Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.1 Bedeutung für den ­Patienten Wenn ein Mensch an der Psyche erkrankt, verändert sich das gesamte Leben. Häufig merken Betroffene bereits einige Zeit vor der Diagnosestellung, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Aber auch das soziale Umfeld nimmt Verän­ derungen der Persönlichkeit wahr. Die Beziehung zwischen dem erkranktem Menschen und der Familie, Freunden oder Nachbarn wird durch Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Unverständnis belastet. Der betroffene Mensch fühlt sich anders behandelt, als er es bisher gewohnt war, er fühlt sich „nicht mehr normal“. Darüber hinaus nimmt die psychische Erkrankung häufig auch Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Es kann zu einer Konfrontation mit Vorgesetzten kommen. Es drohen Versetzungen oder Entlassungen, die den Betroffenen belasten. Das gesamte F­ ugen. Leben gerät aus den Wird der erkrankte Mensch dann stationär aufgenommen, entstehen weitere Herausforderungen. Er muss sich mit seiner psychischen Erkrankung, den Symptomen, den Medikamenten und den Nebenwirkungen auseinandersetzen und nicht zuletzt seine neue Rolle als „psychisch Kranker“ akzeptieren. Für die Person selber und für die Angehörigen 1374 spielt die Frage, was man hätte anders machen können und wer eigentlich „schuld“ an der Situation ist, häufig eine große Rolle, bis die neue Lebenssituation akzeptiert werden kann. Besonders chronisch erkrankten Menschen fällt der Blick in eine Zukunft mit der Krankheit schwer. Psychisch erkrankte Menschen erleben nach der Diagnosestellung häufig Stigmatisierungen. Das bedeutet, dass ihnen Dinge zugeschrieben werden, die im Volksmund ­ ­geläufig sind. So hören Abhängigkeitserkrankte z. B., dass sie keine Selbstdisziplin haben, Menschen mit Schizophrenie, dass sie gewalttätig sind, und Mütter, die Kinder mit ADHS haben, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen. Insgesamt fühlen sich die Betroffenen häufig diskriminiert, da sie immer wieder erleben, dass andere Menschen sie als „nicht normal“ beurteilen. Diese Erlebnisse wirken sich auf das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der Patienten aus. Nicht nur, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung häufig an Möglichkeiten der Selbstbestimmung verlieren, z. B. da ihnen aufgrund eines Arbeitsplatzverlusts das nötige Geld fehlt, auch das Selbstwertgefühl wird dadurch beeinträchtigt und eine für sie akzeptable Zukunftsperspektive fehlt häufig. Deshalb ist es wichtig, dass psychisch kranke Menschen wertschätzend behandelt werden und ihnen vorurteilsfrei begegnet wird. Jeder der Betroffenen hat bereits vor dem stationären Aufenthalt einen mehr oder weniger langen Leidensweg hinter sich, weshalb es wichtig ist, einfühlsam mit diesen Menschen umzugehen. In der Psychiatrie haben die betroffenen Menschen die Gelegenheit, ihre echten Gefühle und Gedanken zu äußern, die sie in der Gesellschaft vermutlich immer wieder versucht haben zu verstecken. Es ist notwendig, dass sensibel mit ihnen umgegangen wird, da die Offenheit der Betroffenen im Umgang mit den eigenen Sorgen und Nöten nicht selbstverständlich ist. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Bedeutung für den Patienten ▶ S. 1374 ▶ S. 1375 Mitwirken bei der Therapie Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis Schizophrenie ▶ S. 1382 Medikamentöse Therapie ▶ S. 1378 Schizoaffektive Psychosen Herausfordernde Situationen ▶ S. 1379 Depression ▶ S. 1386 Affektive Störungen Manie ▶ S. 1389 Alkoholabhängigkeit Sucht und Abhängigkeit Anorexie ▶ S. 1390 ▶ S. 1394 Akute Belastungsreaktionen ▶ S. 1396 Belastungs- und Anpassungsstörungen Angst- und Zwangsstörungen ▶ S. 1385 Anpassungsstörungen ▶ S. 1396 Posttraumatische Belastungsstörung ▶ S. 1396 ▶ S. 1397 Dissoziative Störungen ▶ S. 1398 Organisch bedingte ▶ S. 1402 psychische Störungen Ausgewählte Kinder- und jugendpsychiatrische Störungen Psychosomatische Störungen ▶ S. 1403 Persönlichkeitsstörungen Frühkindlicher Autismus Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ▶ S. 1402 ▶ S. 1403 Paranoide P. ▶ S. 1399 Schizoide P. ▶ S. 1400 Histrionische P. ▶ S. 1400 Ängstliche vermeidende P. ▶ S. 1400 Narzisstische P. ▶ S. 1400 Emotional instabile P. ▶ S. 1400 Dependente/ ▶ S. 1401 abhängige P. Übersicht über die wichtigsten Medikamente ▶ S. 1404 65.2 Mitwirken bei der ­Diagnostik Die Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen ist die Auf­ gabe des behandelnden Arztes oder Psychotherapeuten. Da jedoch gerade in der Psychiatrie ein ganzheitliches Bild des Patienten auch außerhalb des ärztlichen Gesprächs wesentlich für den Genesungsprozess ist, ist die interdisziplinäre Sichtweise sehr wichtig. In Fallbesprechungen und Behandlungsplanungen sollten immer alle beteiligten Personen ­zusammenkommen und ihre Beobachtungen zusammenzutragen. Zu den Beteiligten gehören z. B. Arzt, Psychotherapeut/Psychologe, Pflegende, Sozialarbeiter, Ergo-, Beschäftigungs-, Physio- und Bewegungstherapeuten (▶ Abb. 65.1). Dies ist wichtig, da sich Patienten oft unterschiedlich in Bezug auf ihre psychische Krankheit verhalten, je nachdem, ob sie sich in einem Gespräch mit dem Arzt befinden oder in der Bewegungstherapie ganz aus sich herauskommen können. 65.2.1 Pflegerische Beobachtung Merken Bedeutung Die pflegerische Beobachtung hat in der Psychiatrie einen ganz besonderen Stellenwert, da Beobachtungen, die Pflegende machen, sehr bedeutsam für den therapeutischen Prozess sein können. Einen sehr hohen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang auch die schriftliche Pflegedokumentation und die Verlaufsberichterstellung. Abb. 65.1Fallbesprechungen. Pflegende engagieren sich in Fallbesprechungen und Behandlungsplanungen mit dem interdisziplinären Team. Genau wie in anderen Bereichen werden auch in der psychiatrischen Pflege objektive von subjektiven Beobachtungskriterien unterschieden. Objektive Beobachtung • Hierzu gehören wie in allen anderen Bereichen der Pflege z. B. das Messen der Vitalzeichen, des Blutzuckers oder der Körpergröße oder des Gewichts. Subjektive Beobachtung • Die Beobachtung subjektiver Merkmale hat bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ­ einen sehr hohen Stellenwert, wird von Pflegenden 1375 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Mitwirken bei der Diagnostik Professionelle ▶ S. 1376 Beziehung aufbauen Mitwirken bei der D ­ iagnostik Bei der Psychotherapie ▶ S. 1377 mitwirken Pflege bei Erkrankungen der Psyche aber häufig als schwieriger empfunden. Zu den subjektiven Kriterien gehört z. B. die Beurteilung der Bewusstseinslage und der Wahrnehmung des Patienten: Gibt es Einschlafoder Durchschlafprobleme? Wie ist die Orientierungsfähigkeit bei dem ­Patienten? Auch die emotionale Lage des Patienten gehört zur subjektiven Beobachtung: Wie wird die Stimmung des Patienten vom Pflegenden wahrgenommen? Wirkt er ängstlich oder zurückgezogen oder eher angespannt und wütend? Ist der Patient in der Lage, sein Befinden zu formulieren? Wie arbeitet der Patient in der Therapie mit (Compliance)? Weiterhin sind soziale Faktoren wichtig für die Beobachtung: Hat der Patient Kontakte zu anderen Patienten? Bestehen familiäre Kontakte? Wie verhält sich der Patient im Kontakt mit anderen Menschen? ACHTUNG Auch wenn die Wahrnehmung aller Veränderungen beim Patienten wichtig ist, sollte der Stimmungslage besondere Aufmerksamkeit zukommen. Eine sehr niedergeschlagene und deprimierte Stimmung kann z. B. auf Suizidalität hindeuten und ein sofortiges Handeln erforderlich machen. Assessmentinstrumente • Diese Beobachtungen dienen einerseits dazu, Pflegeprobleme und Ressourcen zu ermitteln, um daraus geeignete Pflegemaßnahmen ableiten zu können. Darüber hinaus können Beobachtungen aber auch besondere Bedeutungen für die Therapie haben. Unter Umständen werden von Pflegenden spezielle Assessmentin­ strumente angewandt, die den ärztlichen Dienst bei seiner Diagnosestellung unterstützen. Pflegende tragen mit ihren Beobachtungen dazu bei, ein umfassendes Bild des Patienten zu ­erlangen. Dabei geht es z. B. darum, wahrzunehmen, wie aktiv sich ein Patient im Stationsalltag verhält, ob Kontaktaufnahmen und Kommunikation mit anderen Patienten vorkommen, oder wie er sich in Bezug auf seine Krankheit verhält. Je nach Assessmentinstrument sind verschiedene Aspekte wichtig. Daher ist es notwendig, besonders auf eine korrekte Durchführung der Anforderungen zu achten. Merken Beobachtungen weitergeben Wenn Ihnen im Alltag etwas auffällt, was dem behandelnden Arzt noch nicht bekannt ist, ist es Ihre Aufgabe, die Information nicht nur zu dokumentieren, sondern auch an den behandelnden Arzt und Therapeuten weiterzugeben. WISSEN TO GO Pflegerische Beobachtung bei Erkrankungen der ­Psyche ●● Objektive Beobachtung: z. B. Messen der Vitalzeichen, des Blutzuckers, der Körpergröße, des Gewichts ●● Subjektive Beobachtung: z. B. Beurteilung von Bewusstseinslage, Orientierungsfähigkeit, emotionaler Lage, Compliance, Sozialverhalten. Der Stimmungslage kommt besondere Aufmerksamkeit zu. ●● Assessmentinstrumente: Von Pflegenden können spezielle Assessmentinstrumente angewandt werden, die den Arzt bei der Diagnosestellung unterstützen. Dabei geht es z. B. um aktive Teilnahme am Stationsalltag, Kontaktaufnahmen, Kommunikation, Verhalten. 1376 65.2.2 Labortechnische und ­apparative Diagnostik Bei speziellen diagnostischen Verfahren wie Laboruntersuchungen bereiten Pflegende den Patienten vor und beachten wichtige Voraussetzungen, z. B. ob der Patient nüchtern zur Untersuchung erscheinen muss. Weiterhin begleiten sie Patienten zu bestimmten Untersuchungen, sofern diese nicht alleine dazu in der Lage sind. Für Patienten mit psychischen Erkrankungen sind Verfahren wie EEG, EKG oder MRT oft angstauslösend. Hier ist es hilfreich, beruhigend auf die Patienten einzuwirken und ihnen zu erklären, was bei den verschiedenen Verfahren passiert. Im Stationsalltag führen Pflegende Screenings (Drogentests) oder Alkoholtests durch, falls der Verdacht eines Substanzmittelkonsums besteht. 65.3 Mitwirken bei der ­Therapie Eine der wichtigsten Aufgaben von Pflegenden innerhalb einer psychiatrischen Therapie ist die professionelle Bezie­ hungsgestaltung. Dazu eignet sich insbesondere die Bezugs­ pflege. Möglichst direkt bei der Aufnahme erhält der Patient eine Bezugspflegekraft, die als Ansprechpartner für alle Belange des Patienten fungiert. Zu den Aufgaben einer Bezugspflegekraft in der Psychiatrie gehören: ●● Organisation von Abläufen: ––Schnittstellenfunktion zwischen ärztlichem Dienst, Fachtherapien und Psychotherapie, Angehörigen und Patienten ––Absprachen mit Fachtherapien ––Begleitung ––Erläuterung der Stationsregeln und Überprüfung der Einhaltung ●● Bezugspflegeaufgaben: ––Pflegeanamnese, Pflegeplanung, Evaluation ––regelmäßige Bezugspflegegespräche ––Reflexion von Verhalten ––Förderung der Therapiemotivation ––Durchführung von begleitenden therapiebezogenen ­Interventionen ––Beratung von Angehörigen ●● Vermittlung von krankheitsspezifischem Wissen und Umgang mit der Krankheit, Herstellen von Compliance ­ (Motivation zur Mitwirkung im therapeutischen Prozess) und Adhärenz (Akzeptanz der Notwendigkeit der Behandlung, z. B. die Akzeptanz der regelmäßigen Medikamenteneinnahme) 65.3.1 Professionelle Beziehung aufbauen Die professionelle pflegerische Beziehung ist keine natürliche Beziehung und unterscheidet sich deshalb von alltäglichen Beziehungen. Sie entsteht aufgrund organisatorischer Vorgaben und hat sowohl einen definierten Beginn und ein definiertes Ende als auch ein definiertes Ziel: die Unterstützung des Patienten bei der Verbesserung seines gesundheitlichen Zustands. