorien über Herrschaftskonflikte erweisen sich in
dieser Beziehung, auch wenn sie empirisch gesättigt sind, ebenfalls als wenig
hilfreich 14. Auch hier kann dieser Anspruch nicht erhoben werden. Die skizzierten
Ansätze bieten Möglichkeiten an, die neuen Spannungen im gesellschaftlich-politischen Bereich sowohl als (neue) Verteilungskonflikte als auch als Konflikte jen8 Es ist ein Phänomen, daß ttotz total differenter Theorievorstellungen Habennas sich
auf Inglehart bezieht und umgekehrt. Thome vermerkt hierzu: ''Bei kurzfristiger
Betrachtung und unter dem selektiven Einfluß zeitgenössischer Moden körmen sich ...
trotz erheblicher Unterschiede im Erklärungskonzept partiell identische Prognosen
ergeben. So kommt Habermas dazu, Inglehartsche Untersuchungsergebnisse als empirische Belege für seine Theorie zu zitieren, während Inglehart meint, Habermas
komplementiere sein eigenes Erklärungsmodell. Für längerfristige Entwicklungen ergeben sich aber unterschiedliche Prognosen. Bei Inglehart bleibt der Wertewandel gebunden an die Fortdauer des ökonomischen Wohlstandes - bei Bell oder Habermas
nicht" Helmut Thome, Wandel zu postmaterialistischen Werten?, in: Soziale Welt, Jg.
36, H. 1 (1985), S. 27-59.
9 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 576.
10 Siehe hierzu ebd. S. 348f.
11 Siehe zur Fassung des Begriffs Lebenswelt in bezug auf strukturelle und funktionale
Komponenten ebd., S. 209.
12 Ebd., S. 579ff.; zu Prozessen der Verrechtlichung s. ebd. S. 520ff.
13 Ebd., S. 346.
14 Siehe z.B. den Zweig der "empirischen Revolutionsforschung".
Gesellschaftliches KonfliJapolenlial und Konflikttheorie
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seits von Verteilungsfragen zu beurteilen. Zu klären bleibt, wie sie sich in einer
empirisch abgestützten, nicht nur punktuell formulierten Konfliktheorie verorten
lassen. Vordringlich erscheint dabei die Frage, wer die Subjekte tks Konflikts sind
und um welche Art von Konflikt es sich handelt
Diese beiden Dimensionen fmden sich in Dahrendorfs Theorie des sozialen
Konflikts wieder. Ein Rückgriff auf seinen Vorschlag bietet sich daher an und dies
auch aus einem zweiten Grund. Die Bedeutung und die Funktion, die Dahrendorf
dem sozialen Konflikt zumißt, machen seinen Ansatz für die hier angezielte Analyse so gewichtig, weil er Wantkl gegenüber Stabilität ("Annahme der Geschichtlichkeit") und Dissens gegenüber Konsens (Annahme der "Explosivität") als die
wesentlichsten Strukturelemente von Gesellschaften hervorhebt. Seine in diesem
Zusammenhang an Parsons geäußerte Kritik, unter gegenteiligen Annahmen lasse
sich eine angemessene Analyse endogenen sozialen Wandels nicht durchführen,
erscheint jedoch überzogen15, wiewohl Parsons mit dem Postulat, Funktionswidersprüche theoretisch in strukturelle Differenzierungen aufzulösen, wohl selbst einen
Beitrag zu der an ihm formulierten Kritik der Überbetonung von Gleichgewicht
und Stabilität geleistet hat 16.
