Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus

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Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus
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Michael G. Festl, geboren 1980, ist Präsident der Schweizerischen
Philosophischen Gesellschaft und ständiger Dozent für Philosophie an der
School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen.
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Michael G. Festl
Gerechtigkeit als historischer
Experimentalismus
Gerechtigkeitstheorie nach der
pragmatistischen Wende der
Erkenntnistheorie
Konstanz University Press
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Publiziert mit Unterstützung des SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Dieses Projekt wurde durch den SNF mit einem Stipendium für angehende Forschende unterstützt.
Bei dieser Arbeit handelt es sich um den Abdruck einer von der Universität St. Gallen angenommenen
Dissertation.
Umschlagabbildung:
Barnett Newman, The Beginning, 1946
oil on canvas, 101,6 x 75,6 cm
© 2014, ProLitteris, Zurich
reproduziert mit Genehmigung des Art Institute of Chicago
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© 2015 Konstanz University Press, Konstanz
(Konstanz University Press ist ein Imprint der
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Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-86253-057-1
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Für Renate, Carola und Diana
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Inhalt
I Einleitung: Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie 9
II Prä-pragmatistische Gerechtigkeitstheorie aus
erkenntnistheoretisch informierter Perspektive 43
1 Die neoaristotelische Gerechtigkeits- und die hylemorphistische Erkenntnistheorie 45
1.1 Der Idealtypus neoaristotelischer Gerechtigkeitstheorie 45
1.2 Hylemorphistische Rekonstruktion der neoaristotelischen
Gerechtigkeitstheorie 75
1.3 Endzweckabstinenz und Kulturrelativismus 94
2 Die neokantianische Gerechtigkeits- und die
bewusstseinsphilosophische Erkenntnistheorie 105
2.1 Der Idealtypus neokantianischer Gerechtigkeitstheorie 106
2.2 Bewusstseinsphilosophische Rekonstruktion der
neokantianischen Gerechtigkeitstheorie 133
2.3 Ideale Theorie und leerer Universalismus 151
3 Die habermassche Provokation 160
III Die Erkenntnistheorie des Pragmatismus 173
1 Peirce’ acht Ersetzungen als Geburtsstunde des Pragmatismus 175
2 Sprache, Gesellschaft und Handlung 189
2.1 James’ und Deweys Psychologie als Ausarbeitung von Peirce 189
2.2 Intersubjektivität in Meads Sozialpsychologie und Tomasellos
Sprachentstehungstheorie 205
2.3 Kreative Intelligenz und die Entstehung von Werten in Joas’
handlungstheoretischer Soziologie 219
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3 Sprache, Wahrheit und Welt 239
3.1 Die Überwindung des logischen Empirismus als Rückkehr zu Peirce 240
3.2 Sellars’ Philosophie als legitime Weiterführung der peirceschen
Ersetzungen 256
3.2.1 Sellars’ empirisch regulierter Common Sensismus 257 / 3.2.2 Rortys ironische
Neubeschreiber 276 / 3.2.3 Apels Transzendentalpragmatismus 284
3.3 Davidsons Konzept Radikaler Interpretation 295
4 Das kreierte gerechtigkeitstheoretische Milieu 305
IV Pioniere der pragmatistischen Gerechtigkeitstheorie 309
1 Sens pragmatistische ›Idee der Gerechtigkeit‹ 309
2 Hegels Beitrag zur pragmatistischen Gerechtigkeitstheorie 325
2.1 Hegels Philosophie des objektiven Geistes 326
2.2 Hegels historische Vorgehensweise als pragmatistische
Pionierleistung 342
2.3 Weitere pragmatistische Pionierleistungen Hegels 351
3 Honneths ›Gerechtigkeit als Gesellschaftsanalyse‹ 356
V ›Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus‹
im Grundriss 377
1
2
3
4
5
Kreative Demokratie als Problemfinder 380
Historischer Experimentalismus als Lösungsexplorator 402
Instrumentalistische Bereichsethik als Realisator 424
Progressiv-versöhnliche Erinnerungskultur als Anpassungshelfer 443
Rolle des Diskurses und Ausblick 469
Dank 475
Bibliographie 477
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I Einleitung: Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie
Das Erscheinen von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit im Jahr 1971 hat nicht
nur die Disziplin Gerechtigkeitstheorie in ihrer heutigen Form lanciert, sondern
auch für einen wahren »Gründerzeitboom« in Sachen gerechtigkeitstheoretische
Ansätze gesorgt, ein Boom, der insbesondere von einer Renaissance aristotelischer
und kantianischer Baustile geprägt wurde. Wie jeder Boom ebbte freilich auch
dieser mit der Zeit ab. An seine Stelle trat in den folgenden Dekaden der Konsens,
das Land der Gerechtigkeitstheorie sei ausreichend bebaut und es müsse nun
darum gehen, die auf dem Land stehenden Gebäude so weiterzuentwickeln, dass
sie dem Umgang mit faktischen Problemen mit normativer Dimension eine wirtlichere Heimat bieten. Doch just dieser Konsens wurde in den letzten Jahren durch
Amartya Sens und Axel Honneths gerechtigkeitstheoretische Entwürfe seinerseits
wieder aufgekündigt. Hier setzt die vorliegende Arbeit ein. Sie möchte zum einen
aufzeigen, dass es für selbige Kündigung gute Gründe gibt und zum anderen selbst
mit einem gerechtigkeitstheoretischen Ansatz aufwarten, der sich Sens und Honneths Stil verschreibt, ein Stil, der, wie sich zeigen wird, als pragmatistisch bezeichnet werden kann. Beiden Anliegen liegt die hier zu authentifizierende Entdeckung
zugrunde, dass die Disziplin Gerechtigkeitstheorie auf methodischer Ebene durch
Entwicklungen in der Disziplin Erkenntnistheorie beeinflusst wird; erstere bezieht
von letzterer ihre grundlegenden architektonischen Anregungen, so müsste gesagt
werden, um der in diesem Absatz verwendeten Metapher treu zu bleiben.
Die Berechtigung für den Bau neuer gerechtigkeitstheoretischer Gebäude ergibt
sich daraus, dass es den beiden vorherrschenden Paradigmen der Disziplin Gerechtigkeitstheorie – dem neoaristotelischen und dem neokantianischen, um die herum
sich noch einige Vermittlungsversuche gruppieren – bis dato trotz mannigfaltiger
Versuche nicht gelungen ist, die zentrale theoretische Herausforderung der Disziplin
zu meistern, nämlich, einen auch perfide Praktiken als kulturelle Eigenheit akzeptierenden Relativismus so weit auszuschließen, wie auf Basis des gegenwärtigen Standes der Disziplin realistischerweise erwartet werden kann und gleichzeitig nicht in
leeren Universalismus zu verfallen, also in einen Universalismus, der zum Preis der
Aufgabe inhaltlich relevanter Aussagen zur Erhöhung von Gerechtigkeit in der Welt
kommt. Relativismus und leerer Universalismus stellen Skylla und Charybdis der
Disziplin Gerechtigkeitstheorie dar – Relativismus können wir nicht ernst nehmen,
leerer Universalismus hilft uns nicht weiter. Dabei gelingt es der neoaristotelischen
Seite – als deren Vertreter u. a. Martha Nussbaum, Alasdair MacIntyre und David
Miller gelten können – zwar, klare und informative Urteile zur Erhöhung von
Gerechtigkeit in der Welt zu liefern, sie ist dabei aber nach wie vor nicht in der Lage,
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den gegen sie erhobenen Vorwurf zu entkräften, nicht ausreichend gegen die Relativismusproblematik, primär Kulturrelativismus, gewappnet zu sein. Hingegen kann
die neokantianische Seite – für die u. a. John Rawls und Ronald Dworkin stehen,
aber, weil es im Folgenden allein um die gerechtigkeitstheoretische Methodik geht,
auch Robert Nozick – zwar für sich beanspruchen, den Benchmark in Sachen
Umgang mit der Relativismusproblematik darzustellen, sie muss sich aber weiterhin
den Tadel gefallen lassen, keine relevanten Aussagen zur tatsächlichen Erhöhung
von Gerechtigkeit in der Welt zu generieren. Auf Basis der Entdeckung der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie – dem Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit – kann gezeigt werden, dass es beiden Paradigmen
deshalb so schwer fällt, zwischen Skylla und Charybdis der Gerechtigkeitstheorie
hindurchzusegeln, weil sie ihre jeweilige Unzulänglichkeit der Methodik derjenigen
Erkenntnistheorie verdanken, die ihnen, bisher weitgehend unbemerkt, jeweils als
Muster des Theoriebaus zugrunde liegt. Dies verdeutlicht, dass der jeweilige Mangel
auf die basalste Ebene, nämlich auf das Fundament der Theorie, zurückzuführen ist
– mit einem bloßen Umbau der beiden Paradigmen dürfte es daher nicht getan sein.
Die Entdeckung der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie macht zudem deutlich, warum hier von einer Weiterentwicklung der
Ansätze Sens und Honneths gesprochen wird. Erst der Blick auf die Erkenntnistheorie und die dort vollzogene pragmatistische Wende1 offenbart das ganze Ausmaß
der Ähnlichkeiten zwischen Sens und Honneths Arbeiten zur Gerechtigkeit. Um
eine Gerechtigkeitstheorie hervorzubringen, die sowohl das Problem neoaristotelischer als auch das neokantianischer Ansätze überwindet, greifen beide, ohne sich
dies vollends bewusst zu machen, auf einen Theoriebaustil zurück, dessen Elemente
in der pragmatistischen Erkenntnistheorie entwickelt wurden: Ihr jeweiliger Ansatz
nimmt, wie ich es nennen und ausführen werde, ein diskursives Verhältnis zur Welt
ein, verpflichtet sich einer handlungsfokussiert-historischen Vorgehensweise und
wartet mit einem problembasierten Instrument zur Beurteilung möglicher und
faktischer Eingriffe in die Welt auf. Diese zentralen Charakteristika der (krypto-)
pragmatistischen Gerechtigkeitstheorien Sens und Honneths sollen in der vorliegenden Arbeit durch einen expliziten Anschluss an die methodischen Ressourcen
vorangetrieben werden, die sich in der pragmatistischen Erkenntnistheorie finden.
Aus der Weiterentwicklung Sens und Honneths resultiert ein Ansatz, der als
»Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus« bezeichnet werden kann. Selbi 1
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Die Rede von der pragmatistischen Wende erfolgt in Anschluss an Bernstein (2010), dessen Aufsatzsammlung den Titel The Pragmatic Turn trägt. Das m.W. erste Werk, das das Schlagwort ›The
Pragmatic Turn‹ verwendet, stammt von Egginton und Sandbothe (2004). Um die im Deutschen
beim Wort pragmatisch auftretende Assoziation mit einem gewissen, oftmals als theoriefeindlich
empfundenen Denkstil abzuschwächen, werde ich durchgehend von ›pragmatistisch‹ statt von
›pragmatisch‹ sprechen, wenn der entsprechende philosophische Ansatz gemeint ist. Im Deutschen
sind zur Bezeichnung dieses Ansatzes beide Adjektive in Umlauf.