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Mitwirken bei der T ­ herapie Offene und wertschätzende Grundhaltung • Eine tragfähige professionelle Beziehung kann nur entstehen, wenn Pflegende dem Patienten eine offene und wertschätzende Grundhaltung entgegenbringen. Da Betroffene i. d. R. Probleme haben, sich selbst und ihre psychische Krankheit zu akzeptieren, benötigen sie Bezugspersonen, die sie so akzeptieren, wie sie sind, und empathisch und nicht stigmatisierend mit ihnen umgehen. Wie wichtig eine wertschätzende, empathische und von Akzeptanz geprägte Beziehung für den Entwicklungsprozess eines Betroffenen ist, beschreibt der Psychologe Carl Rogers in seinen Grundaussagen des personenzentrierten Ansatzes. Weitere hilfreiche Informationen hierzu finden Sie im Kap. „Grundlagen und Anwendung professioneller Kommunikation“ (S. 121). Merken Authentisch sein Bleiben Sie in ihrem Handeln klar und authentisch. Besonders in schwierigen und herausfordernden Situationen ist es wichtig, so zu handeln, wie es dem eigenen Naturell entspricht. Patienten sind i. d. R. sehr sensibel und spüren, wenn Sie ihnen etwas vorspielen. In diesem Fall werden sie sich nicht ernst genommen fühlen und es können weitere Probleme daraus resultieren. Vorbild und Lernmodell • Pflegende fungieren in vielen Fällen mit ihrem Handeln als Vorbild für die Patienten. Sie stellen ein Modell dar, an dem sich die Patienten orientieren und lernen können. Gerade Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten haben oft Probleme, eigene Handlungsalternativen zu entwickeln. Nehmen wir einen Konflikt als Beispiel. Konflikte sind sowohl für Patienten als auch für Pflegende eine Herausforderung. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben unter Umständen häufig erlebt, dass Beziehungen oder Kontakte abgebrochen wurden, weil sich ein Konflikt nicht lösen ließ. In der professionellen Beziehung ist es möglich, Konfliktlösungen zu erproben, ohne dass daran eine Beziehung scheitert. Dem Patienten können Gespräche angeboten werden, um über die Konfliktsituation zu reflektieren. Dabei sollte genau überlegt werden, wie der Patient am besten erreicht werden kann. Ist er sehr wütend und aufgebracht, benötigt er unter Umständen zunächst einmal etwas Zeit, um seinem Ärger Luft zu machen, bevor er bereit ist, über die Meinungsverschiedenheit zu reden. Sehr wichtig ist es, den Patienten immer ernst zu nehmen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Anderenfalls kann keine gemeinsame Ebene geschaffen werden, auf der Konflikte geklärt und Verhaltensalternativen erarbeitet werden können. Reflexion • Innerhalb einer professionellen Beziehung kommen Pflegende immer wieder in Situationen, die sie stark herausfordern. Um diese Situationen bewältigen zu können, ist es hilfreich, über das eigene Handeln und Erleben zu reflektieren. Gespräche mit Kollegen, kollegiale Beratungen, Teamgespräche und Supervisionen können helfen, sich selber zu hinterfragen, Situationen anders zu betrachten und neue Ansätze oder Lösungen zu finden. Abb. 65.2Nähe und Distanz. Das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz muss im Laufe der professionellen Beziehung immer wieder neu eingestellt werden. WISSEN TO GO Mitwirken bei der Therapie – professionelle Beziehung aufbauen Die professionelle pflegerische Beziehung hat einen defi­ nierten Beginn, ein definiertes Ende und ein definiertes Ziel. ●● Angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis: sorgt für empathisches Begegnen und professionelle Unterstützung ●● Offene und wertschätzende Grundhaltung: Voraussetzung für eine tragfähige professionelle Beziehung ●● Authentisch sein: Pflegende sollten in ihrem Handeln klar und authentisch sein. ●● Vorbild und Lernmodell: Pflegende dienen als Modell, an dem die Patienten sich orientieren und lernen können. ●● Reflexion: Um stark herausfordernde Situationen bewältigen zu können, sollte das eigene Handeln und Erleben reflektiert werden. 65.3.2 Bei der Psychotherapie ­mitwirken Eine Psychotherapie unterstützt den Patienten mit geziel­ ten psychologischen Verfahren in seiner Krankheitsbewältigung. Dazu gehört i. d. R., sich mit der Ursache, dem Verlauf und den Symptomen auseinanderzusetzen. Dabei werden die Angehörigen und Bezugspersonen aus dem sozialen und familiären System, falls möglich, einbezogen. Die Psychotherapie kann verschiedene Ansätze haben. ­Einige wichtige Methoden, die in der Psychiatrie angewendet werden, sind die Verhaltenstherapie, die systemische Familientherapie oder psychoanalytische und tiefenpsycho­ logische Verfahren. Das Setting der Psychotherapie ist abhängig von der individuellen Problemstellung und Zielsetzung des Betroffenen. Es findet entweder im Einzel- oder Gruppensetting statt. Es ist möglich, die Psychotherapie unter bestimmten 1377 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Nähe und Distanz • Ein angemessenes Nähe- und Distanzverhältnis ist notwendig, um dem Patienten einerseits empathisch begegnen und ihn andererseits professionell ­ unterstützen zu können und im Behandlungsprozess eine professionelle Pflegerolle einzunehmen (▶ Abb. 65.2). 65 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Abb. 65.3Gruppensitzungen. 65.3.3 Medikamentöse Therapie In einer therapeutischen Gruppe geht es darum, über Probleme mit anderen Betroffenen zu sprechen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Umständen an andere Orte zu verlagern, z. B. bei Menschen mit ­Flugangst an den Flughafen. In Einzelsitzungen sind der Patient und der Therapeut ­allein. In einer Einzelsitzung werden individuelle Erlebnisse und Probleme besprochen und therapeutisch bearbeitet. Pflegende werden unter Umständen in die Psychotherapie eingebunden. Es gibt auch Bereiche, in denen geschulte Pflegende eigenständig psychotherapeutische Bereiche übernehmen. Die Psychoedukation, in der es unter anderem ­darum geht, die Krankheit zu akzeptieren und die krankheitsspezifischen Ursachen und Symptome zu verstehen, wird von Pflegenden begleitet oder teilweise übernommen und findet in Form von Gruppensitzungen statt (▶ Abb. 65.3). Paar- und Familientherapien werden ebenfalls den therapeutischen Gruppen zugeordnet. Dort werden spezielle Probleme, die das jeweilige System betreffen, besprochen und behandelt. Gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben Pflegende eine besondere Aufgabe innerhalb der Psychotherapie. Da Kinder und Jugendliche i. d. R. enger begleitet werden als Erwachsene, nehmen Pflegende oftmals an Familienge­ sprächen oder Therapiesitzungen teil, um den Prozess aktiv mitzugestalten. WISSEN TO GO Medikamentengabe • Sie erfolgt i. d. R. kontrolliert und unter Aufsicht, da Betroffene in der Psychiatrie oftmals gerade zu Behandlungsbeginn wenig Krankheitseinsicht zeigen und dementsprechend nicht erkennen, dass die Medikation sinnvoll und notwendig ist. Pflegerische Beobachtungen unterstützen den ärztlichen Behandlungsprozess. Verweigert ein Patient z. B. kontinuierlich die Tabletteneinnahme, kann der Arzt mit dieser Information die Gründe eruieren und ggf. auf die Verordnung von Tropfen mit dem gleichen Wirkstoff ausweichen. Beobachtung • Viele Psychopharmaka haben Nebenwirkungen, z. B. Zittern, Schwitzen, Obstipation oder Appetitsteigerung. Pflegende sollten sich über den Wirkstoff und mögliche Nebenwirkungen der jeweiligen Medikamente informieren. Der Patient sollte nach Nebenwirkungen befragt und auf Nebenwirkungen beobachtet werden. Aufgetretene Nebenwirkungen sollten gründlich dokumentiert werden. Besonders bei älteren Patienten sollte auf eine mögliche Sturzgefahr in Verbindung mit der Einnahme von Psychopharmaka ­geachtet werden. Eine regelmäßige Vitalzeichenkontrolle ist i. d. R. ebenfalls erforderlich. Informieren und Beraten • Es ist wichtig, dass der Patient weiß, warum die Medikamentengabe notwendig ist und welche Funktion sie hat. Um eine langfristige Akzeptanz seitens der Patienten herzustellen ist es weiterhin wichtig, bestehende Ängste und Sorgen über Nebenwirkungen und Medikamentenabhängigkeiten so weit wie möglich abzubauen. Der Patient sollte über Besonderheiten der Einnahme informiert sein. Laborkontrollen • Um den Medikamentenspiegel zu bestimmen, werden regelmäßige Laborkontrollen durchgeführt. Pflegende bereiten die dazu vorgesehenen Utensilien vor Abb. 65.4Medikamente. Mitwirken bei der Therapie – bei der Psychotherapie ­mitwirken Pflegende werden evtl. in die Psychotherapie eingebunden. Geschulte Pflegende können eigenständig psychotherapeutische Bereiche übernehmen. Die Psychoeduka­ tion wird von Pflegenden begleitet oder teilweise übernommen. Dabei lernen die Patienten, die Krankheit zu akzeptieren und ihre Ursachen und Symptome zu verstehen. Die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka ist notwendig, um die akuten Symptome zu reduzieren. 1378 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die medikamentöse Behandlung nimmt in der Psychiatrie einen wichtigen Stellenwert ein, da sie maßgeblich am ­Behandlungserfolg beteiligt ist (▶ Abb. 65.4). Psychopharmaka sollen zunächst die akuten Symptome der psychischen Krankheit reduzieren, Therapiebereitschaft erzeugen und langfristig zu einem Heilungsprozess beitragen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Pflegende die Gabe von Medikamenten gewissenhaft anleiten, begleiten und überprüfen. Mitwirken bei der T ­ herapie und stellen sie dem behandelnden Arzt bereit bzw. führen die Blutabnahme auf Anordnung und entsprechend ihrer Qualifikation selbstständig durch. Abb. 65.5Aggression. WISSEN TO GO Mitwirken bei medikamentöser Therapie ●● Medikamentengabe: 65.3.4 Herausfordernde Situationen Aggressionen Beispiel Aggression Herr Yücksel wird von der Polizei auf die Station zur Krisenintervention gebracht. Er ist aufgefallen, weil er seine Nachbarn verbal bedroht und Gegenstände auf sie geworfen hat. Anschließend hat er einen Polizisten tätlich angegriffen. Ein Kollege kommt ins Stationszimmer und sagt: „Der ist aber aggressiv.“ Was bedeutet die Bezeichnung „Aggressivität“? In der Wissenschaft ist dies nicht eindeutig definiert. Im Alltag hängt es vom subjektiven Betrachter ab, was er als Aggression empfindet. In der Pflege werden unter der Bezeichnung „­ aggressives Verhalten“ alle Formen der Aggression verstanden, die dazu führen, dass der Patient sich selbst oder andere Personen verletzt: verbale Aggression wie fluchen, schimpfen, drohen, nonverbale Aggression wie mit dem Fuß aufstampfen, spucken, verächtlich wegschauen oder körper­ liche Aggression wie körperliche Gewalt oder Zerstörung von Gegenständen (▶ Abb. 65.5). Aggression, die sich gegen die eigene Person richtet, wird mit „Autoaggression“ bezeichnet und äußert sich in Form von selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität. Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass es wichtig ist, aggressives Verhalten genauer zu beschreiben. Gerade in der Dokumentation sollte nicht stehen: „Herr Yücksel verhält sich aggressiv“, sondern eine Beschreibung dessen, was Herr Yücksel macht, z. B.: „Herr Yücksel wirkt körperlich angespannt und geht im Zimmer umher. Beim Öffnen der Zimmertür ruft Herr Yücksel ,RAUS‘ und versucht, die Pflegekraft durch Schließen der Tür aus seinem Zimmer zu befördern.