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Title
Author(s)
Citation
Issue Date
Type
Skepsis und Dialektik
Habermeier, Rainer
Hitotsubashi journal of arts and sciences, 38(1):
23-44
1997-12
Departmental Bulletin Paper
Text Version publisher
URL
http://doi.org/10.15057/13310
Right
Hitotsubashi University Repository
Hitotsubashi Journal of Arts and Sciences 38 (1997) 23-44. C The Hitotsubashi Academy
SKEPSIS UND DIALEKTIK
RAINER HABERMEIER
I.
Zur Zeit watet die westeuropaische Philosophie immer noch in einer Hochfiut des
Relativismus, und es scheint sich, obgleich die Mode des Postmodernismus im Abebben ist,
eine grundsatzliche Uberzeugung von der Absolutheit der Differenz, der Moralitat des
Dissenses und der Bosheit jeglicher Allgemeinheit festzusetzen. Jede Ordnung wird mit
Unterdrtickung gleichgesetzt, jede Kontrolle fuhrt scheinbar direkt in den Gulag oder das KZ.
Die seinerzeit durch die geschichtliche Lage gerechtfertigten, im allgemeinen aber uberspitzten
Einsichten Horkheimers und Adornos werden aus dem Zusammenhang gelbst und als Kleingeld aus-gegeben, um sie mit extremen Thesen leicht zu tiberbieten,
Der philosophische Relativismus ist augenfallig keine isolierte Angelegenheit der Kultur,
sondern spiegelt den von der Wirtschaftsentwicklung geforderten, in der Soziokultur vorherr-
schenden und stets zunehmenden konsumhedonistischen Individualismus, der sich aus der
Oberschicht, wo er seit jeher gepfiegt wird, durch die Mittelschichten in die Unterschichten
ausbreitet (eine direkte Wirkung ist, weil die meisten Konsumtionsmittel nur als Waren
zuganglich sind, natnrlich eine allgemeine Vermehrung der Kriminalitat). Dazu gehdren die
gewohnten Reaktionen, in denen sich seit dem spaten 19. Jahrhundert die konservative Sorge
um die immer gefahrdetere Sinnintegration der Gesellschaft ausdrnckt: vom Morallamento
und Wertkonservatismus in Politik und Massenmedien ilber fundamentalistische Regressionen
in der Religion zu Primargruppen-Idealen in der Philosophie. Zweifellos trifft auf die gegenwartige Phase der Modernitat die klassische Charakteristik der Dekadenz zu, wie sie die
Zeitkritik seit der spaten r6mischen Republik und, die catonisch-taciteische Tradition aufnehmend, die Geschichtsphilosophie seit Vico und Rousseau zeichneten. Bis in den Stil und
Redehabitus der Unterschichten hinein ist der traditionelle Autoritarismus von der exhibitiven
Redseligkeit, bemuhten Witzigkeit und Dauerironie, vulgaren Drastik und extremen Metaphorik abgelost. Was fruher nur die Boheme-Literatur, die Feuilletons und wenige Massenmedien
auszeichnete, ist heute allgemeines Sprachverhalten geworden. Im Geschnatter der Sprachexhibitionisten kdnnen sich nur noch bizarre Extreme und schrille Innovationen ein - momentanes und beneidetes - Geh6r verschaffen, wahrend die erzwungenen Zuhdrer lauern, sogleich
eins drauf zu setzen.
Was ist mit der traditionellen Kritik daran gewonnen? Ihre Wirkung ist sehr gering, ihre
Eitelkeit aber offensichtlich, und ihrer Funktion nach scheint ,sie das Syndrom eher abzusichern, indem sie die Opposition auf den Weg nutzloser Klagen ablenkt. Die Naivitat einer
Sittlichkeit ist nicht zurtickzugewinnen. Ohnehin sind die Kernprinzipien der Modernitat
universalistisch, und geschichtlich konkretisierte Sinngebilde und Wertsysteme fungieren nur
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in einer die universalistische Hauptkultur erganzenden Nebenkulturl. Der immer hemmungslosere Willkurindividualismus, wie wirtschaftsfunktional und von Reklame und Kulturindustrie manipuliert auch immer, ist eine unbestreitbare Folge der Modernitat. Er lebt den
Relativismus, der sich im philosophischen Denken festgesetzt hat. Im Wissenschaftsbetrieb
selbst, unterhalb seiner Ideologie der Diskursrationalitat konkurrenzindividualistisch organisiert, setzt sich der Relativismus in praxi fort, wahrend jener tiefer und tiefer in die Uberspe-
zialisierung und Desintegration, in die Unubersichtlichkeit und Konfusion sinkt.
II
Der Relativismus und seine Bruder, der Skeptizismus und Agnostizismus, sind bekanntlich viel alter als die Modernitat. Sie sind ein Schatten, den die Metaphysik von ihrem antiken
Ursprung an nie abzuschutteln vermochte, ahnlich wie die monotheistische Hochreligion ihre
Repaganisierung in Polytheismen verschiedenster Stufen2.
Wie andere nachsophistische Philosophien in den innen- wie aussenpolitisch niedergehenden Poleis strebt der Pyrrhonismus zuoberst nach der Gluckseligkeit des privaten Einzelnen,
nach der von Gesellschaft und Staat sich abwendenden Eudamonie, und daftr gilt ihm die
Ataraxie, d.h. die Gemutsruhe, der Gleichmut und die Gleichgultigkeit, als die wichtigste
Bedingung. Man erreicht sie durch die subjektive Autarkie, die subjektiv entmachtigende
Entwertung der objektiven Machte, die den Einzelnen beherrschen und bedrohen: die Natur,
die Gesellschaft, die Kultur. An die Natur und die Gesellschaft passt man sich schweigend an,
indem man der alltaglichen Erfahrung folgt, den Konventionen gehorcht und die Traditionen
ehrt. Nicht aus t)berzeugung oder Furcht, sondern weil sie keinen Wert haben und es somit
nicht wert ist, ihnen zu widerstehen oder sich um ihre Anderung zu muhen. Die Aussenwelt
lohnt keine Gefahr und keine Leiden; sie ist nichts wert, und dies zeigt sich der Einzelne in
seiner sokratisch-subjektiven Innenwelt, wo er die absolute Macht der dauernden Geltungsnegation ist, indem er nicht nur die direkten Impulse und Informationen der Aussenwelt,
sondern auch den Sinn der kulturellen Zeichengebilde bezweifelt: es lasst sich keine Geltung,
keine Wahrheit von Aussagen und keine Richtigkeit von Regeln, beweisen. Beim Scholarchen
Pyrrhon und seiner ersten Schtilergeneration im 4, und 3. Jahrhundert v.u.Z. spielt das
kynische Erbe noch sptrbar mit. Die Natur ist uns in der sinnlichen Erfahrung gegeben, und
die Empfindung ist das einzig Sichere. Enthalten wir uns, so folgert Pyrrhon, aller streitenden
Theorien, bleiben wir dem verworrenen Burgerkrieg der grosstuenden Wahrheiten fern und
leben einfach der Alltagsempfindung und den nachsten, wie die Empfindung so selbstverstandlichen Sitten gemass.
Die Nachfolger, despotischen Monarchien unterworfen, mussen die Skepsis radikalisieren. Die zehn Tropoi des Ainesidemos, einige Jahrhunderte nach Pyrrhon aufgestellt, erweitern den Zweifel zur Totalitat: an allen Aussagen und Wahrnehmungen, und zur Universalitat:
in allen Zeiten und Orten, unter allen empirischen Bedingungen. Die Wahrnehmung, das
Denken und Werten sind biotisch-physisch, raumzeitlich, psychisch und geschichtlich wechI Vgl. R.Habermerer: Funktionen der Kultur und der Geisteswissenschaften, Hitotsubashi Journal for Arts and
Sciences 33 (1992), 81 ff.
2 Vgl. R.Habermeier: Klassische Ontologie und Relativismus, in: H.Poser (Hg): Probleme der Onto]ogie, Berlin
1983, S.256 ff,
19971
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selnden Bedingungen unterworfen; ihre Gegenstande sind vermischt und verworren, relativ
und verzerrt. Was dem Einzelnen nbrig bleibt, sind die gleichmtitige Anpassung an die
Aussenwelt und der Genuss der ihrer selbst gewissen Subjektivitat, die durch Antilogien die
Isosthenie aller Aussagen und Regeln aufdeckt und deren Anspruche neutralisiert. Das
allzweifelnde, sich distanzierende Subjekt herrscht uber Alles. Dem monarchischen Pankrator
in der Aussenwelt tritt unmerklich ein Allherrscher in der Innenwelt entgegen. Das skeptische
Subjekt entschadigt sich fur seine aussere Knechtschaft durch das freie Denken
(Hegels 'Phanomenologie' zeichnet dies untibertrefflich auO,
Von Beginn an ist der Skeptizismus intelligent genug, um seine Reflexivitat als unvermeidliche Konsequenz anzuerkennen. Die Skepsis wendet sich auch auf sich selbst an, so
lehrt schon Pyrrhon, damit nach der Erledigung der Theorien und Ethiken nicht eine
skeptische Theorie und Ethik tibrigbleibt und zu einer Dogmatik gerinnt, die andere zur
Unterwerfung zwingen will. Stattdessen muss die skeptische Theorie auch sich selbst erledigen,
um der ataraktischen, atheoretischen Lebenspraxis Platz zu machen. Der Rtickzug in das
Bathos des Alltags ist aber nicht endgultig. Immer wieder muss der Weise den aufdringlichen
Geltungsanspruch neuer Theorien abwehren. Den spateren Skeptikern hingegen ist die Skepsis,
die Allmacht des negierenden Subjekts, am wichtigsten, der Genuss des Alltags ist sekundar.
Bei Pyrrhon taucht erstmals der Vergleich der sich selbst suspendierenden Theorie mit
einer Leiter auf, die man nach dem Aufstieg hinunterst6sst. Vermutlich regen dazu Mysterienreligionen und 6stliche Hochreligionen, auch pythagoreische Traditionen an, wo das Bild
der Anagoge, des methodischen, durch Ritus, Askese oder Meditation errungenen Aufstiegs
zur Gottheit, verbreitet ist. Die Anagoge windet sich durch eine folgerechte Aufstufung, in der
die stufenspezifischen Krisen jeweils mit einer Metanoia ilberwunden werden, einem tiefreichenden Sinneswandel, der die Motivationsstruktur und Erfahrungsbedingungen verandert und
damit die Welt- und Selbstsicht. Sokrates und sein Schtiler Antisthenes wenden diese Figur in
der Ethik an (mit Nachwirkungen bis Kant). Die Tugend ist lehrbares Wissen, und wer einmal
aufgeklart worden und tugendsam ist, kann nicht wieder dumm und b6se werden. Die ethische
Rationalisierung ist unwiderruflich, eine Regression ist ausgeschlossen. Denn vieles Wissen ist
zwar vergessbar, aber nicht so die eigene transzendentale und ethische Subjektstruktur, die
hier als die Einsicht in das gottliche Gute erscheint.
Das Bild der Anagoge behauptet nicht nur die Unumkehrbarkeit der Rationalisierung,
sondern ist auch ein Versuch, das Aporem zu I sen, das die reflexive Negation der Geltung
aufwirft. Die Negation der Negation oder die doppelte Negation stellt kein logisches Problem
dar, wohl aber die Negation der Geltung einer Aussage durch diese Aussage selbst. Nachdem
der eleatische Zenon, wie Aristoteles bezeugt, die Dialektik erfunden hatte, um mit Paradoxa
den Realismus ad absurdum zu fuhren, entwickelt Sokrates die Maieutik, die den common
sense in die Aporie und Agnostie, in das offene Eingestandnis des Nichtwissens, aufldst; und
denselben Zweck verfolgen die eristischen Fangfragen der megarischen Sokrates-Schuler. Der
beriihmte Pseudomenes des Megarikers Eubulides ist in der logischen Struktur der reflexiven
Skepsis sehr ahnlich. Doch der Skeptizismus hat sich eine Reflexionsstufe hoher geschwungen3.
