Die stehend strömende Gegenwart Zur Dimensionalität der musikalischen Zeit Georg Franck Einleitung Musik darf nie ganz vorhersehbar, muß aber immer nachvollziehbar sein. Sie muß der Wahrnehmung mehr geben, als der Verstand begreift. Sie muß die Ahnung stets offen halten, daß da noch weitere Möglichkeiten der Interpretation, der Bereicherung des Zusammenhangs, der Steigerung der Kohärenz sind. Der Blick voraus und der Blick zurück dürfen einander nicht zum Verwechseln ähnlich werden. Es muß eine Differenz bleiben zwischen der vorauseilenden Erwartung und dem erfüllenden Nachvollzug. Der offene Interpretationsspielraum muß sich als nachhaltige Quelle subtiler Überraschung entpuppen. Anderenfalls hätte die Qualität des Werks nur in seinem Neuigkeitswert bestanden. Ein Hören, in dem Erinnerung und Erwartung derart verschränkt sind, vollzieht sich in einer Gegenwart, die nicht einfach fortschreitet. Es vollzieht sich in einem je eigenen Horizont von Vergangenheit und Zukunft. Zu jedem Augenblick dieser Präsenz gehört eine besondere, ja individuelle Ordnung des nicht mehr und noch nicht Präsenten. Nicht nur, daß mit jedem Moment die weiterhin künftigen Momente näher heranrücken und die bereits vergangenen sich weiter zurückziehen. Das, was geschehen ist, erscheint auch in immer neuem Licht, welches seinerseits der Erwartung vorausleuchtet. Also vollzieht sich das Hören in einem Horizont ständig wechselnder Ansichten aller Zukunft und Vergangenheit. Jedem Moment eignet eine eigene Ansicht der Zeit. Die Zeit der Musik ist, wie Platon die Zeit im Timaios (37) beschreibt: bewegtes Bild der Ewigkeit. In der Präsenz des Bewußtseins sind Zukunft und Vergangenheit nicht scharf getrennt. Das Jetzt des aufmerksamen da Seins hat keine Ränder: Es läuft aus wie das phänomenale Erschienen in: Dem Ohr voraus. Erwartung und Vorurteil in der Musik, hrsg. von Andreas Dorschel, Wien u.a.: Universal Edition, S. 24-42 G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 2/18 Gesichtsfeld. i Sein Zentrum ist eine offene Dauer. Diese Dauer ist für das Verstehen von Musik zentral. Um ein Motiv und nicht nur wechselnde Töne zu hören, muß der Höreindruck der vernommenen Töne länger präsent bleiben, als der physikalische Stimulus akut ist. Das erlebende Bewußtsein muß ein Zeitfenster aufschlagen, das eine semantische Einheit in ihrer Gänze präsent sein läßt. Um das an einem Beispiel in der hier verwendeten wörtlichen Sprache zu erläutern: Stellen Sie sich vor, Sie hören die Wortfolge „die, die die Sonatenform entwickelt haben.“ Was das erste „die“ dieser Folge bedeutet, wird erst mit dem Punkt, das heißt, nach etwa drei Sekunden, klar. Philipp Emanuel und Johann Christian Bach treten also erst auf, wenn der akustische Stimulus des aufrufenden Wortlauts schon vergangen ist. Über diese ganze Dauer muß die Bedeutung des „die“ in der Schwebe gehalten werden. Das heißt: Das Zeitfenster der aufmerksamen Präsenz muß etwa drei Sekunden weit sein. ii Diese Eigenzeit der aufmerksamen Präsenz ist notwendige, aber noch nicht hinreichende zeitliche Bedingung der Möglichkeit, Musik zu hören. Die eigenzeitlichen Momente müssen darüber hinaus zu einem dauernden Jetzt verschmolzen werden. Es muß eine Synthesis geschehen, die aus den Drei-Sekunden-Schritten eine ununterbrochene Dauer herstellt. Unterbleibt diese Synthesis, dann wird kein Zusammenhang, sondern ein immer nur einzelner, unverbundener Eindruck erlebt. Das Symptom heißt Amnesie. Patienten, die an Amnesie leiden, erleben kein dauerndes Jetzt, sondern immer nur Augenblicke von bis zu drei Sekunden Dauer. Die Synthesis hingegen stellt ein Jetzt her, welches den Eindruck wahr macht, daß es immer jetzt ist. Erst wenn es immer jetzt ist, vergeht die Zeit. Und erst, wenn die Zeit vergeht, bleibt das Jetzt dasselbe. Es ist jetzt, seitdem die Zeit vergeht. Das immerwährende Jetzt ist, was uns die Welt als einen Strom unablässig wechselnder Zustände erleben läßt. Im dauernden Jetzt ist die Selbstaufmerksamkeit des bewußten da Seins mit dem Zeitsinn der bewegten Ewigkeit vermittelt. Erst dann, wenn das scheinbar Flüchtigste – das Jetzt – zum Immer wird, kann Musik phänomenale Wirklichkeit werden. Die Synthesis der individuellen Eigenzeiten in ein dauerndes Jetzt bedeutet nicht, daß das Schrittmaß der drei Sekunden verschwände. Das Zeitfenster der aufmerksamen Präsenz dehnt sich keineswegs ad infinitum. Nach wie vor dauert das Jetzt höchstens drei Sekunden. Allerdings hat das Jetzt die paradoxe Eigenschaft nun angenommen, daß es sowohl drei Sekunden als auch eine Ewigkeit dauert. Nach drei Sekunden ist die Eigenzeit vorüber und doch ist es immer noch jetzt. So ist es kein Wunder, daß der Fluß der Zeit einen notorischen Quell der Verwirrung darstellt. Die Verwirrung geht so weit, daß die G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 3/18 fundamentale Erfahrung der zeitlichen Veränderungiii bis heute der schlüssigen phänomenologischen Beschreibung harrt. Das Jetzt steht einerseits still und ist andererseits in ständiger Bewegung. Ein bewegendes Zeugnis des Kampfs mit dieser Inkompatibilität findet sich im Werk Edmund Husserls. Von den "Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein" aus dem Jahr 1905 iv bis zu den Manuskripten im Todesjahr 1938 beschäftigte ihn die "Urimpression" der stehend strömenden Gegenwart. Der Gegensatz zwischen dem einerseits unablässig Bewegten und andererseits identisch Verharrenden des Moments erlebter Gegenwart trieb ihn zu immer neuen Anläufen, dieser Quellstelle des Bewußtseinsstroms habhaft zu werden. Die Spannung blieb ungelöst. Klaus Held hat die Geschichte rekonstruiert v. Er hält die Unfaßlichkeit dieses Ursprungs für gesichert genug, um eine vorsichtige theologische Interpretation zu wagen. Fluß der Zeit oder Welle der Gegenwart? Ein Topos, der in der Beschreibung