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ger Ansatz, welcher im vorliegenden Rahmen lediglich umrissen werden kann, verpflichtet sich der Auffassung, dass die Welt immer dann nicht nur interpretiert,
sondern auch verändert werden muss, wenn es gelingt, eine normative Unzulänglichkeit oder gar einen normativen Defekt in ihr zu identifizieren. Dabei stellt der
Ansatz den Gedanken in den Mittelpunkt, dass gemachte Erfahrungen die beste
dem Menschen zur Verfügung stehende Quelle für den Umgang mit solchen Unzulänglichkeiten darstellen, insofern vergangene Ereignisse als explorative Experimente
in Sachen Gerechtigkeit betrachtet werden können, deren Ergebnisse zur Lösung
heute vorliegender normativer Probleme fruchtbar zu machen sind. Dieser Gedanke
erlangt seine Überzeugungskraft nicht zuletzt dadurch, dass er sich am faktischen
Verlauf der Geschichte vielfach bestätigt. So kann bspw. der Staat als vielleicht zentrales Explanandum der politischen Philosophie mitsamt der Fortschritte, die sich in
Bezug auf dessen normative Funktionsweise im Laufe der Zeit einstellten, als Ergebnis eines experimentell ablaufenden und sich jeweils an gegebenen Problemen orientierenden Prozesses verstanden werden; man beachte hierzu nur Reinhards Darlegung der historischen Entwicklung der westlichen Verfassungsstaaten (1999).
Die Beantwortung der Frage, wie gemachte Erfahrungen konkret zum erfolgreichen Umgang mit vorliegenden normativen Problemen herangezogen werden können, gibt den Inhalt der hier in nuce vorzulegenden Theorie von Gerechtigkeit als
historischer Experimentalismus ab. Dabei ist in Einklang mit der zentralen Herausforderung der Disziplin Gerechtigkeitstheorie zu plausibilisieren, dass diese Theorie bei Erreichen einer gewissen Reife durchaus in der Lage sein könnte, mit der
Relativismusproblematik besser als oder mindestens genauso gut fertig zu werden
wie die mit ihr konkurrierenden Ansätze und dennoch anwendungsrelevante
Urteile zur Verbesserung der Welt in Sachen Gerechtigkeit hervorzubringen. In
Bezug auf die genannten Ziele – Ziele, die sich jeder Ansatz der Gerechtigkeitstheorie qua Zugehörigkeit zu dieser wissenschaftlichen Disziplin automatisch aufbürdet – ist dabei zu beachten, dass selbige realistisch zu formulieren sind. Besonders
für die Vermeidung von Relativismus gilt, dass von Maximalforderungen an die
Disziplin abzusehen ist. Stattdessen muss das Augenmerk darauf gerichtet sein,
welche Ansprüche an die Gerechtigkeitstheorie hierbei vernünftigerweise gestellt
werden können – man wird ja auch von der Geschichtswissenschaft nicht erwarten, dass sie bis ins Detail die intentionale Struktur der Akteure offenlegt, die wichtige historische Ereignisse maßgeblich beeinflusst haben, oder von der Evolutionsbiologie verlangen, dass sie jedes einzelne Grad der Mutation nachvollzieht, an
dessen vorläufigem Ende das menschliche Auge steht. Das darf im Umkehrschluss
freilich nicht bedeuten, dass Theoretiker die Bemühungen einstellen, die Grenzen
des in einer Disziplin für möglich Gehaltenen nach außen zu schieben. Insbesondere bei der Beurteilung eines neuen Ansatzes folgt daraus allerdings, dass er am
Standard der Disziplin und nicht an vielleicht vorstellbaren, aber bisher nicht einmal annähernd erreichten Zielen gemessen wird. Für den hier zu umreißenden
Ansatz ergibt sich somit die Notwendigkeit des Nachweises, in Sachen Relativis-
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musproblematik und Relevanz für Anwendungsfragen zumindest nicht hinter den
in der Disziplin bereits erreichten Stand zurückzufallen.
Dabei wird sich zeigen, dass die Philosophie John Deweys den entscheidenden
Impulsgeber für das hier verfolgte Projekt der primär mit den Mitteln der pragmatistischen Erkenntnistheorie durchgeführten Weiterentwicklung der Ansätze Sens
und Honneths abgibt. Deshalb wäre es in Bezug auf Gerechtigkeit als historischer
Experimentalismus wohl gerechtfertigt, nicht nur von einem pragmatistischen
Ansatz der Gerechtigkeitstheorie zu sprechen, sondern, konkreter, von einem neodeweyanischen, in jedem Fall aber von einem von der Philosophie Deweys inspiriertem. Diese Verwandtschaft kann nicht überraschen, wird bedacht, dass Dewey
als einer der Mitbegründer des Pragmatismus sowohl bedeutende Beiträge zur
Erkenntnistheorie als auch zur politischen Philosophie verfasst hat.
Selbstverständlich sind all die bis hierher aufgestellten Behauptungen in der vorliegenden Arbeit zu belegen, wobei bereits die Einleitung den Anfang markiert. In
ihr wird, nach einigen Präliminarien, expliziert, wieso die These der angeblichen
Entdeckung der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie
überhaupt plausibel ist und wie selbige Entdeckung genau zu verstehen ist und –
ebenso wichtig – wie sie nicht zu verstehen ist. Darauf basierend hat die Einleitung
zur Entlastung der kommenden Teile der Arbeit sowohl eine Kategorisierung der
Disziplin Gerechtigkeitstheorie mitsamt einer Kurzcharakterisierung der identifizierten gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen vorzulegen als auch einen ersten
Überblick über die drei Paradigmen innerhalb der Erkenntnistheorie zu liefern,
welche den jeweiligen Gerechtigkeitstheorien gemäß hier vorgestellter Entdeckung
jeweils zugrunde liegen.
Nun zu den Präliminarien. Indem der hier vorgestellte Ansatz als Gerechtigkeitstheorie bezeichnet wird, bezieht er nolens volens Stellung in der Debatte, welcher
Begriff grundlegend für die politische Philosophie sein soll. Seit Rawls’ Generalangriff auf den Utilitarismus ist diese Debatte primär um die Frage zentriert, ob wie
im Utilitarismus ein Konzept des Guten grundlegend für das Gerechte sein sollte
oder ob in kantianischer Tradition genau umgekehrt ein Konzept des Gerechten
das Gute zu fundieren hat, etwa gemäß des rawlsschen Mottos »the just draws the
limit, the good shows the point« (2001: 141).2 (Der eben erwähnten Diskussion
2
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Die Diskussion auf diese Weise zu führen, stellt eigentlich schon eine Verengung der Thematik dar,
insofern dabei ein dritter Wettbewerber, der ebenfalls Ansprüche erheben kann, grundlegend für
die anderen Konzepte der praktischen Philosophie zu sein, übergangen wird. Dieser neben dem
Guten und dem Gerechten dritte Bewerber ist das Gebilligte (the approbated). Das Gebilligte
kann, so die Verfechter dieser Position, als grundlegend für die politische Philosophie angesehen
werden, weil es einem Urteil entspringt, das direkt – sprich, ohne eine zwischen das Subjekt, das
eine Handlung beurteilt, und die zu beurteilende Handlung tretende Reflexion – aus dem
moralischen Gefühl (moral sentiment) kommt. Diese Position, vertreten v. a. im britischen
Sentimentalismus, nimmt an, dass das Konzept des Guten lediglich von dem abgeleitet ist, was in
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bei Rawls folgend soll das Gute in den nun folgenden Ausführungen im Sinne der
Vermeidung von Unlust und Gewinnung von Lust verstanden werden und nicht
etwa im Sinne allgemeiner Glückseligkeit.) Aus der hier vertretenen gerechtigkeitstheoretischen Vorgehensweise wird sich ergeben, dass diese Fragestellung Ausdruck
eines suboptimalen Unternehmens ist, weil einer solchen Fundierung – egal in
welche Richtung sie verlaufen mag – generell eine Absage erteilt werden sollte. Da
der hier vorzulegende Ansatz nicht um die Explikation einer perfekt gerechten
Welt bemüht ist, sondern die Frage stellt, wie eine Theorie vorzugehen hat, um
mögliche oder faktische Veränderungen der Welt aus gerechtigkeitstheoretischer
Perspektive zu bewerten, würde jegliche Art von einmaliger Relationsfestsetzung –
egal ob gut vor gerecht oder gerecht vor gut – per se eine potentiell schädliche
Selbstbegrenzung darstellen. Gemäß des hier vertretenen Ansatzes muss sich eine
solche Relationserstellung stattdessen an dem jeweils behandelten gerechtigkeitstheoretischen Handlungsproblem orientieren und deshalb je nach Situation eine
andere Form annehmen können, anstatt als vorgefertigtes Schema an die Welt herangetragen zu werden. Ich nehme folglich an, dass bei möglichen Konflikten zwischen dem Guten und dem Gerechten mal dem einen, mal dem anderen der Vorzug einzuräumen ist, anstatt einem der beiden kategorisch Vorfahrt zu gewähren,
geschweige denn, eines aus dem anderen ableiten zu wollen.
Dass der hier zu explizierende Ansatz als Ansatz der Gerechtigkeitstheorie
bezeichnet wird, ist dennoch weder willkürlich, noch einem etwaigen Bestreben
geschuldet, mit dem gegenwärtig stärksten Strom der praktischen Philosophie zu
schwimmen. Vielmehr entspringt diese Entscheidung der Vermutung, dass Urteile
über das Gerechte in höherem Maße politisch handlungsrelevant sind als Urteile
über das Gute. Nein! Im Gegenteil! Erst kommt die Moral, dann das Fressen, müsste
Bertolt Brecht also entgegengehalten werden.3 In Pattersons Werk zur Geschichte
der USA der Jahre 1945 bis 1974 scheint es zunächst, als würde das brechtsche
Diktum, und damit die gegenteilige Behauptung der hier hochgehaltenen, Bestätigung erfahren. Dort wird die These entfaltet, die massiven gesellschaftlichen Umwälzungen in den USA dieser Zeit – von der Bürgerrechtsbewegung über den Feminisunmittelbaren moralischen Urteilen gebilligt wird und, dass das Konzept des Gerechten lediglich
daraus resultiert, inwieweit gewisse Handlungen in Bezug auf deren Billigung für belohnens- oder
bestrafenswert erachtet werden. Zwar beachtet Rawls die Sentimentalisten, wenn er das Verhältnis
zwischen dem Gerechten und dem Guten behandelt – er rekurriert auf Adam Smiths impartial
spectator –, allerdings verkennt er deren eigentlichen Punkt, wenn er sie unter die Utilitaristen
subsumiert (vgl. Rawls 1971/1999: 24). Inwiefern Rawls’ Smith-Lesart verkürzt ist, erläutert Sen
genauer (2009: 137).