3 Auch der Neopositivismus hat eine Schwache ftr die fruhen Gestalten der Dialektik. Wahrend Russel die
Aporeme mit der Theorie der logischen Typen zu tilgen sucht, nimmt die 'Logisch-philosophische Abhandlung'
Wittgensteins das Leiterbild zu Hrlfe, um sich gegen sich selbst zu rechtfertigen: die Philosophie rst keine Lehre,
sonderm eine Praxis, namlich die logische Klarung gegebener Lehren (darin setzt sich ein Element der sokratischen
Dialogik fort). Die Mittel fiir diese K]arung werden nach dieser uberfltlssig und daher abgeworfen.
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Er wendet die Geltungsnegation auf sich an nicht nur, um eine Theorie zu bezweifeln, sondern
um uberhaupt jede Theorie aufzuldsen - und damit alle Substanz, denn nur von einer solchen
vermag eine Theorie ihre absolute Wahrheit zu empfangen. Anders als in den Religionen, aus
denen es entliehen wird. besagt das Leiterbild in der Philosophie, dass an die Stelle der
Wahrheit als Adaquation einer Substanz die Wahrheit des Selbstbewusstseins getreten ist, das
die Substanz und ihr Abbild als seine Selbstentfremdung durchschaut und fur immer aufgel6st
hat. Die philosophische Wahrheit ist prinzipiell anders als die lebensdienlichen Erkenntnisse,
die sich in den Einzelwissenschaften aus ihrer lebenspraktischen Rohform reinigen und
systematisieren. Sie ist das Subjekt als diese negative Bewegung, die Substanzen in sich
aufzul6sen, wodurch sie aber Substanzen stets aufs neue voraussetzen muss, um sie aufzulosen
und dadurch selbst zu sein: Selbst zu sein. Der radikalisierte, vollendete Skeptizismus ist also
mehr als eine belanglose Abrundung Pyrrhons, er steht vielmehr eine Denkstufe iiber ihm.
III .
Die seit der Antike ubliche k.o.-Widerlegung der totalen Skepsis ist, dass sie ein perform-
ativer Widerspruch sei. Jede Ausserung, auch eine negative, fragende, befehlende, Gefuhle
ausdrtickende, setzt die Geltung ihrer Sinngehalte voraus, u.a, sprachpragmatische Regeln der
Bedeutung und der darin enthaltenen Ontologie, der Existenzaussagen uber die Sprachinteraktoren. Jede Ausserung kann diese Geltung nur bei Strafe der Sinnlosigkeit in Frage stellen oder
leugnen. Der performative Widerspruch steckt nicht nur in expliziten und affirmativen
Selbstreferenzaussagen der Skepsis, sondern auch in negativen oder zweifelnden Aussagen, ja
auch in extraverbalen Handlungen, in Gesten und im Alltagsleben tiberhaupt. Das bei
modernen Apologeten des Skeptizismus beliebte Contra-Argument, dass die Skepsis keine
affirmativen Aussagen enthalte, sondern lediglich epoch
sei, ist ebenso hintallig wie der
Rbckzug in den atheoretischen Alltag. Denn sie ist ja nicht Schweigen oder Leblosigkeit; sie ist
zuerst theoretische Entkraftung von Theorien und Ethiken, sodann Allaussage (Skeptizismus)
uber die Unerkennbarkeit der Geltungen und danach endlose Reihe der alltaglichen Wahrneh-
mungen und Sprachhandlungen.
Mit einer eigenen Version des Arguments des performativen Widerspruchs macht sich
Hegels 'Phanomenologie des Geistes' anheischig, dem Skeptizismus einen Ausweg zu er6ffnen.
Die Voraussetzung dafur bietet der Stoizismus. Er entsteht aus dem Umschlag der Abstraktion, zu der sich das Bewusstsein des von der Harid- zur Denkarbeit aufsteigenden Knechtes,
der gebildet die Gegenstande denkend bearbeitet, gesteigert hat, in das reine Denken, in das
Selbstbewusstsein des Begriffs. Hierin erreicht die Menschheit erstmals die Philosophie der
Denkfreiheit. "Im Denken bin lch frei, weil ich nicht in einem Anderen bin, sondem
schlechthin bei mir selbst bleibe und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter
Einheit mein Furmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir
selbst."4 Mit diesen hellen Satzen fuhrt Hegel den Stoizismus ein, doch verabsaumt er nicht,
sogleich seine Grenzen zu bezeichnen: er ist dieses denkende Bewusstsein nur abstrakt, Ieer
4 Hegel: Phanomenologre des Geistes. Werke in zwanzig Banden, Frankfurt 1970, Bd.3, S.156. Schon 1802
verdffentlicht Hegel eine umfangreiche Abhandlung iiber das 'Verhaltms des Skeptizismus zur Philosophie', wo der
radikale antike Skeptizismus des Ainesidemos zum "echten Skeptizismus" und Geist der Philosophie erhoben wird,
um dem anmassenden Aenesidemus-Schulzes entgegengesetzt zu werden,
1997]
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allgemein. Wie in der Empfindung die Einheit des Subjekts und Objekts ganz unmittelbar ist,
so hier im Denken der Begriife. Dennoch ist er wie jene vermittelt, ja hat sogar, im Unterschied
zu jener, seine vermittelnde Entwicklung vergessen. Er besteht durch dieses Vergessen, das ein
Nichtstun ist. Wie der Herr arbeitet er nicht. Darum macht er bald Langeweile: "Auf die
Frage an ihn, was gut und wahr ist, hat er wieder das inhaltlose Denken selbst zur Antwort
gegeben: in der Vernilnftigkeit soll das Wahre und Gute bestehen."5
Die Verwirklichung dessen, wovon der Stoizismus nur den abstrakten Begriff hat, ist der
Skeptizismus, die neue, hohere Stufe des Selbstbewusstseins. Wie der Knecht arbeitet die
Skepsis, sie beweist im Einzelnen, an jeder Theorie, Ethik und Wahrnehmung, dass deren
Geltungsansprtiche nichtig sind. Alles Objektive, ob nattrliches, soziales oder kulturelles, wird
konkret-polemisch seines Ansichs beraubt. Denn das Selbstbewusstsein hat den Stoizismus in
sich aufgehoben, so dass es weiss, dass es freies Selbstbewusstsein, allen Objekten und
Substanzen tiberlegen, ist: "im Skeptizismus wird nun ftir das Bewusstsein die ganzliche
Unwesentlichkeit und Unselbstandigkeit dieses Anderen; der Gedanke wird zu dem vollstandigen, das Sein der vielfach bestimmten Welt vernichtenden Denken, und die Negativitat des
freien Selbstbewusstseins wird sich an dieser mannigfaltigen Gestaltung des Lebens zur realen
Negativitat."6
Der Skeptizismus ist die Philosophie der dialektischen Bewegung, durch die der Stoizis-
mus entstand und durch dessen Vergessen dieser besteht: der Prozess von der sinnlichen
Gewissheit durch die Wahrnehmung und den Verstand, durch die Begierde, den Kampf der
Selbstbewusstseine, Herrschaft und Knechtschaft zur stoischen Denkfreiheit, damit auch
durch sittliche Gesetze und die zufallig geordneten Begriffe der Einzelwissenschaften7. Vor
dem Skeptizismus erscheint die dialektische Bewegung diesen vielen, voneinander unterschiedenen und entgegengesetzten Einzelgestalten des Bewusstseins als Negation von
aussen, Zerstbrung durch ausseren Kampf und Konkurrenz, ein vernichtendes Schicksal, wie
es (bei Anaxagoras und der indischen Philosophie: die Talionskette des Lebens) ein Jegliches
ereilt und mit dem Untergang fur seine unausweichliche Lebensschuld bestraft. Der Skeptizismus jedoch versteht seine Skepsis als die dialektische Bewegung selbst. Der Untergang
geschieht den Einzelnen von aussen, die Skepsis aber vollzieht selbst den Untergang an ihnen
und iasst sie verschwinden. Dies ist die Wirklichkeit der skeptischen Freiheit, und dabei macht
das freieSelbstbewusstsein vor nichts halt: tiber Pyrrhon hinausgehend, entwertet es auch seine
Wahrnehmung, ebenso die "Sophisterei"B, die dem Skeptizismus nachststehende, rhetorisch
geschickte Willkurmethode, irgendeine Position heute zugunsten einer zahlenden anderen zu
widerlegen und morgen diese, so jene zahlen wird. Zuletzt entkraftet es auch den Stoizismus,
um wieder von vorne mit den Entkraftungen anzuheben. In der dialektischen Vernichtung
aller Geltungsansprtiche erF hrt es die unwandelbare Gewissheit seiner selbst; das siegreiche
Sichselbstdenken ist die Ataraxie.
Auf dieser Stufe des Bewusstseins tritt somit erstmals eine Gestalt auf, die nicht ein
Umschlag hervorbringt, der das Vergessen der Entstehung der Gestalt ist. Der Skeptizismus
hat schembar sem Werden mcht vergessen ("mcht [・・・] hinter sich"9, denn er ist die
s
6
7
B
9
A.a.O..
A.a.O.,
A.a.O_,
A.a.O.,
A.a.O.
S.158.
S.159.
S.160.
S.161.
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selbstbewusste, denkende Wiederholung seines geschichtlichen Werdens. Das Bewusstsein
sieht sich als Wesen der ewig sich verandernden Wirklichkeit: es "selbst ist die absolute
dialektische Unruhe"ro. Der Skeptizismus steht tiber dem von Hegels Einleitung vorlaufig
umrissenen Schema der phanomenologischen Dialektik, welche die sich vollendende Erfassung
eines Objekts in die Erscheinung einer neuen, ihrer Entstehung unbewussten Gestalt des
Bewusstseins umschlagend verwandelt, und scheint mit der dialektischen Philosophie zu
konvergieren. Als Denken seiner eigenen Entstehung ist er in hoherem Sinne reflexiv als die
oben erwahnte Vollendung und Aufhebung der Skepsis durch die Skepsis der Skepsis. Sein
Denken verleiht dem Leiterbild eine zweite und tiefere Bedeutung: es ist der denkende
Aufstieg und ineins das Wissen, dass es der vollendete Aufstieg ist.
In Hegels Auffassung hat jedoch der Skeptizismus nicht die H6he der echten dialektischen
Philosophie erklommen. Er ist zwar eine dialektische Bewegung, aber er ist nicht der
notwendige, Iogisch-systematische Prozess, in dem sich die spekulative Dialektik entfaltet. Er
setzt einmal hier an, andermal dort an, einmal auf diese Weise, einmal auf jene Weise, dem
Zufall der Themen hingegeben, die ihm iiber den Weg laufen. Um den Unterschied hervorzuheben, druckt sich Hegel drastisch aus: der Skeptizismus ist ein "Gemisch von sinnlichen und
gedachten Vorstellungen, deren Unterschiede zusammenfallen und deren Gleichheit sich
ebenso - denn sie ist selbst die Bestimmtheit gegen das Ungleiche - wieder aufi6st. Dies
Bewusstsein ist aber eben hierin in der Tat, statt sichselbstgleiches Bewusstsein zu sein, nur
eine schlechthin zufallige Verwirrung, der Schwindel einer sich immer erzeugenden Unordnung."II Aus der Verwirrung folgt, dass der Skeptiker sich in der Lebenspraxis an die ebenso
zufalligen Natur- und Sozialordnungen anpasst, deren Geltung er gerade leugnet. Tierisch
nennt Hegel das skeptische Bewusstsein, das in der Lebenspraxis "sich nach dem richtet, was
keine Realitat ftr es hat, dem gehorcht, was ihm kein Wesen ist, das tut und zur Wirklichkeit
bringt, was ihm keine Wahrheit hat."I2 Das Herumgetriebenwerden im Alltag ist eine armselige Gltickseligkeit, die uns zu lehren sich dies Bewusstsein anheischig macht.
