Wie die Alternative zum Standard wurde

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IMMOBILIEN-EXTRA 115
23. März 2008
STEILER
SONNENANBETER
Der einzige Zweck dieser Reihenhäuser scheint zu sein, wie ein
Treibhaus möglichst viel Sonne in
sich aufzunehmen. Eine Glasfront
liegt schräg vor allen Geschossen
und erzeugt so einen haushohen
Wintergarten. In der kalten Jahreszeit strömt die hier erwärmte
Luft ins Innere des Hauses, und
wenn es draussen warm ist, strömt
kühlere Luft aus den hinteren
Räumen in diese Pufferzone. Ein
begrüntes Hängedach schliesst
das gegen hinten ins Erdreich gegrabene Haus nach oben ab.
SOLARHÄUSER ALTE SAGI,
INNERBERG BE
q Architekt: Aarplan, Bern
q Label: BE-008-P q Heizung:
100 Prozent Gasfeuerung
q Warmwasser: 80 Prozent
Solarenergie thermisch, 20 Prozent Elektro-Wassererwärmer.
Wie die Alternative
zum Standard wurde
Die verschiedenen Minergie-Labels erobern die Schweizer Baulandschaft
VON WERNER HUBER (TEXT)
UND OLIVER LANG (FOTOS)
Kennen Sie die Bilder der ersten
Autos? Das waren doch Kutschen
ohne Pferd, in die irgendwie ein
Benzinmotor eingebaut wurde.
Oder erinnern Sie sich an die ersten Mobiltelefone, die Autotelefone der Siebzigerjahre? Unförmige Koffer waren das, unter deren Deckel ein Telefonhörer zum
Vorschein kam. Und wissen Sie
noch, wie die ersten Ökohäuser in
den frühen Achtzigerjahren ausgesehen haben? Selbst gestrickt
wirkten sie, waren mit viel Holz
gebaut, hatten ein grosses Dach
und entsprachen dem seit Kindertagen eingeprägten Idealbild eines
ordentlichen «Hüslis». Einen architektonischen Wurf suchte man
da vergeblich; der Slogan «Jute
statt Plastik» schien einfach in einen etwas grösseren Massstab
übersetzt worden zu sein. «Ökologisch ist ja schon gut, aber wenn
das so aussieht – dann ohne
mich», mögen sich viele gesagt
und das schlechte Gewissen mit
dem Hinweis auf die nicht ausgereifte Technik beruhigt haben:
«Da drin ist es doch im Winter
sicher kalt.»
Ölkrise und Waldsterben
legten die Basis
Lange hat das energiesparende,
ökologische Bauen unter dem
«Kupfer-Wolle-Bast»-Image gelitten, wurden dessen Protagonisten
von den ganz in Schwarz gekleideten Entwurfsarchitekten belächelt. Umgekehrt haben die Pioniere des umweltfreundlichen
Bauens ihr Ziel mit missionarischem Eifer verfolgt und Kritik
an der Gestaltung ihrer Bauten als
Kritik an ihrer Mission verstanden. Wenn es auch stets Ausnah-
men gab, so hat sich über viele
Jahre in manchen Köpfen der Gegensatz zwischen Ökologie und
Architektur etabliert; nur wenige
haben früh die Chancen erkannt,
die ein Zusammengehen birgt.
Wie in jedem Beruf können
eben auch unter den Architekten
nicht alle alles gleich gut. Ist der
eine ein gewiefter Entwerfer, so ist
der andere ein raffinierter Techniker. Für die Betrachter ist am
gebauten Objekt jedoch nur das
gestalterische Defizit augenfällig.
Beherrscht ein Architekt die Technik nicht, holt er sich einen Spezialisten – oder er baut ein technisch mangelhaftes Haus. Das
ärgert dann die Bauherrschaft,
sieht man dem Gebäude aber nicht
an. Wer hingegen gestalterisch
eher schwach ist, baut trotzdem;
ein Haus zeichnen kann jeder.
Die Zeiten haben sich geändert.
Wie jede Pioniertat hat auch die
energieeffiziente Bauweise den
Weg aus der Nische in den Alltag
gefunden.
Die Ölkrise der Siebzigerjahre
und das Waldsterben der Achtzigerjahre legten eine Basis, auf der
zunächst die Grünen in rastloser
Kleinarbeit unser Bewusstsein
um den haushälterischen Umgang
mit den Ressourcen erweiterten.
