18 Systemische Therapie

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III
18
Systemische Therapie
J. Schweitzer
18.1
Was heißt systemisch?
„Systemisch“ ist mithin nicht ein bestimmter Realitätsbereich, sondern eine Betrachtungsweise, die das Verhalten von Elementen nicht aus ihrem endogenen „So-Sein“,
sondern aus ihren Beziehungen zu anderen Elementen zu
erklären versucht. Insoweit gibt es keine Systeme, sondern
Systeme werden als Beschreibungen von Realitätsbereichen
durch Beobachter aufgefasst. Eine systemische Sichtweise
stellt das Verhalten von Elementen stets in einen Kontext,
einen Beobachtungsrahmen für situative Zusammenhänge.
In diesem Beobachtungsrahmen sind folgende Konzepte
für das Verständnis von Systemen besonders wichtig:
Zirkularität. Das Verhalten jedes Mitgliedelements eines
Systems ist zugleich Ursache und Wirkung des Verhaltens
der anderen Mitglieder. Einseitige lineare Ursache-Wirkungs-Beschreibungen („Er trinkt, weil sie sich ihm verweigert“ oder umgekehrt „Sie verweigert sich ihm, weil
er trinkt“) sind Ergebnis willkürlicher Interpunktionen aus
den Interessenlagen der jeweils Beteiligten heraus. Fokussiert wird also, wie sich Phänomene wechselwirksam beeinflussen und gegenseitig bedingen.
Kommunikation. Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Austausch von Kommunikationen, d. h. von Botschaften zwischen sendenden und empfangenden Systemmitgliedern.
18.2
Bei diesen lässt sich ein Inhaltsaspekt („Was wird explizit gesagt?”) von einem Beziehungsaspekt unterscheiden
(„Was denkt A darüber, dass B gerade dies gerade jetzt gerade zu C sagt?”).
Regeln. Der zirkuläre Austausch von Kommunikationen
führt über die Zeit hinweg zum wiederholten Auftreten bestimmter Kommunikationsabläufe (Redundanzen), in denen ein Beobachter Muster (formal ähnliche Kommunikationsabläufe bei wechselnden Inhalten) erkennen kann und
die als Regeln formuliert werden können („Immer wenn das
Kind weint, zeigt sich der Vater besorgt und die Mutter ärgerlich“ oder „Immer wenn die Mutter sich ärgerlich zeigt,
weint das Kind, und der Vater wendet sich ihm besorgt zu“).
System-Umwelt-Grenzen. Diese unterscheiden, was zu einem System dazugehört und was nicht. Sie sind zumindest
in sozialen und psychischen Systemen nicht naturgegeben,
sondern werden entsprechend deren Sinn-Verständnis ausgehandelt: Gehören die Schwiegermutter und der Freund
der Tochter zur Familie? Sollten Angehörige in einer stationär-psychosomatischen Behandlung integriert werden?
Gehören Zivildienstleistende in die Teamsupervision? Sind
niederträchtige Racheimpulse legitime Mitglieder meiner
Gefühlswelt?
Von der Kybernetik erster zur Kybernetik
zweiter O
­ rdnung
Die Rezeption systemtheoretischer Modelle aus verschiedenen Naturwissenschaften in die Psychotherapie fand in 2
Hauptphasen statt, die von Foerster (1988) als Kybernetik
erster und zweiter Ordnung unterschieden hat.
244     
misch“ sprechen, bezeichnen Sie damit die Kommunikation
zwischen den Mitgliedselementen sozialer Systeme – Partnerschaft, Familie, Nachbarschaft, Therapeut-Patient-Beziehung, Team, Institution, Versorgungssystem – und die Anstöße, die von diesen Kommunikationen auf die Gedanken,
Gefühle, Hormonausstöße oder Erkrankungen der Mitglieder ausgehen – also auf deren psychische und biologische
Systeme.
Kybernetik erster Ordnung. Etwa von 1950 bis Mitte der
1970er Jahre wurde systemtheoretisches Denken vor allem aus der Regelungs- und Nachrichtentechnik rezipiert.
Das Interesse an der Vorhersehbarkeit, Durchschaubarkeit
und Planbarkeit komplexer Systeme stand im Vordergrund.
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18 Ein System ist ethymologisch das, was zusammen (griech.
syn) steht (griech. stamein) oder liegt (griech. histamein).
Anders gesagt ist ein „System ein Satz von Elementen und
Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen diesen
Objekten und deren Merkmalen“ , der zudem durch eine
Grenze von seiner Umwelt abgrenzbar ist – sodass man
weiß, wer oder was zum System als Mitglied dazugehört und
wer oder was nicht. Wenn Psychotherapeuten von „syste-
III
Kybernetik zweiter Ordnung. Etwa ab 1980 wurde vermehrt eine biologische Systemtheorie („Theorie lebender
Systeme“, Maturana u. Varela 1987) rezipiert, die sich gerade für die Unmöglichkeit objektiv-externer Systembeobachtung und -beeinflussung interessierte. Die Kernfrage
war hier: Wie sichern autonome, d. h. von außen unbeeinflussbare oder gar autopoietische, d. h. sich selbst erzeugende Prozesse das evolutionäre Überleben eines Systems
und begrenzen die Möglichkeit von außen kommender Einflussnahme? Auf dem Hintergrund erkenntnistheoretischer
Überlegungen (s. u.) wurde der Einfluss des Systembeobachters auf das beobachtete System thematisiert: Welche
Beobachtungen erlaubt, welche verhindert, welche erzeugt
gar die Eigenstruktur des Beobachters? Wie verändert sich
das beobachtete System dadurch, dass es beobachtet wird?
Epistemologische und soziale
­Konstruktion von Systemen
Zwei primär philosophische bzw. sozialpsychologische
Denkansätze haben wesentlich zur Kybernetik zweiter
Ordnung beigetragen: Die Erzeugung von Systemprozessen
durch individuelle Kognitionen als Thema des radikalen
Konstruktivismus (von Glasersfeld 1981) und ihre Erzeugung durch soziale Verständigungsprozesse als Thema des
sozialen Konstruktionismus (Gergen 1991).
Radikaler Konstruktivismus. Der radikale Konstruktivismus nimmt an, dass wir unsere Annahmen (Bilder, gedanklichen Konstruktionen) über die Welt grundsätzlich nicht
erfolgreich danach beurteilen können, ob sie diese „wahr“
oder „falsch“ abbilden, sondern lediglich, inwieweit sie zur
Welt in dem Sinne passen, dass wir mit Ihnen erfolgreich
handeln und überleben können. Daher interessiert aus
radikal-konstruktivistischer Perspektive bei den verschiedensten Ideen (z. B. darüber, ob ein Kind „wirklich“ behindert ist oder nicht, ob eine Frau Ihren Mann „wirklich“ liebt,
ob ein Patient sein psychotisches Verhalten beeinflussen
kann oder es „über ihn kommt“) nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern deren Nützlichkeit für die Lebensgestaltung
der Beteiligten. Wie tröstlich oder beunruhigend ist z. B.
eine psychiatrische oder somatische Krankheitstheorie, die
die genetische Determiniertheit der Erkrankung betont?
Aktiviert sie die Beteiligten, oder fördert sie passives Erdulden? Trägt sie zwischen den Beteiligten eher zu wohliger
Harmonie oder zu lebhaftem Streit bei?
Sozialer Konstruktionismus. Gegenüber dem ursprünglich
individualistisch konzipierten Konstruktivismus betont der
soziale Konstruktionismus stärker das gemeinsame Aushandeln von Realitätssichten im Dia- oder Multilog, betont er noch stärker den Wert von Perspektivenvielfalt. Das
„Selbst“ ist in konstruktionistischer Sicht nicht mehr das in
seine Haut eingeschlossene Individuum, sondern „jeder von
uns wird zunehmend eine bunte Mischung von Potentialen,
wobei jedes Potential eine oder mehrere der Beziehungen,
in die wir uns einlassen, darstellt“ (Gergen u. Gergen 2009).
Störungstheorie:
Problemdeterminierte Systeme
Unter dem Schlagwort „Patient Familie“ (Richter 1963) gelang der frühen Familientherapie eine Entpathologisierung
des Patienten, die als ungewollte Nebenwirkung allerdings
die latente Pathologisierung der Familie mit sich brachte.
Auch systemische Familientherapieansätze aus der Kybernetik erster Ordnung sprechen von „dysfunktionalen
Strukturen“ (Minuchin 1977), „pathologischen Dreiecken“
(Haley 1977) oder familiärer „Hybris“ (Selvini et al. 1977).
Erst mit dem Konzept des „problemdeterminierten Systems“
(Goolishian 1988, Ludewig 1992) gelingt ein grundlegender
Ausstieg aus linearen Verursachungs- und damit Schuldzuweisungstheorien.