Andrerseits springt es aus der Verlorenheit in der realistischen und konventionellen
Lebenspraxis zurtick in die Ataraxie des selbstgewissen Denkens und umgekehrt. Es ist das
bewusstlose Hinundher, denn es bringt die beiden Extreme nicht zusammen: "es erkennt seine
Freiheit einma/ als Erhebung uber alle Verwirrung und alle Zurrilligkeit des Daseins und
bekennt sich ebenso das andremal wieder als eln Zurukfallen in die Unwesentlichkeit und als
ein Herumtreiben in ihr."I3 Es ist ein existierender Selbstwiderspruch: "es spricht die Nichtigkeit des Sehens, H irens usf. aus, und es sieht, hdrt usf. selbst; es spricht die Nichtigkeit der
sittlichen Wesenheiten aus und macht sie selbst zu den Machten seines Handelns. Sein Tun und
sein Handeln widersprechen sich immer, und ebenso hat es selbst das gedoppelte widersprech-
ende Bewusstsein der Unwandelbarkeit und Gleichheit und der volligen Zufzilligkeit und
Ungleichheit mit sich."I4 Hegel zieht diesen Widerspruch zwischen der Theorie und der
Lebenspraxis so auf die Theorie zusammen, dass wir heute darin eine Version des Arguments
des performativen Widerspruchs lesen: "es spricht das absolute Verschwinden aus, aber das
lo
.a.O.
ll
_a.O., S_161,
12
.a.O. Hegel nimmt damit eine Kritik der Stoa am Skeptizismus auf, deren sich auch Hume bedient.
13
.a.O.,
14 A.a.O.
S. 1 62.
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Aussprechen ist, und dies Bewusstsein ist das ausgesprochene Verschwinden"I5 Im Unterschied
allerdings zur heutigen Kritik zielt Hegel nicht auf die Widerlegung der totalen Skepsis,
sondern heftet seinen Blick auf die Bewusstseinsbewegung des Widerspruchs. Der Skeptiker
namlich sieht den Widerspruch in sich nicht als solchen. Wie oben dargelegt, sieht er seine
Philosophie vielmehr als Leiter, die er, nachdem er zur atheoretischen Lebenspraxis auf-
gestiegen ist, zurtickstcsst, auch wenn er sie immer wieder gebrauchen muss, um die
dogmatischen Angriffe neuer Theorien, Ethiken und Wahrnehmungen abzuwehren. Der
Ausweg, den Hegel anbietet, ist die Anerkennung des skeptischen Bewusstseins, dass es ein
existierender Widerspruch ist. t)berwindet es seine Gedankenlosigkeit, in der es existiert, so
verschwindet es, eriost sich sozusagen aus dem Ubel seiner Dummheit, und im Verschwinden
erscheint eine neue Gestalt: das ungltickliche Bewusstsein. Es ist in sich gedoppelt, indem es
den Selbstwiderspruch als zwei einander widersprechende Selbstbewusstseine in sich hat. Hegel
kennzeichnet damit das religiose Bewusstsein des mittelalterlichen Christentums, wie ja in der
antiken Geschichte der Stoizismus und Skeptizismus das Christentum vorbereiten, das sich in
einer Zeit ausbreitet, deren gesellschaftlichen und politischen Verhaltnisse gewissen Sozial-
schichten eine noch schwerere Unterdrilckung auferlegen, so dass diese ihr ataraktisches
Selbstbewusstsein der denkenden Grandiositat in das Jenseits auf den allmachtigen Eingott
projizieren, wogegen ihnen der mindere Status der sundigen Kreatur im diesseitigen Jammertal
zuFillt. Die armselige Eudamonie des Skeptikers in der ataraktischen Anpassung an das real
Bestehende wird damit noch, wie in jeder Hochreligion, unterboten.
In dem zitierten Abschnitt der 'Phanomenologie' streift Hegel lediglich den besonderen
Charakter des Skeptizismus, der ihn aus der Reihe der Bewusstseinsgestalten heraushebt. Der
Skeptizismus verschwindet im unglticklichen Bewusstsein, und dieses wiederum hebt sich in
die Vernunft der Neuzeit auf. Andernorts aber behandelt die 'Phanomenologie' den Skeptizismus ernsthaft als Vorform der spekulativen Dialektik. In der 'Einleitung' nennt Hegel die
dialektische Phanomenologie den Weg des radikalen Zweifels, der somit der "Weg der
Verzweifiung"I6 sei, auf dem jede Gestalt des Bewusstseins ihre Wahrheit verliere. Es ist der
"sich vollbringende Skeptizismus", die "ausfuhrliche Geschichte der Bildung des Bewusstseins
selbst zur Wissenschaft". Darin wird sowohl der Autoritarismus, der aufgrund der Macht
anderer glaubt, als auch die Eitelkeit der Meinung, die aufgrund ergener Vorurteile glaubt
ilberwunden. "Der sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins richtende
Skeptizismus macht dagegen den Geist erst geschickt zu prufen, was Wahrheit ist, indem er
eine Verzweiflung an den sogenannten naturlichen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen
zustande bringt, welche es gleichgultig ist, eigene oder fremde zu nennen, und mit welchen das
Bewusstsein, das geradezu ans Prufen geht, noch erfullt und behaftet, dadurch aber in der Tat
dessen unfahig ist, was es unternehmen will."]7 ,.Geradezu" priift ein Bewusstsein, das mit dem
zufallig ihm Gegebenen beginnt. Daher verwirft oder billigt es auch zufallig, denn seine ihm
unbewussten Vorurteile leiten es bei der Prufung. Die spekulative Dialektik geht hingegen
logisch-systematisch vor und beginnt mit dem einfachen Ansich. Sie weiss also schon, denn sie
ist Rtickkehr des Wissens in seine Genesis: wissende Naivitat, wie die sokratische Maieutik
15
16
.a.O. Hegel spielt hier deutlich auf die positive Version des Arguments bei Descarts, Principia 1 7, an.
egel, a.a.O., S.72. Dies nattrlich wieder im Blick auf den cartesianischen Beginn der neuzeitlichen
Philosophie.
17
,a.O.,
s.73.
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ironisch im unwissend falschen Bewusstsein der anderen anhebt (Sokrates jedoch weiss als
einziger, dass er als einzelner nichts weiss, wogegen Hegels absolutes Wissen in gespielter
Naivitat zu seinem Beginn zurtickkehrt). Sie ist immanente Kritik, wie sich schon bei der
zweiten Bedeutung des Leiterbildes angedeutet hat. "Die Vollstdndigkeit der Formen des nicht
realen Bewusstseins wird sich durch die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges
selbst ergeben."I8 Aus der immanenten Negation ergibt sich durch den Umschlag eine neue
positive Gestalt. Insofern ist die spekulative Dialektik "nicht eine blosse negative Bewegung",
wie der common sense irrtumlich die Dialektik ansieht. Was diesen schlecht dunkt, macht sich
eine Gestalt zu ihrem positiven Wesen, namlich der Skeptizismus, "der in dem Resultate nur
immer das reine Nichts sieht und davon abstrahiert, dass dies Nichts bestimmt das Nichts
dessen ist, woraus es resultiert. Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen,
woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes
und hat einen Inhalt"I9, d.h. eine neue Gestalt des Bewusstseins. Die Skepsis ist keine
eingehend konkrete, immanente Kritik, "bestimmte Negation"20, sondern endigt stets mit der
leeren Negation der Geltunganspruche. Von einem solchen Resultat kann der Skeptizismus
nicht notwendig zur Kritik der nachsten Gestalt fortschreiten, "sondern muss es erwarten, ob
und was ihm etwas Neues sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen."21
'Leerer Abgrund ftr den Abfall' ist die Grundbedeutung des griechischen 'chaos'; der
Skeptizismus iasst Chaos hinter sich, dagegen die spekulative Dialektik die notwendige
Stufenfolge der aufgehobenen Gestalten. Nennt Hegel auch die spekulative Dialektik zuvor
Skeptizismus, so macht er also doch im weiteren einen tiefen Unterschied. Der Skeptizismus
"ist eine der Gestalten des unvollendeten Bewusstseins, welche in den Verlauf des Weges selbst
fallt und darin sich darbieten wird."22 Aber Hegel kann sich nicht enthalten, eine kleine
Schmahung beizufugen: der Skeptizismus ist eine "Eitelkeit, welche sich jede Wahrheit zu
vereiteln, daraus in sich zuruckzukehren versteht und an diesem eigenen Verstande sich
weidet, der alle Gedanken immer aufzuiosen und statt alles Inhalts nur das trockene lch zu
finden weiss"23. Man geht wohl nicht allzu fehl damit, die in diesem Zusammenhang unpassende Schmahung als Anzeichen dafur zu lesen, dass Hegel den Skeptizismus ftr einen
gefahrlichen, weil attraktiven Konkurrenten seines spekulativen Idealismus halt, der diesen des
Dogmatismus ilberfuhren konnte. Denn der Begriff der bestimmten Negation ist als Programm
plausibel, aber viele Durchfiihrungen Hegels uberzeugen nicht.
Ein Jahrzehnt spater nimmt die 'Enzyklopadie' Hegels das Problem der Abgrenzung und
Abwertung des Skeptizismus nochmals auf. Im 'Vorbegriff zur Wissenschaft der Logik' preist
Hegel, nachdem er die alte Metaphysik, den Empirismus, die Kantsche Philosophie und das
angeblich unmittelbare Wissen Jacobis kritisiert hat, das cartesisch-neuzeitliche Axiom der
Voraussetzungslosigkeit (oder Vorurteilslosigkeit). Dies Axiom soll den Anfang der Philosophie machen, und damit drangt sich naturlich der Skeptizismus auf. Hegel schiebt ihn
sogleich als "unerfreulich"24 beiseite: der systematische Zweifel und Widerspruch sind ohnehin
18 A.a.o.
19
20
21
.a.O., S.74.
.a.O., S.75.
.a.O., S.74.
22
.a.O.
23
.a.O., S.75.
nzyk]opadie, Paragraph 78, vgl.25.
24
1997]
SKEPSIS UND DIALEKTIK
31
ein Moment der wahren Philosophie, der Skeptizismus hingegen muss seine Gegenstande
zufallig auffinden und ohne notwendige Reihenfolge behandeln. Die dialektische Philosophie
rst der "vollbrachte Skeptrzrsmus": der notwendig entfaltete und konkret durchgefuhrte.
Daher rst der Skepttzlsmus als ergenstandige Philosophie "uberfiussig". Hier wiederholt sich
die fruhere Kritik in gedrangter Form. Hegel geht aber dariiber hinaus, wenn er den
Skeptizismus als eine Verselbstandigung der Dialektik durch den Verstand bezeichnet25
Das Logische teilt er in drei Seiten ein: die "abstrakte oder verstandige", die "dialektische
oder negativ-verntinftige" und die "spekulative oder positiv-vernunftige" Seite26. Der Verstand
bleibt in dem Unterscheiden der Bestimmungen stecken, weil diese ihm als substantiell gelten.
Die dialektische Vernunft lasst die endlichen Bestimmungen in deren entgegengesetzten
ubergehen. Sie kennt zwei Abirrungen, wenn sich der Verstand ihrer bemachtigt27. Die erste ist
das "R sonnement" der ausserlichen Reflexion, die zwischen Bestimmungen hin- und herschlendert, sie in ihnen gleichgultige Beziehungen setzt und durch scheinbare Widers rtche
Verwirrung stiftet28. Hegels Jenaer Polemik gegen die Kant Flchtesche "Reflexronsphilosop
hie" findet hier ein spates Echo, Die zweite Verstandesabirrung der Vernunft ist der Skeptizismus. Er steigert die erste Abirrung: ist diese nur der Scharfsinn, scheinbare Widerspruche zu
erzeugen, so verhartet sich im Skeptizismus die Prozedur der echten Widersprtche zur leeren
Negation. Gegen beide pocht Hegel - mit einem verhaltenen Pathos - darauf, dass die Dialektik
"immanentes Hinausgehen" aus den endlichen Bestimmungen, also bestimmte Negation ist29
woraus allein der notwendige Zusammenhang im inhaltlichen Fortschritt der Philosophic, d.
i. ihre Wiirde als absolute Wissenschaft, entspringt. Die Skepsis, zum Skeptizismus verselbst-
andigt, ist also eine philosophische Position des Verstandes, ein Standpunkt unter vielen
anderen. Die Skepsis ist keine immanente Kritik, sondern nur Standpunktkritik, eine Kritik
also, die offene oder verborgene dogmatische Voraussetzungen hat, auch wenn der Skeptizis-
mus eine Grenzposition des Verstandes einnimmt, namlich dort, wo er auf die Vernunft
tibergreift.
III .