gesteigerter Hörerlebnisse immer wieder vorkommt, ist das Aufscheinen der Ewigkeit im Augenblick. Wie hart sich der Verstand mit dem Begreifen des Changierens zwischen Flüchtigkeit und Unendlichkeit tun mag, dem musikalischen Sinn ist die Erfahrung nicht fremd. Allerdings erleben wir das Umschlagen auch in der Musik nicht beiläufig, sondern als geradezu existentielle Erschütterung. Das Erlebnis ist vom Gefühl nicht zu trennen, in einen anderen Zustand versetzt zu werden. Es ist, als ob das Selbstgefühl der Existenz sich umwenden würde. Könnte es sein, daß der Sinn für dieses Kippen mit der zeitlichen Anschauungsform des musikalischen Hörens zu tun hat? Tatsächlich ist das Zusammen von Stehen und Strömen dem Erleben – oder genauer: der auf sich selbst achtenden Präsenz – zugänglich. Wir erleben die Zustände der Welt als kommend und gehend, sie rauschen an uns vorbei und durch uns hindurch. Wir erleben die Zeit als den Strom wechselnder Zustände der Welt. Dieser Strom ist nun aber keiner, der sich relativ zu einem festen Ufer bewegen würde. Gewiß, es kommt uns bisweilen so vor, als blickten wir, wie von einer Brücke herab, auf den Strom der Zeit, ja es mag uns Bestürzung und Schwindel bei seinem Anblick befallen. Doch dann – im aufkommenden Schwindel – werden wir gewahr, daß sich Brücke und Ufer mitbewegen. Es gibt kein Halten. Es ist nichts zu fassen, das sich im Strom der Zeit nicht mitbewegen würde. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 4/18 Der Schwindel, der da aufkommt, ist kein physischer. Er ist existentieller – oder sollten wir sagen: metaphysischer? – Natur. Unser Gefühl des da Seins verliert die Orientierung. Wenn sich alles synchron und gleichsinnig bewegt, was läßt dann von einer Bewegung noch reden? Bewegung ist immer relativ. Der Bezugspunkt, von dem aus sich etwas bewegt, mag selbst bewegt sein; zwei Bezugspunkte aber, die sich vollkommen synchron und gleichsinnig bewegen, sind relativ unbewegt. Tatsächlich erleben wir die Zustände der Welt als kommend und gehend. Tatsächlich erleben wir die Zeit als einen Prozeß. Es bewegt sich da etwas relativ zu uns – oder wir bewegen uns relativ zu den Zuständen der Welt. Allerdings ist diese Relativbewegung von einer abgründigen Zweideutigkeit. Sowohl das Weltgeschehen als auch die Gegenwart können als bewegt angesehen werden. Bewegt sich das Weltgeschehen, dann bleibt die Gegenwart, durch die es hindurchzieht, stehen. Bewegt sich die Gegenwart, dann bleiben die Zustände des Weltgeschehens unbewegt stehen. Nur die erstere Ansicht entspricht dem Bild der Brücke über dem Fluß. Im Gewahrwerden, daß sich Brücke und Ufer mitbewegen, „schnappt“ das Bild. Es kippt in dem Sinn, wie ihn der Necker-Würfelvi exemplifiziert. Sobald sich Brücke und Ufer bewegen, bleibt der Fluß, also die Abfolge der Weltzustände, stehen. Was sich von nun an bewegt, ist das Jetzt selbst. Die Metapher von Fluß und Brücke ist untergegangen. Die stehende Abfolge der Weltzustände ist kein Fluß, sie ist wenn, dann ein Ozean. Die Metapher, die der Bewegung des Jetzt nun entspricht, ist der Ozean der Weltzustände, durch den das Jetzt wie eine Welle zieht. Abb. 1: Necker-Würfel: zweideutige perspektivische Darstellung eines Würfels. Beim Betrachten „schnappt“ die eine Perspektive unvermittelt in die andere um. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 5/18 Dieses Kippen des Selbstgefühls hat mehr als nur die Vertauschung von Vorder- und Hintergrund mit den wechselnden Ansichten des Necker-Würfels gemein. Im Kippen manifestiert sich ein Übergang zwischen nicht kompatiblen Ansichten der Welt. Auch die Ansichten, die die Zweideutigkeit des scheinbar einfachen Würfels vereint, sind inkompatibel. Entgegen dem ersten Anschein gibt es keine Möglichkeit, die eine in die andere Ansicht durch Spiegelung oder Rotation zu überführen. Die Ansichten sind so verschieden, wie Ansichten nur sein können: Sie gehören verschiedenen Symmetriegruppen an. Die beiden Ansichten verhalten sich zueinander wie die linke Hand zur rechten. Abb. 2: Die inkongruenten Ansichten des Necker-Würfels Wie die linke und rechte Hand verhalten sich auch die Ansichten zueinander, die die Zweideutigkeit des zeitlichen Werdens und Vergehens vereint. Da ist eine Ansicht, die alles, was je geschah und noch geschehen wird, in ständiger Bewegung erscheinen läßt. Und da ist eine andere Ansicht, in der sich außer dem subjektiven Eindruck, in einem bestimmten Zustand zu sein, gar nichts bewegt. In der ersteren Ansicht rückt alles, was noch künftig ist, ständig näher an die Gegenwart heran, und entfernt sich alles, was schon vergangen ist, immer weiter. In der letzteren Ansicht verändert sich lediglich der Standpunkt subjektiven Erlebens. Die erstere Ansicht versetzt sowohl Zukunft als auch Vergangenheit in Bewegung. Die letztere reduziert das Erleben zeitlichen Werdens und Vergehens auf einen Eindruck, dem außer ihm nichts Wirkliches entspricht. Die erstere G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 6/18 Ansicht macht das scheinbar Flüchtigste, die Gegenwart, zum einzig ruhenden Pol der Welt. Die letztere stellt das Erleben des zeitlichen Werdens und Vergehens als einen nur subjektiven und dennoch unabweisbaren – ja schlicht überwältigenden – Eindruck heraus. vii Es gelingt uns weder, die beiden Ansichten zusammen in den Blick zu fassen, noch gelingt es uns, die eine Ansicht Schritt für Schritt – also ohne das unvermittelte Schnappen – in die andere zu überführen. Dennoch kennen wir den Übergang recht gut. Unser Selbstgefühl hat es an sich, zwischen den Alternativen zu schwanken. In einer sicheren Gemütsverfassung sind wir, wenn wir uns als ruhenden Pol der Welt fühlen. Mit erschütternder Leichtigkeit weicht dieses sichere Stehen jedoch dem Selbstgefühl einer dahintreibenden Welle im Ozean der Zustände. Verstehen