„Problemdeterminiertes System“ meint: Nicht ein System (eine Familie, eine Klinik, eine Firma) „hat“ das Problem als sozusagen zu ihm gehörendes Strukturmerkmal
(„Herr Doktor, ich habe eine Depression“, „Haben Sie sie
mitgebracht?”), sondern um ein Thema herum, das als Problem konstruiert wird, entwickelt sich ein soziales System,
welches durch das Problem zusammengehalten wird.
Steht etwa ein Mensch weit vorübergelehnt und ohne einschlägige Berufskleidung auf einer Flussbrücke oder auf
dem 10. Stock eines Hochhauses, und wird dies von Passanten
als „Suizidabsicht“ gedeutet, so kann sich rasch ein „Suizidversuch-System“ entwickeln, zu dem sich in rascher Folge der Betroffene, zwei Passanten, ein Polizist, ein Krankenwagenfahrer,
mehrere Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik und schließlich
die Angehörigen hinzugesellen können. Entscheidend ist nun,
ob die nachfolgenden Kommunikationen so verlaufen, dass sie
dieses Problemsystem rasch wieder auflösen (z. B. indem eine
gute klärende Unterhaltung zwischen dem Betroffenen und seinen Angehörigen eventuelle Familienkonflikte überwinden hilft
und/oder indem einige therapeutische Gespräche zur Überwindung depressiver Reaktionen helfen) oder aber ob sie es verfestigen und chronifizieren (etwa indem eine längerfristige psychiatrische Patientenkarriere eingeläutet wird).
Diese Perspektive hat einige sehr praktische Konsequenzen:
■■ Es ist keine „Generalsanierung“ desjenigen sozialen Systems erforderlich, in dem das Problem als erstes bemerkt
oder beklagt wird. Denn nicht das System an sich muss
sich verändern, sondern „nur“ die Kommunikation rund
um das Problem. Das ist oft noch schwer genug, aber
schon leichter und überschaubarer.
■■ Das Problemsystem muss nicht aus der Familie bestehen – seine Mitglieder können sich z. B. bei Schulphobien
18.2 Von der Kybernetik erster zur Kybernetik zweiter ­Ordnung      245
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Die Kernfrage war: Wie können Systeme in einem Gleichgewicht gehalten oder aber aus einem für pathologisch gehaltenen Gleichgewicht herausgebracht werden? Zentraler
Begriff war anfangs die Homöostase, deren Verlust durch
negatives Feedback ausgeglichen und durch positives Feedback beschleunigt wird. Später rückte die Beschäftigung mit
Zuständen fern vom Gleichgewicht, mit Fluktuation und
Chaos, mit Unplanbarem in das Zentrum des Interesses.
■■
18 aus Schüler, Eltern, Lehrern und Klassenkameraden zusammensetzen, bei chronifizierten Psychosen z. B. aus
Nachbarn, Nervenarzt, Wohnheim und Rentenantrag.
Das Problem ist nicht erst dann gelöst, wenn sich „wirklich“ etwas geändert hat „im System“. Es ist gelöst, wenn
alle oder zumindest die „wichtigen“ Leute meinen, dass
es gelöst sei – wenn sich also die problemzentrierte
Kommunikation aufgelöst hat.
Geschichtliche Entwicklung
der systemischen Therapie
Mehr als andere psychotherapeutische Ansätze ist die
systemische Therapie polyzentrisch entstanden. Statt einer zentralen Gründerfigur wie etwa Freud, Rogers, Perls,
Moreno, Berne waren hier zu viele „Urväter und Urmütter“ zugleich am Werk, als dass sich die Orthodoxie einer
Führungsfigur und der Ausschluss von Häretikern hätten
durchsetzen können. Stattdessen entwickelten sich einzelne Schulen systemischer Therapie teils parallel, teils in
geringer zeitlicher Versetzung, oft aber in heftiger Abgrenzung voneinander.
Dabei veränderten sich über die Zeit aber die zentralen
Gegensätze. In den 1960er und 1970er Jahren blieben einige familientherapeutische Schulen stärker mit ihren „Herkunftsschulen“ verbunden, etwa die psychoanalytischen,
an Mehrgenerationsprozessen interessierten Ansätze
(Boszormenyi-Nagy u. Spark 1981, Sperling 1983, Stierlin
1975), oder die an der humanistischen Psychologie orientierten Ansätze insbesondere von Satir (1979) und ihrem
Avanta-Netzwerk. Andere grenzten sich unter Berufung auf
die Systemtheorie stärker und radikaler insbesondere von
dem damals dominierenden psychoanalytischen Denken
ab (Watzlawick et al. 1975, Haley 1977, Minuchin 1977,
Selvini et al. 1977).
Seit den 1980er Jahren scheinen dezidiert systemische
Sichtweisen unter den Paar- und Familientherapeuten sich
in einem Ausmaße durchgesetzt zu haben (Stierlin 1988 u.
1994), dass andere Unterschiede hervortraten:
■■ Zwischen „Interventionisten“, die Therapiesitzungen mit
gezielten Abschlussinterventionen beenden, und „Konversierern“, die den Klienten eine breite und ungefilterte
Palette verschiedener Sichtweisen mit nach Hause geben;
■■ zwischen stärker verbal-narrativ und stärker handlungsund erlebnisorientiert arbeitenden Therapeuten;
■■ zwischen einseitig lösungsorientierten und solchen Therapeuten, die gerne weiterhin das Problem verstehen
wollen.
246     18 Systemische Therapie
Aber diese Unterschiede sind mit der Expansion des Feldes
fließender geworden.
Nachdem sich Mitte der 1990er Jahre die systemische
Therapie in ihrer Theorie wie in ihrer Praxis soweit entwickelt hatte, dass sie zusammenfassend darstellende Lehrbücher geschrieben werden konnten (u. a. Ludewig 1992,
von Schlippe u. Schweitzer 1996, Simon, Clement u. Stierlin
1999, Mücke 2011, Wirsching u. Scheib 2002, Schweitzer u.
von Schlippe 2006, Schwing u. Fryszer 2007, von Schlippe
u. Schweitzer 2009), im englischsprachigen Raum (u. a. Nichols u. Schwartz 2003, Winek 2010), lassen sich folgende
weitere Entwicklungen beobachten:
■■ Integrationstendenzen
besonders humanistisch-emotionsfokussierter („Emotion-focussed couple therapy,
Greenberg u. Johnson 1988), bindungsorienterter („Attachment-Based Family Therapy“, Diamond u. Siqueland
2001) und am Mentalisierungskonzept orientierter Ansätze (Asen u. Fonagy 2010) in die systemische Therapie;
■■ der Versuch, mit „Metaframeworks“ (Pinsof et al. 2010)
Spielregeln einer adaptiven Indikation genauer zu formulieren und empirisch zu testen, also wann innerhalb
eines systemischen Gesamtkonzeptes eher mit Familien, Paaren oder Einzelnen gearbeitet werden sollte, und
wann an ihren Verhaltensmustern, ihren Emotionen, ihrer Geschichte oder ihren Selbstkonzepten;
■■ vor allem im angelsächsischen Raum eine stärker „kultursensitive“ Therapiepraxis, die sich interessiert für
kulturelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen
(Gender), zwischen hetero- und homosexuellen Paaren
und Familien (sexuelle Orientierung), unterschiedlichen
ethnischen und religiösen Herkünften und Orientierungen, zwischen Alten und Jungen und schließlich zwischen arm und reich. Hier wird der Anspruch formuliert
und umgesetzt, vorrangig jenen Menschen und jenen
Gedanken „eine Stimme zu geben“, die bislang eher unterdrückt waren;
■■ ökosystemische Ansätze, schon in den 1970er Jahren populär, feiern ein Revival. Sie halten die Familie für eine
zu kleine Interventionseinheit und verbinden deshalb
Einzel-, Paar- und Familientherapie mit gemeindepsychologischen Ansätzen („Community Family Therapy“,
Rojano 2004), Schulberatung und Nachbarschaftsarbeit
bei delinquenten und suchtgefährdeten Jugendlichen
(„multisystemische Therapie“, Borduin 2009; multidimensionale Familientherapie) und dem Zusammenbringen mehrerer therapiesuchender Familien in der Multifamilientherapie (Asen u. Scholz 2009).
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III
III
Therapeutische Haltungen
Als Schnittstelle zwischen systemtheoretischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen einerseits und dem
konkreten therapietechnischen Vorgehen andererseits
lassen sich einige grundlegende therapeutische Haltungen
oder Richtlinien beschreiben.
Richtlinien
■■
Den Möglichkeitsraum vergrößern
„Handle so, dass Du die Zahl der Möglichkeiten vergrößerst“ – dieser basale „systemische Imperativ“ (von Foerster 1988) bedeutet in der Psychotherapie: „Hilf, die Denkund Handlungsspielräume deiner Klienten zu erweitern“.