Dem neuzeitlichen Skeptizismus hat M. Horkheimer eine ideologiekritische Untersuchung gewidmet30. Verglichen mit dem antiken Skeptizismus, der auch in einer Ara des langen
Umbruchs bliiht, die ein herrschendes Stadtburgertum dem zentralisierten Grosstaat unterwirft, geht der neuzeitliche aus dem Geiste einer aufsteigenden Bourgeoisie hervor, die
durch kapitalistischen Handel und in wachsendem Masse durch kapitalistische Manufakturproduktion zu Reichtum und politischem Einfluss sowie zu den dazugehdrigen Posten und
Titeln gekommen ist. Das antike Polisburgertum schaut in die dustere Zukunft der auf25
.a.O., Paragraph 8 1 .
26
.a.O., Paragraph 79.
27 Der Verstand greift im ilbrigen auch auf die positive Vernunft oder Spekulation uber. Die gew6hnliche
Forrnallogik is.t die "Verstandes-Logik" (Paragraph 82), die von der spekulativen Logik tibrig bleibt, wenn die
dialektischen Ubergange weggelassen werden, namlich eine "Historie" einiger Denkformen,
28
.a.O., Paragraph 81.
29
,Alles Endliche ist dies, sich selbst anfzuheben." (Paragraph 8 1 ). Die idealistische Dialektik beansprucht,
"dies" zu sein und ineins die schon im Sichwissen vollendete Totalitat.
30
ontaigne und die Funktion der Skepsis, ZfS 7 (1938), in: Gesammelte Schriften, Frankfurt 1988, Bd.4.
32
HITOTSUBASHI JOUKNAL OF ARTS AND SCIENCES
[December
dammernden Militardespotien, das Patriziertum der fruhen Neuzeit in die wirtschaftliche
Sicherheit und Entwicklung verheissende Zukunft des autkeimenden Nationalstaates, den die
absoluten Monarchien aufzuziehen beginnen.
Doch beide haben nicht nur unmittelbar den Verfall ihrer stadtburgerlichen Freiheit und
Macht hinzunehmen, sondern auch die sozialen und kulturellen Auswirkungen des tiefen
Umbruchs. Massenelend, Volksaufstande, Btrger- und Religionskriege, gehaufte Verbrechen
und Sittenverfall lasten schwer auf den im Umbruch verfangenen Gesellschaften. Es gibt keine
selbstverstandlich und einheitlich geltenden, in festen Institutionen grundenden Weltbilder
mehr. Eine wirre und wechselnde Vielfalt von Religionen alter und neuer Herkunft, von
Philosophien und dogmatischen Glaubenslehren vielerlei Art wogt durch die streitenden
K6pfe.
Wie die antiken Skeptiker lehnt Montaigne es ab, in dieser Schreckenszeit in die trugeri-
sche Sicherheit eines Glaubens zu fltichten und sich einem fanatischen Dogmatismus in die
Arme zu werfen. Es gibt viele Dogmatiken mit Anspruchen auf absolute Wahrheit und
entsprechendem Missionseifer - zwischen allen herrschen Widerspruch, Streit oder sogar
Krieg31. Der Weise betrachtet lachelnd ihre pomp6sen Auftritte und halt sich davon fern.
Absolute Wahrhert? "Schon die Smne smd unsrcher erst recht die Begnffe."32 Wer sich fur
eine religiose oder theoretische Lehre begeistert und aus ihr praktische Konsequenzen zieht,
dem fehlen die scharfe Intelligenz und ein weiter Horizont, Bildung und Erfahrung. Sonst
wusste er, dass sich alle Doktrinen aus unfundierten Hypothesen, blossen Glaubenssatzen und
weit tiberzogenen Verallgemeinerungen aufoauen und an inneren Widersprtichen und Unge-
reimtheiten leiden. Die Doktrinen stammen nicht von Gott oder aus einer anderen unbezweifelbaren Wahrheitsquelle, sondern spiegeln nur die Erziehung, Sitten oder Interessen
der Menschen wider.
Der Skeptizismus macht nicht etwa, wie das beliebte Argument seit der Antike lautet, das
Handeln unm6glich. Denn zum guten Leben ist keine absolute Wahrheit notig, es genugt die
Wahrscheinlichkeit, die wir aus der Welt- und Lebenserfahrung, eigener und fremder, schopfen, also auch aus den plausiblen Traditionen und bewahrten Sitten. Der skeptische Verstand
passt sich dem Bestehenden an, verfolgt unauffallig seine Eigeninteressen und misstraut jeder
Utopie. Er lebt gut seinen nattrlichen Bedtrfnissen gemass in Gewohnheiten und realistischen
Erwartungen, geniesst das Gegebene und tibt gelassene Toleranz. Nicht an engstirnige oder
verstiegene Lehren und an haretische Spekulationen wirft er sein Leben weg, sondern dffnet es
der bestehenden Welt, zur Erfahrung und Beschreibung. Horkheimer zitiert Montaignes
31
ontaignes Ablehnung des Fanatismus geht auf Shaftesbury tiber, dessen Jugend noch die letzten britischen
Btrgerkriege und Regimewechsel erdulden muss. Sein 'Letter concerning Enthusiasm' schlagt 1707 vor, den
religiosen und politischen Fanatismus einer Echtheitsprobe durch Verspottutg zu unterziehen. Die
Gefuhlsnattriichkeit der echten Inspiration durch Gott unterscheidet sich deutlich von der Eitelkeit, Heuchelei
und Betrtigerei des Fanatikers. Der 'Letter' beeinflusst die Autklarung bis in die 'Encyclop6die'. Seitdem gibt es
den Gemeinplatz, dass der Fanatismus und der Humor einen Gegensatz bilden. Im Ursprung also aufkiarerisch,
rutscht er im 20. Jahrhundert in das Klischee-Arsenal der kulturindustriellen Massenmedien ab: alles Intellektuelle
und somit ftr die Unaufgeklartheit ihrer Kundschaft Gefahrliche, zumal wenn es systemkntisch verstanden
werden kann, wird als weltfremd und verstiegen, d.h, als humor]os verschrien. Heutzutage muss jeder bei Strafe
der Diffamierung Humor um jeden Preis demonstrieren (ausser bei dffentlichen Zeremonien der Oligarchien).
Adomo wagt emmal daran zu erinnern, dass z.B. H lderlin und Katka ganz humorlos sind. Andrerseits hatten
viele Nazi-Fuhrer viel Humor, sowohl goldenen als auch schwarzen; vom letzteren umso mehr, je hoffnungsloser
ihr Weltkneg aussah.
32
orkheimer, a.a.O., S.240.
1997]
SKEPSIS UND DIALEKTIK
33
beruhmten Satz: "Ich lehre nicht, ich erzahle", und vergisst nicht Goethes Beifall zu erwahnen.
In der Praxis, zumal in der politischen, ist also die Skepsis Pyrrhons und Montaignes "der
genaue Gegensatz zur Destruktion, als welche sie zuweilen ihren eigenen Anhangern und
Gegnern erscheint. Sie ist ihrem Wesen nach konservativ."33
Was Horkheimer in seiner ansonsten treffenden Darstellung kaum beachtet, ist, dass
dieser Skeptizismus des gemassigten Konservatismus und der behaglichen Entsagung selbst
kein Ismus sein, keine gebieterische Doktrin, nicht einmal eine Theorie sein will. Er hutet sich,
bestreitbare Geltunganspriiohe zu erheben. Aber auch wenn er nur in der Wahrscheinlichkeit
leben will, entgeht er nicht der Hegelschen Kritik an seinem lebenden Widerspruch. Ohnehin
ist sich das gute Leben des Skeptikers'nicht selbst genug, mit einem schweigenden Vollzug und
Verschwinden nicht vollauf zufrieden. Welche seelischen Triebfedern auch immer den Autor
Montaigne bewegen, sich der Offentlichkeit mitzuteilen, Humanitat, die uber den Egoismus
des isoliert privaten Lebensglucks hinausstrebt, oder kluge Vorteilssuche, die mit dem Desinteresse an fanatischen Doktrinen die friedliche Toleranz in der eigenen Gesellschaft verbreiten
hilft, oder nur Exhibitionslust und Ruhmgier des intellektuellen Narzissmus - der neuzeitliche
Skeptiker wahlt fur seine 6ffentliche Miteilung das Gegenteil der Doktrinformen der autoritar-
traditionellen Offentlichkeit, namlich den immer wieder an- und absetzenden Versuch, die
subjektiven Gewissheiten seines Lebens auszudriicken: Iockere Reflexionen, Expressionen und
Bekenntnisse, Kundgaben von Erfahrungen und Erlebnissen, in assoziativer Reihung, mal
zugespitzt, mal redselig, Haupt- und Nebensachliches gemischt, stets aber stilistisch ansprechend, um den Leser nicht zu langweilen oder gar anzustrengen. Montaignes 'Essais', die eine
ganze philosophische und belletristische Gattung stiften, sind die Selbstdarstellung des Subjekts, das sich als Individuum in seiner Einsamkeit ambivalent fiihlt: von den sicheren Institutionen entblosst, daher verlassen und kommunikationsbedtrftig einerseits, andrerseits stolz auf
seine Unabhangigkeit und dem Genuss seiner Subjektivitat hingegeben: "Es ist eine unendliche, fast g6ttliche Vollkommenheit, in richtiger Weise sein eigenes Wesen zu geniessen."34
Dazu gehdrt die Selbstdarstellung fur sich und andere, da die volle Subjektivitat sich objektivieren und daraus wiedergewinnen muss.
Die 'Essais' werden oft missverstanden, und der 'Essay' zum Titel ftr stilistisch brilliantes
Geschwatz feuilletonisiert35. Die 'Essais' sind aber in der Tat Versuche. Mit dem Glauben an
die Geltung der autoritaren Doktrinen entrillt auch das Vertrauen der Vernunft in deren
Formen, die seit Aristoteles' Ablbsung des platonischen Dialogs das dffentliche Denken
fesseln. Ob episteme, summa, disputatio oder (nach Montaigne) System moris geometrici - ftr
den Skeptiker im Zeitalter der Konfessionskriege sind sie Masken des missionarischen Fanatismus, einer Scheinrationalitat, welche die Allgemeinheit usurpiert. Die neue Wissenschaft ist
zu Lebzeiten Montaignes noch nicht so weit entwickelt, dass sie ein philosophisches Selbstbe-
wusstsein gewinnt und die Philosophie in die mathematische oder positivistische Versuchung
fuhrt. Der neuzeitliche Skeptiker will noch weniger zur sokratischen Dialogik zurbck als der
33
.a.O., S.243.
34 Essais 111 13.
;5
eutzutage werfen sich sogar Bildermagazine mit sog. Essays in die Brust. Die Trivialisierung kommt dem
Essay, zur Gattung geronnen, nicht von ungefahr.