3
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, so Mackie Messer in Brechts Dreigroschenoper
(1928/1968: 69). Grundsätzlich drückt Brecht damit die natürlich nur schwer zu bezweifelnde
Auffassung aus, dass gewisse Mindeststandards an ökonomischem Auskommen gesichert sein müssen, um ein moralisches Leben führen zu können. Darüber hinaus hat dieses Diktum aber ein Eigenleben entwickelt, das dem Menschen mehr Egoismus attestiert, als die Erfahrung lehrt.
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mus bis zum Anspruch, Demokratie weltweit durchzusetzen – seien Ergebnis eines
neu entstandenen Bewusstseins für Rechte (»rights-consciousness«), welches erst im
Windschatten der deutlichen ökonomischen Verbesserungen dieser Zeit habe gedeihen können (1996: speziell vii und Kap. 19). Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass
bereits Pattersons These über Brecht hinausweist. Eindrucksvoll weist der amerikanische Historiker nämlich darauf hin, dass Menschen von einem Gefühl der Unvollständigkeit beschlichen werden, sobald ihr ökonomisches Auskommen gesichert ist,
weshalb Zeiten wirtschaftlichen Wohlstandes für gewöhnlich Zeiten sind, in denen
erhöhte Ansprüche an die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Zustände ausgebildet
werden, woraus sich in der Regel wiederum eine erhöhte Unzufriedenheit mit den
herrschenden Zuständen einhergehend mit dem Willen ihrer Veränderung ergibt.4
Sobald das Fressen gesichert ist, wird die Moral gemäß Brechts Diktum zur Option,
laut Pattersons Bericht wird sie in diesem Moment dagegen automatisch zum
Bedürfnis. Verbesserungen in Bezug auf das gute Leben können Menschen, so die
Moral von Pattersons Geschichte, nicht befriedigen, wenn sie nicht unmittelbar von
Verbesserungen in Sachen Gerechtigkeit gefolgt sind.
Darüber hinaus sind Menschen aber sogar bereit, sich für das gerechte Leben
einzusetzen, selbst wenn sie erwarten, sich dadurch Nachteile in Bezug auf das gute
Leben einzuhandeln. In einer mittlerweile klassischen Studie belegen Fogel und
Engerman anhand umfangreichen Datenmaterials, dass das Realeinkommen von
Sklaven in den US-amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts dem Realeinkommen freier Agrararbeiter in nichts nachstand, ja Sklaven sogar eine bessere
Nahrungsmittelversorgung genossen als der amerikanische Durchschnittsbürger
(1974: 112f.). Bei der Lebenserwartung als dem wohl aussagekräftigsten Parameter
zur Wohlstandsmessung hätten die Sklaven gar deutlich besser abgeschnitten als
freie Industriearbeiter in amerikanischen und europäischen Großstädten und sich
auf einem Niveau mit der Gesamtbevölkerung von den zur damaligen Zeit mit am
weitest fortgeschrittenen Ländern Frankreich und Holland befunden (ebd.: 126).
Obwohl die Sklaven der Südstaaten also davon ausgehen mussten, dass sich ihre
ökonomische Situation bei Abschaffung der Sklaverei verschlechtert – was dann
auch geschah (ebd.: 260) –, setzten sie sich dennoch auf breiter Front für diese
Abschaffung ein. Wie die beiden Historiker des Weiteren berichten, war die überwältigende Mehrheit der ehemaligen Sklaven nach Abschaffung der Sklaverei nicht
mehr bereit, als freie Arbeiter in ihre alten, als ungerecht und entwürdigend empfundenen Arbeitsverhältnisse und den damit einhergehenden Arbeitsbedingungen,
dem sogenannten »gang labor«, zurückzukehren, obwohl sie mitunter durch Verdoppelung des Lohns dazu motiviert werden sollten (ebd.: 237f.).
4
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Das Paradox, dass Menschen umso mehr Gerechtigkeit fordern, je gerechter ein Zustand bereits
ist, wird von Dubet dokumentiert und neben Zielkonflikten innerhalb dem, was unter Gerechtigkeit verstanden wird, auch damit erklärt, dass mit der Erhöhung der Gerechtigkeit eines Zustandes
immer mehr noch unverwirklichte Gerechtigkeitspotentiale ans Licht kommen (2006/2008).
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Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie 15
Diese Studie stellt lediglich einen Vorläufer einer Fülle an Literatur aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen dar, die in den letzten Jahren ans
Licht gebracht hat, dass sich Menschen nur unter ganz bestimmten, eng umgrenzten Umständen wie Eigennutzmaximierer verhalten. Sogar in den Wirtschaftswissenschaften kann unter dem Einfluss der Verhaltensökonomik mittlerweile von
einer altruistischen Wende im Menschenbild gesprochen werden.5 Ab einer gewissen Fressschwelle dreht sich das in Brechts Diktum beschworene Verhältnis zwischen Moral und Fressen also um.
Nachdem das gerechte Leben in Bezug auf seine Bedeutung für die Motivation
zu Handlungen bisher mindestens ein Unentschieden gegenüber dem guten Leben
erzwingen konnte, ist noch auf einen Punkt hinzuweisen, der zeigt, warum mit Fug
und Recht davon ausgegangen werden kann, dass das Gerechte alles in allem handlungsrelevanter ist als das Gute. Dies ist der Fall, weil die Errichtung einer gerechten Welt in höherem Maße in Menschenhand liegt als die Errichtung einer guten
Welt. Zwar kann Menschenhand weder ein vollends gutes noch ein vollends
gerechtes Leben garantieren. Dies, zum einen weil es Situationen gibt, in denen
sich verschiedene Prinzipien des Guten widersprechen, ebenso wie solche, in denen
verschiedene Prinzipien des Gerechten miteinander konfligieren, womit in beiden
Sphären trade-offs unvermeidlich sind und zum anderen weil Handlungen nicht
verlässlich die mit ihnen intendierten Ergebnisse generieren. In Bezug auf die Einrichtung eines guten Lebens kommt jedoch noch ein Hinderungsgrund der Machbarkeit hinzu, der auf die Einrichtung eines gerechten Lebens nicht zutrifft. Wie
nach Naturkatastrophen mitunter besonders deutlich vor Augen tritt, können
unkontrollierbare Ereignisse erheblichen Einfluss auf die Möglichkeit eines guten
Lebens haben, wohingegen sie die Möglichkeit eines gerechten Lebens in keiner
Weise einschränken. Auch unter den widrigsten natürlichen Umständen, Umstände,
die ein gutes Leben verunmöglichen, kann einem wie auch immer verstandenen
Konzept von Gerechtigkeit Rechnung getragen werden.6 So können Menschen in
einer durch Missernten ausgelösten Hungersnot wenig tun, um sich ein gutes Auskommen zu sichern, doch diese für das gute Leben widrigen Umstände hindern sie
in keiner Weise daran, eine gerechte Welt zu erschaffen – bspw. indem die wenigen
vorhandenen Nahrungsmittel gerecht verteilt werden, was immer das in der konkreten Situation konkret bedeuten mag. Die Einrichtung eines gerechten Lebens
Hierfür sei lediglich auf ein Experiment zum Nachweis, dass Menschen keineswegs nur aus egoistischen Motiven handeln sowie auf einen begrifflichen Überblicksartikel hingewiesen – Fischbacher, Fong und Fehr (2009) für ersteres, Schefczyk und Peacock (2010) für letzteres. Für eine
Untersuchung der Bedeutung der Experimente von Fischbacher, Fong und Fehr für die Wirtschaftsethik vgl. Festl und Festl-Pell (2012).
6
Viele Dystopien, sogar effekthascherische wie die Filme Mad Max (George Miller, 1980) und
Waterworld (Kevin Reynolds und Kevin Costner, 1995), führen gerade diesen Punkt vor Augen,
insofern sie Szenarien entwerfen, in denen die Hoffnung auf ein gutes Leben so gut wie verloren
ist, der Held aber dennoch nicht weniger um Gerechtigkeit zu kämpfen hat.
5
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liegt daher in vergleichsweise hohem Maße in des Menschen Hand, wohingegen
der Mensch in Bezug auf das gute Leben oftmals eher Dulder als Handelnder ist.
Aus der höheren Handlungsrelevanz des Gerechten im Vergleich zum Guten
ergibt sich, dass die vorliegende Arbeit unter der Überschrift Gerechtigkeitstheorie
firmiert, was allerdings nicht bedeutet, dass sie sich nicht auch mit Fragen über das
Gute beschäftigen müsste. Wie gesagt, aus der Einreihung in die philosophische
Disziplin der Gerechtigkeitstheorie soll nicht folgen, dass der zu entwickelnde
Ansatz Urteilen über das Gerechte per se einen Vorrang gegenüber Urteilen über das
Gute einräumen muss, oder dass er gar das Gute aus dem Gerechten abzuleiten hat.
Gleichzeitig wird die breite Rede von Gerechtigkeitstheorie beibehalten, anstatt
etwa eine Einschränkung auf ›soziale Gerechtigkeit‹ vorzunehmen. Die Konzentration auf soziale Gerechtigkeit legt m. E. zu sehr die Auffassung nahe, in Bezug auf
Gerechtigkeit gebe es einen grundlegenden Unterschied zwischen Individuum und
Gesellschaft, wobei das Prädikat ›sozial‹ dann oftmals als Abgrenzung zum Prädikat
›individuell‹ dient. Nicht zufällig explizieren Theoretiker sozialer Gerechtigkeit ihr
Konzept oftmals als Gegenprogramm zu Theorien, die um individuelle Freiheit
besorgt sind – David Miller kann hierbei als Beispiel fungieren (vgl. 1999: ix). Eine
solche Abgrenzung ist aus der hier vertretenen pragmatistischen Sichtweise schon
allein deshalb nicht denkbar, weil der Unterscheidung Individuum-Gesellschaft in
der politischen Philosophie des Pragmatismus nicht zuletzt aufgrund des in der
vorliegenden Abhandlung bereits Spuren hinterlassen habenden pragmatistischen
Menschenbildes (Stichwort: Moral-Fressen-Relation) keine zentrale Rolle zugesprochen wird.7 Zudem scheinen Konzepte von sozialer Gerechtigkeit auf die Existenz verschiedener, deutlich und dauerhaft voneinander abgrenzbarer Gesellschaften angewiesen zu sein, auf welche die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit angewendet werden können – auch hier kann Miller als Beispiel dienen, wenn er bezüglich
seines Ansatzes feststellt: »[W]e have to assume a bounded society with a determinate membership« (ebd.: 4). Dies dürfte unter den Umständen einer globalisierten
und sich stark im Fluss befindlichen Welt eine nicht gerade zielführende Vereinfachung sein.8
Schlussendlich sei in Sachen Begriffsklärung noch angemerkt, dass die Rede von
Gerechtigkeitstheorie impliziert, dass es in der vorliegenden Arbeit nicht darum
geht, konkret zu sagen, was gerecht ist, sondern vielmehr um die Explikation einer
Methodik, mit der diese Frage beantwortet werden kann, wobei die Wahl der
Methodik gemäß einer der zentralen Auffassungen des hier vorzulegenden Ansatzes
Epochemachend ist hier Deweys The Public and Its Problems (LW 2), wo Dewey sein Verständnis
der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich als für die politische Philosophie fundamentaler ausweist als die zwischen Individuum und Gesellschaft.