Das allein hätte wohl nicht gereicht. Die Folgen der Klimaerwärmung, das absehbare Ende
der Öl- und Gasvorräte und vor
allem die steigenden Energiepreise haben dazu beigetragen,
das energieeffiziente Bauen zu
fördern.
Minergiestandard feiert
10-Jahr-Jubiläum
Einen Schritt auf diesem Weg
markierte am Anfang des Jahrzehnts die Norm 380/1 des
Schweizerischen Ingenieur- und
Architektenvereins (SIA). In ihr
sind nicht mehr die Wärmeverluste der einzelnen Bauteile massgebend, sondern der Heizwärmebedarf des Gebäudes insgesamt.
Keine Norm, sondern ein freiwilliges Label ist der Minergiestandard – quasi eine Auszeichnung für energieeffizientes Bauen. Dieses feiert in diesem Jahr
sein 10-Jahr-Jubiläum mit einer
Fachtagung in Luzern*.
Allerdings: Ausruhen kann man
sich auf diesen Lorbeeren nicht.
Längst hat sich gezeigt, dass ein
Neubau oder ein Umbau mit nur
wenig Anstrengung und sorgfältiger Planung den Minergiestandard erfüllt. Fast 8500 Objekte
haben in der Schweiz schon ein
Zertifikat erhalten; viele öffentliche oder institutionelle Bauherrschaften haben Minergie in ihr
FORTSETZUNG AUF SEITE 117
TITELBILD
Eingeschossig tritt dieses Haus
auf der Hangseite in Erscheinung.
Ein Ziegeldach verankert das Gebäude in seiner ländlichen Umgebung. Das Haus ist aus Holzplatten konstruiert, die Fassade besteht aus Steinwolle.
EINFAMILIENHAUS UND
ATELIER, VILLARLOD FR
q Architekten: Kaspar Architectes, Villarlod q Label:
FR-002-P q Heizung: 100 Prozent Holzfeuerung q Warmwasser: 60 Prozent Solarenergie
thermisch, 40 Prozent ElektroWassererwärmer.
23. März 2008
FORTSETZUNG VON SEITE 115
Ökohaus
im Wandel
Pflichtenheft geschrieben. Die
Erweiterung des Hauptsitzes der
Helvetia Patria in St. Gallen von
Herzog & de Meuron oder das
Freizeit- und Einkaufszentrum
Westside in Bern von Daniel
Libeskind zeigen, dass auch renommierte Entwerfer nach Minergiestandard bauen können,
wenn die Bauherrschaft das will.
Eine wesentlich grössere Herausforderung als das «gewöhnliche» Minergielabel stellt für die
Planer die Erfüllung des Labels
Minergie-P dar. P wie Passivhaus,
ein Haus, das keine herkömmliche Heizungsanlage mehr benötigt, sondern den Heizenergiebedarf weit gehend durch interne
Wärmegewinne deckt: Sonneneinstrahlung, Abwärme von Personen und Geräten. Häuser mit
diesem Zertifikat gibt es in der
Schweiz bislang rund 200.
IMMOBILIEN-EXTRA 117
HÖLZERNE
WOHNKISTE
Ein wenig erinnert dieses Haus an
früher, als Gemüse in hölzernen
Harassen transportiert wurde.
Und das Bild täuscht nicht: Auf
dem massiven, zurückspringenden
Sockel, in dem der Architekt sein
Atelier eingerichtet hat, liegt die
ganz in Holz konstruierte Wohnkiste. Ursprünglich sah diese aus
wie eine Spanschachtel, die nur
darauf wartet, als Ostergeschenk
bunt bemalt zu werden, inzwischen haben Sonne, Wind und
Wetter das Holz nachgedunkelt.
EINFAMILIENHAUS,
HÜTTWILEN TG
q Architekt: Bauatelier Metzler,
Hüttwilen q Label: TG-003-P
q Heizung: 60 Prozent Wärmepumpe Aussenluft, 30 Prozent
Holzfeuerung, 10 Prozent Elektro direkt q Warmwasser:
100 Prozent Wärmepumpe
Aussenluft.