Dem entspricht eine stark als „Ideen- und Experimentierwerkstatt“, als „Denken des bislang Ungedachten“, als Anregung zum „Ausprobieren des bislang nicht Ausprobierten“ begriffene Praxis. Es gilt, neben dem bestätigenden
Verstehen hinreichend viel Neues, Ungewohntes, vielleicht
sogar Verstörendes oder Provokatives in der Therapie geschehen zu lassen.
■■
Neutralität wird manchmal in zweierlei Weise missverstanden. Zum einen können Therapeuten nur selten neutral
sein, weil sie natürlich ihr eigenes Wertesystem stets mit
sich tragen. Aber sie können sich darum bemühen, Neutralität zu zeigen, sie in ihren Äußerungen und Handlungen
anzustreben. Entscheidend ist, inwieweit die Klienten ihre
Therapeuten als neutral erleben. Zum anderen hat eine
Haltung der Neutralität ihren Wert nur da, wo einem Klientensystem geholfen werden soll, den eigenen Denk- und
Handlungsspielraum zu erweitern. Wo dieser aus therapeutischen und ethischen Gründen absichtlich verringert
werden soll (z. B. gegenüber einem akut gewalttätigen oder
suizidalen Patienten), wo moralische oder politische Positionen durchgesetzt werden sollen, oder wo vom Behandler schnell entschieden und gehandelt werden muss, ist
Neutralität unmöglich, nutzlos oder hinderlich. Angesichts
dieser Diskussionen bevorzugen manche Systemiker den
älteren, von Stierlin geprägten Begriff der Allparteilichkeit
gegenüber dem der Neutralität.
Achtung vor der Selbstorganisation
Diese dem Autopoiese-Konzept entsprechende Haltung erfordert zunächst vom Therapeuten Neugier, einhergehend
mit der Haltung einer Expertise des Nicht-Wissens und dem
Bemühen, Genese, Funktion und (Dys-)Funktionalität symptomatischen Verhaltens aus der Innensicht des Klientensystems kennen zu lernen.
■■
Symptomverschreibung zugrunde: das eigene Symptom
zunächst (auch) schätzen zu lernen, um sich dann ggf.
freier von ihm verabschieden zu können.
Neutralität
Um das oben Genannte zu tun, ist eine neutrale Haltung erforderlich – bewusstes Nichtbewerten (Selvini et al. 1981).
Der Therapeut schlägt sich nicht auf eine Seite einer Unterscheidung, sondern pendelt zwischen beiden oder mehreren Seiten hin und her, beleuchtet die Konsequenzen der
einen und anderen, bewahrt eine Außenperspektive. Solche
Neutralität ist auf 3 Ebenen gefordert:
■■ soziale Neutralität gegenüber Personen: nicht einseitig
Partei ergreifen, weder für die eine noch für die andere
Konfliktpartei;
■■ Neutralität gegenüber Ideen: offen bleiben gegenüber widersprüchlichen Ideen darüber, wie ein Psychotherapieproblem entstanden und wie es am besten zu lösen sei;
■■ am schwierigsten scheint Neutralität gegenüber Symptomen und damit verbunden auch Neutralität gegenüber Veränderungs- und Nichtveränderungsimpulsen
zu sein – Symptome nicht einseitig als zu beseitigende
Probleme zu sehen, sondern als zwar suboptimale, aber
doch kreative Lösungen anderer, bislang nicht besser
lösbarer Probleme. Diese Haltung liegt u. a. therapeutischen Praktiken der absichtlichen, positiv konnotierten
■■
Ressourcenorientierung
Die neueren systemischen Therapieansätze gehen von der
Arbeitshypothese aus, dass Klienten „nichts fehlt“, was sie
entweder „nachreifen“ lassen müssten (z. B. ein stabiles
Ich) oder was sie „neu lernen“ müssten (z. B. adäquat zu
kommunizieren, richtig zu essen oder angstfrei Fahrstuhl
zu fahren), sondern dass die Ressourcen zur Problemlösung
im Klientensystem bereits vorhanden sind, aber noch nicht
oder nicht mehr gefunden oder genutzt wurden. Therapie
wird unter dieser Idee zum Suchen nach vernachlässigten
oder unentdeckten Ressourcen – sie arbeitet suggestiv mit
der positiven Implikation und Prophezeiung, der Patient
habe diese potenziell bereits in seinem Repertoire.
■■
Lösungsorientierung
Lösungsorientierung bedeutet in ihrer radikalen Variante:
„Man braucht das Problem nicht näher zu erkunden, man
kann sich gleich an die Konstruktion von Lösungen begeben“. Lösungsorientierte systemische Therapie sucht vor
allem nach dem, was schon jetzt gut gelingt – den „Ausnahmen vom Problem“ – und versucht durch Antizipieren
einer „Zukunft nach der Problemlösung“ Zielvisionen zu
erzeugen, die positiv auf das heutige Tun und Handeln zurückwirken.
18.3 Therapeutische Haltungen     247
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18.3
III
18 Kultursensibilität
In sozialen Systemen wirken zwar alle Mitglieder zirkulär
aufeinander ein, aber fast immer in ungleichen Machtverhältnissen und mit ungleichen Chancen, die eigenen Meinungen, Erfahrungen und Wünsche zum Gesprächsthema
zu machen. Therapieziel ist daher, besonders jenen Mitgliedern eine Chance zum sich äußern zu geben, die das traditionell weniger tun, auch auch jene Gedanken verstärkt zu
thematisieren, die aufgrund Tabuisierung bislang seltener
gedacht werden durften. Das ist in multikulturell zusammengesetzten Familien und Gemeinden besonders wichtig.
■■
Kundenorientierung
Vor allem bei der Diskussion über Therapieziele ist Kundenorientierung verstärkt eine Folge der Lösungsorientierung
(Schweitzer 1995): Systemische Therapie ist dann erfolgreich, wenn der Patient („Kunde“) das erreicht hat, was er
subjektiv erreichen wollte – und nicht unbedingt das, was
der Psychotherapeut mit seinem eigenen Menschenbild als
gutes Ergebnis ansieht.
Kontext- und Auftragsklärung
Eine ausführliche Klärung der (oft widersprüchlichen) Interessen und Erwartungen der an einer Therapie mittelbar
und unmittelbar Beteiligten kann zu Therapiebeginn oft
helfen, den Einstieg in unfruchtbare Prozesse zu vermeiden. Zu diesen Beteiligten gehören nicht nur die im Therapieraum Anwesenden, auch abwesende Familienmitglieder, ein überweisender Hausarzt, eine zuvor behandelnde
Klinik, ein skeptisch im Vorzimmer sitzender Partner stecken den Rahmen mit ab, innerhalb dessen eine Therapie
sich bewegt.
Folgende Fragen zur Auftrags- und Erwartungsklärung
können sich hier als nützlich erweisen:
■■ Warum kommen Sie gerade zu diesem Zeitpunkt?
■■ Warum gerade zu mir? Warum gerade zu dieser Institution und nicht zu einer anderen?
■■ Wer ist der Überweiser? Was sind seine Motivation und
seine Erwartung, was in der Therapie geschehen soll?
■■ Welche gleichzeitigen Kontakte des Klientensystems zu
anderen Helfern gibt es? Sind Vorstellungen darüber, was
in dieser Situation geschehen sollte, ähnlich oder unterschiedlich? Sind die Klienten professionellen Botschaften
ausgesetzt, die sich evtl. gegenseitig neutralisieren?
■■ Welche Vorerfahrungen haben die Klienten mit Helfern
gemacht und wie oft haben sie schon professionelle Hilfe
in Anspruch genommen?
■■ Was verstehen die Klienten unter „Therapie“? Was soll
da geschehen oder auf alle Fälle nicht geschehen? Welche Erwartungen haben sie, welche haben andere relevante Bezugspersonen? („Angenommen wir führten ein
paar Gespräche gemeinsam und die Gespräche verliefen
für alle Beteiligten optimal oder sehr zufriedenstellend,
wie sähe dann Ihre Familie am Ende dieser erfolgreichen
Gespräche aus? Was wäre dann konkret anders?”)
248     18 Systemische Therapie
■■
Evtl. können auch persönliche Merkmale der Therapeuten, z. B. ihr Alter, ihre Geschlechtszugehörigkeit, ihre
Kleidung, ihr Beruf, einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten der Klienten ausüben und den therapeutischen
Prozess entscheidend beeinflussen. Es ist gut, wenn die
Therapeuten dieses ahnen und zum Thema machen.
Fragen als therapeutische
Interventionen
In der systemischen Therapie wird nicht zwischen einer
Explorations- und einer Interventionsphase unterschieden. Fragen sind in diesem Modell die wichtigsten „Träger“
und „Erreger“ von Informationen (Unterschiedsbildungen),
die bei den Klienten angestoßen werden sollen. Sie dienen
gleichzeitig der Informationsgewinnung und -erzeugung.