“ Verhalten gegenüber aggressiven Patienten Wie kommt es zu aggressivem Verhalten? Was könnte Herrn Yücksel zu seinem Verhalten bewegt haben? Aggressionen haben immer etwas mit der Umwelt zu tun. Herr Yücksel wurde von der Polizei auf die Station gebracht. Er ist demnach nicht freiwillig da, sondern wird gegen seinen Willen an einem Ort festgehalten, an dem er nicht sein möchte. Dies hat natürlich einen Grund, dennoch ist Herr Yücksel in dieser Situation hilflos und entscheidungsunfähig. Er muss bleiben Aggression kann sich sowohl körperlich als auch verbal zeigen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Sie erfolgt i. d. R. kontrolliert und unter Aufsicht. ●● Beobachtung: Wirkstoff und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Der Patient wird befragt und entsprechend beobachtet. ●● Informieren und Beraten: Notwendigkeit der Medikamentengabe und Besonderheiten der Einnahme; Ängste über Nebenwirkungen und Abhängigkeiten so weit wie möglich abbauen. ●● Laborkontrollen: Zur Bestimmung des Medikamentenspiegels. und hat keine Lösungsmöglichkeit für sein Problem. Versteht Herr Yücksel überhaupt, warum er auf der Station ist? Versteht er die deutsche Sprache? Er äußert sich momentan nur mit einem „RAUS“, was darauf hindeuten könnte, dass er sich möglicherweise nicht auf Deutsch verständigen kann. Wichtig ist es, sich nicht von Herrn Yücksels Stimmung anstecken zu lassen und ruhig und sachlich zu bleiben, wenn man ihn anspricht. Wenn Herr Yücksel noch nicht in der Verfassung ist, mit einem Mitarbeiter der Station in Kontakt zu treten, aber keine Anzeichen vorliegen, dass er sich selbst oder anderen einen Schaden zufügt, sollte er zunächst in Ruhe gelassen und erst nach einiger Zeit angesprochen werden. Möglicherweise hat er sich dann schon wieder ­beruhigt. Eventuell kann ein türkisch sprechender Kollege hinzugezogen werden. So besteht für Herrn Yücksel die Möglichkeit, muttersprachlich zu kommunizieren. Vielleicht kann er so besser erreicht werden. Aggressionen frühzeitig erkennen Wenn Aggressionen entstehen, zeichnet sich dieser Prozess i. d. R. frühzeitig ab. Pflegende sollten die Patienten daher sehr genau beobachten und bei Bedarf darauf ansprechen. Eine verkniffene Mimik, Streitsituationen mit Mitpatienten, körperliche Anspannung, gereizte Antworten oder ­ getriebenes Umherlaufen können Frühwarnzeichen von ­Aggressionen sein. Aggressionen äußern sich zwar bei ­jedem Menschen individuell, wenn man die Patienten aber besser kennenlernt hat, wird man bereits sehr früh erkennen können, wenn sich eine negative Stimmung entwickelt. Pflegende können den Patienten dann verschiedene Möglichkeiten anbieten, sich abzulenken oder abzureagieren, damit sich die Situation nicht zuspitzt. Dabei sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Spaziergänge, Hilfestellungen in der Küche, ein Aromabad, ein kurzes Gespräch – alles kann helfen, von der Situation abzulenken. Merken Direkte Ansprache Wenn Sie mit aggressiven Bezugspatienten arbeiten, können Sie mit ihnen direkt besprechen, wie sich aggressives Verhalten bei ihnen anbahnt und ob es schon Ideen gibt, diese Entwicklung zu verhindern. 1379 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Freiheitsbeschränkende Maßnahmen Beispiel Aggression 2 Zurück zu Herrn Yücksel. Leider hat er nicht auf die Angebote der Pflegenden reagiert. Nun bleibt er auch nicht mehr in seinem Zimmer, sondern geht über die Station und schubst wortlos jeden Mitpatienten, der ihm über den Weg läuft. Als ihn ein Kollege anspricht und ihn darauf hinweist, dies zu unterlassen, wird Herr Yücksel sehr wütend, baut sich vor ihm auf und droht ihm verbal Schläge an. Es kann notwendig werden, an dieser Stelle freiheitsbeschränkende Maßnahmen anzuwenden, damit anderen kein Schaden zugefügt wird. Dabei können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden: ●● geschlossene Türen: sog. „geschlossene Stationen“, Kriseninterventionsräume auf der Station, die von innen nicht geöffnet werden können, komplizierte Schließmechanismen an den Türen ●● Fixiersysteme: Fixiergurte oder -betten, Bettgitter, Stecktische ●● sedierende Medikamente zum Ruhigstellen Merken Rechtliche Grundlage Freiheitsbeschränkende Maßnahmen dürfen nicht ohne Weiteres getroffen werden. In einer Notsituation können sie angewendet werden, um für die eigene Sicherheit und die anderer Menschen zu sorgen (§32,34,35 StGB). Ein Patient darf nicht über längere Zeit in einer Fixierungssituation belassen werden. Die freiheitsbeschränkende Maßnahme muss schriftlich durch den ärztlichen Dienst angeordnet werden, darf aber auch dann nicht über unbestimmte Zeit durchgeführt werden. Eine richterliche Genehmigung ist nach einer bestimmten Zeit erforderlich. Dieser Zeitraum ist in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich. Ein detail­liertes Fixierungsprotokoll ist notwendig, um einerseits den Hergang und andererseits die weiteren regelmäßigen (Sicht-) Kontakte zu dem Patienten zu dokumentieren. In der Regel gibt es auf der Station Standards, in denen das genaue Vorgehen bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen festgehalten ist. Das psychiatrische Pflegepersonal wird speziell für diesen Notfall ausgebildet. Fixierschulungen stellen sicher, dass jeder Pflegende das Vorgehen sicher beherrscht und kein Schaden entsteht. Es gibt in vielen Einrichtungen Abb. 65.6Fixierung. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie bewegungsunfähig an ein Bett gefesselt würden? 1380 Deeskalationstrainings für Pflegende, damit diese sicherer und deeskalierend in Konfliktsituationen agieren können. Dabei muss immer auf die Sicherheit des Patienten geachtet werden. Werden freiheitsbeschränkende Maßnahmen angewendet, muss sichergestellt sein, dass der Patient keine Gegenstände bei sich hat, die für ihn oder andere gefährlich werden könnten, z. B. scharfe Gegenstände, Feuerzeuge. Dazu müssen die Taschen und die Kleidung des Patienten sorgfältig kontrolliert werden. Wichtig ist außerdem, darüber nachzudenken, was eine Fixierung für einen Patienten bedeutet. Er wird gegen seinen Willen z. B. an ein Bett gefesselt. In dieser demütigenden und unbequemen Position muss er dann eine ganze Zeit verharren – oft ohne die Situation zu verstehen. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit zu erfahren, was eine Fixierung bedeutet. Lassen Sie sich von einem Kollegen für 10 Minuten auf einem Bett fixieren. Sie werden feststellen, dass eine Fixierung nur im absoluten Notfall angewendet werden sollte (▶ Abb. 65.6). Sie muss im Verhältnis zu dem stehen, was passieren könnte. Wenn ein Patient wütend vor einen Mülleimer tritt oder die Türe knallt, ist dies noch lange kein Grund für eine freiheitsentziehende Maßnahme. Erlebnisse mit aggressiven Verhaltensweisen von Patienten sollten immer mit Kollegen oder in der Supervision reflektiert werden. WISSEN TO GO Aggressives Verhalten ●● alle Formen der Aggression, die Menschen verletzen: ver- bal, nonverbal und körperlich richtet sich gegen die eigene Person ●● „Autoaggression“ Verhalten gegenüber aggressiven Patienten ●● nicht von der aggressiven Stimmung anstecken lassen ●● versuchen, ruhig und sachlich zu bleiben Aggressionen frühzeitig erkennen ●● genau beobachten: verkniffene Mimik, Streitsituationen mit Mitpatienten, körperliche Anspannung, gereizte Antworten oder getriebenes Umherlaufen können Frühwarnzeichen sein ●● bei Frühwarnzeichen Möglichkeiten anbieten, sich abzulenken oder abzureagieren Freiheitseinschränkende Maßnahmen In einer Notsituation können sie angewendet werden, um für die eigene Sicherheit und die anderer zu sorgen (§32,34,35 StGB). Die Maßnahme muss schriftlich durch den ärztlichen Dienst angeordnet werden. Eine richterliche Genehmigung ist nach einer bestimmten Zeit erforderlich. Ein detailliertes Fixierungsprotokoll ist notwendig. Zu den Maßnahmen gehören: ●● geschlossene Türen: „geschlossene Stationen“, Kriseninterventionsräume ●● Fixiersysteme: Fixiergurte oder -betten, Bettgitter, Stecktische ●● sedierende Medikamente Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Mitwirken bei der T ­ herapie Akutpsychiatrie Beispiel Suizidgefahr Schizophrenie Der 30-jährige Herr Harms wird nach einem Suizidversuch auf der akutpsychiatrischen Station aufgenommen. Er wurde von einer Nachbarin im Heizungskeller beobachtet, wie er versuchte, sich zu erhängen. Die Nachbarin informierte umgehend die Polizei. In einem Erstgespräch mit dem diensthabenden Arzt erläutert Herr Harms, wie es zu seinem Suizidversuch gekommen ist. Stimmen haben ihm gesagt, dass es Zeit sei, „allem ein Ende zu setzen“. Die Stimmen seien aus dem TV und Radio gekommen. Er wisse aber auch, dass die Nachbarn so dächten. Er könne hier zwar frei reden, jedoch könne er nicht wieder nach Hause, weil alles dann von vorne begänne. Deshalb müsse er weiterhin dringend versuchen, „allem ein Ende zu machen“. Bei Herrn Harms besteht eine psychotische Form der Suizi­ dalität. Aufgrund einer Schizophrenie (S. 1382) kann er die Realität nicht erkennen. Stimmen aus dem Fernseher drängen ihn dazu, sich das Leben zu nehmen. Er hat das Gefühl, die Gedanken seiner Nachbarn lesen zu können. Der Suizidversuch von Herrn Harms war also keine bewusste und realistische Entscheidung. Neben der pharmakologischen Behandlung muss Herr Harms auf der Station eng begleitet werden. In diesem akuten und unberechenbaren Zustand ist es noch nicht möglich, ihn alleine zu lassen. ACHTUNG Wichtig ist, zu überprüfen, ob er noch Gegenstände bei sich trägt, die ihm zu einem Suizid verhelfen könnten, z. B. scharfe Gegenstände oder Medikamente. Auch Schnürsenkel können in diesem Fall gefährlich werden. Herr Harms sollte sich zunächst in einer möglichst reizfrei­ en Umgebung aufhalten, in der kein TV oder Radio läuft. Es sollte beruhigend mit ihm geredet und jede Maßnahme genau erklärt werden. In vielen akutpsychiatrischen Einrichtungen stehen sog. Überwachungszimmer zur Verfügung, die eine kontinuierliche Überwachung durch ein an das Stationszimmer angrenzendes Fenster sicherstellen können. So ein Überwachungszimmer kann hilfreich sein, wenn der Patient eine 1:1-Begleitung durch Pflegende ablehnt. Ambulante Pflege Beispiel Suizidgefahr Depression Konflikte, Kontaktabbrüche oder Verluste können in eine solche Krisensituation führen, z. B. der Tod eines nahestehenden Menschen, berufliche Belastungssituationen wie eine Kündigung oder eine Abmahnung. ACHTUNG Nehmen Sie jeden Suizidgedanken ernst. Ein vollendeter Suizid kann nie mehr rückgängig gemacht werden. In der Bevölkerung besteht zum Teil die Annahme, dass laut geäußerte Suizidgedanken nur ein Hilfeschrei seien, auf den aber kein Suizidversuch folgte. Diese Annahme ist falsch. Wenn ein Suizid angekündigt wird, heißt dies nicht, dass der Versuch nicht unternommen wird. Das Thema Suizid direkt ansprechen • Wenn jemand Suizidgedanken äußert, müssen diese in jedem Fall ernst genommen werden. Pflegende sollten den Patienten direkt darauf ansprechen, ohne ihn anzuklagen. Sie sollten nachfragen, woher der Gedanke kommt, um ihn nachvollziehen zu können. Viele Patienten sind durch ein Gespräch deutlich entlastet. Auch wenn viele Menschen zunächst möglicherweise Hemmungen haben, dieses sensible Thema anzusprechen, ist es unbedingt notwendig. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Suizidgefahr Nachfragen • Frau Rausch könnte z. B. gefragt werden, ob es Alternativen zum Suizid gibt. Möglicherweise entwickelt sie selber gute Ideen. Es sollte auch nach positiven Dingen gefragt werden, die sie am Leben halten könnten. Gibt es möglicherweise doch noch unterstützende Ressourcen wie Familienangehörige, Nachbarn oder Kontakte aus der Kirche? Viele ältere Menschen erhalten eine Unterstützung durch ihren Glauben an Gott (▶ Abb. 65.7). Auch diesbezüglich sollte konkret nachgefragt werden. Welche Probleme führen Frau Rausch dazu, diese Gedanken zu entwickeln? Falls sie bereits Medikamente für die Depression bekommt, sollte erfragt werden, ob sie sie regelmäßig eingenommen hat. Es sollte auch direkt nachgefragt werden, ob bereits konkrete Pläne oder Ideen bestehen, wie sie sich das Leben nehmen möchte. Hat sie einen realistischen und konkreten Plan, ist höchste Vorsicht geboten. In diesem Fall hat sich Frau Rausch bereits intensiv mit dem Thema der Selbsttötung beschäftigt und es handelt sich nicht lediglich um eine Idee. Die Lage richtig einschätzen • Bei einer sehr schnellen und völligen Entspannung der Situation sollten Pflegende wachAbb. 65.7Glaube. Im häuslichen Dienst versorgt Sandra Jung die 76-jährige Frau Rausch, die an einer Depression leidet. Sie hat keine Familie mehr, die sich um sie sorgt, und wohnt in einem Hochhaus, wo kaum Kontakte zu Nachbarn bestehen. Einige Zeit bevor Frau Jung kam, war Frau Rausch hingefallen und hatte sich eine leichte Verletzung am Knie zugezogen. Jetzt äußert sie weinend: „Es wär’ wohl besser, wenn ich nicht mehr wäre. Ich falle nur allen zur Last, das macht doch keinen Sinn… Ich möchte nicht mehr sein.