Das Label macht die Objekte
miteinander vergleichbar
Weder Minergie noch Minergie-P
schreiben freilich vor, aus welchen Materialien ein Gebäude
konstruiert werden muss. Kunststofffenster, lösungsmittelhaltige
Farben und Lacke oder formaldehydbelastete Bauteile – das alles
kann es in einem Minergiehaus
durchaus geben. Die Entwickler
des Labels wollten den Karren
nicht überladen und hatten sich
zunächst auf ihr zentrales Thema
beschränkt: die Energieeffizienz.
Nur so gelang es, das Label in
weiten Kreisen als Standard zu
etablieren. Die Lücke wurde inzwischen geschlossen mit den
Labels Minergie-Eco und Minergie-P-Eco, die zusätzliche Anforderungen an eine gesunde und
ökologische Bauweise stellen.
Jedes Haus, das ein Minergieoder ein Minergie-P-Label trägt,
erfüllt die entsprechenden Anforderungen. Genauso oder annähernd so energieeffizient bauen
kann man auch ohne Label-Auszeichnung; es mag Gründe geben,
um auf die vorgeschriebene Lüftung zu verzichten oder um die
eine oder andere Anforderung
nicht ganz zu erfüllen. Doch erst
das Label macht die Objekte miteinander vergleichbar, so auch die
hier gezeigten Beispiele. Sie haben alle eines gemeinsam: das
Minergie-P-Label. Eines – die
Wohnüberbauung Eulachhof in
Winterthur – trägt gar das Label
Minergie-P-Eco.
Keine Avantgarde, aber
durchaus zeitgemäss
«Kupfer-Wolle-Bast»? Weit gefehlt, keines der Häuser entspricht dem angestaubten Klischee eines Ökohauses. Man mag
zwar die gestalterische Avantgarde vermissen, doch alle Objekte sprechen eine durchaus zeitgemässe Sprache. Ihre einzige
Gemeinsamkeit ist das kompakte
Bauvolumen, denn eine minimale Fassadenoberfläche bietet die
besten Voraussetzungen, um die
Wärmeverluste gering zu halten.
Reich gegliederte Baukörper mit
zahlreichen Vor- und Rücksprüngen sind da (noch) kaum zu machen. Beim energieeffizienten
Bauen gilt, wie bei anderen Regeln auch: Kein Gesetz verhindert
gute Architektur, aber nur ein
guter Architekt ermöglicht sie.
* Internationale Minergie-Fachtagung 2008: Zukunftsstrategien
für den Gebäudepark Schweiz.
10 Jahre Minergie – die Zukunft
des Bauens. 6. Juni 2008, Grand
Casino, Luzern, www.minergie.ch
WANDELBARER
ZWEITEILER
Zwei Volumen zeichnen sich deutlich ab: die Holzkiste und der
Walmdachdeckel, dazwischen liegt
ein Glasband als Fuge. Zwei Parteien wohnen in diesem Haus, allerdings liegt die Trennung weder
beim Glasband noch in der Mitte
des Hauses. Die beiden Wohnungen sind so ineinander verschachtelt, dass jede eine allseitige
Orientierung und einen Zugang
zum Garten hat. Mit nur wenig
Aufwand lassen sich die Wohnungen verwandeln, um für künftige Ansprüche gerüstet zu sein.
ZWEIFAMILIENHAUS,
GOLATEN BE
q Architekt: Aardeplan Architekten, Zug q Label: BE-020-P
q Heizung: 100 Prozent Wärmepumpe Aussenluft q Warmwasser: 65 Prozent Solarenergie
thermisch, 35 Prozent Wärmepumpe Aussenluft.
SONNIGE
WOHNWAND
Dies ist der Klassenbeste unter
den hier gezeigten Beispielen,
denn es erfüllt nicht nur den Minergie-P-, sondern auch den EcoStandard. Konstruiert ist das Gebäude in Skelettbauweise mit Geschossdecken aus Beton und einer Holzfassade mit Cellulosedämmung. Den grössten Teil der
Wärmeversorgung übernimmt die
Sonne an der Südfassade, wo ein
Solarglas die Wärme speichert
und bei Bedarf an die Räume abgibt. Von unten nicht zu sehen ist
die Fotovoltaikanlage auf dem
Dach, die für Elektrizität sorgt.
WOHNÜBERBAUUNG
EULACHHOF, WINTERTHUR ZH
q Architekt: GlassX AG, Zürich
q Label: ZH-001-P-ECO q Heizung: 80 Prozent Wärmepumpe
Aussenluft, 20 Prozent Fernwärme q Warmwasser: 100 Prozent
Wärmepumpe Abwasser.
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