34
HITOTSUBASHI JOURNAL OF ARTS
AND
SCIENCES
[December
antike; Montaigne denkt niemals an eine solche Mdglichkeit seiner Form36. Was kann der
Skeptiker tun, wenn er es nicht beim simplen Lebensvollzug belassen darf, wenn er sich in die
Mitteilung an Andere objektivieren muss? Versuche, entsprechend der sich anbahnenden
Experimentalmethodik der neuen Wissenschaften, aber auf verschiedene Weise: es geht nicht
um die Gewinnung eines mathematisch-empirisch sicheren Wissens, sondern um eine andere
Allgemeinheit, nber die das Subjekt noch nichts Bestimmtes weiss. Denn es gibt noch kein
gesichertes Vorbild in der zeitgen6ssischen Philosophie. Es kann und will nichts lehren,
lediglich Meinungen, Versuche des Anfangers, zeigen, um sie mit anderen auszutauschen und
dabei zu lernen37. Also versucht Montaigne in immer neuen Anlaufen, seiner Selbstausdrukkung und Selbstdarstellung intersubjektive Formen zu erfinden und eine neue Allgemeinheit zu
stiften. Die Subjektivitat befreit sich aus dem autoritar verzerrten Dialog, der einzig tradierten
Form des Dialogs, und sakularisiert die Beichte. Das skeptische, grosse Individuum, das uber
jede Gottheit und ihre Priester hinaus ist, tragt seine Monologbekentnisse sich und seinesgleichen vor (schon der Kirchenvater Augustin verselbstandigt so die Konfession). Sein Publikum
sind nicht mehr Kleriker in der Kirche und Universitat. Es plaudert nach dem Bedeutung
gewinnenden Vorbild der hdfischen Diplomatie, welche die neuzeitliche Pluralitat der politischen Machte zur strategischen Vermittlung uberredet, und vor allem nach dem noch wichtigeren neuen Vorbild des aus den Zunftschranken emanzipierten Marktes, wo sich im freien
Austausch die warenbesitzenden Individuen mit Hilfe der Warenreklame vermitteln. Wie die
Diplomatie rhetorisch versiert sein muss, so haben das Aussere der Ware und ihre Anpreisung
die Kaufinteressenten anzulocken. Die sich bekennende Subjektivitat wird als Mitteilung
zwischen Individuen zu einem anziehenden: inhaltlich zu einem abwechslungsreichen und
stilistisch zu einem eleganten Geplauder. Geistreiche lronie und wohltemperierte Melancholie
sind seine Pole, um die sich humanistische Zitate der Alten ranken. Die affektgeschiittelte
Expression des einsamen Individuums beruhigt sich dabei zur gelassenen, zuweilen redseligen,
zuweilen lakonischen Selbstdarstellung. Nicht mehr die Katharsis und Metanoia wie im
Dialogdrama der Beichte, das sich in der Sundenvergebung und opfernden Reue vollendet,
stehen im Vordergrund, sondern behaglich dehnt sich die neue Ataraxie in der plaudernden
Selbstdarstellung, die keine Vollendung, keinen Abschluss, nicht einmal ein absichtliches Ende
kennt - falls Montaigne langer gelebt hatte, so konnte man Wetten darauf schliessen, dass er
gewiss den umfangreichen 'Essais' weitere Bande hinzugefugt hatte. Das ataraktische Geplauder ist im wesentlichen so form- wie endlos. Die Versuche sind daher der befreiten Subjektivitat schon genug Form, weil mehr, strenge Allgemeinheit ihre Freiheit einschranken wiirde.
Die Allgemeinheit gewinnt sich der plaudemde Monolog nachtraglich tiber den Kulturmarkt. Der Leser, der die Schrift als Ware erworben hat, vervollstandigt den Monolog zum
Dialog. Es ist allerdings kein echter Dialog, sondern ein asymmetrischer: die blosse Rezeption
einer Schrift wie die einer Lehre nach dem Vorbild der Offenbarung durch eine heilige Schrift.
Der Autor will fur sich nicht mehr eine sakrale Autoritat fordern, kein gottgesandter Prophet
oder Priester sein, aber er endet doch als sakulare Gottheit, namlich als Genie. Solcherart steht
seine Vernunft nicht aufrecht. Die befreite Subjektivitat erreicht nur einen halben Dialog,
36
elegentlich erwahnt oder zitiert er den platonischen Sokrates in konventioneller Humanistenweise als
antiken Klassiker. Er ist ihm ein Vorbild, nicht in Hin5icht auf seine Maieutik, sondern auf die skeptizistisch
gedeutete Agnostik der frithen, aporetischen Dialoge. Das beruhmte "Que seay-je?" sieht sich in der Nachfolge des
sokratischenWissens des Nichtwissens (III 1 3).
37
.a-O., 1 54.
1997]
SKEPSIS UND DIALEKTIK
35
dessen Schatten das Gespenst des Autorennarzissmus wirft38
Aber will sie uberhaupt mehr? Die freie Allgemeinheit durch den Marktkompromiss des
Warentauschs hat ihre harte Kehrseite in dem Diktat der Wertgesetze, die als wirtschaftliches
Schicksal die Individuen hinauf- und hinunterspulen. Desgleichen der diplomatische Ausgleich
der politischen Machte, der inner- und zwischenstaatlich den Krieg ersetzen soll. Der Zufall
der rasch wechselnden Situationen, dem sich die politische Klugheit anpassen muss, um ihr
Bisschen zu retten, drilckt die unversdhnten Antagonismen aus, die wie die Wirtschaft so die
Politik im Grunde regieren. In der Soziokultur findet sich das Individuum in allerlei Instituti-
onen und Traditionen, Sitten und sonstigen Gewohnheiten, die es, so es wie Montaigne zur
sich nobilitierenden Oberschicht der Bourgeoisie zahlt, also zu einer der herrschenden Klassen,
nutzlich, angenehm oder ertraglich empfindet, da ihre Anderung kostspielig und der Stabilitat
der Sozialordnung nicht zutraglich ist39. Die vorgefundenen institutionellen Formen der
Erziehung, Sexualitat, Konsumtion, Freundschaft usw, dienen den sinnlichen Bedtirfnissen
der Einzelnen und der Fortpflanzung der Gesellschaft. Der humanistisch gebildete Weise
versteht, sich darin bequem einzurichten; sein Reichtum erleichtert das Sichfugen in die
Traditionen, deren viele sich ohnehin langsam oder schnell andern.
Geben diese somit der Willkur des Individuums mehr oder weniger nach und geniesst es
hier, anders als in den Sozialsystemen der Marktwirtschaft und der Machtpolitik, in gewissem
Masse selbst gestaltend sein Leben, so findet es doch erst in der Kultur das Reich seiner f '
reren
ldentitat. Insofern ist ihm seine Selbstobjektivierung im plaudernden Schriftmonolog wesent-
liches Bedtrfnis. Bald wird sich die abstrakt-formale Universalitat der nomologischinstrumentellen Rationalitat ausbreiten (von Horkheimer spater 'instrumentelle Vernunft'
getauft), die neuen Wissenschaften, Techniken und Organisationsformen, und dazu sich die
der praktischen Rationalitat gesellen, das neue Naturrecht der individuellen Freiheit und
3s
iederholt hebt Montaigne hervor, dass die Absicht der 'Essais' nur die Selbstdarste]lung seines
emprrisch-zufilligen lchs sei und sie an mittelmassige Leser richte, wei] die Dummen daran keinen Geschmack
finden, semesgleichen sie aber nicht notig habe (1 54). Die rtickhalt]ose und im Kontrast zu seiner sozialen
Umwelt ungewdhnliche Aufrichtigkeit, deren er sich ofter als seiner grossen Tugend ruhmt und die auch die
'Essais' auszeichne, rilckt auch seine Laster, u.a. seine Eitelkeit ins Licht der Selbstdarstellung: "Manchmal
schreibe ich geistreiche Einfiaille nieder, die mir selbst zweifelhaft erscheinen, und dann wieder elegante
Formulierungen, die ich nicht ernst nehme; aber ich lasse sie so, wie sie mir gerade kommen; gewdhnlich bildet
man sich gerade auf solche Dinge etwas ein [ ・ ・ ・ I Ich stelle mich dar stehend und liegend, von vorn und von hinten,
von rechts und links und mit allen Runzeln meines Wesens." (III 8; t)bersetzung von A.Franz, Leipzig 1953).
Die Ostentatron der (angeb]ich) schonungslosen Aufrichtigkeit ist eine Routine der Literatenhumanitat, ihre
Gr6sse darin zu zeigen, dass ihr nichts Menschliches fremd sei. Insgeheim dient sie aber der Eitelkeit und sichert
als Taktik den Bekenntnissen und Enthtillungen, die in der Tat auf weiten Strecken nichts mehr als mittelmassiges
Geplauder bieten, einen Vorsprung in der Konkurrenz der Autoren. Die Exhibitionslust des narzisstischen
Selbstdarstellers scheut auch vor Koketterie nicht zuruck wie im Vorwort an den Leser: "hatte ich in einem von
den Landern gelebt, in denen, wie es heisst, noch die stisse Freiheit der ursprtnglichen Naturgesetze herrscht, da
hatte ich mich sehr gern, das kann ich dir versichern, ganz vollstandig und ganz nackt dargestellt. So also, Iieber
Leser, bin ich selber der Gegenstand meines Buches: es lohnt sich nicht, dass du deine Zeit auf einen so
gleichgultigen und unbedeutenden Stoff verwendest; also: Ieb wohl!" (t)bersetzung a.a.O.)
39
,Nichts gerihrdet den Staat so sehr wie die Umgestaltung. Schon die Tatsache der Anderung begtnstrgt
Unrecht und Gewaltherrschaft. Wenn ein Bau wankt, kann man ihn stiitzen; aber das riesige Ganze wie Schrott
umschmelzen und die Grundmauern eines so gewaltigen Gebaudes auswechseln, wer das unternimmt, gleicht
denen, die den ganzen Anzug verderben, wenn sie einen Fleck herausmachen wollen, die Einzelfeh]er beseitigen,
indem sie das Ganze durchemander bringen und die Krankheiten durch den Tod heilen. Die Welt lasst sich nicht
gesund machen; wenn uns etwas druckt, sind wir so ungeduldig, dass wir uns nur bemuhen, es loszuwerden, ohne
zu beachten, was das kostet; wir sehen an tausend Beispielen, dass die Hei]ung gewdhnlich auf Kosten der
Gesundheit erfolgt" (III 9; vgl. 111 13. 1 22. Ubersetzung a.a.O.).
36
HITOTSUBASHI JOURNAL OF ARTS AND SCIENCES
[Deeember
Gleichheit. Sie erganzen auf verschiedene Weise das Funktionalsystem der Marktwirtschaft.
Aber nicht in dieser abstrakt-fonnalen Universalitat, hegelisch gesagt: in der Allgemeinheit des
Verstandes, fuhlt sich die lebendige Subjektivitat heimisch, sondern in der scheinbar tiefer
stehenden, schwankenden, halben Allgemeinheit des plaudernden Monologs, den die Leser fur
das Bedtirfnis ihrer eigenen Subjektivitat in ihrer Vorstellung reproduzieren und imaginar
nacherleben. Im Geist der einsamen Niederschrift und der einsamen Lektilre belebt sich die
liberale Allgemeinheit und kommt es zur verntinftigen Verstandigung der isolierten Individuen. Nicht dass der Humanist wirkliche Gesprache, zumal zwischen guten und gebildeten
Freunden geringschatzt; auch die kritische Debatte findet seinen Gefallen40. Sie sind jedoch
seltene Zufalle, keine Institution; und werden nie in die Richtung der Maieutik oder des
dialektischen Diskurses gelenkt. In seinem Lob der Bucher, das sich auf deren ubiquitare
Verfugbarkeit konzentriert, die kein Freund wettmachen kann, spricht nicht nur der patrizische Stolz des Bibliotheks- und Schlossbesitzers, sondern schon die Einsamkeit des burgerlichen Intellektuellen. Die Lekture tr6stet die Angst und vertreibt die Schmerzen. Sie ist ein
Refugium fur den Ruckzug aus der kalten Welt der Konkurrenz und aus der Langeweile der
burgerlich stabilen Ehe in die immerhin laue Welt der interessanten schriftlichen Kommunikation, in der sich das isolierte lch bestatigt41
Die neue Vernunft ist also nicht mehr in schriftliche Theorien und Lehren entaussert, in
denen sich die Offenbarungswahrheiten der Propheten und die kairotischen Einsichten der
Philosophen in das Kosmoswesen festhalten und auslegen. Die transzendente Substanz offenbarte bzw. manifestierte sich zwar indirekt in der Natur und Geschichte, aber brauchte wegen
der Transzendenz und Indirektheit gerade die persdnliche Autoritat der Inspiration oder
Intuition, die wiederum sich in eine lehrende Schrift objektiv vermitteln musste. Der neuzeitliche Skeptizismus holt die Vernunft daraus zuruck in das lebendige Subjekt, aber bleibt beim
halb privaten Essai-Geplauder stehen. Es gibt keine andere als diese Vernunft: negativ als
human plaudernde Skepsis, positiv als gesunder Menschenverstand, der sich weise und
gelassen sowohl an Sitten und Traditionen anpasst als auch an die neue instrumentellstrategische Rationalitat in der Technik, auf dem Markt und in der Machtdiplomatie, weil sie
sich im praktischen Leben als unschlagbar nutzlich bewahrt.