wir, wenn wir diesen Wechsel erleben, nicht etwas von unserer zeitlichen Existenz, das der Verstand nicht recht begreift? Und sind es nicht Existenzgefühle dieser Art, aus denen die absolute Musik ihre Dramen und Landschaften webt? Im Erleben des Wechsels zwischen dem Stehen auf der Brücke und dem Treiben mit der Welle tritt auseinander, was eigentlich nicht zu unterscheiden ist: das Geschehen des Erlebens und das erlebte Geschehen. Der Blick von der Brücke ist der, der etwas von der eigenen Wirklichkeit des Erlebens spüren läßt. Die Welle ist nichts von der stofflichen Fülle des Erlebten Verschiedenes. Im Selbstgefühl der Brücke löst sich die Präsenz von dem Etwas ab, das sich da präsentiert. In der Welle sind Präsenz und Präsentiertes eins. Auf der Brücke steht das Selbst sowohl des dramatischen als auch kontemplativen Selbstgefühls. Als Welle fühlt sich das getriebene und im erlebten Geschehen versinkende Ich. Sind wir nicht hier beim Unterschied zwischen dem sogenannt aktiven und passiven Hören, den Hans-Joachim Hinrichsens Betrag hier in diesem Band anspricht? Steht nicht Beethoven auf der Brücke, während Schubert von der Welle singt? Und gehört es nicht zur Kunst aller bedeutenden Komposition, daß sie uns vorführt, wie das Bild schnappt? Die Dauer: eine andere Dimension der Zeit? Um zu antworten, müßte die Frage geklärt werden, wie unser Sensorium es schafft, uns Erlebnisse dieser Art zu vermitteln. Unser Sensorium kann nur mit rechten Dingen umgehen. Unser Sinn für die Zeit muß das Umschlagen bewerkstelligen. Also fragt es sich, G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 7/18 ob unsere zeitliche Anschauungsform über mehr Freiheitsgrade verfügt, als die Annahme zeitlicher Eindimensionalität erlaubt. Bemerkenswerterweise wurde diese Frage am Fall des Necker-Würfels untersucht. viii Der Mathematiker H.A.C. Dobbs hat sich die Symmetrien des Phänomens genauer angesehen. Er zeigt, daß die Rotation, die die eine in die andere Ansicht überführt, erst möglich wird durch Einführung einer höheren Dimension. Die beiden Ansichten sind kongruent im vierdimensionalen Raum. Interessanterweise trägt Dobbs‘ Untersuchung nun aber den Titel: “The dimensions of the sensible present”. Dobbs argumentiert, daß unser kognitiver Apparat von einer höheren Dimension Gebrauch macht. Weil es aber unsinnig wäre anzunehmen, unser räumliches Denken sei vierdimensional, schließt Dobbs auf eine höhere Dimension der Zeit. Er gelangt zu der Hypothese, daß die Präsenzzeit des aufmerksamen da Seins zwei Freiheitsgrade in der Zeit statt nur eines einzigen aufweist – beziehungsweise aufspannt. Dobbs‘ Untersuchung, wiewohl an prominenter Stelle publiziert, fand so gut wie keine Resonanz. Dobbs hat sich nämlich eines Sakrilegs schuldig gemacht. Er erlaubt sich, die Eindimensionalität der Zeit in Frage zu stellen. Wer es wagt, an dieser unbezweifelbaren Gewißheit zu rütteln, stellt sich selbst ins Abseits. Eigenartig ist nur, daß niemand die Gegenfrage stellt: Sollten wir nicht nach einer Gewohnheit des Denkens suchen, die das Zeug hat, sich als unerschütterliche Wahrheit zu maskieren, wenn wir nach dem Grund fragen, warum eine so fundamentale Erfahrung wie das Vergehen der Zeit bis heute der schlüssigen phänomenologischen Beschreibung harrt? Die Annahme einer höheren Dimension der Zeit mag zu stark sein, wenn es nur darum geht, das perspektivische Kippen des Necker-Würfels zu erklären. Dobbs‘ Vermutung erhält aber Gewicht, wenn sie in den Zusammenhang mit jenen Paradoxien des Jetzt gestellt wird. Die Ausdehnung in verschiedenen Dimensionen der Zeit wäre Bedingung für die Möglichkeit, daß das Jetzt sowohl drei Sekunden als auch eine Ewigkeit dauert. Zwei Freiheitsgrade in der Zeit wären Voraussetzung dafür, die Relativbewegung des Jetzt konsistent beschreiben zu können. Keine Bewegung ohne Geschwindigkeit. Die Dimension einer Geschwindigkeit ist Weg geteilt durch Zeit. Der Weg, den das Jetzt zurücklegt, liegt in der chronometrischen Achse. Soll der Begriff der Geschwindigkeit, mit der die Zeit vergeht, einen Sinn ergeben, dann kann die „Zeit“, die das Jetzt zum Wandern braucht, nicht identisch mit diesem Weg sein. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 8/18 Welche wäre nun aber die „Zeit“, die das Jetzt zum Wandern braucht? Es wäre die Zeit, die dadurch in die Welt kommt, daß das Jetzt dauert. Unser Sinn für das Dauern ist unser Sinn dafür, daß das Jetzt keine Abfolge individueller Augenblicke, sondern dauernde Präsenz ist. Die Eigenzeit der Präsenz mißt drei Sekunden, wenn man sie mit der Uhr mißt; die Dauer des Jetzt kann aber nur dadurch erlebt werden, daß das Subjekt des Erlebens im Jetzt selber lebt. Verlängert man die Eigenzeit über das Jetzt hinaus, dann landet man in der Zukunft oder Vergangenheit. Verlängert man hingegen die Dauer des Augenblicks, dann stellt man fest, daß die Lebenszeit des Jetzt unbegrenzt ist. Aber wird diese Dauer nicht ebenfalls von Uhren gemessen? Keineswegs. Uhren messen nicht das, was wir als Dauer erleben, sondern übersetzen zeitliche Distanz in räumliche. ix Uhren sind physikalische Prozesse, die geeignet sind, mit anderen solchen Prozessen verglichen zu werden. Die Definition von Uhren nimmt keinen Bezug auf das Jetzt. Also müssen wir damit rechnen, einen Kategorienfehler zu begehen, wenn wir unterstellen, daß Uhren genau messen, was unser Gespür für die Dauer nur ungenau erfaßt. Tatsächlich ist es unmöglich, die Dauer, die wir empfinden, intersubjektiv zu vergleichen. Die Dauer, die nur dadurch entsteht, daß wir in aufmerksamer Präsenz da sind, ist ein quale. x Sie ist eine Sinnesqualität, wie es Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcker sind. Diese Qualitäten kommen in der Physik nicht vor. Die Physik kennt keine Farben, sie kennt nur elektromagnetische Schwingung; sie kennt keine