“ Frau Jung hat sofort die Befürchtung, dass Frau Rausch Suizid­ absichten hat. Frau Rausch hat eine Depression und gehört damit zur Risikogruppe. Hierzu gehören weiterhin Menschen, die vereinsamt sind, alt sind, Medikamente, Alkohol oder andere Substanzmittel in großer Menge regelmäßig einnehmen und Menschen, die bereits einen Suizidversuch unternommen haben. Durch eine Krisensituation können bei diesen Menschen suizidale Gedanken entstehen. Im Fall von Frau Rausch wurden die Gedanken durch die Hilflosigkeit nach ihrem Sturz in der Wohnung ausgelöst. Aber auch Der Glaube an Gott kann manchen Menschen helfen, Krisen zu überstehen. © robyelo357/fotolia.com 1381 Pflege bei Erkrankungen der Psyche sam sein. Es ist immer möglich, dass der Patient dies nur vortäuscht, um aus dem Kontakt zu gelangen. Es ist wichtig, dass Pflegende das Gefühl haben, das ein „wirklicher und echter“ Kontakt besteht. Die Abschätzung der Suizidalität ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. 65.4 Psychosen aus dem ­schizophrenen Formenkreis ACHTUNG Grundlagen Wenn der Patient nicht in der Lage ist, einen klaren Abstand zur Suizididee zu beziehen, sind Sie in der Pflicht, etwas zu unternehmen. Er hat sich an Sie gewandt und seine Suizidgedanken geäußert. Wenn Sie diesbezüglich nicht reagieren, handelt es sich um eine Straftat. Psychiatrische Hilfe anbieten • Pflegende können dem Patienten eine klinische Intervention auf der Akutstation der Psychiatrie anbieten. Alternativ bietet der sozialpsychiatrische Dienst in jeder Stadt i. d. R. einen psychiatrischen Notfalldienst an, der in Krisensituationen berät und unterstützt. Gespräch dokumentieren • Unter Umständen möchte der Patient nicht, dass die Informationen weitergegeben werden. Darauf dürfen Pflegende sich nicht einlassen. Sie sollten dem Patienten verdeutlichen, dass Transparenz innerhalb des pflegerischen Teams absoluten Vorrang hat. Das Gespräch muss unbedingt dokumentiert werden. Hilfe suchen • Niemand sollte sich scheuen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Umgang mit suizidalen Patienten ist eine große Herausforderung, die oftmals auch professionelle Pflegekräfte mit langjähriger Berufserfahrung hilflos macht. WISSEN TO GO Suizidgefahr Akutpsychiatrie ●● bei psychotischer Form ist ein Suizidversuch keine bewusste Entscheidung ●● neben medikamentöser Behandlung Patienten eng begleiten, nicht alleine lassen ●● überprüfen, ob er Gegenstände für einen Suizid bei sich trägt ●● in eine möglichst reizfreie Umgebung bringen Ambulante Pflege ●● Risikogruppe: Menschen mit Depression, vereinsamte, alte Menschen, Menschen, die Substanzmittel in großer Menge einnehmen oder bereits einen Suizidversuch unternommen haben ●● Ansprechen und nachfragen: Suizidgedanken immer ernst nehmen; Patienten direkt darauf ansprechen. Sieht er Alternativen zum Suizid? Gibt es unterstützende Ressourcen? Hat der Patient einen realistischen und konkreten Suizidplan, ist höchste Vorsicht geboten. ●● Lage richtig einschätzen: Bei sehr schneller Entspannung der Situation wachsam sein. Nimmt der Patient keinen klaren Abstand zur Suizididee, muss etwas unternommen werden. ●● Psychiatrische Hilfe anbieten: z. B. klinische Intervention in der Psychiatrie oder sozialpsychiatrischer Dienst ●● Gespräch dokumentieren: Gespräch unbedingt dokumentieren 1382 65.4.1 Schizophrenie Definition Schizophrenie Schizophrenie ist eine tiefgreifende psychische Störung, die Denken, Wahrnehmung und Gefühle betrifft. Im Vordergrund stehen Wahn, Wahrnehmungsstörungen, Denkstörungen und Störungen des Ich-Erlebens. Oft geht der Bezug zur Wirklichkeit verloren und die Bewältigung des Alltags ist nicht mehr möglich. In den meisten Fällen beginnt die Erkrankung zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr, oft mit Symptomen, die nicht unbedingt auf eine Schizophrenie schließen lassen, wie Angst, Schlafstörungen oder depressive Stimmung (= Vorstadium). Die Symptome der ausgeprägten Schizophrenie werden untergliedert in: ●● Plus- oder Positivsymptome: Symptome, die im Vergleich zu einem Nichterkrankten hinzukommen. Dies sind vor allem: ––Wahneinfälle oder Wahnvorstellungen, z. B. Verfolgungs-, Vergiftungs- oder Größenwahn ––Wahrnehmungsstörungen in Form von Halluzinationen, z. B. Stimmenhören ––Störungen des Ich-Erlebens: das eigene Ich fühlt sich fremd an, andere Menschen lesen, steuern oder entziehen die Gedanken ––Denkstörungen, z. B. Zerfahrenheit im Denken, Gedankensprünge ●● Minus- oder Negativsymptome: Symptome, die im Vergleich zum Nichterkrankten vermindert sind, z. B. Antriebslosigkeit, Gefühlsarmut, Niedergeschlagenheit ●● psychomotorische Störungen: z. B. verlangsamte Bewegung, eingeschränkte Mimik und Gestik Mitwirken bei der Therapie Beispiel Schizophrenie Herr Bayerlein wird mit akuten schizophrenen Symptomen auf der Akutstation einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Er äußert, dass seine Nachbarn ihn bespitzeln, durch die Steckdosen abhören und die Briefe in seinem Briefkasten mit einem Nervengift versehen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben und langsam und qualvoll zu töten. Er merke dies jeden Tag, habe die Steckdosen schon mit Klebeband verschlossen und öffne die Post nur noch mit Gummihandschuhen. Irgendwann habe es ihm gereicht, dann habe er bei den Nachbarn geklingelt, um sie zur Rede zu stellen. Dabei habe er sicherheitshalber einen Baseballschläger mitgenommen, um sich zu verteidigen – falls sie ihn angreifen würden. Plötzlich habe die Polizei im Flur gestanden und ihn gebeten, mitzukommen. So sei er plötzlich in der Psychiatrie gelandet. Von dem behandelnden Arzt wird ihm das Medikament Haldol verordnet. Als ihm die erste Dosierung verabreicht werden soll, reagiert Herr Bayerlein wütend und fährt die Pflegekraft an: „Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass Sie mit diesen Spitzeln unter einer Decke stecken? Sie wurden doch von Ihnen beauftragt, mich auch hier in den Wahnsinn zu treiben. Ich nehme Ihr Zeug nicht. Das wird mich doch umbringen.“ Herr Bayerlein verlässt die Situation abrupt, begibt sich in sein Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Psychosen aus dem s­ chizophrenen Formenkreis Medikamentöse Therapie Die medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika (S. 1404) hat bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen Priorität, um die akuten Symptome zu reduzieren und einen Realitätsbezug und Entspannung zu ermöglichen. In akuten Phasen haben Patienten evtl. die Vorstellung, dass die Medikamente sie vergiften oder ihnen auf andere Weise nicht guttun. Erst nach einer regelmäßigen Einnahme verringern sich i. d. R. die Symptome und die Patienten bemerken eine positive Wirkung der Medikamente. Bis dahin kann es unter Umständen schwierig werden, sicherzustellen, dass der Patient das Medikament auch wirklich einnimmt. Betroffene können sehr kreativ sein, sie sammeln die Medikamente z. B. im Mund und spucken sie im Anschluss wieder aus. ACHTUNG Auch wenn sich die Medikamentengabe möglicherweise schwierig gestaltet, dürfen die Medikamente auf keinen Fall ohne das Wissen der Betroffenen, z. B. in einem Getränk, verabreicht werden. Dieses Vorgehen würde einer Körperverletzung entsprechen. Eine wichtige Aufgabe von Pflegenden ist es daher, die Patienten an die Medikamente heranzuführen, sie zu einer regelmäßigen Einnahme zu motivieren und auf eventuelle Fragen oder Ängste einzugehen. Kommunikation Auch in der nicht medikamentösen Therapie haben Pfle­ gende wichtige Aufgaben. Sie bieten dem Erkrankten eine Möglichkeit, modellhaft an ihnen zu lernen. Dazu ist es zunächst wichtig, einige Aspekte der Kommunikation zu beachten. Bei einem Gespräch mit Herrn Bayerlein muss dieser als Mensch ernst genommen werden. Möglicherweise wird er dabei von seinen Erlebnissen berichten. Seine Angst sollte akzeptiert und sein Wahn nicht infrage gestellt werden. Pflegende sollten versuchen, sich im Gespräch auf eine Sach­ ebene zu begeben und z. B. über Hobbys, sportliche Vorlieben, aktuelle sportliche Ereignisse und Autos zu reden. So kann immer wieder ein Realitätsbezug einfließen, ohne Herrn Bayerlein damit zu überfordern. Da er möglicherweise Probleme mit der Konzentration hat und vom „Hölzchen aufs Stöckchen“ kommt (Denkzerfahrenheit), sollte er zunächst den letzten Gedanken zu Ende bringen können. Erst dann kann man ihn auf seine Gedankensprünge aufmerksam machen, indem man die Anfangsfrage erneut stellt. Kurze Fragen und Fragen, die sich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten lassen, können helfen, eine präzise Antwort zu bekommen. Sollte man keine präzise Antwort bekommen, oder die Antwort nicht verstehen, sollte dies nicht gewertet werden. Es ist wichtig, authentisch zu bleiben, zu sagen, dass man die Antwort nicht verstanden habe und die Frage einfach erneut stellen. Sollte Herr Bayerlein sich darüber ärgern, ist es wichtig, nicht emotional mitzuschwingen, sondern sach­ lich zu bleiben. Wenn Herr Bayerlein direkt über seinen Wahn sprechen möchte, sollte er ausreden können, aber nicht zum Weiterreden ermutigt werden. Der Realitätsbezug sollte wieder hergestellt werden, indem über sachliche Themen geredet wird. Themen wie Religion oder Philosophie sollte vermieden werden, da diese Themen für Personen mit schizophrenen Erkrankungen häufig zu abstrakt oder wahnhaft besetzt sind. Informationen und Struktur Es ist wichtig, die Compliance herzustellen. Das bedeutet, dass Herr Bayerlein den therapeutischen Prozess versteht und sich kooperativ zeigt. Dazu gehört, dass er Informationen über das Krankheitsbild, die Symptome und die Medikamente erhält. Ein strukturierter Therapieplan kann Betroffenen helfen, Orientierung im Prozess zu erlangen und das Gefühl zu bekommen, etwas „getan“ zu haben. Da Patienten mit schizophrenen Erkrankungen häufig selber nur zu wenigen strukturierten Handlungen in der Lage sind, begleiten Pflegende sie auf dem Weg zu Fachtherapien wie Ergo- oder Beschäftigungstherapie. Auf den kurzen Wegen bieten sich kurze Gespräche an, um eine professionelle Beziehung herzustellen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Herr Bayerlein ist nicht auf eigenen Wunsch, sondern mithilfe der Polizei auf die Station gebracht worden. Sofern kein akuter Anlass besteht, eine Selbst- oder Fremdgefährdung anzunehmen und er sich in einem Überwachungszimmer befindet, sollten ihm einige Minuten Zeit gelassen werden, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Erst nach einiger Zeit, wenn Herr Bayerlein sich beruhigt hat, sollte erneut Kontakt zu ihm aufgenommen werden. Um eine wertschätzende Haltung und Respekt gegenüber seiner Privatsphäre zu signalisieren, sollte er zunächst gefragt werden, ob er etwas Zeit hat. Er sollte nicht direkt aufgefordert werden, die Medikamente einzunehmen, sondern gebeten werden zu überlegen, was ihm helfen könnte, die Medikamente einzunehmen. Möglicherweise möchte Herr Bayerlein keine Tropfen oder Saft einnehmen, sondern lieber eine Tablette, die er selbst aus der Verpackung nehmen kann. In dem Fall kann der behandelnde Arzt nach Alternativen gefragt werden. Psychoedukative Gruppen Psychoedukative Gruppen werden von Pflegenden angeboten und teilweise durch Ärzte begleitet. In diesen Gruppen sollen Patienten Wissen über die Erkrankung erlangen, Verhaltensalternativen aufbauen und sich über Erfahrungen austauschen. Besondere Gruppen schulen Patienten in sozialen oder emotionalen Kompetenzen, hier sind spezielle Fortbildungen der Pflegenden erforderlich. Weiterhin trainieren Pflegende die Patienten in ihren alltagspraktischen Fähigkeiten, dazu gehören z. B. Kochtrainings, Haushaltstrainings oder gemeinsame Einkäufe. Reflexion von Erfahrungen Erfahrungen im Umgang mit dem Patienten werden im interdisziplinären Team reflektiert oder in Supervisionen thematisiert. Wenn eine Bezugspflegeperson immer wieder ­Bestandteil des Wahns eines Patienten wird, ist es notwendig, die Bezüge und Zuständigkeiten zu ändern, um die ­Situation zu entspannen und eine professionelle Beziehungsgestaltung zu ermöglichen. Professionelle Beziehung Die Beziehung zwischen Bezugspflegekraft und Patient sollte über ein ausgewogenes Maß an Nähe und Distanz verfügen. Je besser Pflegende den Patienten kennen, desto besser werden sie ihn einschätzen können. Das ermöglicht einen reflektierten Umgang mit Aggression, Wut, Stimmungsschwankungen und Ängsten. Der Patient beobachtet seine Bezugspflegekraft genau (▶ Abb. 65.8). Deshalb ist es wichtig, authentisch und sachlich zu bleiben und Kontakte eher kurz, dafür häufiger zu dosieren. Der Patient sollte genügend Rückzugsmöglichkeiten haben und nicht bedrängt werden. 