Wichtige Fragetypen sind z. B.
■■ Erklärungsfragen: „Wie erklären Sie sich, dass Ihre Frau gerade im vorigen Jahr begonnen hat zu trinken?” Oder: „Wie
werden es sich ihre Kinder erklären, wenn Sie, Herr X, ein
halbes Jahr überhaupt keine Herzangst mehr zeigen?”
■■ Fragen, die Eigenschaften zu Verhalten verflüssigen: „Was
tut Ihr Vater, wenn Sie ihn für depressiv halten?”
■■ Fragen, die ein Verhalten in einen spezifischen räumlichen,
zeitlichen oder Beziehungskontext stellen: „Zeigt sich Ihr
Vater eher bedrückt, wenn Familienmitglieder anwesend
sind oder wenn er allein ist?” „Eher während der Arbeitszeit oder außerhalb?”
■■ Fragen, die gegenseitiges Sich-Bedingen nahelegen: „Was
tut die Mutter, wenn der Vater sich bedrückt zeigt (nicht
,ist’)?” „Und wie reagiert er dann seinerseits darauf?”
■■ Fragen, die eine Außenperspektive ermöglichen: „Was,
vermuten Sie, denkt Ihr Mann, wenn...?”
■■ Fragen, die aus Opfern Mitverantwortliche werden lassen
können: „Angenommen, ich gäbe Ihnen den Auftrag, sich
schon innerhalb der nächsten 14 Tage wieder manisch zu
zeigen, wie könnten Sie das am besten anstellen?”
■■ Beziehungsfragen: „Haben deine Eltern mehr miteinander gesprochen, bevor oder nachdem deine Schwester in
den Schulstreik getreten ist?”
■■ Triadische Fragen: „Wie sehen Sie, Frau X, die Beziehung
Ihres Mannes zu ihrer Tochter?”
■■ Rangfragen: „Mach du als Tochter bitte mal eine Reihenfolge, wer in der Familie am liebsten zu Haus bleibt und
wer am liebsten fortgeht.”
■■ Fragen mit Zeitimplikationen: „Wann denken Sie, werden
Sie ihr Ziel eher erreicht haben: In 6 Tagen, 6 Wochen
oder 6 Monaten?”
■■ Verschlimmerungsfragen: Fragen wie „Haben Sie Ideen,
wie Sie Ihre Beziehung zu Ihrer Frau wieder verbessern
können?” sind Klienten meist schon öfters gestellt worden. Verschlimmerungsfragen sind dagegen viel überraschender und bergen ebenso die Implikation, dass die
Klienten ihren Zustand verändern können. „Angenommen, Sie hätten die Absicht, die Beziehung zu Ihrer Frau
in den nächsten Tagen auf alle Fälle zu verschlechtern –
was müssten Sie dann tun?”
■■ Mehrere dieser Beispielsfragen sind bereits zugleich
hypothetische Fragen. Diese beginnen meist mit „an-
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■■
III
Schlusskommentare, Schlussinter­
ventionen, Reflektierendes Team
Viele systemische Therapeuten nutzen die Möglichkeit,
am Ende der Sitzungen nach einer Pause den Klienten Abschlusskommentare und -interventionen mit „auf den Weg
zu geben“. Die Pause von etwa 10–20 Minuten nutzen die
Therapeuten, um die erhaltenen Informationen noch einmal zu ordnen, ihre Hypothesen evtl. zu modifizieren, ihre
Neutralität oder Parteilichkeit zu reflektieren und einen
Schlusskommentar zu entwerfen.
Solche Abschlusskommentare werden meist direkt anschließend mündlich mitgeteilt. Inhaltlich beginnen sie
meist mit einer „positiven Konnotation“, also einer Anerkennung vorhandener Ressourcen und gezeigten Besserungen
oder einer positiven Umdeutung des Problemkreislaufs.
Bei Klientensystemen, die deutliche Veränderungsbereitschaft signalisieren, können dann Handlungsvorschläge
folgen, die zum Experimentieren mit im Gespräch andiskutierten Ideen einladen. Das können Rituale sein, z. B. Konfliktrituale, Trauerrituale, Versöhnungsrituale. Das können
Symptomverschreibungen sein: einen unerwünschten
Zustand absichtlich, aber nur kurz an bestimmten Orten
oder zu bestimmten Zeiten herbeizuführen. Das können
„So-tun-als-ob-Aufgaben“ sein: Ein symptomatisches oder
Problemverhalten absichtlich vorzutäuschen, um dann
18.4
zu beobachten, ob und wie die Umgebung anders als auf
„Echtsituationen“ reagiert.
Bei noch weniger veränderungsmotivierten Klientensystemen empfehlen sich eher Beobachtungsaufgaben, z. B. bei
häufig heftig streitenden Paaren: Am Ort der häufigsten
Streits ein Tonband aufstellen, wie gewohnt weiterstreiten,
aber zu Streitbeginn jeweils kurz das Tonband einstellen und
es sich hinterher anhören. All diese Handlungs- und Beobachtungsvorschläge lösen eine heftige Konfrontation und Infragestellung bisheriger, redundanter Problemmuster hervor.
Besonders wenn im Klientensystem sehr unterschiedliche Beschreibungen, Wertungen und Lösungsvorstellungen
vorhanden sind, nutzen die Therapeuten an dieser Stelle
oft ein therapeutisches Splitting und konfrontieren die Klienten gleichzeitig mit mehreren Sichtweisen und Lösungsideen. Befanden sie sich im Gespräch überwiegend auf der
Seite der Veränderung, betonen sie dann hier eher die positiven Aspekte des Vorhandenen und warnen evtl. vor zu
vielen und zu schnellen Veränderungen.
Alternativ zum Team hinter einer Einwegscheibe – was
seit etwa 1990 von vielen Systemikern als zu einseitig,
nicht-partizipativ, „Deus-ex-Machina“-artig empfunden
wurde – hat das „Reflektierende Team“ zunehmende Verbreitung gefunden (Andersen 1990, 1998). Hier sitzt das
zwei- bis dreiköpfige reflektierende Team mit im selben
Raum und wird zwei- oder dreimal während des Interviews um eine Zwischenreflexion gebeten, der Therapeut
und Klientensystem gemeinsam zuhören, um danach über
die darin enthaltenen Anregungen weiter zu diskutieren. Das reflektierende Team folgt einer narrativen Therapiephilosophie, der das vorsichtig-zögernde Anbieten
einer Palette von Sichtweisen wichtiger ist als drastische
Schlussinterventionen. Über die Familientherapie hinaus
hat das Reflecting Team-Konzept „Karriere gemacht“, auch
in Supervisionsprozessen und sogar als Hilfsmittel zur Qualitätsentwicklung in psychiatrischen und anderen Einrichtungen genutzt (Armbruster 1998).
Settings und Verläufe
Teilnehmerkreis. 
An systemischen Therapien nehmen
nicht mehr zwangsläufig alle im Haushalt lebenden Familienmitglieder teil. Vielmehr kommt, wer zur Auflösung
des Problemsystems beitragen kann und will. Der Teilnehmerkreis kann sich ferner von Sitzung zu Sitzung partiell
ändern. So beginnen Therapien mit jungen Anorexiepatientinnen oft mit deren (Herkunfts-)Familie und werden
später mit ihr allein oder mit hinzutretenden außerfamiliären Freunden und Partnern fortgeführt. Für Bulimiepatientinnen ist dieses Vorgehen bei Gröne (1996) anschaulich
beschrieben, für Anorexiepatientinnen bei Weber u. Stierlin (1989). Bei Familientherapien mit Kindern als Indexpatienten wird man häufig eine Kombination aus Familiensitzungen, auf das Problem zentrierten Einzelsitzungen
mit dem kindlichen Indexpatienten sowie drittens Sitzungen mit den Eltern wählen, die je nach Bedarf den Fokus
eher auf „Elterncoaching“ oder auf „Paarberatung“ legen.
Wenn Konflikte zwischen den Eltern im Mittelpunkt einer
Familientherapie stehen, die evtl. auch zu einer Trennung/
Scheidung führen können, wird eine Kombination aus gemeinsamen Familiengesprächen („Welche Gedanken machen sich die Kinder über die Beziehung der Eltern?“), aus
Paargesprächen („Welcher Fundus an Zuneigung, welche
Wünsche aneinander sind trotz der Konflikte noch vorhanden?“) und aus wenigen Einzelgesprächen („Wie sähe
Ihr Leben aus, wenn Sie sich trennen würden? Wie stark
sind derzeit Ihre Wünsche, zusammenbleiben, im Vergleich
zu Ihren Wünschen, sich zu trennen?“). Vor allem, wenn
dann eine Trennung geschieht, werden im späteren Verlauf
Einzelgespräche zur individuellen Anpassung beider an die
neue Situation in den Vordergrund treten.