Der Plauderstil, die ostentativ-lassige Missachtung von Formkonventionen, das antisystematische Umherschl ndern und assoziative Mischen der Themen und traditionell strikt
geschiedenen Stilebenen, die sich in stilistischer Attraktivitat entbldssende Subjektivitat, von
der vor allem sich die "Antimontanisten" um 1700 herausgefordert sehen, all dies wird von
Montaignes Nachfolgern kanonisch diszipliniert und zur Aphoristik und anderen Formen des
philosophischen Subjektivismus gesteigert42
40 Essais 111 8. Er stellt sie hier sogar tiber die Lekture: "Das Bucherlesen bringt nur eine matte und schwache
Erregung, die nicht warm macht, wahrend das Diskutieren Belehrung und geistige Bewegung zugleich verschafft."
Und das Abfassen tiberfltissiger Btcher, sein eigenes koketterweise nicht ausgenommen, ist ihrn eine
Verfallserscheinung, die besser zu verbieten sei (lll 9).
4i A.a.O. Ill 3.
42 schon bei Montaigne fallen die psychischen Phanomene auf, welche die nachfolgenden Subjektivisten
charakterisieren, u.a. die Todesfurcht_ Er wehrt sie weniger durch Verdrzingung als durch die Beschwdrung des
Todes ab' seine sich windenden Klagen nber das Alter, seine haufigen Leibbeobachtungen und der Hypcchondrie
mcht un hnlichen Besorgnisse um seine Gesundheit und um das rechte Mass der Gentsse sind wohl kaum allein
von seiner lange Jahre nur milden Krankheit veranlasst. Auch seine Reiselust und Abneigung gegen den Alltag,
die verachtliche Vermeidung a]ler nicht-intellektuellen Arbeit geh ren hierher.
1997]
SKEPSIS
UND DIALEKTIK
37
IV .
Die liberal-burgerliche Gestalt der Vernunft ahnt, als sie erstmals ihr Haupt in der
Turmbibliothek des Schlosses Montaigne erhebt, wenig von den gesellschaftlich-kulturellen
Zusammenhangen, in denen sie fungiert. Und noch weniger von ihrer Dynamik, die sich
damals in Gang setzt und zu ihrer Selbstzerst6rung fuhrt. Die Skepsis des Individuums
verneint die Geltung aller Lehren, auch jener, in denen sich nicht nur seine soziokulturellen
Traditionen, sondern auch die fundamentalen Lebensrechte des Individuums begrtinden - das
heisst aber: gegen anti-individualistische Lehren und reale Machte verteidigen.
Die Dialektik der Autklarung stellt Horkheimer mit seinem Freund Adorno einige Jahre
spater dar. Seine lange Montaigne-Abhandlung beschaftigt sich damit noch nicht. Sie ubt
vielmehr marxistische Ideologiekritik auf eine sozusagen konventionelle Weise. Die nicht allzu
schwierig aufzuzeigenden Beziehungen zwischen den Klassen und Sozialschichten einerseits
und andrerseits den Psychostrukturen und Ideologien geben das Fundament daflir ab, die
Gattung einer Ideologie nach den geschichtlichen Zusammenhangen zu differenzieren und
jeder Spezies dem geschichtlichen Index ihrer Klasse gemass eine progressive, konservative
oder reaktionare Funktion umzuhangen. Der Skeptizismus ist eine Gattung der Ideologien mit
langer Geschichte, von der griechischen Antike bis zur Gegenwart reichend. Horkheimer
arbeitet zuerst das Generelle heraus: die Skeptiker Pyrrhon, Montaigne usw. sind gebildete und
welterfahrene Humanisten, vorurteilslos und tolerant. Ihre Kritik des Fanatismus, des doktrinaren und missionarischen Autoritarismus ist die theoretische Oberseite ihrer Lebenskunst, die
mit konservativem Quietismus auf eine behagliche aurea mediocritas abzielt, die einem
praktischen, mit ein wenig konventionalistischer Pfiichtethik verzierten Epikuraismus nicht
fern steht.
Wie Hegels idealistische Dialektik sich gegen die Skepsis absetzen muss, so will Horkheimer die Frankfurter Ideologiekritik gegen den zeitgen6ssischen Skeptizismus, vor allem gegen
die diversen Varianten des Historismus und den Relationismus der Wissenssoziologie abgrenzen. Des weiteren hat er die damalige Versuchung fur Intellektuelle im Auge, nach dem
Versinken des politischen Marxismus in das stalinistische Terrorregime die Theorie uberhaupt
abzuschtitteln und ins burgerliche Wohlleben zu versacken. Er hebt daher nach der Skizzierung der generellen Eigenschaften und Klassenfunktionen des Skeptizismus auf die speziellen
ab, die dem Skeptizismus eines bestimmten Zeitalters zukommen. Der antike Skeptizismus tritt
in den Hintergrund, und Horkheimer wendet sich dem Unterschied zu, der zwischen der
gesellschaftlichen Funktion des Skeptizismus zu Beginn der Neuzeit und der der folgenden
Skeptizismen, insbesondere seiner Gegenwart, besteht, um den Unterschied nach dem bewahrten marxistischen Schema 'damals progressiv, aber heute tiberholt und reaktionar' zum
politisch effektiven Kontrast zu verscharfen. Der Marxismus modifiziert damit ein Grundschema aller Geschichtsphilosophien, das den Relativismus mit einem Absolutismus vereinigt.
Die kognitive und moralische Geltung eines Weltbildes hangt von seiner Lebenswelt ab, und
diese steht auf einer Stufe in einer Evolutionsleiter hinauf (oder hinab), ist also durch die
spateren (oder fruheren) ubertroffen, tiberholt oder in ihnen aufgehoben. Die gegenwartige
Geschichtsphilosophie dieser Evolution ist die rechtmassige Erbin alles Guten und Wahren,
das die fruheren Weltbilder enthielten, und ist somit die Spitze der Leiter oder der einzig
38
HITOTSUBASHI JOURNAL OF ARTS AND SCIENCES
[December
m6gliche Wegweiser zur Spitze.
In der marxistischen Tradition stehend, macht sich Horkheimer naturlich keine geniekultischen lllusionen uber Montaignes Humanismus. Dieser ist ein "Stoizismus der reichen
Leute"43. Die "behaglich ausgestattete Innerlichkeit", gebildet und tolerant dem wohltemperierten Lebensgenuss hingegeben, ist eine Gluckseligkeit auf der wirtschaftlichen Basis einer
herrschenden Klasse. Die sozialokonomische Funktion relativiert diesen Humanismus. Den-
noch tut sie dessen Wesenskern kaum Abbruch. Dass Montaigne sich von den ideologischen
Zwisten und praktischen Kriegen der Religionsfanatiker fernhalt, um sich, nach untadeliger
Erfullung seiner Burgerpflichten, dem sublimierten Lebensgenuss zu widmen, seine Ausrichtung auf die verfeinerte Glilckseligkeit und nicht zuletzt ihre eingangige philosophische
Verteidigung, sind Zuge, die Horkheimer an ihm ruhmt, auch wenn Montaigne sich nicht
dafur politisch einsetzen, sondern sie nur in passiver Privatheit ftr sich geniessen will.
Dem skeptischen Humanismus im Anbruch der Neuzeit stellt Horkheimer das reformierte Christentum derselben Epoche entgegen. Den Protestantismus malt er nicht mit den
Augen M. Webers, sondern im Lichte der sozialpsychologischen Autoritarismusforschungen,
die sein Frankfurter Institut unter der Agide E. Fromms durchgefuhrt hat. Wahrend Weber
die innerweltliche Askese und methodische Lebensfuhrung als Faktoren beim Aufstieg der
modern-rationalen kapitalistischen Unternehmer preist, stellt Horkheimer die Triebfeindlichkeit und repressive Verinnerlichung der Autoritat in den Vordergrund. Der Protestantismus
bereitet die Massen auf die entsagungsvolle Lohnarbeit in den neu autkommenden Manufakturen vor44. Das einsame Individuum steht gegen die jammervolle Welt, in der es keine
sinnvolle Ordnung und wahre Gerechtigkeit zu erhoffen gibt. Diese Entzweiung wiederholt
sich innerhalb des Individuums. Es muss sich seinem harten Gewissen unterwerfen und
ununterbrochen selbst disziplinieren. Der lustfeindlichen Gewissensinnerlichkeit der Massen
entspricht in der damaligen Philosophie, die fur die oberen Klassen verfasst ist, die Herrschaft
des rationalen lchs tiber die Affekte. Wahrend sich der skeptische Humanismus geniesserisch,
passiv und tolerant darbietet, ist der Protestantismus samt der ihm verwandten Philosophie
lustfeindlich, aktivistisch und fanatisch. Im Vergleich mit den Skeptikern erscheinen die
Reformatoren inhuman. "Durch ihren Fanatismus vermittelt, entsteht der btirgerliche Mas-
senmensch, der durch Umkehrung der materiellen Wtinsche, Unterjochung der sinnlichen
Regungen unter das unablassig antreibende lch, Introjektion des okonomischen und politischen Drucks als Pflicht in die eigene Seele dem Kindheitszustand des mittelalterlichen
Menschen entwachst. Auch er fugt sich in die werdende bitrgerliche Ordnung ein, aber mit
Rankune und einem starken Glauben, mit Eifersucht und Schuldgefuhl, mit Sexualneid und
Menschenhass [・ ・ ・ I die einigende Fuhrung der Christenheit durch den Papst weicht der Politik
der National-staaten und die geistliche Ftrsorge der okonomischen Selbstverantwortung des
Individuums. Die Glaubigen nehmen einen verschlossenen Charakter an wie der Gott, an den
sie glauben, und Gott tragt die Zuge der Welt, die er regiert. Sie brauchen den Umweg uber
den unerforschlichen Gott, um sich anzupassen, weil ihre Existenz den nattrlichen Bedtrfnis-
sen und jeder Idee von Gerechtigkeit zuwiderlauft. Die H6he des Einkommens, das sich
irrational, auf Grund des okonomischen Wertgesetzes verteilt, wird zum Siegel der Gnade, auf
4]
44
orkheimer, a.a.O., S,245
.a.O., S.246 ff.
vgl. S.256.
19971
SKEPSIS
UND DIALEKTIK
39
die der Tuchtige hoffen, aber nicht bauen dart."45
Beide, der humane Skeptizismus und der weniger humane Protestantismus, sind Ideologien des frtihneuzeitlichen Individualismus, der die spate Feudalitat verdrangt, deren Weltbild
die gdttliche Vernunft in der harmonischen Hierarchie der Natur und Menschheit herrschen
lasst. Wenn der Individualismus seinen Gipfel im hochkapitalistischen Liberalismus erreicht,
verwischt sich der Gegensatz zwischen dem Skeptizismus und dem Glauben zugunsten des
ersteren. Der Skeptizismus gewinnt tiberall die t)berhand, als Relativismus auch in Gestalt des
Historismus, als wissenschaftliche Bibelkritik im liberalen Protestantismus. Die Religion wird
private Kultur und die Kultur folgenlose Unterhaltung 46.
Im Spatkapitalismus, Horkheimers Gegenwart, schliesslich hat sich, von Pareto bis
Scheler und Mannheim, eine relativistische Ideologiekritik entwickelt und an den Universitaten ausgebreitet, die keine kritischen Gehalte mehr kennt und keine humane Praxis mehr
fordert. Ihr entsprechen bei den Massen Desillusionierung und egoistische Skepsis, die alles auf
den nachstliegenden wirtschaftlichen Vorteil prtift. Im Gefolge von Lukacs"Geschichte und
Klassenbewusstsein' deckt Horkheimer die Komplizitat des rationalistischen Skeptizismus mit
dem kruden lrrationalismus auf, vor allem mit dem faschistischen Mystizismus47. Er nimmt
damit ein Theorem seiner spateren 'Dialektik der Autkiarung' vorweg. Gleicherweise erkennt
er hier schon, im Verein mit H. Marcuse, dass der Faschismus und sein Mystizismus nicht
hinter die Rationalitat des Kapitalismus der liberalen Phase zuruckfallen. Sie steigern vielmehr
diese Rationalitat und ernten daher Gefolgschaft unter den Massen48
Im Skeptizismus und Christentum findet sich nicht mehr die aktuelle Gestalt des Humanismus. Einzig die Kritische Theorie nimmt das Erbe der Ethik irdischer Gerechtigkeit und
Gltickseligkeit noch ernst. Diesen vorwurfsvollen Anspruch sttitzt Horkheimer auf eine Kritik
des Skeptizismus, die auf zwei Linien lauft (die ich im folgenden teilweise erganze). Erstens
kummert sich der Skeptiker nur um seine eigene Gltickseligkeit, allenfalls noch um die seiner
Primargruppen (Familie, Freunde, Nachbarn), wie es die guten Sitten nahelegen. Fur den
Rest der Menschheit bringt er lediglich passive Toleranz und freundliches Verstandnis auf,
vorausgesetzt, dass man seinen Lebensgenuss nicht st6rt. Im Humanismus, in der Humanitat
und allseitigen Bildung, Iiegt jedoch als Kern die Idee der Menschheit, so dass dieser, obgleich
gemilderte, Egoismus des Skeptikers seiner eigenen tiefsten Idee nicht Genilge tut, Nur in der
universalen Gerechtigkeit und der Gliickseligkeit eines jeden erfullt sich der Humanismus.