1383 65 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Abb. 65.8Professionelle Beziehung. dieser Phase können Suizidgedanken auftreten. Daher sollten Pflegende einen guten Kontakt zu den Patienten halten und in Gesprächen die Stimmungslage und das Wohlbefinden eruieren, auch wenn die Patienten weniger Symptome der Schizophrenie zeigen. Neben den suizidalen Gedanken und der Aggression gegen die eigene Person besteht bei Patienten mit Schizophrenie unter Umständen auch fremdaggressives Verhalten. Besonders in akut psychotischen Phasen sind Betroffene häufig nicht einfach einzuschätzen, z. B. weil kein informatives Gespräch möglich ist. Deshalb ist es wichtig, die Stimmungslage des Patienten empathisch zu beobachten. Merken Nicht nachtragend sein Patienten mit Schizophrenie sind sehr misstrauisch. Umso wichtiger ist es, dass Pflegende in der Kommunikation authentisch sind. (Situation nachgestellt) WISSEN TO GO Schizophrenie – Therapie Sie ist eine tiefgreifende psychische Störung mit Wahn­ ideen, Wahrnehmungsstörungen, Denkstörungen und Störungen des Ich-Erlebens. ●● Medikamentöse Therapie: ––Patienten an die Medikamente heranführen, zu einer regelmäßigen Einnahme motivieren, auf Fragen/Ängste eingehen ––Medikamente auf keinen Fall ohne Wissen der Betroffenen verabreichen (Körperverletzung) ●● Kommunikation: ––Patienten ernst nehmen: Angst akzeptieren, Wahn nicht infrage stellen ––im Gespräch Realitätsbezug herstellen ––authentisch und sachlich zu bleiben ●● Informationen und Struktur: ––Compliance herstellen: Patient informieren über Krankheitsbild, Symptome und Medikamente ––strukturierter Therapieplan hilft, Orientierung im Prozess zu erlangen ●● Psychoedukative Gruppen: Wissen über die Erkrankung erlangen, Verhaltensalternativen aufbauen, sich über Erfahrungen austauschen, soziale oder emotionale Kompetenzen weiterentwickeln, alltagspraktische Fähigkeiten ●● Reflexion von Erfahrungen: Erfahrungen im interdisziplinären Team reflektieren Beobachtungskriterien und Pflegebasismaßnahmen Patienten mit Schizophrenie haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Etwa 10–15% der Betroffenen sterben durch eine Selbsttötung. Ist die akute Psychose abgeklungen und ist der Patient gut auf die Medikamente eingestellt, kann es vorkommen, dass die Betroffenen Bilanz über ihre Situation ziehen. Wenn sie erkennen, wie das zukünftige Leben ablaufen könnte, sind manche Patienten überfordert oder deprimiert. In 1384 Unruhe kann derartige konfliktreiche und angespannte Situationen häufig noch verschärfen. Andere Patienten, die dabei sind, sollten gebeten werden, sich aus der Situation zurückzuziehen. Ernährung und Flüssigkeitszufuhr • In akuten schizophrenen Phasen haben Patienten unter Umständen Defizite in ihrer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Kreative Interventionen können dem entgegenwirken. Wenn Herr Bayerlein befürchtet, dass ihn jemand vergiften will, sollte er selber die Wasserflasche öffnen oder ihm sollte die Möglichkeit gegeben werden, abgepackte Nahrungsmittel zu erhalten. Ebenso kann er gefragt werden, was ihm helfen würde. Gegebenenfalls hilft es ihm, wenn jemand das Essen vorkostet. Körperpflege • Sie ist bei Patienten mit Schizophrenie möglicherweise beeinträchtigt. Hilfreich ist es, mit dem Patienten feste Duschtage zu vereinbaren, die in den Therapieplan integriert werden. Falls der Patient nicht duschen möchte, sollte ihm alternativ ein Bad oder Waschen am Waschbecken angeboten werden. Schlafen • Oft kommen Patienten mit schizophrenen Erkrankungen schlecht zur Ruhe und schlafen nicht gut ein. Hier ist wieder pflegerische Kreativität gefragt. Wirkt der Patient ängstlich, sollte nachgeforscht werden, wovor er Angst hat. Hat der Patient z. B. Angst vor der Dunkelheit, sollte er ein Nachtlicht bekommen oder die Tür nur angelehnt werden. Besteht die Angst vor dem Alleinsein, kann es vielleicht helfen, wenn er die Klingelanlage testet und ihm versichert wird, dass so schnell wie möglich jemand kommt. Kommt der Patient nicht zur Ruhe und wirkt abends noch unruhig und angespannt, können Abendrituale installiert werden, die der Patient als angenehm und beruhigend empfindet, z. B. Teetrinken oder Entspannungsübungen. WISSEN TO GO Schizophrenie – Beobachtungskriterien und Pflege­ basismaßnahmen ●● Stimmungslage: erhöhtes Suizidrisiko, aggressives Verhalten → guten Kontakt halten und Stimmungslage eruieren Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Seien Sie nicht nachtragend, wenn Sie ein Patient z. B. im Wahn wüst beschimpft. Möglicherweise sind Sie in dem Moment Bestandteil des Wahns und werden von dem Betroffenen als Angreifer erlebt. Ziehen Sie sich zurück und lassen Sie einen Kollegen mit dem Patienten in Kontakt treten. Affektive Störungen und Flüssigkeitszufuhr: in akuter Phase auf ­Defizite achten ●● Körperpflege: möglicherweise beeinträchtigt; evtl. mit dem Patienten z. B. feste Duschtage vereinbaren ●● Schlafen: oft bestehen Schlafprobleme, entsprechend der ­Ursache pflegerische Angebote machen ihnen die Möglichkeit einer ambulanten Psychotherapie zur Bewältigung der Erlebnisse aufgezeigt werden. WISSEN TO GO Schizophrenie – Informieren, Schulen, Beraten ●● Aufklärung über die Krankheit und ihre Symptome der regelmäßigen Medikamentenein­ Informieren, Schulen, Beraten ●● Notwendigkeit Die wichtigsten speziellen Beratungsaspekte für Patienten mit Schizophrenie sind: ●● Der Patient sollte in Zusammenarbeit mit dem Arzt über die Krankheit mit den entsprechenden Symptomen aufgeklärt werden. ●● Die Notwendigkeit der regelmäßigen Medikamenteneinnahme sollte thematisiert werden – auch in Zuständen, in denen die Symptome besser sind. Bei Bedarf werden das Medikament, die Einnahmeform und die Nebenwirkungen erklärt. ●● Über frühe Anzeichen eines akuten Zustands sollte gesprochen werden, z. B. sozialer Rückzug, Verweigerung der Medikamenteneinnahme, ansteigendes Misstrauen. ●● Weil eigene Lösungsstrategien unter Umständen aufgrund der Krankheit eingeschränkt sein können, sollte dem ­Patienten Unterstützung bei Problemen angeboten ­werden. ●● Dem Patienten sollte vermittelt werden, dass eine geordnete Tagesstruktur wichtig ist und ein sozialer Rückzug vermieden werden sollte. ●● frühe Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung Menschen mit schizophrenen Erkrankungen benötigen von außen viel Struktur. Deshalb sollte die Situation nach der Entlassung unbedingt vorher geregelt werden. Die Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten müssen genau überprüft werden. Es sollte ebenfalls überprüft werden, ob der Betroffene für sich selber sorgen kann oder ob eine rechtliche Betreuung notwendig ist. Dabei arbeiten Pflegende eng mit dem Kliniksozialdienst zusammen, der weitere Maßnahmen einleitet und Kontakte herstellt. Neben stationären Angeboten können ambulante Hilfen den Betroffenen unterstützen, sein Leben mit der Krankheit zu bewältigen. Wird der Patient wieder in sein ursprüngliches Lebensumfeld entlassen, benötigt er sozialpsychiatrische Kontakt­ stellen oder Beratungsstellen für mögliche problematische ­Situationen. Der Betroffene benötigt einen strukturierten Tagesplan mit Beschäftigungsmöglichkeiten. Rehabilitationsmaßnah­ men und Wiedereingliederung in eine Beschäftigung sind wichtige Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. Eine Übergangszeit in einer psychiatrischen Tagesklinik kann für den Betroffenen hilfreich sein, grundsätzliche alltagspraktische Fähigkeiten wiederzuerlangen. Wenn der Patient wieder in sein häusliches Umfeld entlassen wird, sollte beachtet werden, dass die Angehörigen ebenfalls Unterstützung benötigen. Häufig sind weitere Familienangehörige ebenfalls von schizophrenen Erkrankungen betroffen. Angehörige sollten genau über die Krankheit und darüber informiert werden, dass es absolut notwendig ist, die Medikamente sehr genau einzunehmen. Angehöri­ gengruppen können hilfreich sein, den Austausch über etwaige Probleme ermöglichen. Angehörige haben oft Gewalterfahrungen mit dem Betroffenen gemacht. Daher sollte nahme Anzeichen eines akuten Zustands erkennen Die Situation nach der Entlassung unbedingt vorher regeln: Ist eine rechtliche Betreuung notwendig? Der Patient benötigt sozialpsychiatrische Kontaktstellen oder Beratungsstellen für problematische Situationen. Der Betroffene benötigt einen strukturierten Tagesplan. Rehabilitationsmaßnahmen und Wiedereingliederung in eine Beschäftigung sind wichtige Aspekte. Eine Übergangszeit in einer psychiatrischen Tagesklinik kann hilfreich sein. Die Angehörigen benötigen ebenfalls Unterstützung. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ●● Ernährung 65.4.2 Schizoaffektive Psychosen Definition Die schizoaffektive Psychose ist eine Erkrankung, bei der die Betroffenen sowohl schizophrene als auch affektive Symptome haben. Affektive Störungen sind durch krankhafte Veränderungen der Stimmung gekennzeichnet. Diese kann bei der Depression niedergeschlagen oder bei der Manie gehoben sein. Man unterscheidet eine schizodepressive, eine schizomanische und eine gemischte Störung. Prinzipiell können sämtliche Symptome der Schizophrenie sowie der Manie und Depression auftreten. In der Akutphase wird mit Antipsychotika behandelt. Bei der schizodepressiven Störung wird zusätzlich ein Antidepressivum, bei der schizomanischen Störung ein Stimmungsstabilisierer verabreicht. Hinzu kommen psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen. 65.5 Affektive Störungen Definition Affektive Störungen Affektive Störungen sind Erkrankungen, bei denen die Stimmung (= Affektivität) und der Antrieb krankhaft verändert sind. Nach der vorhandenen Symptomatik bzw. Stimmungslage unterscheidet man: ●● Depression (depressive Episode): niedergeschlagene und hoffnungslose Stimmung mit Antriebsminderung ●● Manie (manische Episode): gehobene oder reizbare Stimmung mit Antriebssteigerung Tritt entweder nur eine depressive oder nur eine manische Symptomatik auf, spricht man von einer unipolaren Störung. Leidet der Patient sowohl an depressiven als auch manischen Symptomen im Wechsel, so liegt eine bipolare Störung oder manisch-depressive Erkrankung vor. 1385 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.5.1 Depression Grundlagen Definition Depression Bei der Depression leidet der Patient an gedrückter Stimmung, Interessenverlust sowie vermindertem Antrieb und verminderter Aktivität. Er verspürt eine innere Leere und beschreibt ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“, empfindet also weder Freude noch Leid (▶ Abb. 65.9). Hinzu kommen körperliche Symptome, z. B. mangelnder Appetit, Übelkeit, Gewichtsverlust, Erschöpfung. Depressive Erkrankungen gehören heute zu den häufigs­ ten psychischen Erkrankungen. Etwa 18 von 100 Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens daran. Dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Eine Depression kann in jedem Lebensalter auftreten, auch bereits bei Kindern und Jugendlichen. Die Ersterkrankung wird aber häufig zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr beobachtet. Folgende Symptome treten häufig auf. ●● Gedanken: Grübeln, Selbstvorwürfe, kein Selbstvertrauen, Konzentrationsschwierigkeiten, Entscheidungsschwierigkeiten, negative und pessimistische Betrachtung der Zukunft, Suizidgedanken, Todeswunsch ●● Körper: innere Nervosität, Appetitverlust oder gesteigerter Appetit, Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Engegefühl in der Brust, Verdauungsbeschwerden, Beeinträchtigung der Atemwege ●● Emotionen: Angst, Leere, Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit, Gefühle der Wertlosigkeit und Angst, Gereiztheit, Empfindlichkeit ●● Verhalten: Antriebslosigkeit (besonders am Morgen) oder unproduktive Getriebenheit und Hektik, Lustlosigkeit, sozialer Rückzug, Patient beginnt schnell zu weinen, keine Energie, Jammern und Klagen Mitwirken bei der Therapie Medikamentöse Therapie Im Rahmen der Therapie wirken Pflegende vielfältig mit. Die medikamentöse Therapie erfolgt mit Antidepressiva (S. 1404). Sie sollten zur langfristigen Verbesserung der Symptomatik regelmäßig verabreicht und eingenommen Abb. 65.9Depression. Das Krankheitsbild zeichnet sich u. a. durch eine negative Grundstimmung aus. (Situation nachgestellt) 1386 werden. In einer Phase tiefer Depression erscheint den Betroffenen jedoch häufig jede Intervention sinnlos und kostet sie viel Kraft. Daher ist es notwendig, dass Pflegende die Patienten beratend und anleitend begleiten. Der Wirkstoff des Medikaments und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Der Patient sollte wissen, dass es unter Umständen einige Zeit dauern kann, bis das Medikament eine spürbare Wirkung zeigt. Bei einigen Präparaten kann die Wirksamkeit frühestens nach 2 Wochen festgestellt werden. Die Patienten sollten zur weiteren Einnahme motiviert werden. Pflegende sollten genau erklären, wie die Medikamente einzunehmen sind und die Einnahme begleiten. ACHTUNG Da Menschen mit Depressionen häufig Suizidgedanken haben, ist es notwendig, darauf zu achten, dass die Medikamente nicht für einen möglichen Suizidversuch gesammelt werden. Nicht medikamentöse Therapie Die nicht medikamentöse Therapie nimmt einen hohen Stellenwert ein. Patienten mit depressiven Erkrankungen müssen i. d. R. aufgrund der potenziellen Suizidgefahr eng begleitet werden. Die Arbeit mit den Betroffenen ist häufig sehr anstrengend, da wenig Motivation gezeigt wird und eine negative Grundstimmung den Beziehungsprozess begleitet. Die Suizidalität muss durch Pflegende unbedingt abgeklärt werden. Da ein großer Teil der Menschen mit depressiven Syndromen eine innere Leere und Sinnlosigkeit empfindet, ist der Gedanke des Suizidversuchs häufig nicht fern. Der Betroffene sollte direkt, aber einfühlsam darauf angesprochen werden. So wie sich die Stimmung der Patienten verändert, ändert sich auch das Suizidrisiko. Deshalb ist es notwendig, über den gesamten Behandlungsprozess die potenzielle Suizidalität zu beachten. Menschen mit depressiven Erkrankungen haben verschiedene Symptome. Es ist wichtig, mit dem Bezugspatienten zu reden und dabei zu klären, welche depressiven Symptome bei ihm auftreten. Diese Symptome sollten dokumentiert werden. Der Patient sollte darüber informiert werden, dass die Symptome zurückgehen, wenn sich der Krankheitszustand durch die Behandlung bessert. Schlafentzugstherapie • Sie wird gerade zu Beginn zusätzlich zur medikamentösen Therapie durchgeführt, wenn die Medikamente noch keine Wirkung zeigen. Die Therapie ist nicht geeignet bei Menschen mit Kreislaufproblemen oder Herzerkrankungen. Bei der Schlafentzugstherapie übernehmen Pflegende eine maßgeblich begleitende und unterstützende Funktion. Die Schlafentzugstherapie wirkt schnell positiv auf die Stimmungslage des Patienten und wird vorwiegend stationär durchgeführt. Es wird unterschieden zwischen: ●● totaler Schlafentzug: Der Patient bleibt die komplette Nacht über wach. ●● partieller Schlafentzug: Der Patient wird zu einem bestimmten Zeitpunkt geweckt, um die zweite Phase der Nacht wach zu bleiben. ●● Schlafphasenverlagerung: Diese wird häufig im Anschluss an den Schlafentzug durchgeführt, damit der positive Effekt, also die aufgehellte Stimmung, länger anhängt. In der Schlafphasenverlagerung wird die Schlafzeit verändert. So schläft der Patient z. B. in der ersten Nacht von 16 Uhr bis um Mitternacht, sofern die übliche Schlafzeit 8 Stunden beträgt. In den nachfolgenden Nächten wird die Einschlafzeit jeweils um eine Stunde Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Affektive Störungen Beim Schlafentzug oder bei der Schlafphasenverlagerung setzen Pflegende die therapeutische Anordnung um, indem sie den Patienten wecken und ihn in der Nacht und am Folgetag begleiten und beschäftigen, damit er nicht einschläft. Weiterhin kontrollieren sie die Vitalwerte, da es oftmals zu Kreislaufproblemen und Schwindelgefühlen kommt. Bereits kurze Schlafphasen können das Ergebnis beeinträchtigen. Dem Patienten (optimaler sind Patientengruppen) sollten verschiedene Beschäftigungsalternativen (Gesellschaftsspiele, Handarbeit, Kreativangebote) oder Bewegungsmög­ lichkeiten angeboten (kurze Nachtspaziergänge, Bewegungstherapie am Tag) und für viel frische Luft gesorgt werden. Die Einbindung in einen strukturierten Behandlungsplan mit abwechslungsreichem Tagesprogramm hilft dem Patienten, nicht einzuschlafen. Pflegende sollten den Patienten über den Sinn der Schlafentzugstherapie umfassend informieren und ihn motivieren, sie durchzuhalten. Gerade bei Patienten, bei denen die Medikation noch keine Wirkung gezeigt hat, ist die Schlafentzugstherapie eine gute Möglichkeit, schnell und effektiv die Stimmung aufzuhellen und den Antrieb (vor allem bei Antriebslosigkeit in den Morgenstunden) zu steigern und auf diese Weise die Zeit bis zur Wirksamkeit der Medikation zu überbrücken. ACHTUNG Bei latenter Suizidalität ist es wichtig, den Patienten auch bei scheinbar verbesserter Stimmung eng zu begleiten und zu überwachen. Durch die Steigerung des Antriebs kann die Schwelle zur Umsetzung eines Suizidversuchs herabgesetzt sein. Elektrokrampftherapie • Sie wird bei therapieresistenten Depressionen eingesetzt. Unter Vollnarkose, Muskelrelaxation und Sauerstoffbehandlung wird mithilfe von ca. 30 Sekunden andauernden Stromstößen ein epileptischer Anfall ausgelöst. Es sind mehrere Behandlungen (6–12) in einem Abstand von 2–3 Tagen notwendig. Als Hauptnebenwirkung ergeben sich in vielen Fällen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, die jedoch reversibel sind. Kommunikation Pflegende benötigen viel Geduld und Reflexionsvermögen, um zu verstehen, dass die Krankheit dem Betroffenen keine Verhaltensalternativen ermöglicht. Der Patient weist Pflegende nicht wütend oder gereizt zurück, weil er sie nicht mag, sondern weil er nicht anders kann. Es ist deshalb wichtig, sich nicht zurückzuziehen, sondern immer wieder auf den Patienten zuzugehen und ihm Gesprächs- oder Beschäftigungsangebote zu machen. Nimmt der Betroffene diese an, sollte direkt ein positives Feedback gegeben werden. Menschen mit depressiven Erkrankungen können diesen Fortschritt meist selber nicht sehen und benötigen Rückmeldungen von außen. Falls der Betroffene die Rückmeldung ins Negative zieht, sollte man sich nicht davon beeindrucken lassen und weiterhin positive Rückmeldung geben. Kurze Gespräche sollten ausgedehnten Kontakten vorgezogen werden. Merken Kontakte kurz + häufig Da Menschen mit depressiven Störungen häufig nicht in der Lage sind, sich für längere Zeit zu konzentrieren, ist es hilfreich, die Kontakte zwar kürzer, dafür in häufigeren Abständen zu ­gestalten. Kontraproduktiv ist es, die Situation zu beschönigen („So schlimm ist es ja gar nicht“), den Patienten extrem aufmuntern zu wollen, oder in die ferne Zukunft zu blicken („Sie werden sehen, nächstes Jahr um diese Zeit sieht alles schon ganz anders aus“). Betroffene werden sich auf diese Weise nicht verstanden fühlen und eher mit Gereiztheit, Enttäuschung oder Rückzug reagieren. Oft sind sie nicht in der Lage, eine positive Zukunft für sich zu sehen. Im Gespräch sollte man lieber auf der sachlichen Ebene bleiben und sich authentisch verhalten. Spricht man mit dem Patienten über die depressive Störung, sollte es das Ziel sein, dem Patienten zu vermitteln, dass es sich bei der depressiven Störung um eine Krankheit und nicht um eine generelle Störung des sozialen und emotionalen Verhaltens handelt. WISSEN TO GO Depressionen – Therapie Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. verschoben, bis wieder eine reguläre Einschlafzeit am Abend erreicht worden ist. Der Patient leidet an gedrückter Stimmung, Interessenverlust sowie Verminderung von Antrieb und Aktivität. Er verspürt eine innere Leere. ●● Medikamentöse Therapie: Wirkstoff und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Patienten aufklären, dass es einige Zeit dauert, bis das Medikament wirkt; zur regelmäßigen Einnahme motivieren; darauf achten, dass Medikamente nicht gesammelt werden. ●● Schlafentzugstherapie: Sie wirkt schnell positiv auf die Stimmung. Pflegende begleiten und beschäftigen den Patienten und kontrollieren die Vitalwerte. ●● Nicht medikamentöse Therapie: Sie hat einen hohen Stellenwert. Die Arbeit mit den Betroffenen ist häufig sehr anstrengend, da eine negative Grundstimmung den Beziehungsprozess begleitet. Die potenzielle Suizidalität muss ­beachtet werden. ●● Kommunikation: Nimmt der Betroffene Gesprächsoder Beschäftigungsangebote an, sollte direkt ein positives Feedback gegeben werden. Kurze Gespräche sind besser als ausgedehnte Kontakte. Kontraproduktiv ist es, die Situation zu beschönigen. Pflegebasismaßnahmen und ­Beobachtungskriterien Vitalparameter • Menschen mit Depressionen klagen häufig über somatische Beschwerden wie Herzrasen oder Schwindel. Es ist daher notwendig, eine regelmäßige Vitalzeichenkontrolle durchzuführen. Flüssigkeitsaufnahme • Die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr der Patienten sollte beobachtet werden. Häufig nehmen Menschen mit depressiven Störungen aus Motivationslosigkeit kaum Flüssigkeit zu sich. Es sollte darauf geachtet werden, ob der Patient ausreichend trinkt. Ggf. sollte der Patient darauf hingewiesen, bzw. motiviert werden, in regelmäßigen Abständen etwas zu trinken. Ernährung • Die Nahrungszufuhr kann gehemmt oder übersteigert sein. Das Essverhalten sollte gemeinsam mit dem Patienten besprochen und bei Appetitlosigkeit auf eine Mangelernährung geachtet werden. Vielleicht hat der Patient besondere Vorlieben, die die Motivation zur Nahrungsaufnahme fördern können. Bei Übersteigerung des Appetits und der Aufnahme großer Mengen an Nahrung sollte der 1387 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Patient direkt darauf angesprochen werden. Dabei sollte bedacht werden, dass viele Antidepressiva appetitanregend wirken können. Ausscheiden • Viele Patienten mit depressiven Störungen klagen über Obstipation. Gegebenenfalls sollten geeignete Maßnahmen eingeleitet werden. Körperpflege • Die Körperpflege ist für Menschen mit depressiven Erkrankungen häufig sehr anstrengend. Sie sollten dazu motiviert werden, eine regelmäßige Körperpflege durchzuführen. Schlechter Körpergeruch sollte dezent angesprochen werden, evtl. ist er dem Patienten gar nicht bewusst. Der Patient sollte wissen, dass starkes Schwitzen ein Symptom der Krankheit ist und es deswegen notwendig ist, regelmäßige Körperpflege durchzuführen. Schlaf • Die meisten Patienten mit depressiven Störungen klagen über Schlafprobleme. Häufig besteht die Schwierigkeit darin, einzuschlafen. Betroffene beginnen oft nach dem Zubettgehen zu grübeln. Gemeinsam mit dem Patienten können Rituale entwickelt werden, die vor dem Zubettgehen durchgeführt werden. Diese sind je nach Patient sehr individuell zu gestalten. Pflegende können dabei verschiedene Ideen geben und den Patienten entscheiden lassen, welche Rituale für ihn passen könnten. Hilfreich ist es, verschiedene Vorschläge zu machen, da Menschen mit depressiven Störungen häufig nicht in der Lage sind, selber kreative Ideen zu entwickeln. Beliebte Rituale sind Entspannungsübungen (▶ Abb. 65.10), Entspannungsmusik, Hörbücher (keine Dramen, Krimis oder Psychothriller), entspannende Fußbäder mit beruhigenden Aromen (Lavendel, Melisse, Baldrian, Kamille), oder Tagebuch schreiben (Sorgen „von der Seele schreiben“). Es sollte eine angenehme und dunkle Schlafumgebung mit wenig Störquellen gestaltet werden (Geräusche, Lichter von Monitoren). Bereits einige Zeit vor dem Zubettgehen sollten helle Lichtquellen (Leuchtstoffröhren) gedimmt und dämmrige Beleuchtung (Nachttischlampen) genutzt werden. Den Schlaf stören oder verhindern können Alkohol (auch kleinere Mengen), Koffein, Teein, Nikotin sowie üppige und fetthaltige Mahlzeiten vor dem Zubettgehen. Ebenso sollte der Patient vermeiden, tagsüber zu schlafen. Abb. 65.10Entspannungsübungen. Entspannungsübungen können am besten in der Gruppe durchgeführt werden. 