8
Starke Argumente gegen die Annahme fest umgrenzter Gesellschaften, auch wenn ihr lediglich
methodischer Status zukommt, liefern Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft (1998: 145–171)
und Appiah (2006).
7
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Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie 17
nicht unbeeinflusst lässt, welchen inhaltlichen Claims man sich in Sachen Gerechtigkeit verpflichtet. Zugleich bringt der Terminus ›Theorie‹ des verwendeten Kompositums zum Ausdruck, dass sich die hier vorgenommene Untersuchung eine
wissenschaftliche Behandlung der Frage nach dem Gerechten auf die Fahne
geschrieben hat. Sie ordnet sich damit in ein Projekt ein, dessen Bedeutung wohl
von keinem Denker in höherem Maße propagiert wurde als von Immanuel Kant,
weshalb sie sich dem Erbe dieses Denkers verpflichtet fühlt. Daher entbehrt es
nicht einer gewissen Ironie, wenn sich die vorliegende Arbeit insofern in Konkurrenz zu Kant begibt, als sie zur Installation eines gegenüber dem Neokantianismus
alternativen gerechtigkeitstheoretischen Paradigmas beitragen möchte.
Die im Prinzip gleiche Ironie ergibt sich in Bezug auf Richard Rorty, dem die
hier vorgenommene Argumentation u. a. dafür zu Dank verpflichtet ist, dass er
zusammen mit Richard Bernstein wohl der Denker ist, der am meisten dazu beigetragen hat, die Philosophie des Pragmatismus und insbesondere die Philosophie
Deweys wieder salonfähig zu machen. Jedoch steht die hier vertretene Lesart von
Deweys Philosophie der Lesart Rortys an vielen Stellen diametral entgegen.9 Rortys
Dewey-Auslegung ist für den hier zu explizierenden Ansatz sogar überaus problematisch, wirft sie Dewey doch in einen Topf mit dem Relativismus der Postmoderne, dem Fatalismus Martin Heideggers und einem rein nutzenorientierten
Wahrheitsbegriff, der angeblich für William James charakteristisch sein soll. Damit
hat Rorty jedem Projekt der Anknüpfung an Deweys Philosophie einen Bärendienst erwiesen. Als ob dies allein nicht schon schwerwiegend genug wäre, verbindet sich dies im deutschsprachigen Raum noch mit der verheerenden Rezeptionsgeschichte des amerikanischen Pragmatismus im Allgemeinen und Deweys praktischer Philosophie im Besonderen.10 In diesem Wirrwarr verliert sich sogar ein Bote
und Verfechter des Pragmatismus wie Karl-Otto Apel und repetiert die wildesten
Vorurteile, sobald es um Deweys praktische Philosophie geht. Beinahe schon im
Jargon Horkheimers wirft er selbige in einen Topf mit den schlechtesten Aspekten
des logischen Empirismus und unterstellt Dewey, Moral zur »Privatsache« erklären
zu wollen (vgl. Apel 1990: 90).11
Dem sollen tentativ folgende Sätze Deweys entgegengehalten werden, die
U. a. verdammt Rorty einige der hier aufgenommenen Aspekte der Philosophie Deweys als
schlechte Metaphysik (vgl. insbesondere Rorty RR: 71–83).
10
Zur Rezeptionsgeschichte des Pragmatismus in Deutschland vgl. Joas (1992: 114–145).
11
Horkheimers Verriss des Pragmatismus (1947/2007) resultiert just daraus, den Pragmatismus und
den in moralphilosophischer Hinsicht relativistischen Strang des logischen Empirismus in einen
Topf zu werfen. Allerdings wäre es zu simpel, Horkheimers eben zitierte Arbeit zum Pragmatismus
als vollkommen verfehlt abzutun. Im Kontext ihrer Zeit und aus den Informationen, die Horkheimer offenbar zur Verfügung standen, wird sie halbwegs nachvollziehbar, eine Entschuldigung, die
für Apel nicht gelten kann. Über die komplexen Verflechtungen ebenso wie über die verpassten
Chancen zur Zusammenarbeit zwischen Frankfurter Schule, Pragmatismus und logischem Empirismus informiert Dahms (1994).
9
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18 Einleitung
zugleich als Credo der hier vorgelegten Gerechtigkeitstheorie gelten können: »[Phil­
osophic discourse] has no call to create a world of ›reality‹ de novo, nor to delve into
secrets of Being hidden from common sense and science. It has no stock of information or body of knowledge peculiarly its own; […]. Its business is to accept and
to utilize for a purpose the best available knowledge of its time and place. And this
purpose is criticism of beliefs, institutions, customs, policies with respect to their
bearing upon good. This does not mean their bearing upon the good, as something
itself attained and formulated in philosophy. For as philosophy has no private store
of knowledge or of methods for attaining truth, so it has no private access to good.
As it accepts knowledge of facts and principles from those competent in inquiry
and discovery, so it accepts the goods that are diffused in human experience. It has
no Mosaic nor Pauline authority of revelation entrusted to it. But it has the author­
ity of intelligence, of criticism of these common and natural goods« (LW 1: 305).
Philosophie kann gemäß Dewey keine endgültigen Wahrheiten in Bezug auf
konkrete Werte (»goods«) liefern, doch ebenso würde Dewey leugnen, dass die
Frage nach der Gerechtigkeit einen wissenschaftlichen Zugang ausschließt, erst
recht würde er verneinen, dass Moralphilosophie lediglich Narrative zu bieten hat,
wie Apel das vermutet und Rorty das gerne hätte. Im Gegenteil, für Dewey existiert
nicht mal ein fundamentaler Unterschied zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Vorgehensweise und selbst in Sachen Wissenschaftlichkeit sind die Unterschiede zwischen beiden wissenschaftlichen Bereichen seiner Auffassung nach allenfalls von gradueller Natur.12 Diese kurze Verteidigung muss fürs erste genügen, auch
wenn es noch deutlich mehr brauchen wird, um die v. a. im deutschsprachigen
Raum verbreitete Skepsis gegen Deweys praktische Philosophie zu exorzieren.13 Um
trotz dieser erschwerten Bedingungen eine durch Dewey inspirierte Gerechtigkeitstheorie zu profilieren, mag es gelegen kommen, dass der vorliegenden Arbeit die
Entdeckung zugrunde liegt, dass sich die entscheidenden Anregungen zum Bau
gerechtigkeitstheoretischer Ansätze in der Erkenntnistheorie finden. Dies führt zu
einem Vorgehen, das weit genug ausholt, um die gegen Deweys praktische Philosophie vorherrschenden Vorurteile links liegen lassen zu können.
Dass eine gerechtigkeitstheoretische Arbeit bei der Erkenntnistheorie ansetzt, ist
freilich nicht selbstverständlich. Dies ist der Grund, warum der Einleitung u. a. die
Aufgabe zukommt, die angebliche Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die
Auch Ernst (2008) argumentiert, dass es in Sachen Wissenschaftlichkeit keinen fundamentalen
Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft gibt und führt die in der Philosophie anzutreffende Ubiquität der gegenteiligen Auffassung darauf zurück, dass Philosophen dazu neigen,
den Naturwissenschaften eine wissenschaftliche Strenge und Reinheit zu unterstellen, die diese
überhaupt nicht einzulösen imstande sind.
13
Glücklicherweise hat im deutschsprachigen Raum v. a. Hans Joas bereits ein großes Stück auf dem
Weg zu einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie Deweys zurückgelegt (insbesondere
1992, 1992/1996, 1997, 2000).
12
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Erkenntnistheorie zu motivieren und darzulegen, wie diese Beeinflussung genau zu
verstehen ist, während es den folgenden Teilen der Arbeit vorbehalten bleibt, selbige
Beeinflussung zu authentifizieren sowie deren Konsequenzen auszubuchstabieren.
Die konstatierte Beeinflussung sollte insofern nicht ganz überraschend sein, als
es in der Gerechtigkeitstheorie – wie in jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin
auch – um Erkenntnis geht, und zwar um Erkenntnis im Sinne einer Entdeckung
des Gerechten. Wie Bernard Williams erläutert, gehen ethische Überzeugungen
(»ethical convictions«) unweigerlich mit einer gewissen Passivität einher, die die
Möglichkeit einer reinen Entscheidung für (mit viel Getöse vertreten in Mackie
1977) oder einer puren Konstruktion von Normen ausschließt (1985: 169). Ohne
dies – was ohnehin nicht Williams’ anti-dogmatischem Geiste entspräche – in
metaethischen Realismus überhöhen zu müssen, kann festgehalten werden, dass
Urteile über das Gerechte ihre Dringlichkeit und damit die bereits konstatierte
hohe Handlungsrelevanz nicht zuletzt dadurch erhalten, dass sie den Eindruck vermitteln, über einen zu kommen und auf etwas zu beruhen, das erkannt wurde. Ein
ausschließlich dezisionistisches Verständnis dieser Urteile kann dem jedenfalls
nicht gerecht werden. Daher ist die Frage nach den Bedingungen von Erkenntnis
der Frage nach Gerechtigkeit vorgeordnet.