Sowohl der resignative Skeptizismus, der sich auf das kleine Gltck des Alltags und auf die
theoretische Allmacht der denkenden Subjektivitat zuruckzieht, um sich fur den Verlust der
4s .a.O., S.257 f. Es gibt allerdings auch im Christentum progressive Elmente. Horkheimer bringt Hegels
Deutung des neuzeitlichen Christentums, des Protestantismus, in Erinnerung: die christliche Freiheit des
Individuums darf nicht innerlich bleiben, sondern muss zu politisch-rechtlichen Institutionen entaussert werden
(288 O・ Zudem verkundet das Evangelium schon immer das Gottesreich der sozialen Gerechtigkeit und
Nachstenliebe (287 O46
.a.O., S.267.
47
.a.O., S.275 ff.
4B Horkhelmer radikalisiert damit ein Theorem M. Webers, mit dem der nationalistische Spatliberale seinem
ambrvalenten Desillusionierungsrealismus frdnt. In jener Zeit dient es auch einem bevorzugten Motiv Horkheimers,
das ebenfalls seinen ein Jahr spateren Aufsatz 'Die Juden und Europa' antreibt (vgl. auch 'Die Philosophie der
abso]uten Konzentration' von 1938, a.a.O., S.303 fi). Wle ungerzihr glelchzeitig Benjamin und Adorno wendet sich
Horkheimers Pessimrsmus gegen den sturen Fortschrittsglauben des orthodoxen Marxismus ebenso wie gegen
liberalistische Meinungen, dass der Faschismus rrrational und unstabil sei.
49
.a.O., S.289-294.
40
HITOTSUBASHI JOURNAL OP ARTS AND SCIENCES
[December
realen Macht zu entschadigen, als auch der imperiale Skeptizismus, der sich seit der Sophistik
den Herrschenden als gutes Gewissen ftr den Realismus der Macht empfiehlt, und ebenso der
liberale Skeptizismus, der in der Vernunft des freien Aquivalententauschs die alleinige Quelle
aller Geltungen hiitet, - alle Gestalten des Skeptizismus sind partikular: im Interesse Einzelner,
einer Oligarchie oder einer Klasse. Die Kritische Theorie hingegen halt unbeirrt an der Idee
der Menschheit, an einer durch Arbeit und Kampf zu erreichenden vernimftigen, Gesellschaftsordnung, fest und hebt damit den fruheren Humanismus, genauer besehen: dessen progressive
Elemente, in den wahren Humanismus des Menschheitsglucks auf50
Weder in Horkheimers Abhandlung noch andernorts stellt sich allerdings die Kritische
Theorie die naheliegende Frage, welche seine seltsam unbestimmten Ldsungsformeln provozieren: wer bestimmt wie das Gluck der Menschheit? Dass jeder nach seiner von ihm selbst
bestimmten Gluckseligkeit streben durfe und ausdriicklich dazu moralisch berechtigt sei, ist
ein trivialer Grundsatz nicht nur in vielen Ethiken der Neuzeit; auch die der nachklassischen
Antike, wie oben gesagt, setzen die einzelmenschliche Eudaimonie zum obersten Ziel. Andere
Ethiken stellen dagegen den Primat der Gerechtigkeit auf. Deren Universalitat sieht der
Liberalismus (auf den auch die rigoroseste Universalethik, die Kants, bei der Konkretisierung
des kategorischen Imperativs durch die 'Metaphysik der Sitten' hinausltuft) im freien Tausch-
kompromiss aller Wareneigentumer auf dem Markt verwirklicht. Dass die liberale marktwirtschaftliche Gesellschaft konsequenterweise in den Faschismus fiihrt, davon ist Horkneimer tiberzeugt. Seine Alternative jedoch, der Versuch, eine sozialistische Menschheitsgesellschaft zu organisieren, fuhrt, sichtbar schon zur damaligen Zeit, in den Stalinismus, in dem
eine Parteibtirokratie den Massen diktiert, was deren kunftige Gluckseligkeit sein soll. Zu
Anfang des Jahrhunderts brachte der Kreis M. Webers wohlbegrtindete Kritiken an der
sozialistischen Zielvorstellung vor, dass die moderne Menschheit in gigantischen Gesellschaf-
ten der direkten Demokratie zu organisieren sei. Wenn die modernen Massengesellschaften
jedoch weder als Kapitalismus (der die Demokratie gr6sstenteils plutokratisch verzerrt) noch
als Sozialismus (der die Demokratie grdsstenteils parteibtirokratisch verzerrt) vor einem,
moralisch und eudaimonistisch gesehen, katastrophalen Verlauf zu bewahren sind - was hat
dann die Kritische Theorie noch zu sagen? Mit den Leerformeln des abstrakten Universalismus, mit der unbestimmten Idee der gerecht und gltickselig vergesellschafteten Menschheit,
die ein intellektuelles Sakularisat der Hochreligionen ist, lasst sich wenig anfangen.
Zweitens nimmt Horkheimer die Kritik der Hegelschen 'Phanomenologie' am Skeptizismus auf51. Die Dialektik lebt in dem systematischen Prozess der bestimmten Negation, anders
als das zufallige Hinundher des oberffachlichen Verwerfens, darin sich die eitle Skepsis gefallt.
Bei Hegel allerdings gewinnt, wie ich oben gezeigt habe, dies Argument seine Kraft, indem es
die spekulative Logik voraussetzt. Bis zu deren Kategorien muss sich die Negation einer
Position, einer Theorie, Praxis oder Identitat, durchsagen, um sich zu bestimmen und den
logischen Umschlag in die nachsth6here Position auszul6sen. Der handliche Gegensatz der
Dialektik zur Skepsis ruht mithin auf einer offensichtlich idealistischen Grundlage, die der
historische Materialismus nicht ubernehmen kann.
An die Systemstelle der spekulativen Logik tritt bekanntlich die materialistische Evoluti-
onslogik der Produktionsverhaltnisse als der Kerne der Gesellschaftsformationen. Die Ideoso A.a.O.
51
.a.O., S.291 f
1997]
SICEPSIS UND DIALEKTIK
41
logiekritik bohrt sich durch die Weltbilder und Psychostrukturen, durch die soziokulturellen,
politischen und rechtlichen Institutionen bis hinab zu den Produktionsverhaltnissen. Die
Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie rekonstruiert mit historischen Materialien die Antagonismen der Klassen, deren reale Dialektiken und die Funktionen des t)berbaus darin. Daraus
abstrahiert und korrigiert sich wiederum die Evolutionslogiks2. Trotz aller historischen Belege
hangen die stark verallgemeinernden, erganzenden und deutenden Konstruktionen aber in der
Luft. Will die Kritische Theorie nicht wie die Orthodoxie den historischen Materialismus zu
einer Geschichtsmetaphysik mit garantiertem Fortschritt zum happy end in der kommunistischen Menschheitsgesellschaft verfalschen, so muss sie sich den Grund vor Augen halten, der
Hegels Metaphysik tragt, namlich das idealistische Dogma von der vollendeten Einheit des
Subjekts und Objekts in der Einheit der Theorie und Praxis. Im grundsatzlichen Unterschied
dazu bestreitet die Kritische Theorie, dass die Einheit, auch in ihrer materialistisch ernuchter-
ten Zuruckfuhrung auf die Verwirklichung der vernimftigen Gesellschaft, schon existiere:
"Von der materialistischen Dialektik, wie sie in der kritischen Theorie enthalten ist, wird im
Unterschied zu Hegel die Einheit von Denken und Geschichte nicht hingenommen. In der
Gegenwart existieren reale geschichtliche Lebensformen, deren lrrationalitat sich dem Denken
bereits ergeben hat. Die Dialektik ist nicht abgeschlossen. Zwischen Denken und Sein herrscht
keine Harmonie, sondern der Widerspruch erweist sich noch heute als treibende Macht; und
zwar nicht bloss zwischen Mensch und Natur, sondern namentlich zwischen den Menschen
selbst mit ihren Bedurfnissen und Fahigkeiten und der Gesellschaft, die sie hervorbringen."53
Die Wahrheit ist also noch nicht, denn sie muss auch empirisch existieren: in der
Gesellschaftsordnung und im Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder. Darin beruhrt sich die
Kritische Theorie wieder mit dem Skeptizismus: dass es keine Gewissheit der Wahrheit gibt.
Wahrend der Skeptizismus diese Ungewissheit als ewig ansieht und sich mit dem Alltagsleben
des "ephemeren lch" zufrieden gibt oder gar in den Nihilismus abbiegt, wagt die Kritische
Theorie den Kampf fur die Verwirklichung der Vernunft, dessen Erfolg nicht garantiert ist.
Die Verwirklichung ist "einem historischen Prozess anheimgegeben, zu dem sowohl die
Scharfe des Verstandes wie unter Umstanden der Einsatz des Lebens gehort."54
Wenn erhellt, dass die Kritische Theorie und der politische Kampf eine Einheit bilden,
indem dieser ohne jene in die lrre lauft, jene von diesem bestatigt oder verbessert wird, dann
erscheint auch die Dialektik in einem anderen Licht. Nicht nur hat die Theorie der vergang-
enen Menschheitsgeschichte Sinn und Geltung allein durch den Bezug auf die gegenwartige
Dialektik, und zwar lediglich eine hypothetische Geltung. Noch problematischer ist aber die
theoretische Projektion der Menschheitszukunft, auch wenn sie bloss konditional und nicht
metaphysisch-absolut ist, wie die ntichternen Frankfurter Theoretiker wissen. Die Dialektik ist
52 Im Kreislauf der wechse]seitigen Bestatigungen, Begrilndungen und Berichtigungen der Teiltheorien des
historischen Materialismus steckt ein sinnvoller Rest des dia]ektischen Idealismus, der sein System als Kreistotalitat
des absoluten Subjekt =0bjekts autbaut. Auch die spekulative Logik erfullt ihre Wahrheit erst in der Entfa]tung
durch die Natur- und die Geistphilosophie. Die Zirkularitat ist aber nicht vitios, die Philosophie (und ihre
Nachfolgerin, die Kntische Theorie) Iebt in ihr ebenso wie die Gersteswissenschaften im hermeneutischen Zirkel
(der mit dem philosophischen in einem Zusammenhang wie der Teil zum Ganzen steht).
Zu den Unterschieden zwischen der Evolutionslogik, Evolutionstheorie, geschichtswissenschaftlichen
Forschung und Darstellung s.J. Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt 1976, S.
200 ff u.a.
s3
54
.a.O., S.292.
.a.O., S.293.
42
HITOTSUBASHI JOURNAL OF ARTS AND SCIENCES
[December
vielmehr konkret. Sie ist der konkrete Vorgang des Kampfes und der Kritik, des Unterganges
oder der Versohnung. Die abstrakte Idee des Menschheitsglucks ist idealistisch - nicht einmal
dialektisch-idealistisch. Sie stammt aus dem Fundus der Autklarung, und Hegel weist sie stets
mit promptem Hohn zurtck. Mit Grund lasst sich vermuten, dass sie zur Ideologie der
neuzeitlichen Intellektuellen gehdrt, die hochreligiose Dogmen in sakulare Neomythen verwandeln, um ihren Status als Spezialisten ftr die aus der Gesellschaft scheinbar verselbstandigten
kulturellen Zeichengebilde zu rechtfertigen. Das Btirgertum akzeptierte zu Zeiten solche
ldeen, so lange sie im Kampf gegen die Feudalmachte nutzlich waren oder die unteren Klassen
mit dem Versprechen auf kunftige Gluckseligkeit in Zaum hielten. Es ist kein Wunder, dass
mittlerweile auch nber die Idee des Menschheitsglucks der Skeptizismus triumphiert. Wer
lachelt heute nicht dariiber? Ein verstandliches Refugium findet sie in moderater Form nur
noch als Legitimation fur internationale Btirokratien, die sich mit der weltweiten Verbreitung
von Kinderhygiene, Frauenemanzipation und Marktliberalisierung beschaftigen.