1388 Weitere Maßnahmen • Da bei Frauen mit depressiven Störungen häufig Probleme mit der Menstruation bzw. dem Ausbleiben der Menstruation bestehen, sollten Pflegende dies mit den Patientinnen besprechen. Bei problematischen Zyklen oder Ausbleiben der Menstruation sollte eine gynäkologische Untersuchung erfolgen. Merken Sturzprophylaxe Beachten Sie bei älteren Personen mit depressiven Störungen die Sturzgefahr und führen Sie dementsprechend Prophylaxen durch. WISSEN TO GO Depressionen – Beobachtungskriterien und Pflegeba­ sismaßnahmen ●● Vitalparameter: Betroffene klagen häufig über Herzrasen oder Schwindel ●● Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr: ggf. zum Trinken animieren; bei Appetitlosigkeit nach Motivationsmöglichkeiten schauen; bei übersteigertem Appetit Patienten direkt darauf ansprechen (viele Antidepressiva wirken appetitanregend) ●● Ausscheiden: bei Obstipation geeignete Maßnahmen einleiten ●● Körperpflege: für Menschen mit depressiven Erkrankungen häufig sehr anstrengend; zu einer regelmäßigen Körperpflege motivieren ●● Schlaf fördern: viele Patienten haben Schlafprobleme; gemeinsam Einschlafrituale entwickeln; für angenehme Schlafumgebung mit wenig Störquellen sorgen; vermeiden, tagsüber zu schlafen Informieren, Schulen, Beraten Die wichtigsten Beratungsaspekte für Menschen mit Depressionen sind: ●● Der Betroffene sollte dabei unterstützt werden, die Depression als Erkrankung zu akzeptieren und nicht als „Verhaltensstörung“, an der er allein die „Schuld“ hat. ●● Dem Patient sollte die Erkrankung mit ihren Symptomen erklärt werden. ●● Der Patient sollte wissen, wie wichtig die regelmäßige Einnahme der Medikamente ist und dass es unter Umständen einige Zeit dauert, bis die Medikamente eine spürbare Wirkung zeigen. Er sollte motiviert werden, die Therapie durchzuhalten. Auch nach einer Verbesserung ist es notwendig, die medikamentöse Therapie gemäß Arztan­ ordnung zunächst weiterzuführen, da es sonst schnell zu Rückfällen kommen kann. ●● Der Patient sollte über die Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente informiert werden. Falls sich der Patient durch die Nebenwirkungen massiv beeinträchtigt fühlt, sollte der Kontakt zum behandelnden Arzt hergestellt werden. ●● Der Betroffene sollte darüber informiert werden, dass sich soziale Kontakte i. d. R. positiv auswirken, und dabei unterstützt werden, vorhandene Kontakte aufrechtzuerhalten. Vielleicht ist dem Betroffenen seine Erkrankung unangenehm und peinlich und er möchte keinen Besuch haben, da er keine Gesprächsthemen hat. In diesem Fall kann ihm angeboten werden, die Angehörigen oder Bekannten zusammen zu empfangen und das Gespräch anzuregen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Sucht und Abhängigkeit Die Entlassung von Menschen mit depressiven Erkrankungen in ihr vorheriges Lebensumfeld muss intensiv thematisiert, geplant und gestaltet werden. Der Patient sollte auf seine Entlassung gut vorbereitet werden. Dazu gehört es, die Krankheit mit ihren Symptomen verstanden und möglichst akzeptiert zu haben. Die regelmäßige Einnahme der Medikamente sollte ebenso akzeptiert werden. Der Patient sollte nach der Entlassung regelmäßige Kontakte zum behandelnden Haus- oder Facharzt pflegen. Tagesstruktur planen • Eine Tagesstruktur erweist sich als sinnvoll. Bereits vor der Entlassung sollte gemeinsam mit dem Patienten ein grober Wochenplan erstellt werden. An welchen Tagen soll die Wohnung geputzt werden? Gibt es Aktivitäten, die der Patient in seinen Wochenplan integrieren möchte? Wann finden Bewegungs- und Ruhephasen statt? Welche sozialen Kontakte finden regelmäßig statt? Ambulante psychiatrische Pflege • Je nach Alter und Zustand der Person ist zu prüfen, ob eine ambulante psychiatrische Pflege oder eine ambulante Psychotherapie hilfreich ist. Möglicherweise kann eine Tagesklinik den Übergang in die eigene Häuslichkeit erleichtern, da dort der Tagesablauf gemeinsam mit therapeutischem und pflegerischem Fachpersonal strukturiert werden kann. Selbsthilfegruppen • Sie können durch Kontakte zu anderen Betroffenen helfen, die Krankheit als solche zu akzeptieren und sich auszutauschen. Viele Betroffene empfinden es als deutliche Entlastung, haben aber große Hemmschwellen, den Kontakt aufzunehmen. Vielleicht ist es möglich, dies bereits in der Klinik zu arrangieren und erste persönliche Kontakte herzustellen. Oft sind Personen aus Selbsthilfegruppen bereit, Besuche in Kliniken durchzuführen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, wie hoch die Hemmschwellen seitens der Betroffenen sein können. Angehörige einbinden • Angehörige haben oft Angst vor der Rückkehr der Person mit der depressiven Störung, da sie durch den stationären Aufenthalt oftmals eine Entlastung erlebt haben. Es ist notwendig, dass sie das Krankheitsbild mit den zugehörigen Symptomen verstehen, um adäquat mit sich und der depressiven Person umgehen zu können. Pflegende sollten die Angehörigen darüber informieren, wie wichtig die medikamentöse Behandlung im Verlauf ist. Die Erfahrung zeigt, dass der Patient die Medikamente umso weniger für sinnvoll erachten wird, je besser es ihm geht. Ein eigenes und spontanes Absetzen ohne Abklärung mit dem behandelnden Arzt kann zu unerwünschten Wirkungen führen. Bei Patienten, die nicht in der Lage sind, die Medikamente eigenständig einzunehmen, sollte eine Eingabe gesichert werden. WISSEN TO GO Depressionen – Informieren, Schulen, Beraten ●● Depression als Erkrankung akzeptieren und nicht als „Verhaltensstörung“ ●● Erkrankung mit ihren Symptomen erklären ●● Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente ●● Tagesstruktur planen: Bereits vor der Entlassung sollte gemeinsam mit dem Patienten ein grober Wochenplan erstellt werden, z. B. Putztag, Aktivitäten, soziale Kontakte. ●● Ambulante psychiatrische Pflege: Es ist zu prüfen, ob eine ambulante psychiatrische Pflege, eine ambulante Psychotherapie oder eine Tagesklinik hilfreich ist. ●● Selbsthilfegruppen: Viele Betroffene empfinden den Austausch in einer Selbsthilfegruppe als deutliche Entlastung, haben aber große Hemmungen, den Kontakt aufzunehmen. Hierbei sollte Unterstützung angeboten werden. ●● Angehörige einbinden: Angehörige sollten das Krankheitsbild mit den zugehörigen Symptomen verstehen, um adäquat mit sich und der depressiven Person umgehen zu können. 65.5.2 Manie Definition Manie Die Stimmung des Patienten ist unangemessen gehoben. Charakteristisch sind sorglose Heiterkeit, gesteigerter Antrieb, Überaktivität und Selbstüberschätzung. Diese gehobene Stimmung kann in Gereiztheit und Aggressivität umschlagen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung Patienten suchen i. d. R. viele Kontakte und streben nach Aufmerksamkeit mit teilweise distanzgeminderten Verhaltensweisen. Charakteristisch ist die fehlende Krankheitseinsicht. Aufgrund dessen ist es notwendig, auf ein angemessenes Nähe- und Distanzverhältnis zu achten. Da Patienten in dieser Phase mitunter in einen regelrechten Kaufrausch verfallen, sollte dies bei möglichen gemeinsamen Einkäufen als Symptom der Krankheit dringend berücksichtigt werden. Merken Geschenke Wenn Sie von Patienten in diesem Zustand Dinge geschenkt bekommen, nehmen Sie diese nicht an und signalisieren Sie dem Betroffenen, dass Sie dies in Ihrer Rolle als Pflegeperson nicht dürfen. Die Behandlung der Manie muss wegen der mangelnden Krankheitseinsicht meist stationär (auch mit richterlichem Beschluss) durchgeführt werden. Für die Behandlung der akuten manischen Phase spielen Medikamente eine zentrale Rolle. Eingesetzt werden zum einen Stimmungsstabili­ sierer bzw. Antidepressiva (z. B. Lithium) und zum anderen Neuroleptika (z. B. Olanzapin), siehe ▶ Tab. 65.1. Eine Psychotherapie wird häufig erst nach der akuten Phase begonnen, da die Patienten aufgrund der noch bestehenden Symptomatik meist nicht zu konzentrierten Gesprächen und therapeutischem Arbeiten fähig sind. 65.6 Sucht und Abhängigkeit Definition Abhängigkeit Abhängigkeit ist das unwiderstehliche Verlangen nach dem Konsum einer Substanz oder danach, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, um einen kurzfristigen befriedigenden Erlebniszustand zu erreichen. Es gibt verschiedene Formen von Abhängigkeiten. Man unterscheidet zwischen substanzgebundenen Abhängigkeiten, bei der psychotrope Substanzen eingenommen werden, und nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten wie Spielsucht, Arbeitssucht und Internetsucht. 1389 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Definition Psychotrope Substanzen Psychotrope Substanzen sind Stoffe, die das Bewusstsein oder die Psyche beeinflussen. Dazu zählen Alkohol, bestimmte Medikamente und Drogen. Bei allen psychotropen Substanzen unterscheidet man zwischen Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit: ●● „Missbrauch“ beschreibt den übermäßigen Gebrauch einer Substanz, der zu körperlichen und psychischen ­ ­Schäden führt (z. B. Alkohol → Leberentzündung). ●● „Abhängigkeit“ beschreibt das starke Verlangen und den zwanghaften Wunsch, diese Substanzen zu sich zu nehmen, und die fehlende Selbstkontrolle (= psychische Abhängigkeit oder sog. „Craving“). Die Dosis muss kontinuierlich gesteigert werden, da sich der Körper an die Substanzmenge anpasst, sog. Toleranzentwicklung. Wenn dies nicht möglich ist, kommt es zu Entzugssymptomen (= körperliche Abhängigkeit). 65.6.1 Alkoholabhängigkeit Die Alkoholabhängigkeit als eine sehr häufige Form wird im Folgenden hauptsächlich behandelt. In Deutschland sind etwa 1,3 Mio. Menschen alkoholabhängig. Männer sind dabei häufiger betroffen als Frauen. In psychiatrischen Kliniken sind Alkoholkranke die größte Patientengruppe. Mitwirken bei der Therapie Die Behandlung abhängigkeitserkrankter Menschen gliedert sich in die Entgiftung, die Entwöhnung und die Rehabilitation. Je nach Behandlungsphase überwiegen verschiedene therapeutische Ziele. Entgiftung In dieser Phase geht es darum, den körperlichen Entzug zu bewältigen. In der Regel wird die Entgiftung mit Medikamenten begleitet, die den Patienten vor ­gefährlichen Entzugssymptomen schützen, z. B. dem Alkoholdelir (Delirium tremens). Motivation und Unterstützung • Pflegende begleiten die Patienten in dieser Phase eng und beobachten die Patienten ­genau. In dieser Phase lassen sich bereits mögliche Komorbiditäten (zusätzliche Erkrankungen) wie eine depressive Störung erkennen, die den weiteren Behandlungsverlauf beeinflussen können. Es geht besonders darum, die Motivation des Patienten zu unterstützen. Häufig haben Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen weniger Leidensdruck und somit weniger B ­ ehandlungsmotivation, wenn sich der körperliche Zustand bessert. Gerade deswegen sollten Pflegende den Patienten immer wieder darin unterstützen, die Entgiftung zu Ende zu führen und über mögliche weitere Behandlungen nachzudenken, z. B. eine Entwöhnungstherapie. Abhängige Menschen können in ihrer Argumentation, dass sie „das Zeug nie mehr ­anfassen“, sehr überzeugend wirken. Jedoch ist es sehr u ­ nwahrscheinlich, dass Menschen, die über viele Jahre regelmäßig S ­ ubstanzmittel konsumiert haben, in einer nur kurzen Entgiftungszeit von etwa 2 Wochen komplett von ihrer Sucht Abstand nehmen können. Angehörige stärken • Der Kontakt der Pflegenden zu Angehörigen ist in dieser Zeit sehr wichtig. Menschen, die Patienten in der Entgiftung besuchen, haben i. d. R. bereits viel mitgemacht. Es ist wichtig, auch sie zu motivieren, ihre Angehörigen zu bestärken. Die Co-Abhängigkeit ist in diesem 1390 Fall ein besonderes Thema. Abhängigkeitserkrankte Menschen haben ihr Umfeld häufig