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des logischen Empirismus illustriert darüber hinaus, dass Entwicklungen in der Disziplin Erkenntnistheorie mitunter ganz
direkte Auswirkungen auf die hier im Mittelpunkt stehende Disziplin entfalten
können. Der Aufstieg dieser philosophischen Schule und ihrer Verifikationsmethode der Wahrheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog auf breiter Basis eine Leugnung der Möglichkeit nach sich, praktische Philosophie als wissenschaftliche Disziplin mit Anspruch auf Objektivität zu betreiben. Maximal folgte aus dem logischen Empirismus noch die Möglichkeit eines Emotivismus (Ayer) oder eines
Präskriptivismus (Hare), fest stand jedoch, dass moralische Sätze aus wissenschaftlicher Sicht sinnlos seien und lediglich eine subjektive Haltung ausdrücken. Thomas Hill Greens und Henry Sidgwicks gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienene Arbeiten zur praktischen Philosophie gehören zu den letzten bedeutenden,
vom logischen Empirismus nicht belästigten Arbeiten14; von wenigen Ausnahmen
14
Das Werk dieser beiden Philosophen stellt laut Schneewind den Höhepunkt der viktorianischen
Moralphilosophie dar (1977: 401–411). Schneewind gibt dabei sowohl über die Konkurrenz dieser beiden Positionen Auskunft als auch über die Vielseitigkeit und Lebendigkeit der im 19. Jahrhundert primär in England praktizierten normativen Ethik. Sidgwick und Green spielen übrigens
heute wieder eine Rolle. Rawls entwickelt seine Gerechtigkeitstheorie bekanntermaßen primär in
Abgrenzung zu Sidgwicks Utilitarismus aus The Methods of Ethics (Sidgwick 1907/1981; Rawls
1981 und 1971/1999: 20). Aspekte von Greens Prolegomena to Ethics (1883/2003) wurden durch
Schefczyk erst kürzlich wieder als ernstzunehmende Position in die Debatte der praktischen Philosophie eingebracht (2010: 752–756). Der große Beitrag, den G.E. Moores Principia Ethica zur
vorläufigen Verabschiedung der normativen Ethik leistete, entsprang übrigens nicht der Absicht
ihres Autors. Darwall macht deutlich, dass Moores Anliegen vielmehr darin bestanden habe, sei-
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20 Einleitung
abgesehen, beginnt ab da sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht
ein Niedergang der praktischen Philosophie.15 Erst mit dem Zusammenbruch der
erkenntnistheoretischen Schule des logischen Empirismus war der Weg frei, um
Gerechtigkeitstheorie als philosophische Disziplin wiederzubeleben. Rawls’ Versuche zur Reanimierung der Gerechtigkeitstheorie, erstmals wirkmächtig im Jahr
195816, waren wahrlich vom Kairos geküsst, insofern ein Meilenstein bei der Zertrümmerung des logischen Empirismus, nämlich Quines Two Dogmas of Empiricism, zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange zurück lag. Auf die – keineswegs zufälligen! – Verbindungen zwischen Rawls und Quine, zwei Giganten der Philosophie
des 20. Jahrhunderts, wird hier noch ausführlich zurückzukommen sein (s. II.2.2).
Die These von der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie fügt sich zudem gut in momentan vor sich gehende Entwicklungen in der Philosophie ein. So kommt die Annahme von der Trennbarkeit zwischen praktischer
und theoretischer Philosophie schon seit einigen Jahren zunehmend unter Druck.
Es ist nicht zuletzt Rorty, auch dafür ist ihm die vorliegende Arbeit zu Dank verpflichtet, der wirkmächtig gegen eine Dichotomie zwischen diesen beiden Bereichen der Philosophie Stellung bezogen hat; sein Hauptwerk Philosophy and the
Mirror of Nature stellt ein spektakuläres Beispiel für die Fruchtbarkeit einer Untersuchung dar, die durch beide Bereiche der Philosophie angeregt ist. Seit geraumer
Zeit ist zudem ein produktives Passspiel zwischen Hilary Putnam aus dem Feld der
theoretischen und Amartya Sen aus dem der praktischen Philosophie zu bestaunen.17 Erst kürzlich hat Philip Pettit gezeigt, wie essentiell Hobbes’ Sprachphilosonen Ansatz normativer Ethik mit begrifflichen Überlegungen zu stützen und nicht darin, zur
Gründung einer neuen Disziplin, der Metaethik, beizutragen (2006: 22); es habe erst im Nachhinein den Anschein, als sei Moores Werk ein »revolutionary work« gewesen, tatsächlich sei es in seiner Intention ganz nahe an Sidgwick (ebd.: 17f.).
15
Ein Zeitdokument, das diesen Niedergang speziell für die politische Philosophie beklagt, findet sich
in Leo Strauss’ Aufsatz What is Political Philosophy? aus dem Jahr 1954 (abgedruckt in Strauss 1959),
in dem Strauss den Verfall der politischen Philosophie dank des »present-day positivism« beklagt
(ebd.: 18): »We hardly exaggerate when we say that today political philosophy does not exist any
more, except as a matter for burial« (ebd.: 17). Über die negativen Auswirkungen des logischen
Empirismus auf die Sozialwissenschaften informiert Putnam (2002: 53–55). Dazu, dass der logische Empirismus auf seine eigene Art sehr wohl etwas zu moralischen Fragen zu sagen hatte und zu
sagen hat, vgl. Siegetsleitner (2010), welche allerdings nicht abstreitet, dass der logische Empirismus
eine Engführung ethischer Diskussionen mit sich brachte, eine Engführung, die von ihr jedoch
begrüßt wird, weil diese Engführung angeblich nur »konservative Kreise« beschränke (ebd.: 17).
16
In diesem Jahr erscheint Rawls’ Aufsatz Justice as Fairness (1958), welcher in nuce bereits die Ideen
von Rawls’ Hauptwerk aus dem Jahr 1971 enthält.
17
Im Passspiel dieser beiden stellt auch der Philosoph und Wirtschaftshistoriker Vivian Walsh eine
wichtige Anspielstation dar, vgl. Putnam (2002: 46–78, 2004), Sen (2005, 2009: 40–42, 119) und
Walsh (2000, 2003). Putnam betont dabei stets, dass er sich in seinem Hin und Her zwischen
theoretischer und praktischer Philosophie Dewey verpflichtet fühlt und bringt des letzteren Haltung zu dieser Thematik mit folgenden Worten auf den Punkt: »[W]hat applies to inquiry in general
applies to ethical inquiry in particular« (1994: 175).
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phie zum Verständnis von dessen Staatstheorie ist (2008). Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Während viele Philosophen erst kürzlich entdeckt zu haben scheinen, wie wertvoll ein enger Austausch zwischen theoretischer und praktischer Philosophie sein kann, wird selbiges im Werk von Jürgen Habermas wieder und wieder
bewiesen, im Grunde schon seit Erkenntnis und Interesse (EI) aus dem Jahr 1968.
Zentral für eine erste Motivation der grundlegenden Entdeckung der vorliegenden Arbeit ist jedoch die Tatsache, dass Rawls bei seiner Lancierung der Gerechtigkeitstheorie ganz selbstverständlich davon ausgegangen ist, die Erkenntnistheorie
halte Lehren für die Gerechtigkeitstheorie bereit. Dies mag auf den ersten Blick
erstaunen, da Rawls ja (auch) als derjenige bekannt ist, der die normative Theorie
von der Umklammerung durch die Metaethik befreit hat, und damit freilich erst
recht vor dem Zugriff durch Disziplinen der theoretischen Philosophie wie der
Erkenntnistheorie und der Metaphysik (vgl. Freeman 2007: 310–315). In der Tat
bemerkt Rawls bereits in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der Theory of Justice,
er habe sich mittlerweile davon überzeugen lassen, dass Konzepte aus der theoretischen Philosophie, wie z. B. Quines Verständnis von Bedeutung und Analytizität,
keine essentielle Rolle für die normative Theorie spielen (1971/1999: xx). Vier
Jahre später spezifiziert er dies im Aufsatz The Independence of Moral Theory genauer,
indem er erklärt, dass die Entscheidung für eine bestimmte normative Theorie
ebenso wie die Verteidigung von Gerechtigkeitsprinzipien unabhängig von Entwicklungen in der theoretischen Philosophie vonstatten zu gehen haben, unabhängig von u. a.: »[t]he theory of meaning and epistemology, metaphysics and the
philosophy of mind« (1975: 5). Eine Beschäftigung mit den Problemen dieser Disziplinen könne die Entwicklung der Gerechtigkeitstheorie sogar hemmen (»may
block the path to advance«) (ebd.: 6).18
Gleichwohl verweist Rawls an vielen Stellen seines Hauptwerks ohne Umschweife
darauf, dass seine Argumentationsstrategie Parallelen zum Vorgehen in anderen
philosophischen Disziplinen aufweist, von diesen sogar profitiert habe. Er merkt an,
seine Ausführungen zu der Art, wie Individuen einen verlässlichen Sinn für Gerechtigkeit entwickeln, können mit Chomskys Verständnis des Erlernens einer Sprache
sinnvoll verglichen (»useful comparison«) werden (1971/1999: 41, Fn. 25). Unter
Angabe eines Direktzitats weist er darauf hin, dass die von ihm angenommene Notwendigkeit eines abstrakten Gedankenexperiments zum besseren Verständnis von
Gerechtigkeit durch Poincarés Auffassung über den Nutzen von Wissenschaft im
Allgemeinen affirmiert wird (ebd.: 19, Fn. 8). An ganz entscheidender Stelle – nämlich, wo es um die finale Begründung für die Anwendung des Reflexionsgleichgewichts, dem grundlegendsten Rechtfertigungskonzept seiner Gerechtigkeitstheorie,
geht – macht Rawls darauf aufmerksam, dass er bei der Entwicklung des Reflexions Dies ist direkt gegen Hare gerichtet, der zu dieser Zeit argumentierte, sein Utilitarismus werde
durch die neueren Entwicklungen in der Metaethik gestützt (vgl. zu Rawls’ diesbezüglicher Auseinandersetzung mit Hare Freemans Ausführungen 2007: 312f.).
18
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22 Einleitung
gleichgewichts von Quines Konzept der Rechtfertigung profitiert habe (»benefited
from«) (ebd.: 507, Fn. 34), wobei die Aufsätze Quines, die Rawls dabei anführt,
eindeutig der quineschen Erkenntnistheorie zuzuordnen sind.19 Auch verweist
Rawls an selbiger Stelle auf die Bedeutung von Whites Weiterentwicklungen der
Theorie Quines und an anderer, aber ebenso dem Reflexionsgleichgewicht gewidmeter Stelle, auf die Parallelen zu Goodmans Überlegungen zur Rechtfertigung,
welche zwar, so Rawls, auf andere Wissenschaften ausgerichtet seien, aber auch
Anwendung auf die Gerechtigkeitstheorie finden könnten (ebd.: 18, Fn. 7).20
Die Zusammenhänge zwischen Quine, White, Goodman und Rawls werde ich
erst an späterer Stelle aufdröseln (s. II.2.2) – dort wird sich u. a. zeigen, dass Rawls
sehr versiert in Sachen Erkenntnistheorie war.21 Der gerade gegebene erste Einblick
offenbart aber bereits, dass die rawlssche Abgrenzung der normativen Theorie von
anderen philosophischen Disziplinen keinesfalls so verstanden werden darf, als ob
diese anderen nicht Lehren für die Gerechtigkeitstheorie bereithalten könnten.