Töne, sie kennt nur Schallwellen. Die Physik kennt keine Gerüche und Geschmäcker, sie kennt nur Moleküle und deren Wechselwirkung. Es sind schlampige Ausdrucksweisen, wenn elektromagnetische Schwingungen in 200-800 Nanometerbereich als farbig, wenn Materieschwingungen im 20 Hz- bis 20 kHz-Bereich als tönend, wenn Benzole als duftend und Glukosemoleküle als süß bezeichnet werden. So ist es auch eine schlampige Ausdrucksweise, wenn wir sagen, es dauert eine Stunde, bis das Jetzt eine Stunde in chronometrischer Zeit zurückgelegt hat. Die Stunde hier und die Stunde dort meinen grundlegend Verschiedenes. Die Stunde hier bezeichnet die Distanz, die – qua Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit – in räumliche Distanz übersetzbar ist. Die Stunde dort hat nichts mit räumlicher Distanz zu tun, noch ist sie überhaupt objektivierbar. Es ist nämlich ohne weiteres möglich, daß die Stunde in deinem Empfinden unvergleichlich länger oder kürzer ist als die in meinem. Wir können unsere Empfindungen nicht nebeneinander halten, um sie zu vergleichen. Wie wir unsere Farbempfindungen nicht nebeneinander halten können. Wir können uns nur einigen, die Empfindung bei 600 Nm als rot zu bezeichnen. Und wir können uns darauf einigen, Entfernungen in der vierten Dimension in Sekunden, Minuten, Stunden usw. zu messen. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 9/18 Die Qualität der Rot-Empfindung und die empfundene Dauer werden dadurch nicht beschrieben. Wenn Dauer und Uhrzeit unabhängig voneinander variabel sind, dann heißt das, daß sie orthogonal sind. Die Zeit vergeht schnell oder langsam je nachdem, wie sich die Dauer zur Uhrzeit verhält. Ist die empfundene Dauer lang, dann vergeht die Zeit langsam, ist sie kurz, dann vergeht die Zeit schnell. Wir alle kennen den Effekt: Die Zeit beim Zahnarzt vergeht viel langsamer als die auf der Party. Die Dauer, die wir da empfinden, erscheint aber nicht nur nicht, sondern hat aufgehört zu existieren, wenn das Bewußtsein nicht da ist. Sie ist die Dimension, die dadurch in die Welt kommt, daß das Bewußtsein da ist und sich als dauernd daseinendes erfährt. Ist sie es also, die ausgeblendet wird, wenn die Zeit auf die von Uhren gemessene Ausdehnung reduziert wird? Physikalische Zeit und reine Präsenz Wir sind beim Unterschied zwischen subjektiver und physikalischer Zeit angelangt. Die subjektive Zeit enthält das Jetzt, die physikalische Definition der Zeit schließt das Jetzt aus. Allgemeiner Grund für den Ausschluß sind die Probleme, mit denen Husserl kämpfte. Den besonderen Grund liefert die Relativitätstheorie. Die Relativitätstheorie geht aus dem Prinzip einer endlichen, aber absoluten Maximalgeschwindigkeit hervor. Mit der Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit ist gemeint, daß sich das Licht von allen Stellen im Raum und unabhängig von der Geschwindigkeit, mit der sich der Ausgangspunkt relativ zu anderen Standpunkten bewegt, gleich schnell ausbreitet. Die sonst mögliche Addition von Geschwindigkeiten ist außer Kraft gesetzt. Das hat dramatische Folgen für das Verhältnis von Raum und Zeit, für deren Metrik und für den Begriff der Gleichzeitigkeit. Die ausgeschlossene Addition der Geschwindigkeiten verlangt einen Ausgleich. Dieser Ausgleich wird hergestellt durch die Interdependenz von räumlicher und zeitlicher Distanz. Diese Interdependenz bedeutet, daß die Entfernungen, die durch Uhren gemessen werden, in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit geraten, mit der sich ihr Standort relativ zum Referenzpunkt bewegt. Diese Abhängigkeit hat den weiteren Effekt, daß es keine universelle Gleichzeitigkeit mehr gibt. Die universelle Zeit zerfällt in so viele lokale Zeiten, wie unterschiedlich bewegte Standpunkte ihrer Messung vorkommen. Soll verhindert werden, daß das Universum in ebenso viele Wirklichkeiten zerfällt, muß die Gleichsetzung G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 10/18 von Präsent- und Wirklichsein unterdrückt werden. Es muß verhindert werden, daß nur diejenige Zeitscheibe der Raumzeit als wirklich gilt, die in der – beziehungsweise in einer – Präsenz gerade auftaucht. Diese Zeitscheiben fallen nämlich unterschiedlich je danach aus, in welchem Hier sie zentriert sind. Wäre nur wirklich, was sich im Jetzt präsentiert, dann zerfiele das Universum in so viele Wirklichkeiten wie räumlich getrennte Beobachter im Hier und Jetzt da sind.xi Wenn es darum geht, ein Bild von der Realität aufzubauen, wie sie unabhängig vom wahrnehmenden, vorstellenden, denkenden Bewußtsein vorzustellen ist, dann müssen die Zustände unabhängig von ihrer relativen Position zum Jetzt als real behandelt werden.xii Der Ausschluß des Jetzt aus dem Weltbild der Physik bedeutet nicht, daß dieses Weltbild zeitlos würde. Mit dem Jetzt verschwindet zwar die Dauer, nicht aber die Zeit. Es bleibt die zeitliche Ausdehnung des Universums; es bleibt die Gesamtheit der nach Datum zu unterscheidenden Zustände der Welt; es bleibt die Distanz, die aufgrund der endlichen aber absoluten Geschwindigkeit des Lichts in eine räumliche Dimension übersetzt werden kann. Diese Dimension darf jedoch nicht als der Grad der Freiheit aufgefaßt werden, den die Lebensdauer des Jetzt in Anspruch nimmt. Vielmehr ist die chronometrische Distanz diejenige, die durch die Eigenzeit des Jetzt belegt ist. Das Maß der Öffnung des Zeitfensters ist unabhängig von – also orthogonal zu – der Dimension, die die Lebensdauer des Fensters in Anspruch nimmt. Die Ausblendung einer ganzen Dimension ist ein starkes Mittel der Abstraktion. Im Fall der Orthogonalität von Uhrzeit und Dauer würde klar, warum die Physik sich so leicht tut, von den Phänomenen des Bewußtseins abzusehen. Die Dauer wäre dann die eigene Weise, in der das phänomenale Bewußtsein existiert. Bewußt Sein hieße, in einer höheren Dimension der Zeit wie eine Welle durch den Ozean der Zustände zu treiben. Die Dauer wäre nichts von der Präsenz des Bewußtseins Verschiedenes. Also hätte die projektive Ausblendung der Dauer mit einem Schlag auch von der eigenen Wirklichkeit des bewußten da Seins abstrahiert. Mit dieser eigenen Wirklichkeit verschwindet der Prozeß, in dem ein Zustand der Welt nach dem anderen ausgewählt wird, um in der Geistes-Gegenwart präsentiert zu werden. Wird das Weltbild um die Dimension der Dauer verkürzt, dann wird vom phänomenalen Bewußtsein und zugleich von dem Prozeß abstrahiert, den wir als das Vergehen der Zeit erleben. Was bleibt, ist der unbewegte – vierdimensionale – Ozean der Zustände. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 11/18 Was bleibt vom Weltbild, wenn in Umkehrung die chronometrische Achse ausgeblendet wird? Es bleibt etwas ganz Konkretes. Es bleibt das reine da Sein ohne all die Dinge und Ereignisse, die sich im Jetzt präsentieren. Dieses ganz Konkrete ist ein Geistiges, aber ein Geistiges gerade nicht im Sinn von Gedanken oder Ideen. Es ist, was von der GeistesGegenwart bliebt, wenn das Bewußtsein sich aus seiner Bestimmung löst, Bewußtsein von etwas zu sein. Mit der chronometrischen Achse verschwinden alle bestimmten Zustände und gegenständlichen Eigenschaften der Welt. Es verschwinden die Zustände, die im Datum bestimmt, in Struktur besonders oder in der Funktion spezifisch sind. Es verschwinden mithin alle Prozesse realer Veränderung. Was bleibt, ist das leere Sein oder erfüllte Nichts, von dem die östliche Seinsphilosophie spricht. Die individuellen Momente verschmelzen unterschiedslos zum immerwährenden Jetzt. Dieses Jetzt steht nun hier, wie der Block der Zustände dort steht. Also verschwindet mit dem Ausblenden der chronometrischen Achse sogar der Prozeß der temporalen Veränderung. Es verschwindet der Unterschied zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Was bleibt, ist die schiere Präsenz. Es bleibt das konkret und rein Geistige, wonach die Kontemplation unterwegs ist. Die göttliche und die menschliche Präsenz Was Dobbs’ Vermutung für die Anschauungsform des musikalischen Sinns bedeutet, muß klar werden, wenn die Abstraktion vom Jetzt zurückgenommen wird. Im Erleben der Zeit sind Distanz und Dauer koordiniert. Jeden Moment erscheint ein anderes Intervall der chronometrischen Achse in der Präsenz. Jeder dieser Momente ist ein Quantum Dauer. Wie also müssen Distanz und Dauer koordiniert sein, damit der lebendige Eindruck der vergehenden Zeit entsteht? Die Rekombination der chronometrischen Achse mit der Existenzweise der Präsenz kann folgendermaßen geschehen: Jedem Intervall, das eine Eigenzeit mißt, wird das entsprechende Quantum an Präsenz zugeordnet. Die Eigenzeit ist die Strecke, die die Öffnung des Zeitfensters in Uhrzeit mißt. Wird jeder individuellen Eigenzeit nun das entsprechende Quantum an Präsenz zugeordnet, dann entsteht eine perfekte Symmetrie: Distanz und Dauer sind dann genau gleich. Die Summierung über die Eigenzeiten und die Summierung über die Quanten der Präsenz sind ko-extensiv. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 12/18 Alfred North Whitehead hat diese Koextention in ein schönes Bild gefaßt. xiii Er beschreibt die Präsenz, die unterschiedslos über alle Zeit reicht, als die Präsenzzeit des Blicks eines allwissenden Gottes. Dem Blick Gottes präsentiert sich das Universum in seiner Totalität, also auch in seiner zeitlichen Gänze. Für uns Menschen ist die Präsenzzeit anders bemessen. Zwar ist die Lebensdauer des Jetzt, an der unsere mentale Präsenz partizipiert, wie die Präsenzzeit des göttlichen Blicks, unbegrenzt. Die Präsenzzeit des menschlichen Jetzt hat aber einen Durchmesser von maximal drei Sekunden. Also besteht der zweite Schritt bei der Zurücknahme der Abstraktion vom Jetzt in dem Aufweis, wie der Übergang vom göttlichen zum menschlichen Jetzt vorzustellen ist. Dieser Übergang erfolgt in zwei Schritten. Zunächst muß die Spanne der Präsenz oder, anders gesagt, der zeitliche Winkel des Blicks, verengt werden. Die Eigenzeit muß von ewig auf drei Sekunden reduziert werden. Diese Verengung ist mit der Auswahl eines bestimmten Abschnitts der chronometrischen Achse verbunden. Nur dieser Abschnitt erscheint im Licht der Präsenz. Die „Präsentifikation“ des Rests wird unterdrückt. Diese Selektion hätte, wenn für sich belassen, zur Folge, daß immer und ewig nur ein und derselbe Ausschnitt des Blockuniversums im Jetzt erscheint. Soll die Lebensdauer des Jetzt genutzt werden, um mehr als nur diese eine Zeitscheibe zu präsentieren, dann muß das Jetzt in Bewegung versetzt werden. Der ausgewählte Ausschnitt muß, anders gesagt, wechseln. Kommt es zu diesem Wechsel – und wird dieser regelmäßig –, dann kommt zum Schrittmaß eine Frequenz hinzu. Schrittmaß und Frequenz zusammen ergeben die Geschwindigkeit, mit der die Zeit vergeht. Der Übergang vom göttlichen zum menschlichen Jetzt besteht darin, daß die Symmetrie zwischen Uhrzeit und Präsenz bricht. Das Brechen geschieht in folgenden Schritten. Erstens zerfällt die Lebensdauer des Jetzt in diskrete Quanten, deren jedes sich mit einer Eigenzeit verbindet. Zweites wird die Präsenzzeit auf jeweils eines dieser Quanten verkürzt. Drittens werden die Quanten wieder zu einem dauernden Jetzt synthetisiert. Diese Synthese erfolgt allerdings nicht dadurch, daß die Quantelung rückgängig gemacht würde, sondern dadurch, daß die Dauer der Präsenz von der chronometrischen Distanz unabhängig wird. Die Lebensdauer des Jetzt erstreckt sich nun nicht mehr parallel zur Uhrzeit, sondern orthogonal zu dem Weg, den das Jetzt zurücklegt. Viertens wird dieses sich orthogonal zur Uhrzeit erstreckende Jetzt in Bewegung versetzt. In Bewegung versetzt derart, daß die im ununterbrochen dauernden Jetzt auftauchende Zeitscheibe der Raumzeit