Sitzungszahl und Zeitabstände zwischen den Sitzungen. Die Mailänder und die Heidelberger Gruppe haben
18.4 Settings und Verläufe     249
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■■
genommen, dass...” oder „was wäre, wenn...”. Sie regen
neue Optionen an, ohne dass die Klienten direkt aufgefordert werden, etwas Bestimmtes zu tun.
Die Wunderfrage (De Shazer 1989 a u. b, Berg u. Miller
1993): „Angenommen, es geschähe ein Wunder und eine
Fee sorgte heute Nacht dafür, dass Sie auf ihre Arbeitssituation nicht mehr mit Ängsten reagieren könnten, wie
würden Sie dann morgen früh zur Arbeit gehen und was
würden Sie morgen anders machen?”
zwischen 1970 und 1985 ein Standardangebot von meist
10 Sitzungen eingeführt, welche genutzt werden können,
aber nicht zwangsläufig genutzt werden müssen. Zwischen
den Sitzungen werden Abstände von zumindest 4 Wochen,
im späteren Verlauf bis zu einem halben oder auch ganzen
Jahr eingelegt. Die Sitzungen sollen Anregungen erzeugen,
zu deren Umsetzung Lebenszeit draußen, außerhalb der
Therapie erforderlich ist. Als Regel gilt:
18 Je mehr sich gerade verändert, umso dichtere Zeitabstände, insbesondere in gefährdenden Krisensituationen; je weniger sich verändert, umso längere Zeitabstände.
■■
■■
Letzteres bewährt sich gerade in Therapien mit wenig motivierten Klientensystemen. Systemische Therapien verlaufen mit diesen zum Teil langen Abständen oft über 1–2
Jahre, gelegentlich auch länger, können also den Charakter
einer „langen Kurzzeit-Therapie“ annehmen.
Single Session Therapy. Aus der Erfahrung, dass einmalig bleibende Psychotherapiekontakte in allen Therapieansätzen die häufigste Sitzungsfrequenz sind, hat Talmon
(1990) die „Single Session Therapy“ vom bedauernswerten
Therapieabbruch zu einem sorgfältig vorbereiteten und
telefonisch katamnestisch nachbereiteten Therapiesetting
weiterentwickelt. Ebbecke-Nohlen (2003) hat ähnlich eine
Konsultation in zwei Sitzungen als paartherapeutisches
Konzept entwickelt.
Modifikationen des klassischen ambulanten Settings. Gut
30 Jahre nach Entwicklung des klassischen Mailänder und
Heidelberger ambulanten Settings hat die systemische Familientherapie Einzug in viele stationäre, psychiatrische
und medizinische, sozialpädagogische und sozialarbeiterische Einrichtungen bis hinein in die Rechtspflege gehalten,
wo dieses Setting erheblich variiert werden muss.
■■ Bei Akutbehandlung und Kriseninterventionen müssen
die Abstände kürzer gehalten werden, beim ambulanten
Management suizidgefährdeter, aber nicht einweisungsbedürftiger Patienten ggf. im Wochenabstand.
■■ Erfolgt die Behandlung unter Therapieauflage z. B. eines
Gerichts, so ist „Kunde“ des Therapiegesprächs oft weniger der Patient als vielmehr der Richter. Hier müssen
andere Bündnisse geschlossen werden, etwa nach dem
Motto: „Was müssen wir in den Gesprächen hier tun, damit dies den Richter davon überzeugt, dass Sie künftig
nicht mehr zu mir kommen müssen?”
■■ Bei akut drohender Gewalt oder Selbstbeschädigung können sich Gesundheitsfachleute nicht auf die neutrale und
neugierige Position zurückziehen, sondern müssen soziale Kontrollhandlungen vornehmen. Systemisches Denken
hilft hier allerdings, sich immer wieder klar zu werden,
welchen „Hut“ man gerade aufhat: den des Therapeuten
oder den des sozialen Kontrolleurs? Stärker als in anderen
Therapierichtungen wird eine saubere Kontexttrennung
von systemischen Therapeuten besonders betont.
■■ Bei vereinsamten Patienten stößt systemische Familientherapie an ihre natürlichen Grenzen, hier wird systemische Einzeltherapie oder aber Netzwerktherapie wichtiger. Für systemische Einzeltherapie ist häufig eine größe-
250     18 Systemische Therapie
■■
re Sitzungszahl erforderlich, da der Therapeut selber ein
wesentlicher Teil des sozialen Netzwerks des Patienten
ist und mit dem Patienten erst langsam Wege wird entwickeln können, sich selbst ein reichhaltigeres Netzwerk
zu konstruieren.
Bei stationärer Familientherapie gilt es, die stationäre
Einzel-, Gruppen- oder Milieutherapie sorgfältig mit
dem familientherapeutischen Vorgehen in der Weise abzustimmen, dass beide sich nicht gegenseitig behindern.
In der Organmedizin können ÄrztInnen oder Krankenpfleger methodische Elemente der systemischen Familientherapie in 2- bis 5-minütige Kurzberatungskontakte
einbauen, insbesondere das zirkuläre Fragen. Hypothesen, die in der Familientherapie erst erarbeitet werden,
können aufgrund der Autorität von Ärzten häufig auch
vorab angeboten werden („Bei unerfülltem Kinderwunsch kann es häufig so sein, dass erstens…, zweitens…, drittens…. Vielleicht überlegen Sie einmal, ob
eins davon bei Ihnen zutrifft.”).
Familienberatung in der sozialen Arbeit, insbesondere mit
armen Klienten, erfordert die Kombination systemischberaterischer Kompetenzen mit anwaltschaftlichen und
fürsorgenden Aktivitäten zur Gewährleistung materieller Ressourcen, um unangemessenen „Psychologismus“
zu vermeiden.
Therapie, Beratung, Konsultation,
­Konferenz, Supervision, Organisationsberatung, Coaching?
Familientherapie. Flexibilisiert hat sich auch die Benennung dessen, was systemische Therapeuten tun. Da das
Wort „Familientherapie“ dahin missverstanden werden
kann, man halte alle einzelnen Mitglieder für psychisch gestört und daher therapiebedürftig, und da ferner die systemische Therapie sich in Bereiche der Organmedizin, der
sozialen Arbeit und der betrieblichen und beruflichen Beratung weiterentwickelt hat, wird kontextabhängig das systemische Arbeiten oft bewusst gerade nicht als „Therapie“
etikettiert, sondern als „Familienberatung“ oder schlicht
als „Familiengespräche“.
Familien-Helfer-Konferenzen/Konsultationen. Sobald die
Beziehung zwischen einer Familie und den mit ihr befassten professionellen Helfern zum Thema wird (regelmäßig
bei Fragen wie Kindesvernachlässigung, -misshandlung
oder Schulverweigerung), wird man Familie und Profis zu
einem gemeinsamen Gespräch einladen, in dem vor allem
die Zusammenarbeit und deren Verbesserung besprochen
wird (Aponte 1976, Imber-Black et al. 1992)
Systemische Einzeltherapie. Auch systemische Einzeltherapie kann mit guten Ergebnissen im klassischen Mailänder-/Heidelberger-Setting durchgeführt werden: Maximal
10 Sitzungen, lange Abstände dazwischen, Hypothesenbildung vorher anhand eines Genogramms, Pause vor Sitzungsende, Abschlussintervention. Aus pragmatischen
Gründen (Ökonomie im Rahmen der Krankenkassenfinan-
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III
III
zierungsrichtlinien) bieten aber viele tiefenpsychologische
oder verhaltenstherapeutische Kassenpsychotherapeuten
mit zusätzlicher systemischer Weiterbildung eine höhere
Sitzungsfrequenz (z. B. 25 Sitzungen) an.
Systemisches Coaching. Ein Großteil der beschriebenen
systemischen Haltungen und Praktiken kann auch, wo es
nicht um die Behandlung von Störungen im Rahmen der
Krankenversicherung geht, im dann meist mehr berufsorientierten Einzelcoaching genutzt werden (Raddatz 2009).
18 Anwendung, Verbreitung, Berufspolitik
Anwendung. Systemische Therapie hat in den letzten Jahren
breite Anwendung gefunden, vor allem in den Bereichen:
■■ Psychiatrie (in psychotherapeutisch aufgeschlossenen
Landes- und Allgemeinkrankenhäusern sowie in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen, kaum aber in
Universitätskliniken),
■■ Kinder- und Jugendpsychiatrie (sehr starke Verbreitung),
Psychosomatik (wiederum stärker in Fachkliniken als in
Universitätskliniken),
■■ Pädiatrie (Onkologie, Neurologie und Sozialpädiatrie,
Neonatologie, Nephrologie),
■■ Paar-, Familien-, Kinder- und Jugendberatung in öffentlichen und verbandlichen Beratungsstellen,
■■ stationäre und ambulante Jugendhilfe, Suchttherapie.