Rawls’ Haltung zum Zusammenhang zwischen Gerechtigkeitstheorie und anderen
philosophischen Disziplinen, insbesondere die Erkenntnistheorie, lässt sich m. E.
folgendermaßen auf den Punkt bringen: Die Überzeugungskraft von Ergebnissen
der Disziplin Gerechtigkeitstheorie – seien es die konkret vertretenen Normen,
Vorstellungen über die Beschaffenheit des Staates usw. – bleibt von Entwicklungen
in der Erkenntnistheorie unberührt, Entwicklungen in der Erkenntnistheorie können keine bestimmte gerechtigkeitstheoretische Position stärken, erst recht nicht
eine falsifizieren; gleichzeitig halten Entwicklungen in der theoretischen Philosophie im Allgemeinen und in der Erkenntnistheorie im Speziellen potentiell wertvolle Ressourcen für die Gerechtigkeitstheorie parat, insbesondere was das metho-
Es ist für die Parallelen zwischen Quine und Rawls vielsagend, dass Hare in seiner vernichtenden
Besprechung von Rawls’ Theory of Justice, Rawls u. a. mit dem Hinweis darauf schlecht machen
möchte, dass das rawlssche Reflexionsgleichgewicht nicht den Anspruch erheben kann, durch
Quine gedeckt zu sein (1975: 82f.) – zwischen den Zeilen gelesen, sagt Hare an dieser Stelle, dass
die Grundidee des Reflexionsgleichgewichts sogar aus Sicht der, selbst schon extrem fehlgeleiteten,
Quineianer absurd wäre.
20
Über die Gründe, warum sich – trotz der Tatsache, dass sich wohl schon fast zu jeder je von Rawls’
verfassten Fußnote Sekundärliteratur finden lässt – offenbar kaum jemand für Rawls’ Beziehung
zur theoretischen Philosophie interessiert, kann ich nur spekulieren. Vielleicht liegt es daran, dass
der Einfluss der Rational-Choice-Theorie auf Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als aufregender angesehen wird und sich dieser Einfluss noch dazu gleich beim ersten Durchblättern der Theory of Justice
an den vielen Graphen offenbart. Vielleicht liegt es aber auch einfach an den Interessen der RawlsForscher, welche es möglicherweise als Entlastung empfinden, sich nicht mit theoretischer Philosophie auseinandersetzen zu müssen.
21
Bei Freeman findet sich der Hinweis, Rawls habe im akademischen Jahr 1952/53 an einer regelmäßigen Diskussionsgruppe unter Leitung von Gilbert Ryle – eine Koryphäe in Sachen theoretische
Philosophie – teilgenommen (2007: 4). Dass Rawls in Harvard Kollege von Quine, White und
Goodman war, dürfte bekannt sein.
19
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dische Vorgehen zur Begründung von Normen und Gerechtigkeitsprinzipien
angeht.
Es ist zum besseren Verständnis dieses entscheidenden Punktes der vorliegenden
Arbeit hilfreich, den Einfluss der Erkenntnis- auf die Gerechtigkeitstheorie in Analogie zu dem Einfluss zu setzen, den Friedman der theoretischen Philosophie für
die Physik am Beginn des 20. Jahrhunderts zuschreibt; dies weist auf einen weiteren Korollar des von Rawls affirmierten Verhältnisses zwischen den beiden hier
interessierenden Disziplinen hin. Entwicklungen in der Philosophie würden, so
Friedman, zwar nicht direkt in Entwicklungen in der Physik eingreifen oder letztere gar determinieren, aber insbesondere in Phasen des wissenschaftlichen
Umbruchs, wenn ein Paradigma an die Stelle eines anderen tritt, stellt die Philosophie der Physik Denkmöglichkeiten bereit, kreiert ein Milieu, in dem manch physikalische Positionen besser gedeihen können als andere: »[P]hilosophy plays its
own distinctive role [in den Entwicklungen innerhalb der Physik], not so much in
justifying or securing a new paradigm [innerhalb der Physik] […], but rather in
clarifying and articulating the new space of intellectual possibilities and making the
serious consideration of the new paradigm a reasonable and responsible option«
(2001: 46; Hervorhebungen M. F.).22 Die Erkenntnistheorie nimmt in dem hier
interessierenden Komplex die Rolle der Philosophie ein, die Gerechtigkeitstheorie
die der Physik.
Wie gesagt, der Blick auf Friedmans Darstellung weist auf eine Dynamik zwischen Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie hin, die Rawls zwar nicht explizit
affirmiert, die in seinen Ausführungen aber implizit steckt, und zwar auf folgende:
Wenn die Erkenntnistheorie der Weiterentwicklung der Gerechtigkeitstheorie Ressourcen zur Verfügung stellt – und genau dies bejaht Rawls –, ist es wahrscheinlich,
dass sie das Geschehen in der Gerechtigkeitstheorie auch beeinflusst; obwohl sie
die Gerechtigkeitstheorie nicht anleiten, geschweige denn ihr Falsifikationskriterien zur Verfügung stellen kann, macht der jeweilige Stand der Erkenntnistheorie
ein bestimmtes Vorgehen in der Gerechtigkeitstheorie wahrscheinlicher, ein anderes unwahrscheinlicher, gibt den Blick auf bestimmte Möglichkeitsräume frei, verdeckt andere. Genau in diesem Sinne – ein Sinn, der eben auch Rawls, nach wie
vor die Autorität in Sachen Gerechtigkeitstheorie, in den Mund gelegt werden
kann – soll es in der vorliegenden Arbeit verstanden werden, wenn von der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie gesprochen wird.
Es ist bezüglich des so verstandenen Verhältnisses zwischen den beiden hier interessierenden Disziplinen wichtig, zu sehen, dass die Entdeckung von der Beeinflussung der Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie nicht mit dem Hinweis
bezweifelt werden kann, manch gerechtigkeitstheoretische Überlegung sei älter als
Friedman expliziert sein Argument v. a. anhand des Beispiels des Aufstiegs der Relativitätstheorie,
indem er zeigt, dass sich Einstein für seine zentralen theoretischen Moves immer wieder Anregung
sowie Rückendeckung bei philosophischen Debatten geholt hat (2001: Teil II, Kap. 4).
22
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24 Einleitung
die erkenntnistheoretische, auf der sie meiner Darstellung gemäß fußt. Die Authentizität der Entdeckung dieser Beeinflussung ist nämlich nicht an die Chronologie
der Ideengeschichte, sondern an systematische Zusammenhänge gebunden. Gerne
konzediere ich, dass manch gerechtigkeitstheoretische Idee älter ist als die erkenntnistheoretische, die ihr laut meiner Beschreibung zugrunde liegt. Dies schließt
jedoch nicht aus, dass erstere Ideen erst dann richtig interessant für Gerechtigkeitstheoretiker werden, wenn ein diesen Ideen förderlicher Stand der Erkenntnistheorie erreicht ist. Analog wurde dieser Zusammenhang in der Evolutionstheorie herausgearbeitet, in welcher lange die Annahme vorherrschte, beim Überleben von
Gattungen hänge alles von der möglichst schnellen Anpassung der Gattung auf die
neue Umwelt ab. Tatsächlich ist laut heutigem Forschungsstand der Zusammenhang meist dergestalt, dass verschiedene Gattungen mit spezifischen Charakteristiken nebeneinander existieren, die Umwelt sich ändert und manche Gattungen
daraufhin zurückgedrängt werden oder gar aussterben, andere hingegen gedeihen
(Ridley 1987/1990: 171). Es kommt, wenn es ums Überleben geht, also weniger
darauf an, sich möglichst schnell anzupassen (auch die schnellstmögliche Anpassung einer Gattung ist in der Regel zu langsam), sondern es ist schlicht und einfach
Glückssache, ob eine Gattung so ist, dass sie von einer Umweltveränderung profitiert oder nicht. Die Erkenntnistheorie kann in Bezug auf die hier vorliegenden
Zusammenhänge als analog zur Umwelt und die Gerechtigkeitstheorie als analog
zur Gattung betrachtet werden: Je nach erkenntnistheoretischer Umweltveränderung können in der Gerechtigkeitstheorie bereits existierende Ideen gedeihen oder
verkümmern, weil sie von Haus aus besser oder schlechter auf eine konkrete Veränderung in der Erkenntnistheorie angepasst sind. Dass diese Bewegung nur in diese,
nicht in die andere Richtung verlaufen kann, ergibt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus den bisher dargelegten positiven Argumenten über den
Zusammenhang beider Disziplinen.
Dies ist – nochmals zur Betonung – nicht damit zu verwechseln, dass aus dem
hier propagierten Verständnis des Verhältnisses von Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie folgt, die konkreten disziplinübergreifenden Zusammenhänge, die in
den folgenden Teilen der Arbeit offengelegt werden, würden per se ein Qualitätsurteil über den jeweiligen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz mit sich bringen; die
Erkenntnis- stellt der Gerechtigkeitstheorie ja keinerlei Falsifikationskriterien zur
Verfügung. Ein gerechtigkeitstheoretischer Ansatz verliert daher, ceteris paribus,
auch dann nichts an Glaubwürdigkeit, wenn sich nachweisen lässt, dass er in explizitem oder implizitem Anschluss an eine Erkenntnistheorie verfasst ist, die mittlerweile als veraltet angesehen wird oder gar als falsifiziert zu gelten hat.23 Selbst eine
Gerechtigkeitstheorie, die an der erkenntnistheoretischen Flanke vollkommen
ungedeckt ist, kann in nachmetaphysischer Zeit (der Zeit, in der die Philosophie
23
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Mit Recht beklagt Strauss eine Haltung, die der politischen Philosophie der Antike eine Absage
erteilt, nur weil diese auf einer überholten Kosmologie beruht (1959: 36).