V.
Damit wir eine tiefere Einsicht in die Dialektik gewinnen, werfen wir einen kurzen Blick
darauf, wie die Antike ihren Skeptizismus zu uberwinden versucht. Der alteren, klassischen
Sophistik, welche die Lehrer Sokrates' stellt, schreibt Hegel, die alte Geringschatzung der
Sophisten durch eine ausgeglichene Wertung abiosend, das Verdienst zu, die Griechen in das
Zeitalter der Autklarung und Bildung geftihrt und die formelle Erziehung institutionalisiert zu
haben55. Die Eleatenkritik des Gorgias wendet die zenonische Dialektik, von ihrem Ertinder
gegen den Realismus gerichtet, um die Seinslehre zu verteidigen, auf diese selbst an: nichts ist,
nichts ist erkennbar und nichts ist mitteilbar. Damit nimmt Gorgias Wesentliches des Skeptiz-
ismus vorweg. Auch indem sich die Rhetorik in den Dienst alltaglicher Interessen stellt,
zeichnet die Sophistik ein Sprachverhalten vor, das in der Stilbrillianz vieler Skeptizisten,
erinnern wir uns z.B. an Montaigne, seine Nachfolge findet.
An der realen Lage der attischen Gesellschaft zu Sokrates' Zeiten fallt die Komplemen-
taritat der attischen Klassen- und Hegemonialdemokratie und der athenischen Akme der
Sophistik auf. Die attische Demokratie beruht wirtschaftlich auf der Ausbeutung der Sklaven,
Frauen, Metoken und untergeordneten Zwangsmitglieder des attischen Seebundes. Ihre Machtpolitik setzt partikulare Interessen durch und verbindet Traditionen mit Gruppenegoismen zu
jener Linie schlechter Kompromisse, die sich schon durch die Glanzjahre der perikleischen
Ara schlangelt. Sokrates ragt dadurch hervor, dass er trotz allem Konformismus des guten
Burgers und aller taktvollen Reverenz sich wagt und muht, die traditionale Sittlichkeit samt
ihrem polytheistischen Aberglauben zu uberwinden, aber ohne auf den Subjektivismus und
Skeptizismus seiner sophistischen Lehrer hereinzufallen. Gegen die Zerrform der Klassen- und
Hegemonialdemokratie schalt er Kernelemente des echten Diskurses heraus; andernfalls ware
er einer der vielen rhetorisch brillierenden Demagogen in der attischen ekklesia geworden.
(1) Im Unterschied zu der falschen, durch interessierte Uberredung hervorgebrachten
Allgemeinheit der Sophistik stellt Sokrates die Allgemeinheit durch zwanglose Gesprache her.
Die Geltung entspringt keiner gdttlichen Macht, kosmischen Substanz oder rhetorischen
s5
orlesungen ilber die Geschichte der Philosophie, a.a.O,, Bd.18, S.406 ff.
1997]
SKEPSIS UND DIALEKTIK
43
Suggestion, sondern ist der vorlaufige vernunftige Konsens, das jederzeit zu verbessernde
Ergebnis des Gesprachs aus den besseren Argumenten. Sie ist nicht subjektiv oder substantiell
oder autoritar, sondern intersubjektiv: aus der "Umgangsphilosophie"56. Sie ist darum auch
nicht relativ, von der zufalligen Teilnehmerschaft des Gesprachs, von deren Kenntnisstand
und Motivation, fur immer abhangig. Denn sie ist nur vorlaufig, gleich einer Hypothese, oder
in verschiedenen Graden begrundet und gepruft, ahnlich dem sophistischen eik6s, jedoch stets
der weiteren Prufung und Korrektur offen. Die Geltung verstarkt sich im Fortschritt der
Wahrscheinlichkeit, und diese ist hier nicht ein minderer Grad der Wahrheit, deren unreife
Vorstufe etwa, wie der Wortlaut suggeriert, sondern die erreichbar beste Gestalt der Wahrheit
in einer Situation, in der gehandelt werden muss. Die Wahrheit einer Ausserung ist nicht die
Offenbarung eines Absoluten oder die logische Eigenschaft der Ausserung, sondern die
Struktur der freien Kommunikation; z.B. das Wissen, das im Diskurs akzeptiert wird, und
nicht das Wissen, das die einsame theoria der Natur und ihres Kosmos zu erlangen vermeint.
Daher muss zuerst der Diskurs das Nichtwissen aller teilnehmenden Einzelnen aufdecken.
Die diskursive Vernunft grenzt sich sowohl gegen die sophistische Alethologie der subjektiven
Gewissheit ab als auch gegen die traditionalistische der Autoritat, gebe sich diese als objektive
Quelle der Wahrheit oder als subjektives Sprachrohr der Wahrheit.
(2) Die Methode des sokratischen Diskurses ist das Hinterfragen der Vorurteile aus dem
Selbstbewusstsein des prinzipiellen Nichtwissens des Einzelnen, das sich ironisch als fragende
Naivitat dem Vorurteil des Dialogpartners unterwirft, um dieses seiner Grundlosigkeit zu
tiberfilhren. Die sokratische lronie ist die Skepsis in Form der immanenten Kritik, die zur
Aporie und dem Eingestandnis der Agnosis leitet. Maieutisch ist das unablassig freundliche
Fragen der immanenten Kritik, das unter ironischer Voraussetzung der gegnerischen Behaup-
tungen deren Konsequenzen und Anwendungen bis zu ihren Widerspruchen herauslockt.
(3) Nachdem das kollektive Selbstbewusstsein des Nichtwissens erreicht ist, schreiben die
Teilnehmer nicht die ublichen Bucher 'peri physeos'. Die Naturerkenntnis ist Sache der
Einzelwissenschaften, die philosophische Kosmologie ilberholt und Dilettantismus geworden.
Die Philosophie ist fur Sokrates Ethik. Aber nicht als autoritare Lehre, deren Gebote die
Praxis konkretisierend anzuwenden hatte. Die praktische Allgemeinheit ist vielmehr Idee. Zu
Recht besteht Hegel immer darauf - allerdings gegen Platon, obwohl er dies bestreitet -, dass
die Idee wirklich, d,h, aktiv ist, kein ferner, stiller Stern oder starre Verselbstandigung eines
beliebigen Begriffs. Die Idee ist die Analyse der Vorurteile und die Synthese der analysierten
Individuen, in der sie beschliessen, was ihr Kollektiv tun soll. Die Dialektik aus der Analyse
und der Synthese ist die Idee. Der Idealismus sieht in ihr eine rationalisierte Gottheit: eine
weltschaffende Schopfermacht, eine Akaidentien erhaltende Substanz oder einen sich entrollenden Weltprozess. Sokrates aber sieht in der Idee die Einheit des diskutierenden Kollektivs als die Einheit der Theorie und Praxis. Denn das Diskurskollektiv befreit sich von den
Vorurteilen aus der Tradition und gegenwartigen Autoritat - dies ist schon praktisch. Sein
Beschluss, was zu tun sei, setzt die Praxis fort, Und die kollektive Ausfuhrung des Beschlusses,
dessen Konkretisierung im Handeln das Diskurskollektiv prtift, vollendet die Idee des Guten.
(4) Das demokratische Gesamtvolk schiebt die hegemoniale Klassendemokratie beiseite
und lasst deren Traditionen und Gottheiten hinter sich. Es ist die moralische Macht selbst und
braucht keine ausseren Htiter der Moral uber sich. Darum zieht es sich selbst die Grenze durch
56
.a.O., S.461.
44
HITOTSUBASHI JOURNAL OF ARTS AND SCIENCES
die moralische Autonomie des Einzelnen als die Bedingung des Diskurses (noch Aristoteles
sieht darin eine eingrenzende Bedingung fur die Dialektik, damit sie nicht in die Sophistik
absturzt), Man hat oft Sokrates' daimonion als eine Vorstufe des Gewissens gedeutet. Die
Autoritat einer Gottheit ist dabei, in das Selbstbewusstsein der Vernunft aufgehoben zu
werden. Die Verinnerlichung vollendet sich aber nicht in der monologischen Autonomie des
Kantschen Individuums, sondern in dem vernunftig diskutierenden Einzelnen. Der Gerichtsprozess, den die Athener gegen Sokrates fiihren, ist kein Diskurs, sondern gerade die
Vergeltung der alten Herrschaftsdemokratie an der subjektiven Gestalt der neuen, durch deren
blosse Erscheinung ihr Herrschaftscharakter entblosst wird.
(5) Sokrates schreibt nichts (das ist die Chance seines gr6ssten Schulers, ihm seine
ldeenlehre zu unterschieben). Warum sollte er schreiben? Der Diskurs ist die Einheit der
Theorie und Praxis, und Sokrates praktiziert den Diskurs. Man lehrt die Praxis durch die
Praxis und lernt ebenso am besten. Im 'Phaidros', in der bekannten Herabsetzung der Schrift,
ist noch etwas von der sokratischen Einsicht in die Grundstruktur des Diskurses tibrig,
paradox genug in dem von Platon geschriebenen Pseudodialog, der nicht zum Diskurs
hinfuhren will, sondern von ihm entfremdet. Das Schlimme der Schrift ist ihr gespenstischer
Autoritarismus: sie sieht wie eine lebendige Rede aus, antwortet aber nicht auf Fragen; sie
entleert und verausserlicht das Gedachtnis; sie macht das Lernen scheinhaft und eitel. Denn sie
ersetzt das Gesprach nicht nur auf schlechte, sondern auf schlimme Weise, weil die Leser die
Verschlechterung nicht bemerken. Die Schrift ist ein Spielchen, hochstens ein Hilfsmittel,
mehr nicht57
Naturlich ilbertreibt Sokrates' Herabsetzung der Schrift. Sie steht am Ende des 5.
Jahrhunderts wie ein Atavismus in der attischen Gesellschaft, die seit Jahrhunderten Schrift
verwendet und in ihrem veritablen Bestand ohne diese undenkbar ist. Dennoch druckt sich
darin eine Ahnung davon aus, dass der sophistische Relativismus mit dem Vordringen der
Schrift zusammenhangt. Sie ist das Medium, in dem sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung
beschleunigt, die Warenwirtschaft entwickelt und sich das naturwtichsige Wissen so sehr
vervielfaltigt und differenziert, dass es zur Bildung verselbstandigt und formalisiert, d.h. in
eigenen Lerninstitutionen tiberliefert werden muss, Urspriinglich ist zwar in der Schrift die
Offenbarung der Gottheiten festgehalten, aber die Schrift schreibt sich unauthaltsam fort und
schreibt verwischend uber die Tradition hinweg. Die Schrift verwandelt das Nacheinander der
Erfahrungen in die Prasenz des Nebeneinander der Erinnerungen und erleichtert den Vergleich sowie die Verallgemeinerung bis zur abstrakten Universalisierung. Die schriftlich
pr sentierte Vielfalt der Soziokulturen in den Periplous legt die Entdeckung der Relativitat
nahe, und vor dem Recht des Universalen oder des Subjektiven erscheint schliesslich sogar die
eigene Soziokultur als Abweichung und Aberglaube. Die Schrift, ist sie erst einmal aus einer
arkanen Priesterkunst zu einer weitverbreiteten und leicht gehandhabten Geschicklichkeit
geworden, potenziert die Subjektivitat - weniger in die Richtung des Diskurses, viel mehr in
das Labyrinth des Subjektivismus. Besonders dann, wenn sich der Schreiber und der Leser des
schlechten Ersatzes nicht bewusst sind und dem Laster der einsamen Phantasie frdnen, anstatt
sich der Lust der Dialektik hinzugeben.
HITOTSUBASHI UNIVERSITY
s7 phaidros 274 d - 277 a.
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