Neue Entwicklungen. Außerhalb des engeren Psychotherapiebereichs vollziehen sich derzeit neue Entwicklungen
vor allem in der Familienmedizin (Integration systemischer Ansätze in die psychosomatische Grundversorgung
und in die psychsomatische Medizin, Altmeyer u. Kröger
2003) und systemischen Sozialarbeit (im allgemeinen sozialen Dienst, im Jugendamt, in der Schuldnerberatung), am
stärksten in der Jugendhilfe. Erste ermutigende Erfahrungen mit der systemischen Psychotherapie bei Psychosen
der Heidelberger Systemtherapeuten-Gruppe (Weber et al.
1987, Simon et al. 1989, Retzer 1994, Schweitzer u. Schumacher 1995) sind inzwischen im institutionellen Kontext
ganzer Klinikabteilungen (SYMPA-Projekt, Schweitzer u.
Nicolai 2010) und klinikübergreifender regionaler Verbünde systematisch verbreitet und teilweise auch evaluiert worden.
Anerkennung. Systemische Therapie ist seit 2008 als evidenzbasiertes Behandlungsverfahren sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder- und Jugendliche vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie anerkannt. Jedoch steht
bislang noch die Anerkennung als Richtlinienverfahren in
der ambulanten Versorgung durch die Krankenkassen aus.
Daher ist sie als ambulantes Therapieverfahren bislang im
früheren Erstattungsverfahren, mit Privatpatienten oder
von Kollegen mit zusätzlicher psychoanalytisch-tiefenpsychologischer oder verhaltenstherapeutischer Weiterbildung durchgeführt worden.
Weiterbildung. In Deutschland haben die beiden Dachverbände (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und
Familientherapie, DGSF, und systemische Gesellschaft, SG)
relativ übereinstimmende Weiterbildungsrichtlinien verabschiedet, die 300 Stunden Theorie, 150 Stunden Supervision von Therapiefällen mit mindestens 200 Therapiesitzungen sowie 150 Stunden Selbsterfahrung und schließlich
100 Stunden kollegiale Intervision verlangen – insgesamt
also eine Weiterbildung über 900 Stunden (www.dgsf.org;
www.systemische-gesellschaft.de) von mindestens drei
Jahren Dauer.
Systemische Weiterbildung ist grundsätzlich transdisziplinär angelegt und integriert neben Ärzten und Psychologen
insbesondere Pädagogen, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, aber teilweise auch Klinikseelsorger, Fachtherapeuten
(Konzentrative Bewegungstherapie, Logopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik), ErzieherInnen und Fachkrankenpfleger ohne interne Segregation in ihren Weiterbildungsgängen. Dies wird von allen Beteiligten als zentrales
Element eines kooperations- und kontextorientierungfördernden Designs erlebt.
Die Integration von Selbsterfahrung in Weiterbildungscurricula war in den frühen Zeiten umstritten: Wie systemisch
muss sie sein? Kann die eigene Psychoanalyse eine nützliche systemische Selbsterfahrung sein? Darf sie innerhalb
des Weiterbildungsinstitutes angesiedelt sein oder wird
dann Selbsterfahrung nicht in unguter Weise mit latentem
Leistungsdruck verquickt nach dem Motto: „Sie sind in ihrer
Selbsterfahrung noch nicht weit genug, Sie können die Weiterbildung noch nicht abschließen“. Freilich enthielten schon
immer die Weiterbildungscurricula der systemischen Institute sehr viele Übungen, die intensive Erfahrungen des eigenen Selbst im Kontext ermöglichen, eingebettet in die Theorie- und Methodenvermittlung. In den letzten Jahren scheint
aber systemische Selbsterfahrung zunehmend akzeptierter
und auch gefragter zu werden. Als Selbsterfahrung eines
„Ich in seinen Kontexten“ sucht sie im Sinne des inzwischen
popularisierten Titels „Wer bin ich – und wenn ja: wieviele“ nicht nach einem „wahren Selbst“, sondern nach einem
breiten Selbstspektrum. Und im Sinne starker Lösungs- und
Ressourcenorientierung hat sie wenig von jener „Schwere“
an sich, die Selbsterfahrung früher einmal zugeschrieben
wurde (Ebbecke-Nohlen u. Nicolai, im Druck).
18.5 Anwendung, Verbreitung, Berufspolitik     251
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18.5
Systemische Supervision, Teamentwicklung, Organisationsentwicklung. Die „Supervision in Anwesenheit des Klienten
(und zuweilen dessen Familie), über den gesprochen werden
soll“ ist in jüngerer Zeit zu einer häufigen Praxis in systemisch arbeitenden Instituionen geworden (Schweitzer u. Nicolai 2010). Während systemische Fallsupervision eine lange
Tradition hat (Brandau 1991), haben sich systemische Ansätze in der Teamentwicklung und der Organisationsentwicklung im psychosozialen Bereich gerade im letzten Jahrzehnt
stark weiterentwickelt (Schlippe, Zwack u. Schweitzer 2007)
III
18 Forschung
Das systemtheoretische Paradigma konfrontiert die empirische Forschungsmethodologie mit erhöhten Komplexitätsanforderungen:
■■ In Mehrpersonensystemen wie Paaren, Familien oder
Organisationen geschehen Prozesse, die sich nicht angemessen durch Aggregierung von Daten beschreiben
lassen, die an Individuen gewonnen werden. Mittelwerte
eines Familienfragebogens, von vier verschiedenen Familienmitgliedern ausgefüllt, repräsentieren nicht zwangsläufig „die Familie“.
■■ Systeme entwickeln sich nicht kontinuierlich, sondern
oft in qualitativen Sprüngen. Dadurch können Variablen,
anhand derer sich ein System zuvor gut beschreiben ließ,
plötzlich irrelevant werden. So können Nähe-DistanzKonflikte in einer Familie mit einer adoleszenten essgestörten Patientin lange Zeit eng mit der Symptomatik
zusammenhängen, einige Jahre später aber für deren Gesundheit weitgehend irrelevant werden.
Prozessforschung
Analyse in natürlichen Situationen. Familiäre Interaktionsprozesse werden zum einen in „natürlichen“ Situationen wie alltäglichen Familiengesprächen untersucht, vor
allem mit teilnehmender Beobachtung und objektiv-hermeneutischen Auswertungsmethoden. Zum anderen wird
familiäre Interaktion auch anhand von Video- und Audiotranskripten von Familientherapiesitzungen mit Ratingverfahren oder in sehr formaler Weise mit automatischer
Interaktionschronografie analysiert (Brunner 1984).
Interaktionsexperimente. Ferner werden spezielle Interaktionsexperimente durchgeführt, bei denen Familien gemeinsam eine bestimmte Aufgabe mit Blick auf ein vorgegebenes Ziel zu lösen haben: Den nächsten Urlaub planen,
logische Aufgaben lösen oder den Diätplan eines kranken
Kindes festlegen. Ihre Interaktion wird mit Videokameras
aufgezeichnet und mit Ratingverfahren ausgewertet. In solchen standardisierten Situationen können die Interaktionsbeiträge aller Einzelmitglieder erfasst, der mehr oder weniger konflikthafte oder konsensuelle Einigungsprozess dokumentiert und schließlich die Qualität des gemeinsamen
Ergebnisses bewertet werden. Mit solchen Experimenten
konnten unterschiedliche Beziehungsmuster in „normalen“
oder „gestörten“ Familien (Haley 1962), in Familien mit als
neurotisch, delinquent und schizophren (Ferreira u. Winter
1965, Reiss 1981) und als schizophren, schizoaffektiv oder
manisch-depressiv diagnostizierten Indexpatienten (Retzer 1994), in Mutter-Kind-Dyaden mit guter und schlechter Diäteinhaltung bei Phenylketonurie (Armbruster 1995)
gezeigt werden.
Interaktion Therapeut–Klient. Später rückte die Interaktion zwischen systemischen Therapeuten und ihren Klientensystemen verstärkt in den Blickpunkt der Forschung.
Die Arbeitsgruppe um Schiepek (Schiepek et al. 1995a)
252     18 Systemische Therapie
versucht, diese Interaktionen in systemisch-lösungsorientierten Einzeltherapien nach der Methode der Plananalyse in ihrem zeitlichen Verlauf abzubilden. Dies ermöglicht
es, Unterschiede in der Häufigkeit des Einsatzes definierter
therapeutischer Vorgehensweisen einerseits in derselben
Therapie zu verschiedenen Zeitpunkten (z. B. Erstinterview
vs. 6. Sitzung), andererseits zwischen verschiedenen Therapeuten (z. B. psychoanalytisch vs. systemisch orientierten)
abzubilden.