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Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie 25
die Suche nach moralischen Entitäten, welche sich außerhalb der Welt befinden,
aufgegeben hat) Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit erheben, solange sich
die aus ihr folgenden Thesen gemäß Kriterien wissenschaftlicher Objektivität als
plausibel erweisen. Die Qualität einer Gerechtigkeitstheorie ist, wie gesagt, in erster Linie daran abzulesen, wie gut es ihr im Vergleich zu ihren Konkurrenten
gelingt, Relativismus zu vermeiden und dennoch zu Urteilen zu gelangen, die sich
als hilfreich bei der Überwindung real vorliegender Probleme mit gerechtigkeitstheoretischer Dimension erweisen, also zumindest mal dem leeren Universalismus
entkommen. Andererseits richten es sich Gerechtigkeitstheoretiker vielleicht dann
doch ein wenig zu bequem ein, wenn sie sich damit begnügen, über eine Gerechtigkeitstheorie zu verfügen, die wissenschaftlichen Standards genügende und
fruchtbare Thesen liefert, ohne dass ihre erkenntnistheoretischen Prämissen gedeckt
sind. Eine solche Bequemlichkeit stellt eine Gefahr für den wissenschaftlichen
Fortschritt in der Disziplin Gerechtigkeitstheorie dar, so es denn wirklich stimmt,
dass sie ihren jeweiligen Entwicklungsstand nicht zuletzt Anregungen aus der
Erkenntnistheorie verdankt. Außerdem kann die Gerechtigkeitstheorie die potentielle Unterminierung durch Entwicklungen in der Erkenntnistheorie – dies macht
der bereits beschriebene Fall des logischen Empirismus ja ebenfalls deutlich – wohl
am besten durch eine offene Auseinandersetzung mit dem aktuellsten Stand letzterer Disziplin verhindern.
Schon aus den eben genannten Gründen sollte es legitim sein, dass die vorliegende Arbeit sich darum bemüht, Entwicklungen in der Gerechtigkeitstheorie mittels eines erkenntnistheoretisch informierten Blicks zu rekonstruieren. Dass dies
keineswegs l’art pour l’art ist, sollte aber spätestens dann deutlich werden, wenn die
Schwächen der beiden heute dominierenden gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen auf die jeweilige Theoriearchitektonik zurückgeführt werden können, die sie
von dem ihnen je zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Paradigma geerbt
haben. So möchte ich darlegen, dass die Schwierigkeiten der neoaristotelischen
Gerechtigkeitstheorie bei der Vermeidung von Kulturrelativismus durch einen
Blick auf das von Aristoteles entscheidend vorangebrachte erkenntnistheoretische
Paradigma, welches ich hylemorphistisches Paradigma nenne, besser verstanden
werden können (s. II.1.3) ebenso wie ich zu zeigen versuche, dass die Inspektion
des erkenntnistheoretischen Paradigmas, an dessen Spitze Quine steht und welches
ich bewusstseinsphilosophisches Paradigma nenne, das Verständnis für die Probleme der neokantianischen Gerechtigkeitstheorie mit der Vermeidung von leerem
Universalismus erhöht (s. II.2.3).
Des Weiteren wird eine erkenntnistheoretisch informierte Herangehensweise an
die neuesten Entwicklungen in der Gerechtigkeitstheorie zu Tage fördern, dass die
in den letzten Jahren geschmiedeten Ansätze von Sen und Honneth als weiterer
Beleg dafür gelten können, dass Veränderungen in der Erkenntnistheorie Auswirkungen auf die Gerechtigkeitstheorie haben. Sens und Honneths Ansätze können
als Indiz dafür gewertet werden, dass die Gerechtigkeitstheorie gerade heute wieder
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durch Veränderungen des erkenntnistheoretischen Milieus beeinflusst wird, ein
Milieuwandel, der der Gerechtigkeitstheorie nicht zuletzt einen Anschluss an
Hegels praktische Philosophie ermöglicht, welcher bei Honneth, spätestens seit
Leiden an Unbestimmtheit (2001), ganz explizit und entschlossen stattfindet, implizit aber auch bei Sen gegeben ist, wenn dieser »Smith, Condorcet, Wollstonecraft,
Bentham, Marx, Mill, among others« als Vorbild seiner Theorieproduktion identifiziert (2009: 9), eine Riege an Denkern, in der Hegel einen prominenten Platz
einnimmt, wenn man sich Sens zentrale Zuschreibung vor Augen führt, nämlich,
dass man es bei dieser Riege mit Denkern zu tun hat, die sich gegen die mit der
Vertragstheorie einhergehende Suche nach einer aus gerechtigkeitstheoretischer
Sicht perfekten Welt entscheiden und stattdessen den Fokus auf das Hier und Jetzt
existierender Gesellschaften legen (2009: 5–10) – ein Anliegen, für das Hegels
Rechtsphilosophie als Paradebeispiel gelten kann, was für Sen aufgrund gewisser
Kuriositäten der anglo-amerikanischen Hegel-Rezeption aber verdeckt ist.24 Dass
die eingangs konstatierte pragmatistische Wende in der Erkenntnistheorie mit
einer Hegel-Renaissance in der Gerechtigkeitstheorie einhergeht, kann schon allein
deshalb keine allzu große Verwunderung auslösen, weil es vom Pragmatismus zu
Hegel kein besonders steiniger Weg ist.25
Sollte es tatsächlich gelingen, die bisher nur angedeutete Beeinflussung der
Gerechtigkeits- durch die Erkenntnistheorie mittels eines Durchgangs durch das
Material zu etablieren, ist es naheliegend, einen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz
unter unmittelbarem Rückgriff auf die Ressourcen zu entwerfen, die die modernste
Erkenntnistheorie zur Verfügung stellt. Weil sich diese Erkenntnistheorie im Pragmatismus findet, wird dies unter Anschluss an selbigen zu erfolgen haben. Dabei
bringt der dargelegte Zusammenhang zwischen Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie freilich auch für den hier in nuce zu entwerfenden Ansatz die angenehme
Folgerung mit sich, dass seine Überzeugungskraft nicht eingeschränkt wird, falls
sich einstmals erweisen sollte, dass es nie eine pragmatistische Wende in der
Erkenntnistheorie gegeben hat (eher unwahrscheinlich) oder die pragmatistische
Erkenntnistheorie irgendwann durch eine andere abgelöst wird (ziemlich wahrscheinlich, da dieses Schicksal bisher noch jede Erkenntnistheorie ereilt hat). Aus
der Perspektive gerechtigkeitstheoretischer Ansätze sind erkenntnistheoretische
Positionen lediglich als Steigbügel anzusehen, derer sich diese Ansätze entledigen
können, sobald sie sicher im Sattel sitzen. Auch für den im letzten Teil dieser Arbeit
in Anschluss an Sen und Honneth zu entwerfenden Ansatz gilt, dass sich seine
Qualität daran bemisst, wie gut es ihm im Verhältnis zu seinen Kontrahenten
gelingt, Relativismus zu vermeiden und gleichzeitig Aussagen hervorzubringen, die
24
25
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Sen grenzt diese Riege v. a. von Denkern wie Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Rawls ab.
Zur Beeinflussung des Pragmatismus durch Hegel vgl. die entsprechenden Aufsätze in Fisch
(1986) und Bernstein (2010).
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Erkenntnis- und Gerechtigkeitstheorie 27
sich bezüglich konkreter Maßnahmen zur Verbesserung der Welt als hilfreich
erweisen.
Um die späteren Teile der Arbeit zu entlasten und um angesichts der Fülle des
gerechtigkeitstheoretischen Materials den Überblick zu behalten, ist nun eine
Kategorisierung der Disziplin Gerechtigkeitstheorie inklusive einer Zuordnung der
drei unterschiedenen gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen – neoaristotelisches,
neokantianisches und pragmatistisches – einzuführen. Das sich dabei ergebende
Raster ermöglicht eine Zuweisung verschiedener gerechtigkeitstheoretischer
Ansätze zu den drei in dieser Disziplin unterschiedenen Paradigmen sowie die Markierung der neuralgischen Punkte der Einflussnahme der Erkenntnis- auf die
Gerechtigkeitstheorie. Dies wird von einem kurzen Überblick über die drei
erkenntnistheoretischen Paradigmen gefolgt – hylemorphistisches, bewusstseinsphilosophisches und pragmatistisches –, die jeweils hinter einem der gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen stehen. Was den konkreten Zusammenhang der
hier unterschiedenen gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen mit den erkenntnistheoretischen angeht, werde ich in der Einleitung dagegen auf einen Überblick
verzichten. Ein solcher wäre vermutlich eher verwirrend, in jedem Fall wenig hilfreich. Die hier propagierten interdisziplinären Zusammenhänge können sich ausschließlich in einer detaillierten Untersuchung der betreffenden Positionen erweisen, eine Untersuchung, die für die nächsten Teile der vorliegenden Arbeit bereits
angekündigt wurde; mithin findet für die zu erbringende Authentifizierung der
basalen Entdeckung dieser Arbeit die Weisheit Anwendung, wonach der Beweis
des Puddings in seinem Verspeisen liegt – the proof of the pudding is in the eating.
Die folgende Kategorisierung der Disziplin Gerechtigkeitstheorie ergibt sich aus
dem Anspruch, über die sowohl in Hinblick auf die Anzahl der Kategorien als auch
in Hinblick auf die Anzahl an Merkmalsausprägungen kleinstmögliche und damit
handlichste Einteilung zu verfügen, welche es zugleich erlaubt, dem Gros der ernstzunehmenden Ansätze der Gerechtigkeitstheorie gerecht zu werden. Da dies eine
unvermeidliche Eigenschaft jeder hilfreichen Kategorisierung ist, wird auch die
vorzulegende das zu behandelnde Material vereinfachen und homogenisieren,
Nachteile, die dadurch wettzumachen sind, dass dank ihr Darlegung und Verständnis der hier zu verteidigenden Thesen erleichtert werden. Die gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen, die mit Hilfe dieser Kategorisierung beschrieben werden, sind dabei als Idealtypen zu betrachten, was bedeutet, dass vielleicht kein
einziger gerechtigkeitstheoretischer Ansatz existiert, der diesen Kategorien genau
entspricht, und es gleichzeitig vorkommen kann, dass manche Ansätze am besten
als Mischformen verschiedener Paradigmen zu beschreiben wären. Entscheidend
ist, dass die Kategorisierung jeweils das Spezifische eines Paradigmas heraushebt.
Nun aber zur Kategorisierung selbst. Unabhängig vom erkenntnistheoretischen
Paradigma, von dem sie jeweils beeinflusst sind, können gerechtigkeitstheoretische
Ansätze anhand von drei Kategorien beschrieben werden. Eine Theorie, die geltend
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machen will, Gerechtigkeitstheorie zu sein, muss sich – implizit oder explizit – in
jeder dieser drei Kategorien für eine Merkmalsausprägung entscheiden: Jede
Gerechtigkeitstheorie nimmt in Bezug auf die Art ihrer Erkenntnisgenerierung ein
bestimmtes Verhältnis zur Welt ein (1), hat eine methodische Grundausrichtung
(2) und entwickelt ein Instrument zur Beurteilung möglicher oder tatsächlicher
Eingriffe in die Welt (3). In ihrer idealtypischen Form belegen die drei gerechtigkeitstheoretischen Paradigmen je unterschiedliche Merkmalsausprägungen.