Nach Dahrendorf läßt sich als Konflikt "zunächst jede Beziehung von Elementen bezeichnen, die sich durch objektive (latente') oder subjektive ('manifeste')
Gegensätzlichkeit kennzeichnen läßt.. Sozial soll ein Konflikt dann heißen, wenn
er sich aus der Struktur sozialer Einheiten ablesen läßt, also überindividuell ist."17
Klassifizierbar sind, Dahrendorfs Vorschlag zufolge, Konflikte entlang der Dimension des Umfangs der sozialen Einheiten, in denen oder zwischen denen Konflikte
stattfmden (soziale Rollen, organisierte und nicht-organisierte soziale Gruppen,
Sektoren, Gesellschaft, übergesellschaftliche Verbindungen), und entlang der Dimension des zwischen den Konfliktgegnern bestehenden Rangverhältnisses (Gleicher contra Gleicher; Übergeordneter contra Untergeordneten; Ganzes contra
Teil) 18.
Die Klassiflkation erfaßt damit eine breite Palette möglicher Konfliktarten, die
sich in einzelne Konflikttheorien gruppieren lassen: Theorien des Rollenkonflikts,
der Konkurrenz, des Klassenkampfes, der Minderheiten und des abweichenden
Verhaltens, des Proporzkampfes und der internationalen Beziehungen.
15 Siehe hierzu auch Hans Peter Henecka, Grundlaus Soziologie, Opladen:
Leske&Budrich 1985, S. 133f.
16 Luhmann stellt hierzu fest: Parsons "meinte, daß eine analytisclu! Theorie in der Lage
sein müssen, Funklionswidersprüclu! vollständig in struJctlUeUe Differenzierungen aufzulösen (so explizit in einem Gespräch arn 21.4.61). Es war wohl hauptsllchlich diese
Auffassung, die viel fehlplazierte Kritik hervorgerufen hat" Niklas Luhmann. Soziale
SystetM, Frankfurt a.M.: Suhrkarnp 1985, S. 488 Fußnote.
17 Ralf Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, München: Piper 1972, S. 23f.
18 Siehe ebd., S. 2S und Übersicht S. 27.
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Gesellschaftliches Konfli/apotenliallUld KonjliJatheork
Übersicht 2.1: Konfliktarten nach Dahrendorf
Rang der Beteiligten
Soziale
Einheit
Gleicher
contra
Gleichen
Rollen
Theorie des Rollenkonflikts
Gruppen
Konkurrenz
Übergeordneter
contra
Untergeordneten
"Klassenkampf'
Ganzes
contra
Teil
Minderheiten
Sektoren
Gesellschaft
Proporzkampf
ÜbergeseUschaftlich
Internationale Beziehungen
Konflikte sind nach Dahrendorf rational, oder besser, funktional für
Gesellschaften. Sie sind Korrekturinstrument 19. Seine Konflikttheorie setzt "die
ständige schöpferische Wirksamkeit sozialer Konflikte"20 voraus.
Luhmann teilt die Einschätzung der positiven Funktion sozialer Konflikte, nicht
jedoch Dahrendorfs Fassung des Konfliktbegriffs. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die weite Fassung der Dahrendorfschen Definition. "Eine allgemeine
Widerspruchslage, ein Interessengegensatz" , ist für ihn "noch kein Konflikt"21, wie
auf der anderen Seite der Konfliktbegriff erheblich weiter zu fassen sei: "Eine
'Konflikttheorie', die die strukturellen Veranlassungen mit in den Konfliktbegriff
aufnimmt oder gar nur 'Klassenkonflikte' oder 'Herrschaftskonflikte' als Konflikte
im eigentlichen Sinne gelten läßt, verliert dieses Phänomen der Massenhaftigkeit
und Bedeutungslosigkeit des Vorkommens aus den Augen (und bezieht dafür
Sachlagen, die noch gar nicht zu wirklichen Auseinandersetzungen führen, mit in
die Theorie ein)."22 Er schlägt also bezogen auf die Tatsache, wann ein Konflikt
19
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21
22
Vgl. die analoge Argumentation von Lulunann für soziale Bewegpngen als Mechanismus der "Selbstbeobachtung" der Gesellschaft. Nilclas Lulunann, Okologische Kommunikation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 227ff.
Ralf Dahrendorf, Konflila und Freiheit (Anm. 17), S. 31.
Lulunann, Soziale Systeme (Anrn. 16), S. 530f.
Ebd., S. 534.
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