Evaluationsforschung
Studien in den 1990er Jahren fanden zur Familientherapie
unterschiedlichster Therapierichtungen statt in 163 Studien mit Kontrollgruppe (Shadish et al. 1993), speziell zur
systemischen Therapierichtung aber damals nur in 27 Studien (Schiepek 1998; mit Pinsof u. Wynne 1995, Shadish et
al. 1997 habe ich in einer früheren Auflage einmal deren
Ergebnisse so resümiert):
■■ Familientherapie und Paartherapie haben positive Wirkungen im Vergleich zu nichtbehandelten Kontrollgruppen;
■■ Familientherapie hat auch im Vergleich zu einigen alternativen Behandlungsansätzen positivere Wirkungen;
■■ es gibt, wiederum im Vergleich mit anderen Verfahren,
bislang keine Hinweise auf schädigende Nebenwirkungen von Familientherapie;
■■ Im
Vergleich verschiedener Familientherapieschulen
sind verhaltenstherapeutische Ansätze am häufigsten
vor systemischen und eklektischen Ansätzen untersucht
worden, humanistische und vor allem psychodynamische Familientherapieansätze hingegen weit seltener.
Eine unterschiedliche Wirksamkeit dieser Ansätze lässt
sich bislang nicht klar nachweisen.
Inzwischen ist die Forschung zur Wirksamkeit von Familientherapie viel reichhaltiger geworden. In einer Expertise
„Die Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie“ (von Sydow et al. 2007) zeigte sich in bis 2006 publizierten RCT-Studien oder strikt parallelisierten Studien
systemische Familientherapie wirksamer als „treatment as
usual“, oder gleich wirksam wie zuvor evaluierte Verfahren
(oft: CBT, Psychoedukation, gelegentlich Tiefenpsychologie)
bei den folgenden Störungsbildern:
■■ Erwachsene: bei Depressionen, bei Substanzstörungen
(Alkohol, illegale Drogen), bei Essstörungen, bei der Bewältigung körperlicher Krankheiten (Krebs, Herzinfarkt,
HIV/AIDS), bei Schizophrenie;
■■ Kinder und Jugendliche: bei Störungen des Sozialverhaltens und Jugenddelinquenz, bei Substanzstörungen, bei
Essstörungen und körperlichen Störungen (Asthma, Diabetes) sowie bei affektiven Störungen inkl. Suizidalität.
Bei Substanzstörungen (Schindler et al. 2010) gilt systemische Familientherapie laut dem amerikanischen „National
Institute of Drug Abuse“ als bestevaluierte Behandlungs-
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18.6
III
18.7
Kontrollgruppe, aber mit multiplen Outcome-Kriterien,
standardisierten Messinstrumenten, inferenzstatistischer
Datenanalyse und Stichproben zwischen 50 und 270 Familien vor, z. B. mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen (Santa Barbara et al. 1979), mit delinquenten
Jugendlichen (Alexander et al. 1994), mit anorektischen
(Minuchin et al. 1981, Weber u. Stierlin 1989), bulimischen
(Jäger et al. 1996) und psychotischen PatientInnen (Retzer
1994, Schweitzer et al. 1995). An großen Stichproben, aber
mit sehr einfachen Erhebungsmethoden haben die stärker
lösungsorientierten unter den systemischen Therapeuten
ihre Therapien evaluiert (de Shazer et al. 1986, Ludewig
1992).
Systemische Therapie als Krankenbehandlung:
Einige Diskussionsangebote zum Selbstverständnis
von Psychotherapie
Zum Thema „Psychotherapie als Krankenbehandlung“ lassen sich aus dem Selbstverständnis der systemischen Therapie einige Unterschiede zu anderen Psychotherapieansätzen benennen, die zu einem produktiven Diskurs einladen.
■■
Krankheitsverständnis
■■
■■
■■
Menschen „haben“ keine Störungen, „sind“ nicht gestört.
Statt „Störung“ als Eigenschaft einer Person zuzuordnen,
die dieser „gehört“, wird im systemischen Ansatz davon
gesprochen, dass sich rund um ein zum Problem gewordenen Thema Interaktionen in einer Weise verdichten, dass
ihnen aus der Perspektive eines oder mehrerer Beobachter
Störungswert zugeschrieben wird. „Gestörte“ Menschen
sind insofern Teilelement einer „störenden“ Interaktion.
Systemische Therapie ist, wie wohl fast jede Psychotherapie, zunächst nichts als ein kommunikativer Prozess.
Wie jede Psychotherapie hofft sie aber, dass veränderte
Kommunikationen auch Veränderungen im psychischen
und biologischen System „anzuregen“ vermögen. Sie ist
sich aber bewusst, dass dies keine quasi „instruktive“
direkte Intervention von der sozialen auf die psychische
und biologische Systemebene sein kann: Gedanken und
Gefühle lassen sich ebensowenig wie Neurotransmitter
und Hormone von außen direkt steuern – aber sehr wohl
verstören und anregen.
Sie geht davon aus, dass psychische Symptome in dem
Ausmaße erfolgreich als Kommunikationsprobleme behandelt werden können, wie sie außerhalb von Kommunikation zu existieren aufhören. Wenn ein Mensch eine
Manie (eine Phobie, einen Zwang, einen Wahn, eine Borderline-Störung) zwar immer noch „hat“, diese aber über
längere Zeit hinweg nicht mehr „zeigt“ (keine Kommunikation darüber mehr aussendet), und wenn niemand
diese mehr „bemerkt“ (keine Kommunikation darüber
mehr empfängt), dann beginnt eine Verflüssigung der
Überzeugung, diese Störung weiterhin zu „haben“.
■■
Ob einer Störung auf einer dieser drei Systemebenen (soziales, psychisches, biologisches) Krankheitswert zugeschrieben wird – ab welcher Intensität, welchem Grenzwert, welcher Symptomkombination, welcher Dauer – ist
Ergebnis sozialer Aushandlung. Bei Kommunikationsstörungen ist auch die Frage, wem – welchem Mitglied eines Problemsystems – diese Störung als Krankheit zugeschrieben wird, Ergebnis sozialer Aushandlung.
Die Benennung auffälliger Verhaltensweisen als „Krankheit“ ist Ergebnis einer gesellschaftlichen Entscheidung – mithin nicht zwangsläufig, aber häufig sinnvoll.
Das Konstrukt „Krankheit“ stellt gegenüber seinen historischen (religiösen oder moralischen) Vorläufern einen
zivilisatorischen Fortschritt dar: Sie bewahrt die Betroffenen vor Exorzismus und überfordernder Ausbeutung
und sichert ihnen Schonräume. Auch wenn es Krankheit
„an sich“ in einem erkenntnistheoretischen Sinne nicht
„gibt“, so erscheint sie mir doch eine bewahrenswerte
Erfindung. Freilich können Krankheitskonzepte kommunikativ auch so ausgeweitet (durch Erfindung ständig neuer Krankheitskonzepte oder beständiges Senken
der Grenzwerte, ab wann eine Krankheit diagnostiziert
wird) oder so verhärtet werden (Erfindung chronifizierender Krankheitskonzepte), dass manchmal gerade
die Infragestellung solcher Krankheitskonzepte heilsam
wirken kann.
Nosologie
■■
Psychopathologische Krankheitsklassifikationen haben
in der systemischen Therapie ihre Bedeutung für die
Verständigung mit anderen Fachleuten im Sprachspiel
der Medical Community und für die Erkundung und den
Umgang mit den subjektiven Krankheitstheorien von
Patienten und Angehörigen. Für die Gestaltung therapeutischer Veränderungsprozesse haben sie geringere
Relevanz.
18.7 Systemische Therapie als Krankenbehandlung: Einige Diskussionsangebote zum Selbstverständnis von Psychotherapie      253
18 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
form. In der Kinder- und Jugendlichentherapie hat sie nach
der Verhaltenstherapie die größte Fülle an Wirksamkeitsbelegen vorzuweisen. Systemische Familientherapie lohnt
sich im Vergleich zu anderen Therapieansätzen besonders,
wenn man schwach motivierte Klientengruppen (Szapocznik et al. 1988 für drogenabhängige Jugendliche) und
Multi-Problemfamilien aus der Unterschicht erreichen will
− meist in der Form aufsuchender (Conen 2002), „multisystemischer“ (Henggeler u. Borduin 1990) und Multi-Familien-Therapie (Asen und Scholz 2009).
Neben den RCT-Studien, auf die sich Sydow et al. beschränkten, liegen zahlreiche sorgfältige Evaluationsstudien zur systemischen Familientherapie ohne randomisierte
■■
18 Systemtherapeutisch hochbedeutsam ist aber eine „Typologie störender Beziehungsmuster“, auf die sich spezifische Interventionen beziehen lassen. Inwiefern spezifische Beziehungmuster die Entwicklung oder Aufrechterhaltung spezifischer Symptome fördern, ist Gegenstand
kontrovers diskutierter Forschungen. Eine solche Typologie störender Beziehungsmuster ist in vielen einzelnen Ansätzen entwickelt und bei Perlmutter (1995) und
Schweitzer u. von Schlippe (2006) systematisch zusammengetragen.