wechselt. Fünftens gehen der Durchmesser, den die Zeitscheibe in der chronometrischen Achse hat, und die G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 13/18 Frequenz des Wechsels ein bestimmtes Verhältnis ein. Dem Durchmesser der Zeitscheibe entspricht wieder, wie im symmetrischen Fall, das bestimmte Quantum an Dauer. Der entscheidende Unterschied ist nun aber, daß der Durchmesser und das Quantum unabhängig voneinander variabel geworden sind. Die zurückgenommene Abstraktion vom Jetzt ist nichts anderes als der Übergang vom Begriff der Zeit als einer Dimension zum Begriff der Zeit als Prozeß. Die Zeit als Prozeß, das ist die Zeit, wie wir sie subjektiv erleben. Der musikalische Sinn liegt in diesem Zeitsinn. Allerdings ist er mit dem Zeitsinn nicht einfach identisch. Der musikalische Sinn stellt eine entwickelte Stufe des Umgangs mit der Prozessualität des zeitlichen Werdens und Vergehens dar. Er schießt den Horizont ein, in dem sich das Erleben des zeitlichen Werdens und Vergehens vollzieht. Der musikalische Sinn hat vor allem gelernt, die perspektivischen Möglichkeiten des Zeitsinns zu nutzen, um die Regionen jenseits des Horizonts zu prä- und zu re-präsentieren. Wo also lagen die Ansatzpunkte für diese höhere Entwicklung der zeitlichen Anschauungsform? Die zeitliche Anschauungsform des musikalischen Sinns Musikalität liegt im musikalischen Gedächtnis. Das musikalische Gedächtnis unterscheidet sich vom einfachen episodischen dadurch, daß es den Horizont der Erinnerung und Erwartung, in dem sich das re-präsentierte Geschehen vollzog, mit erinnert. Musikalisch ist das Gedächtnis, das es dem Hören erlaubt, nicht nur das Zeitfenster, sondern eine ganze Zeitarchitektur offen zu halten. Die Architektur eines ganzen Stücks muß offen bleiben derart, daß erst in der Durchführung klar wird, was die Andeutung einer Tonart in der Introduktion sollte. Musikalisch ist das Gehör, das sich einer Anhörungsform bedient, die die offene Dauer der Präsenzzeit auf die Ebenen der architektonischen Einheit des Musikstücks transponiert. Die Weitung der Präsenzzeit über das Jetzt hinaus kann nicht dadurch geschehen, daß das Zeitfenster verbreitert wird. Sie kann nur auf die Weise erfolgen, daß vergangene Zustände des Zeitfensters – einschließlich des Horizonts, den Erinnerung und Erwartung aufgespannt hatten – verfügbar bleiben. Verfügbar, das heißt erstens, daß die Situation einschließlich ihres je besonderen Horizonts konserviert wurde und reaktualisierbar ist. Es heißt zweitens, daß die Situation, wenn reaktualisiert, als früherer Zustand dieses sich nun G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 14/18 erinnernden Bewußtseins identifiziert wird. Diese Selbst -Identifikation wiederum hat zur Voraussetzung, daß der erinnerte Horizont von demjenigen unterschieden wird, in dem die Aktivität des Erinnerns nun selbst erfolgt. Zur Folge hat diese Selbst-Identifikation, daß eine Kontinuität zwischen dem erinnerten Geschehen und dem Geschehen des Erinnerns hergestellt wird. Die Selbstkonstitution der Dauer ist ein anderer Ausdruck für das Aufrichten der Dimension, die sich von der chronometrischen Achse verselbständigt. Dieser zusätzliche Freiheitsgrad ist Bedingung für die Möglichkeit, daß eine Vielzahl zeitlich individueller Zukünfte und Vergangenheiten nebeneinander existieren. Zukunft und Vergangenheit existieren in der Geistesgegenwart des vorstellenden Bewußtseins. Indem frühere Situationen als Zustände dieses sich selbst identifizierenden Bewußtseins zugänglich bleiben, bleibt auch die Geschichte des Erinnerns und Erwartens zugänglich. Diese zeitliche Tiefe dieser Geschichte tut sich auf, indem die mit dem Index ihrer Präsenzzeit individualisierten Ordnungen des Künftigen und Vergangenen – deren sämtliche die gesamte Zukunft und Vergangenheit belegen – entlang der Dimension der Dauer geordnet werden. Diese individuellen Ordnungen füllen, anders gesagt, ein Feld mit den Achsen Dauer und chronometrische Distanz. xiv Das temporale Feld füllt sich, indem jedem Quantum der Dauer eine eigene Ordnung des Künftigen und Vergangenen ko-ordiniert wird. Erst dann, wenn von der zeitlichen Individualität dieser Ordnungen Gebrauch gemacht werden kann, wird die Unterscheidung zwischen dem Horizont der erinnerten Situation und dem Horizont, in dem die Aktivität des Erinnerns sich vollzieht, möglich. Erinnerung und Erwartung stellen den Übergang vom perzeptiven zum reflektierenden Bewußtsein dar. Für den Übergang charakteristisch ist die doppelte Bedeutung des Begriffs der Repräsentation. Mit Repräsentation kann sowohl die reproduzierende Präsentation von Wahrnehmungszuständen als auch die semantische Bedeutung des präsentierten Reizmusters gemeint sein. Wie kaum ein anderer Sinn macht das musikalische Hören von diesem enharmonischen Übergang Gebrauch. Die Bedeutung des Gehörten bleibt eben dadurch offen – und im retrograden Sinn plastisch –, daß nicht nur der vernommene Ton, sondern auch der Horizont, in dem er vernommen wurde, memoriert wird. Durch eine Anschauungsform, die die Zeit nicht linear, sondern flächig vorstellt, wird diese erweiterte Erinnerung grundsätzlich möglich. Freilich ist diese Erweiterung nur um den Preis erhöhter Anstrengung zu haben. Der Erfolg der Anstrengung ist sogar eine Frage der Begabung. Mehr noch, die Begabung will G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 15/18 gebildet sein, um effektiv zu werden. Das musikalische Gedächtnis ist in dieser Hinsicht ähnlich wie die räumliche Vorstellungskraft. Es ist ein Hantieren mit Freiheitsgraden, deren glückliche Handhabung Möglichkeitsräume erschießt. Die Handhabung will gelernt sein und kann akrobatische Fähigkeiten abverlangen. Im Fall der räumlichen wie im Fall der zeitlichen Vorstellungskraft besteht die Schwierigkeit darin, perspektivische Tiefe hinter dem flachen Bild des sensorischen Reizmusters aufzuschlagen. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der räumlichen Vorstellung und dem musikalischen Hören besteht nun allerdings darin, daß die räumliche Vorstellung über klare Kriterien des Gelingens verfügt. Gelingt die räumliche Entfaltung der vorzustellenden Gestalt nicht, dann bleibt das Bild entweder flach oder widersprüchlich. Im Fall des musikalischen Hörens ist es schwieriger, zwischen gelingender und mißlingender Entfaltung zu unterscheiden. Entwickelte Gestalt meint in der Musik mehr, als daß das schon Gehörte im Moment des aktuellen Hörens präsent bleibt. Die entwickelte Gestalt bezieht hier die Geschichte der Erwartung beziehungsweise Enttäuschung sowie die retrograde Wirksamkeit des verstehenden Nachvollzugs ein. Wenn die Erwartung sich nicht als sich selbst entwickelnd, wenn der Nachvollzug sich nicht als Neues entdeckend erfährt, dann fällt das nicht weiter auf. Vielmehr hat dann das flache Hören seine eigene Logik entwickelt. Die Erwartung hat sich verfestigt und aufgehört zu lernen. Die Erinnerung erinnert sich dann an immer dasselbe. Wohl bleibt auch hier noch die perspektivische Tiefe. Nur hat die Differenz aufgehört zu existieren, die Mehrdeutigkeit zuläßt. Erwartung und Erinnerung entwickeln sich im Hören nicht mehr mit. Der Horizont bleibt immer gleich: Die plastische Vorstellung erstarrt zum Vorurteil. Dualistische Weltsicht oder zeitlicher Perspektivenwechsel? Das Feld, das die Vielzahl der individuellen Ordnungen des Künftigen und Vergangenen nebeneinander existieren läßt, wird aufgespannt durch die Koordination von erlebter Dauer und chronometrischer Distanz. Die Koordination dieser Freiheitsgrade läßt selber noch eine Alternative offen. Sie läßt nämlich offen, wie das Jetzt dargestellt wird. Das Jetzt kann entweder als Ursprung des Koordinatensystems oder als die Einheit dargestellt werden, die sich relativ zum Ursprung bewegt. G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 16/18 Geometrisch sind diese beiden Alternativen äquivalent. Formal ist die eine so gut wie die andere. Für das Gefühl des In-der-Welt-Seins macht diese Wahl jedoch einen Unterschied, der aufs Ganze geht. Die Wahl des Jetzt als Ursprung des Systems läßt das Bild der Welt entstehen, das im Jetzt als dem einzig ruhenden Pol zentriert ist. Die Wahl des Jetzt als der Einheit, die wandert, zeigt die Welt als den Ozean, durch den das Jetzt wie eine Welle zieht. Das erste Bild zeigt eine Welt, die jeden Moment neu entsteht und sogleich wieder vergeht, um dem nächsten Akt des Werdens Platz zu machen. Das zweite Bild zeigt eine Welt, in der sich nur der subjektive Eindruck, in einem bestimmten Zustand zu sein, verändert. Das erste Bild ist das des Heraklitischen Flusses, das zweite das des Parmenideischen Blocks. Tatsächlich hat die abendländische Philosophie und Wissenschaft mit dem Aufbrechen dieser dualistischen Weltsicht begonnen. Die ersten großen Antipoden des westlichen Denkens waren Heraklit und Parmenides. Für Heraklit ist alles im Fluß und der Eindruck, daß irgend etwas Seiendes gleichbleibt, Illusion. Für Parmenides ist das Seiende seiend und der Eindruck, daß da etwas wird und vergeht, ein Trug. Der Dualismus scheidet die Geister bis heute. Auf der einen Seite stehen die Denker, die vom bewußten da Sein als der letzten Gegebenheit ausgehen, auf der anderen Seite stehen die, für die die relativistische Raumzeit eine nicht zu hintergehende Gewißheit darstellt. Für die eine Seite stehen Namen wie Bergson, Husserl, Whitehead, Heidegger. Die andere Seite bildet den Hauptstrom des naturwissenschaftlichen Denkens. Die Relativitätstheorie hat mit der Vorstellung des Parmenides ernst gemacht. Die relativistische Raumzeit ist der für sich genommene Ozean der Zustände. In der Zeit als relativistisch vierter Dimension sind die zeitlich verschiedenen Zustände der Welt, um es vereinfachend aber nicht falsch auszudrücken, wie in einer weiteren räumlichen Dimension aufgereiht.xv Es gibt kein zeitliches Werden und Vergehen. Alle Zustände sind gleich wirklich und da. Für die Relativitätstheorie ist das erlebte Vergehen der Zeit der subjektive Eindruck, dem außer ihm nichts Wirkliches entspricht. Einstein gefiel es denn auch, als moderner Parmenides angesprochen zu werden xvi Für die Heraklitische Alternative stehen nicht nur Denker wie Bergson, Husserl, Whitehead, Heidegger. Die Vorstellung der Welt als einer Flut unablässig auftauchender und verschwindender Eindrücke ist charakteristisch auch und gerade für die östliche Philosophie des Seins. Die östliche Philosophie unterscheidet sich von der westlichen Wissenschaft genau darin, daß sie sich für die Präsenz als den letzten Grund entschieden G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart 17/18 hat, in den der Anker zu werfen ist. Sie ist nach dieser Entscheidung nicht weniger konsequent verfahren als die westliche Wissenschaft, die sich für empirische Beobachtung als letztentscheidendes Kriterium entschieden hat. Wird das da Sein als das Ruhende genommen, durch das die veränderlichen Zustände der Welt hindurchziehen, dann ist es nur noch eine Frage der rigorosen Scheidung von Bleibendem und Wechselndem, um zu dem von allem Seienden gereinigten Sein zu gelangen. Dieses leere Sein oder erfüllte Nichts ist kein religiöser Wahn, sondern scharfsinnige Konsequenz. Es ist keineswegs "verrückter" als die Vorstellung, daß alle zeitlich verschiedenen Zustände der Welt gleich wirklich und existent sind. Der Dualismus, mit dem die intellektuelle Kultur anhob, spaltet diese Kultur bis heute. Gehören die beiden Sichten der Welt aber nicht zur bewußten Existenz, wie die linke Hand zur rechten gehört? Hat es denn Sinn, die eine gegen die andere ausspielen zu wollen? Ist der Dualismus denn nicht durch den schlichten Sachverhalt