Das zur Erkenntnisgenerierung in Sachen Gerechtigkeit eingenommene Verhältnis zur Welt stellt die logisch erste Kategorie dar, da theoretische Reflexion
nolens volens mit einer gewissen Entfernung von der Welt, einem Verlust an
Unmittelbarkeit, einhergeht. Aus dieser Entfernung heraus reetablieren Gerechtigkeitstheorien ein bestimmtes (dann freilich künstliches) Verhältnis ihrer Theorie
zur Welt. Die Frage, die sie sich hierbei stellen müssen, ist, inwieweit das in der
Welt vor sich Gehende einen Einfluss auf die von der Theorie hervorzubringenden
Konzepte zur Beurteilung von Gerechtigkeit ausüben soll, mit anderen Worten,
auf welche Weise, wenn überhaupt, eine Gerechtigkeitstheorie von Verhältnissen
und Vorgängen in der Welt lernen kann. Dabei lassen sich Theorien finden, die
sich hypoleptisch, indifferent oder diskursiv zur Welt verhalten.
Ersteres Verhältnis ist für das neoaristotelische Paradigma kennzeichnend – als
Vertreter dieses Paradigmas werden in II.1.1 die Positionen Nussbaums, Hurkas,
MacIntyres, Walzers und Millers zu behandeln sein. Das Kalkül hinter einer hypoleptischen Haltung zur Welt ist die Auffassung, dass Gerechtigkeit nicht unabhängig vom in der Welt Geschehenden erfasst werden kann. Vielmehr finden sich in
der Welt, so nehmen neoaristotelische Gerechtigkeitstheoretiker an, immer schon
Manifestationen des Gerechten, weshalb diese Theoretiker26 ihre philosophische
Begriffsarbeit mit einem Blick auf die Welt beginnen. Neoaristoteliker interessieren
sich für soziologische Untersuchungen, führen mitunter gar selbst empirische
Erhebungen durch, um sich u. a. über gesellschaftliche Praxen, moralische Überzeugungen und/oder die Bedeutung sozialer Güter zu informieren. Allerdings bleiben sie nicht beim faktisch Gegebenen stehen, sondern sind darum bemüht, ihre
soziologischen Erkenntnisse zum Gerechten – sei es durch Klärung von Widersprüchen oder durch begriffliche Operationen – auf eine höhere Reflexionsebene
zu hieven. Genauso wenig wie ihr Stammvater hängen Neoaristoteliker also der
Auffassung an, die Erkenntnis des Gerechten würde sich in der Untersuchung des
Faktischen erschöpfen; sie verfechten aber den Standpunkt, dass die Bestimmung
des Gerechten nur über eine begriffliche Behandlung des Faktischen führen kann.
Hieraus ergibt sich der Begriff ›hypoleptisch‹ in der hier verwendeten Bedeutung.
Selbigen übernehme ich von Joachim Ritter, der mit »Hypolepsis« Aristoteles’ Vorgehen in der praktischen Philosophie als eines bestimmt, dem es darum zu tun ist,
Einzig aus dem Grund der flüssigeren Darstellung verwende ich stets das maskuline Genus, wenn
sowohl das feminine als auch das maskuline möglich wären.
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»das begrifflich herauszuheben, was in allen […] Vorstellungen und Meinungen als
[…] gemeinsame Natur wirkt und […] in ihrem Nennen zu Wort kommt«; dieses
Vorgehen basiere auf der Überzeugung, dass das, »[w]as wahr ist, […] nicht für das
Dasein, dessen Wahres es ist, schlechthin verborgen bleiben [kann]«, sondern im
Dasein »unbestimmt zur Sprache [kommt]«, denn, so zitiert Ritter Aristoteles, »mit
dem Wahren singt alles zugrunde Liegende mit, mit dem Falschen aber geht es
schnell auseinander« (2003: 65 respektive 65, Fn. 12; Hervorhebungen M. F.).27
Die indifferente Haltung zur Welt ist für das neokantianische Paradigma charakteristisch – Rawls, Nozick, Gauthier, Scanlon, Barry und Dworkin werden in II.2.1
als Verfechter dieses Paradigmas untersucht. Für diese Haltung ist die Annahme
essentiell, dass das normativ zu Rechtfertigende strikt vom faktisch Akzeptierten
unterschieden werden muss, ja, dass das in der Welt vor sich Gehende den Blick auf
das, was die Gerechtigkeit erfordert, u. U. gar verstellen kann. Daher sind neokantianische Gerechtigkeitstheoretiker bemüht, sich bei ihrer Theorieproduktion
möglichst unabhängig von konkret vorliegenden Auffassungen über das Gerechte
zu machen; in jedem Fall stellt der Glaube, Gerechtigkeit sei ausgehend vom Faktischen zu bestimmen, ihrer Meinung nach einen Kategorienfehler dar, einen SeinSollen-Fehlschluss. Dies schlägt sich u. a. in einer Vorliebe für Gedankenexperimente zur Ableitung von Normen nieder. Die Intention, die die neokantianischen
Gerechtigkeitstheoretiker (mit Ausnahme von Nozick) mit der indifferenten Haltung zur Welt verfolgen, wäre jedoch vollkommen missverstanden, würde man aus
ihr schließen, dass es den Neokantianern gleichgültig sei, ob sie relevante Aussagen
zur Verbesserung der Welt generieren oder nicht. Im Gegenteil, die Nachfolger
Kants nehmen ein indifferentes Verhältnis zur Welt ein, weil sie davon überzeugt
sind, dass am Ende des Tages nur ein solches in der Lage sein wird, derartige Aussagen zu generieren. Die Idee ist, dass es eine Vorstellung darüber braucht, welchen
Prinzipien die absolut gerechte – oder zumindest die sehr, sehr gerechte – Gesellschaft folgen würde, da eine solche Vorstellung als Richtmaß für konkrete Handlungen in der realen, nicht-idealen Welt fungieren kann. Ist die ideale Theorieproduktion abgeschlossen und damit die Vorstellung über die Prinzipien der perfekt
gerechten Gesellschaft etabliert, ist das Geschäft des Neokantianers also keineswegs
beendet, im Rahmen einer nicht-idealen Theorie geht es ihm im Anschluss um die
Anwendung dieser Prinzipien zur Entscheidung über Handlungen in der realen
Welt, eine Anwendung, bei der er sich ganz selbstverständlich größte Mühe gibt,
den konkret vorliegenden Bedingungen in der Welt gerecht zu werden.
Die gemäß Gemoll erste Bedeutung von hypolambáno (das griechische Verb, von dem sich ›hypoleptisch‹ ableitet) lautet übrigens ›unter den Arm fassen‹ oder ›auf seinen Rücken nehmen‹, was die
hier verwendete Bedeutung des Begriffs schön widerspiegelt. Der Neoaristoteliker nimmt die faktischen Auffassungen huckepack, hievt sie auf eine höhere Reflexionsebene. Mit der durch den
Begriff Hypolepsis beschriebenen Denkbewegung hat Ritter m. E. bereits geliefert, was Gregoric
kürzlich forderte (vgl. 2007: viii), nämlich eine Untersuchung der Bedeutung des Common Sense
für Aristoteles’ Philosophie.
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Das dritte hier unterschiedene Verhältnis zur Welt, das diskursive, ist dem pragmatistischen Paradigma der Gerechtigkeitstheorie eigen – als Advokaten dieses
Paradigmas werden in IV.1 respektive IV.3 Sen und Honneth, als Pionier desselben
wird in IV.2 Hegel zu besprechen sein; das pragmatistische ist zugleich das Paradigma, dem sich der in Teil V vorzustellende Ansatz verpflichtet. Das diskursive
Verhältnis zur Welt teilt mit dem hypoleptischen der Neoaristoteliker die Auffassung, dass die Frage nach Gerechtigkeit von Anfang an in Auseinandersetzung mit
faktisch vorliegenden gesellschaftlichen Zuständen gestellt werden muss, mit dem
indifferenten der Neokantianer, dass sich der Gerechtigkeitstheoretiker einen
genuin eigenen Standpunkt in Bezug auf diese Zustände erarbeiten muss. Dem
ersten Anliegen wird der pragmatistische Gerechtigkeitstheoretiker gerecht, indem
er seine Theorieproduktion an sich in der Gesellschaft stellende Probleme mit
gerechtigkeitstheoretischer Dimension aufhängt, bei ihnen startet. Darauf basierend entwickelt er den Ehrgeiz, sich einen distinkt theoretischen Standpunkt der
normativen Beurteilung des identifizierten Problems zu erarbeiten, was er durch
eine normativ motivierte Auseinandersetzung mit empirisch-historischen Fakten
erreichen will. Die sich aus diesem Standpunkt ergebenden Vorschläge zur Problembehebung gibt er wiederum zur Beurteilung an die Gesellschaft zurück. Des
pragmatistischen Gerechtigkeitstheoretikers Verhältnis zur Welt ist aber nicht nur
in dem Sinne diskursiv, als es in ihm um Austausch mit der Gesellschaft geht – die
Theorieproduktion bei der Gesellschaft startet und endet –, sondern auch insofern
es den in einer Gesellschaft stattfindenden Diskursen einen besonderen epistemischen Wert zur Beurteilung von Problemen in Sachen Gerechtigkeit beimisst. Es
stellt keinen Zufall dar, dass sich pragmatistische Gerechtigkeitstheoretiker eifrig
dem Wert der Demokratie verpflichten. Beidem – faktischen Diskursen in der
Gesellschaft und der empirisch-historisch informierten Stellungnahme der Theorie
– möchte der Advokat des dritten Paradigmas einen wichtigen epistemischen Status zubilligen. Zur genaueren Spezifizierung des Verhältnisses beider Elemente
wird die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu leisten haben.
Neben einem Verhältnis zur Welt nimmt jede Gerechtigkeitstheorie eine
bestimmte methodische Grundausrichtung bzw. Stoßrichtung ein, was auch als
methodisches Vorgehen im engeren Sinne bezeichnet werden kann; der Theoretiker muss sich entscheiden, welchen Charakter das Produkt der von ihm generierten
Aussagen zum Gerechten annehmen soll und wie er zu seinen Ergebnissen kommen will. Dieser Aspekt ist mit der zweiten hier angenommenen Kategorie zu
erfassen, wobei die in der Gerechtigkeitstheorie bisher explizierten Ansätze idealtypisch in teleologisch-essentialistische, archeologisch-konstruktivistische und handlungsfokussiert-historische unterteilt werden können.
Auf ein teleologisch-essentialistisches Vorgehen greifen die Vertreter des neoaristotelischen Paradigmas zurück. Als Ergebnis ihrer theoretischen Anstrengungen sollen bestimmte Ziele bzw. Zwecke – Teloi – stehen, deren Erreichen der Verwirklichung von Gerechtigkeit gleichkommen würde. Die Neoaristoteliker erheben mit
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