■■
■■
Ätiologie
■■
■■
Neben den geschichtlichen Erfahrungen (der Biografie)
und der aktuellen Situation tragen die Ideen von Menschen über ihre Zukunft mindestens genauso bedeutsam
zur Erzeugung und Chronifizierung von Störungen bei.
Da sich lebende Systeme zwangsläufig weiterentwickeln,
ist die Frage „Wie schaffen es Systeme, ein Problem aktiv
zu chronifizieren?” interessanter als die nach der Problemgenese. Problemchronifizierung wird als Ergebnis einer aktiven, wenngleich meist nichtbewussten Gemeinschaftsleistung angesehen, nicht jedoch als Ergebnis eines Defizits („Die können nicht anders“).
Diagnostischer Prozess
■■
■■
Die ausführliche Diskussion dessen, „was sein könnte“ –
also möglicher Lösungsszenarien – ist mindestens gleich
wichtig wie die Beschreibung des Problems und die Erklärung seiner Entwicklungsgeschichte, und weit nützlicher als die Inventarisierung von all dem, was nicht geht
(„Residualsyndrome“, „Strukturdefizite“ etc.).
Eine zu ausführliche Problemanalyse kann sogar therapeutisch schädlich sein, wenn sie zu einer sich selbst
erfüllenden kollektiven „Problemtrance“ beiträgt. Denn
wenn die Beschreibung und Klärung von Problemzusammenhängen die Kommunikation zu einseitig beherrscht
(wenn „nur noch Krankheit“ zum Thema wird), dann
werden Lösungsideen in der Vorstellungswelt der Beteiligten zu sehr an den Rand gedrängt.
Therapie
Wenn menschliche Systeme konsequent als autonom, als
nicht instruierbar, als Experten ihres eigenen Lebens gedacht werden, bedeutet dies:
■■ Sie brauchen in erster Linie keine neuen Fertigkeiten
zu trainieren, zu erlernen; sie brauchen primär nicht
externes Wissen (Störungswissen, Problemlösewissen)
vermittelt zu bekommen, sondern sie brauchen vor allem Hilfe dabei, Blockaden bei der Nutzung ihrer potenziell bereits vorhandenen Lösungsressourcen wieder zu
überwinden (etwa durch die verstörende Infragestellung
problemaufrechterhaltender Beziehungsmuster) und
diese Lösungsressourcen wieder neu zu entdecken und
zu nutzen (etwa durch die anregende Konstruktion von
254     18 Systemische Therapie
■■
■■
Lösungsszenarien). Was „die Wissenschaft festgestellt
hat“, wissen sie oft ohnehin schon.
Da die Aufdeckung von Abgewehrtem und Verdrängtem
kein typisches Ziel systemischer Therapie ist, können
auch Widerstandsphänomene nur schwer auftauchen.
Wo sie doch auftauchen, werden sie als berechtigte Reaktion auf ein unbefriedigendes Kooperationsangebot
(meist: einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot) des
Therapeuten gesehen und führen häufig zu einem Neuverhandeln des Behandlungsauftrags.
Die Therapie orientiert sich thematisch, in der Dauer
und im Setting an den „Kundenwünschen“. Sie war erfolgreich und kann beendet werden, wenn die Patienten
selbst den Eindruck haben, ihr Problem habe sich zufriedenstellend gelöst, und diese Sicht auch nach einigen kritischen Infragestellungen der Therapeuten beibehalten.
Beendigungen des therapeutischen Kontakts nach einer
oder wenigen Sitzungen müssen daher kein „Therapieabbruch“ sein, auch wenn der therapeutische Ehrgeiz des
Psychotherapeuten gerne weitergemacht hätte.
Auch das Therapieziel wird idealerweise vom Kundensystem festgelegt; es gibt keine schulenspezifische Festlegung „guter Ergebniskriterien“.
Kundenorientierte Therapieplanung legt eine ausgeprägte Flexibilisierung von Therapiesettings nahe: Zwischen
einer Sitzung („Single Session Therapy“) und (warum
nicht?) 360 Sitzungen, mit wöchentlichen bis mehrjährigen Abständen zwischen den Sitzungen, mit Teilnehmerkonstellationen von der Einzel- über die Paar- und Familien- bis zur Nachbarschafts- und Netzwerktherapie.
Freilich sind systemische Therapeuten meist selbst nicht
so flexibel: Ihre Sitzungsfrequenz liegt meist zwischen 1
und 20 Sitzungen, die Abstände dazwischen meist zwischen 1 und 6 Wochen, sie nehmen oft nur ungern den
Aufwand größerer Netzwerktherapiesitzungen auf sich.
Indikation
Indikation und Kontraindikation stellen sich in der systemischen Therapie anders dar als in anderen Verfahren, vor
allem aus drei Gründen:
■■ Die Flexibilisierung von Therapiezielen, -themen, -dauer und -settings bewirkt, dass sich systemische Therapie
bislang überwiegend nicht als Katalog wohldefinierter
„Therapiepakete“ darbietet, deren jedes für einen bestimmten Störungsbereich indiziert und für andere kontraindiziert wäre.
■■ Die Indikation orientiert sich stärker an störenden Interaktionen als an gestörten Menschen.
■■ Viele Elemente systemischer Therapie lassen sich auch
außerhalb explizit psychotherapeutischer Kontexte nutzen, z. B. in Organmedizin, Sozialarbeit, Schul- oder Betriebsberatung etc. – dort in der Regel kombiniert mit
anderen Maßnahmen.
Indikationsentscheidungen stellen sich in der systemischen Therapie eher kontinuierlich während und nach
jedem Gespräch als primär nach dem Erstinterview: Wen
lade ich zum nächsten Gespräch ein? Biete ich angesichts
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III
III
Ich hoffe, in meinen Ausführungen verdeutlicht zu haben,
dass systemische Therapie einerseits ein theoretisch und
methodisch sehr eigenständiges Psychotherapieverfahren
ist, dass aber zahlreiche ihrer Elemente im Sinne einer erweiterten systemischen Perspektive an manchen Stellen in
andere Ansätze integriert werden können.
Das Kapitel gibt einen möglichst knappen Überblick über
Theorie, Methodik, Settings und Forschung zur systemischen
Kontraindikation
Nicht für systemische Therapie generell, wohl aber speziell
für das Setting „Mehr-Personen-Therapie“ lassen sich aus
systemischer Perspektive drei Kontraindikationen benennen:
■■ Wenn bei systemischer Mehr-Personen-Therapie am
Ende des Erstgesprächs kein tragfähiger Motivationskonsens über die weiteren Gespräche zustande kommt;
■■ Wenn die Gefahr droht, dass offene Mitteilungen im Therapiegespräch hinterher mit Gewalt oder Repression beantwortet werden;
■■ Wenn dem Therapeuten nötige Qualifikationen für die
Führung von Mehr-Personen-Therapien fehlen (Aushalten hoher interpersoneller Konfliktspannung; aktive Gesprächsmoderation, auch wo diese in Frage gestellt wird;
Neutralität gegenüber Personen, Ideen und Problemen).
Therapie. Wer Ausführlicheres sucht, sei auf das „Lehrbuch
der systemischen Therapie und Beratung“ Band I (v. Schlippe
u. Schweitzer 1996) und Band II (Schweitzer u. von Schlippe
2006) verwiesen.
Wichtige Teile dieser Darstellung verdanken sich Diskussionen u. a. mit Arist von Schlippe, Gunthard Weber, Elisabeth Nicolai, Andrea Ebbecke-Nohlen, Julika Zwack, Matthias
Ochs, Kirsten von Sydow, Stefan Beher und Rüdiger Retzlaff.
18.7 Systemische Therapie als Krankenbehandlung: Einige Diskussionsangebote zum Selbstverständnis von Psychotherapie      255
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der geäußerten Suizidtendenzen das nächste Gespräch bereits in wenigen Tagen an? Soll ich es am Gesprächsende
bei einem positiv konnotierenden Kommentar belassen
oder bereits ein handlungsorientiertes Experiment empfehlen? Müsste systemische Therapie ihre Angebote als
„Standardpakete“ definieren, dann wäre dies sicher machbar, im Sinne von „bei Schulphobie: max. 10 Familiengespräche, max. drei Lehrer-Eltern-Kooperationsgespräche,
max. 20 Einzelgespräche mit Kind“ – oder „bei schizophrener Psychose: max. 20 Familiengespräche“. Freilich wäre es
viel sinnvoller, die jetzige Flexibilität der systemtherapeutischen Praxis durch gleichermaßen flexible Richtlinien
für systemische Kassen-Psychotherapie zu erhalten, zumal
angesichts der im Vergleich zu anderen Therapierichtungen geringen Sitzungszahl bei der systemischen Therapie
eine starke „Dosis-Expansion“ sehr unwahrscheinlich erscheint.
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