bedingt, daß wir im Jetzt leben und daß sich das Jetzt relativ zu den zeitlich verschiedenen Zuständen der erlebten Wirklichkeit bewegt? Kommt das Jetzt denn nicht dadurch zum Stehen, daß es in den Vordergrund des Bilds gerückt wird? Und beginnt es nicht zu wandern, sobald der Block der Zustände in den Vordergrund rückt? Ist der Wechsel der Perspektive denn mehr als ein Spiel zwischen Vorder- und Hintergrund? Dem intellektuellen Verstand scheint der Sinn zu fehlen, der für einen regelmäßigen Wechsel der Perspektive sorgt. Der Verstand fühlt sich gezwungen, ein für allemal zwischen den Perspektiven zu wählen. Ist die Entscheidung gefallen, dann steht das eine Weltbild so fest wie das andere. Die zeitliche Perspektive schnappt dann nicht mehr von selbst, wie es die räumlichen Ansichten des Necker-Würfels tun. Woher rührt diese weltanschauliche Gefangennahme? Rührt sie nicht einfach von der zu engen Vorstellung der Zeit? Geht der Zwang nicht von der Gewohnheit aus, die Zeit als nur eben eindimensionale Form der Anschauung zu denken? Weiß es die sinnliche Intelligenz nicht besser? Ist der entwickelte musikalische Sinn dem urteilenden Verstand nicht darin voraus, daß er unbefangener mit einer höherdimensionalen Form zeitlicher Anschauung spielt? Kommt die Musik nicht dadurch zu ihrer erschütternden Kraft, daß sie existentielle Selbstgefühle kontrolliert zum Kippen bringt? Und rührt diese Kraft nicht von einer zeitlichen Anschauungsform, die den weltanschaulichen Perspektivenwechsel mit der Leichtigkeit der Transformation eines Koordinatensystems herbeiführt? G. Franck, Die stehend strömende Gegenwart i 18/18 Dieses Phänomen der, wie er sie nennt, Retention und Protention wurde erstmals von Edmund Husserl genau beschrieben. Siehe ders., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins‘, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, IX (1928). ii Als Überblick zu dieser Eigenzeitlichkeit des Jetzt siehe Ernst Pöppel, ‘The brain‘s way to create “nowness”‘, Time, Temporality, Now. Experiencing Time and Concepts of Time in an Interdisciplinary Perspective, hg. von H. Atmanspacher und E. Ruhnau, Berlin: Springer, 1997, S. 107-120. iii Die zeitliche Veränderung muß klar von der realen Veränderung unterschieden werden. Reale Veränderung meint, daß Zustände, die sich im Datum unterscheiden, auch in Struktur oder Funktion verschieden sind. Zeitliche Veränderung meint, daß Zustände, die künftig waren, gegenwärtig werden, um von da an vergangen zu sein. Reale und temporale Veränderung sind orthogonal, das heißt, unabhängig voneinander variabel. Diese unabhängige Variabilität fällt uns nicht auf, weil in der subjektiven Erfahrung reale und temporale Veränderung vereint sind. In der Physik sind sie allerdings scharf getrennt. Nur die reale Veränderung gilt als physikalisch objektiv. Siehe Georg Franck, ‚How time passes. On conceiving time as a process‘, The Nature of Time: Geometry, Physics and Perception, hg. von Rosolino Buccheri, Metod Saniga u. William M. Stuckey, Dodrecht: Kluwer Academic, 2003, S. 91-103. iv Siehe Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Anm. I), und ders., Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), hg. von R. Bernet (Text nach Husserliana 10), Hamburg: Felix Meiner, 1985. v Siehe Klaus Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Phänomenologica 23, Den Haag: M. Nijhoff, 1966. vi Der Necker-Würfel ist benannt nach dem englischen Physiologen L.A. Necker, der das Phänomen 1832 erstmals beschrieb. Siehe Abb. 1. Es handelt sich um eine zweideutige zweidimensionale Darstellung eines dreidimensionalen Objekts. Die perspektivische Darstellung ist bi-stabil: Beide Interpretationen sind in sich schlüssig und ohne Referenz zur anderen gültig. Allerdings schlägt die eine Ansicht – bei Personen zumindest, die beide Möglichkeiten einmal realisiert haben – unvermittelt in die andere um. Bei geübten Personen wird als typischer Fall ein Umschalten im 3-Sekunden-Takt berichtet. vii Vergl. dazu und zum folgenden Georg Franck, ‚Time and presence‘, Science and the Primacy of Consciousness, hg. von R.L. Amoroso, R. Antunes, C. Coelho, M. Farias, A. Leite u. P. Soares, Orinda, CA: The Noetic Press, 2000, S. 68-72. viii Siehe H.A.C. Dobbs, ‚The dimensions of the sensible present‘, in The Study of Time, hg. von Julius T. Fraser, Francis C. Haber u. Gert H. Müller, Berlin: Springer, 1972, S. 274-292. ix Siehe Harald Atmanspacher, Raum, Zeit und psychische Funktionen, in: Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft, hg. von H. Atmanspacher, H. Primas und E. Wertenschlag, Berlin: Springer, 1995, S. 239-274. x Siehe dazu und weiterführend Georg Franck, ‚Die temporale Wirklichkeit der Gefühle. Beitrag zum Wissenschaftssymposion "Große Gefühle" beim Steirischen Herbst 1993‘, Kunstforum, Bd. 126 (März 1994), S. 127-138. On-line unter http://www.iemar.tuwien.ac.at/publications xi Siehe Kurt Gödel, ‚A remark about the relationship between relativistic theory and idealistic philosophy‘, in Albert Einstein, Philosopher-Scientist, ed. by Paul A. Schilpp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1949, S. 555-562. xii Zum kategorischen Ausschluß des Jetzt aus der Physik siehe Albert Einstein, Relativity: The Special and the General Theory, London: Routledge, 51962 (with added Appendix V), S. 149. xiii Siehe Alfred N. Whitehead, ‚Uniformity and contingency‘, Proceedings of the Aristotelian Society, XXIII (1922/23), S. 1-18. xiv Zur Geometrie des temporalen Felds siehe Franck, How Time Passes, (Anm. III). xv Aufgrund der relativistischen Effekte ist die Sortierung allerdings nicht universell eindeutig. xvi Siehe Karl Popper, ‚Intellectual Autobiography‘, in The Philosophy of Karl Popper, hg. von Paul A. Schilpp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1974, S. 3-184, S. 102f.