schon sehr stark in ihrem Sinne beeinflusst. So ist es möglich, dass z. B. eine Frau ihren Mann deckt, weil dieser nicht in der Lage ist, zur Arbeit zu gehen. So ruft sie bei seinem Chef an und meldet ihn krank. Angehörige schämen sich oft für das Verhalten des Abhängigen und sind bemüht, dass niemand die Wahrheit herausbekommt. Pflegende sollten die Angehörigen bestärken, den abhängigen Patienten in seiner Motivation zu unterstützen und ehrlich zu sich, zum Patienten und auch zur Umwelt zu sein. Pflegende sollten auch einmal die Angehörigen fragen, wie es ihnen geht, denn vermutlich hat sich längere Zeit alles nur um den Abhängigen gedreht. Beobachten • Die Patienten sollten genau beobachtet werden. Nicht selten werden in der Not auch seltsame Wege gewählt, um die Sucht zu befriedigen. So ist es bereits vorgekommen, dass Patienten Händedesinfektionsmittel tranken, da sie wussten, dass darin Alkohol enthalten ist. Auch nach Besuchen von Angehörigen oder Freunden sollten Patienten genau beobachtet werden. Durch Manipulationen und co-abhängige Angehörige ist es durchaus möglich, dass bei einem Besuch heimlich Substanzmittel auf die Station gebracht werden. Merken Offene Ansprache Wenn Sie den Eindruck haben, dass der abhängige Patient versucht, Angehörige zu manipulieren und unter Druck zu setzen, um Alkohol oder Drogen auf die Station zu schmuggeln, sprechen Sie die Angehörigen ruhig offen darauf an. Sie sind unter Umständen sehr froh, wenn der Druck nicht mehr auf ihnen lastet. Hilfe bei Craving Gerade in der Entgiftungsphase kommt es oft zu dem sog. Craving bzw. Suchtdruck: Der Patient hat ein großes Verlangen nach seinem Substanzmittel. Beispiel Craving Frau Wolf ist 39 Jahre alt und seit 10 Jahren Alkoholikerin. Sie hat angefangen zu trinken, als ihr Freund sie mit ihrer Nachbarin betrogen hat. Nun führt sie bereits ihre dritte Entgiftung durch, bislang hat sie jedoch aufgrund ihres starken Suchtdrucks keine Behandlung durchgehalten. Sie spricht eine Pflegende an und äußert, dass sie großen Suchtdruck hat und nicht weiß, was sie dagegen tun kann. Wichtig ist, in direktem Kontakt mit Frau Wolf zu bleiben und sie in dieser Situation nicht zurückweisen. Frau Wolf möchte sich ihrem Problem stellen und sucht Hilfe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich von dem Verlangen abzulenken. Ablenkung • Wenn Frau Wolf in ihrer Situation angespannt wirkt, ist es möglich, durch Bewegung den Druck zu reduzieren. Ihr kann ein Spaziergang angeboten, mit ihr ein paar Treppen rauf- und runtergestiegen oder gefragt werden, ob sie Interesse hat, einen Mitarbeiter bei einigen ­organisatorischen Dingen zu begleiten (Post wegbringen, etwas aus dem Labor besorgen usw.). Was könnte Frau Wolf Spaß machen (▶ Abb. 65.11)? Vielleicht beschäftigt sie sich gerne mit Kreuzworträtseln, Handarbeiten, Illustrierten oder Puzzles? Vielleicht möchte sie einen Film ansehen oder Stationsdienste erledigen? Wenn Frau Wolf eine Beschäftigung findet, die sie interessiert, kann diese sie vom Suchtdruck ablenken. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Sucht und Abhängigkeit Linderung durch Reize • Oft helfen auch Reize, den Suchtdruck zu lindern. Bei Nahrungsmitteln können Süßigkeiten, scharfe Nahrungsmittel (Peperoni, Chili auf dem Essen), saures Essen (saure Gurken, Linsensuppe mit Essig) helfen. Es ist möglich, einen Eiswürfel auf die Haut zu legen oder die Reizwirkung eines Igelballs auf der Haut zu nutzen. Ebenfalls können warme/kalte Duschen Linderung verschaffen. Ein Bad mit ätherischen Ölen kann ebenfalls einen wichtigen Reiz anbieten. Hierzu können spezielle Badeöle wie Melisse oder Lavendel benutzt werden. Abb. 65.11Ablenkung bei Craving. Eigenes Verhalten reflektieren a Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Das Verhalten der Pflegenden sollte bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen stets konsequent sein. Wenn sie etwas sagen, ist es wichtig, dies auch einzuhalten. Es sollte deshalb immer vorher genau überlegt werden, was man den Patienten verspricht. Ebenso sollte vorher überlegt werden, welche Konsequenzen gegenüber den Patienten bei unangebrachtem Verhalten ausgesprochen werden. ­Ignoriert der Patient z. B. die Aufforderung, zur Medikamentenausgabe zu erscheinen, wäre es nicht angebracht zu sagen, dass er anderenfalls keine Medikamente mehr erhält, denn dies liegt nicht in der Entscheidung von Pflegenden. So wirken sie unglaubwürdig und nicht verlässlich auf den Patienten. Es ist wichtig, das eigene Verhalten und die Einstellung zu Patienten immer wieder im Teamgespräch zu reflektieren. Es ist für Pflegende notwendig, über ihre Haltung und Einstellung nachzudenken. Bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen ist ein geregeltes Nähe- und Distanzverhältnis wichtig für den Therapieerfolg. Merken Verantwortung Übernehmen Sie keine Verantwortung für die Patienten. Sie sind erwachsene Menschen, die lernen müssen, selber Verantwortung zu tragen. Machen Sie sich nicht verantwortlich, wenn Patienten die Therapie nicht fortführen. Erwachsene Menschen müssen eigene Entscheidungen treffen. b Entwöhnungstherapie Nach der erfolgreich abgeschlossenen Entgiftung entscheiden sich viele Patienten, eine Entwöhnungstherapie zu durchlaufen. Hier geht es darum, nicht nur den Körper vom Substanzmittel zu befreien, sondern auch im Kopf neue Strukturen zu schaffen. Der Patient soll lernen, langfristig ohne den Alkohol zu leben. Im Vergleich zu vielen anderen Krankheiten muss der Patient mit einer Suchterkrankung motiviert werden, für sein Verhalten, für seine Entscheidungen und für sein ganzes Leben aktiv und langfristig Verantwortung zu übernehmen. Viele Abhängige haben sich in eine passiv-abhängige Rolle begeben, um keine negativen Konsequenzen zu erleben und Probleme zu vermeiden. Es ist leichter, wenn der Chef nicht nett ist, die Kollegen mobben, die Bank einen Fehler gemacht hat usw., denn der Patient kann „doch selber nichts dafür“. Pflegende sollten mit dem Patienten über seine Abstinenzabsichten sprechen, da bei alkoholabhängigen Menschen die Rückfallgefahr im Alltag hoch ist. Eine geregelte Tagesstruktur ist sehr wichtig für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. In der Klinik wird diese sehr strukturiert vorgegeben. Pflegende sollten den Patienten motivieren, diese Struktur einzuhalten. Wenn er sich bereits in der Klinik an eine geregelte Struktur gewöhnt, fällt es ihm im Alltag leichter, diese beizubehalten. c Es gibt unzählige Arten von Beschäftigungen, die vom Suchtdruck ablenken können. a Tischfußball. b Malen. c Kartenspiele. 1391 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Alkoholtest, Drogenscreening Wenn ein Rückfall vermutet wird, ist es sinnvoll, einen Alkoholtest oder ein Drogenscreening durchzuführen. Dabei ist die Anleitung genau zu beachten, da die Geräte und Screenings häufig sehr sensibel reagieren (▶ Abb. 65.12). Ebenfalls sollte auf der Station ein Konsens darüber bestehen, ob die Patienten von gleichgeschlechtlichen Pflegenden zur Toilette begleitet werden, damit das Screening nicht verfälscht werden kann. Im Internet sind vielfältige Mittel erhältlich, mit denen Drogentests angeblich manipuliert werden können. Pflegende müssen sich nicht vor dem Patienten rechtfertigen, warum sie die Kontrolle durchführen, auch wenn sie diesbezüglich infrage gestellt werden („Trauen Sie mir denn überhaupt nicht?“). Es ist allgemein üblich, in einer Behandlung Tests durchzuführen und darauf müssen sich Patienten in einer Entzugsbehandlung einstellen. Abb. 65.12Drogenscreening. Zu den pflegerischen Aufgaben gehört es, Urinproben für einen Drogentest vorzubereiten. Rehabilitation Die Wiedereingliederung, die sich stationär, teilstationär oder ambulant an die Entwöhnungsphase angliedern kann, befasst sich hauptsächlich mit dem Ziel, wieder in ein geregeltes berufliches und soziales Leben zurückzufinden. In der Regel sind in dieser Phase jedoch wenige Pflegende tätig, da die Aufgaben primär in das Tätigkeitsfeld von Sozialarbeitern fallen. WISSEN TO GO ●● Entgiftung: der körperliche Entzug wird bewältigt, Medikamente schützen vor Entzugssymptomen. In dieser Phase ist wichtig: ––bessert sich der körperliche Zustand, besteht weniger Behandlungsmotivation → Motivation des Patienten weiter unterstützen ––Angehörige bestärken, den Patienten zu unterstützen ––Patienten genau beobachten ––bei Craving Ablenkung durch Bewegung/Beschäftigung oder Linderung durch Reize anbieten ●● Entwöhnung: Der Patient lernt, langfristig ohne Alkohol zu leben und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Eine geregelte Tagesstruktur ist sehr wichtig. ●● Rehabilitation: wieder in ein geregeltes berufliches und soziales Leben zurückfinden Pflegebasismaßnahmen und ­Beobachtungskriterien In der Entgiftung müssen die Vitalfunktionen des Patienten genauestens überwacht werden. Der Körper des Patienten befindet sich in einem Ausnahmezustand – dem körperlichen Entzug. Häufig besteht zudem eine Mangel- und Fehl­ ernährung. Der Entzug wird zwar i. d. R. mit Medikamenten unterstützt, dennoch kann es zu verschiedenen Komplikationen und Entzugssymptomen kommen. Pflegende sollten in Kontakt mit dem Patienten bleiben und regelmäßig nach seinem Befinden fragen. Auch Suizidgedanken sind möglich, deshalb ist es wichtig, auch in diesem Bereich sehr sensibel wahrzunehmen. Jede Auffälligkeit sollte dokumentiert werden. Folgende Symptome können auftreten: ●● psychische Entzugssymptome: ––Angstzustände ––Aggressivität ––depressive Verstimmung ––Nervosität ––Konzentrationsschwäche ––Halluzinationen ––Orientierungsstörungen ––Suizidgedanken ●● somatische Entzugssymptome: ––Frieren, Schwitzen ––Zittern, Tremor ––epileptische Anfälle ––Herz-Kreislauf-Probleme (insbesondere bei älteren Patienten Sturzrisiko beachten) ––Schlafstörungen ––Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen ––Kopfschmerzen ACHTUNG Sucht und Abhängigkeit – Therapie Man unterscheidet zwischen substanzgebundenen Ab­ hängigkeiten (Alkohol, Medikamente, Drogen) und nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten (Spielsucht, Arbeitssucht, Internetsucht). Die Alkoholabhängigkeit ist durch das starke Verlangen nach Alkohol, die fehlende Selbstkontrolle und die sich stetig steigernde Trinkmenge definiert. Die Behandlung gliedert sich in 3 Phasen. 1392 Insbesondere schwere Entzugssymptome können auf ein Alkoholdelir (Delirium tremens) hinweisen. In diesem Fall klagen Patienten häufig über Halluzinationen: optisch, z. B. kleine Tiere; akustisch, z. B. Stimmen. Die Patienten wirken desorientiert oder bewusstseinsgetrübt. Weitere Zeichen sind unter anderem motorische und psychische Unruhe (Agitiertheit), Tremor, Schwitzen, starkes Zittern und Blutdruckkrisen. Wenn Sie diese Symptome wahrnehmen, informieren Sie umgehend einen Arzt. In diesem Zustand des Prädelirs kann der lebensbedrohliche Zustand eines Alkoholdelirs noch abgewendet werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Sucht und Abhängigkeit WISSEN TO GO Sucht und Abhängigkeit – Beobachtungskriterien und Pflegebasismaßnahmen In der Entgiftung müssen die Vitalfunktionen überwacht und der Patient genau beobachtet werden, um Komplikationen und Entzugssymptome zu erkennen. Auch Suizidgedanken sind möglich. Es können psychische Entzugssymptome (z. B. Angstzustände, Aggressivität, Halluzinationen, Orientierungsstörungen, Suizidgedanken) und somatische Entzugs­ symptome (z. B. Frieren, Schwitzen, Tremor, epileptische Anfälle, Herz-Kreislauf-­Probleme) auftreten. Schwere Entzugssymptome können auf ein Alkoholdelir hinweisen. Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung haben i. d. R. Schwierigkeiten, ihren Alltag zu gestalten und für sich zu sorgen, z. B. durch regelmäßige Körperpflege. Pflegende eruieren, ob Unterstützung benötigt wird. Informieren, Schulen, Beraten Die wichtigsten Beratungsaspekte bei Menschen mit Sucht­ erkrankungen in der Phase der Entgiftung sind: ●● Aufklärung des Patienten in Zusammenarbeit mit dem ­behandelnden Arzt über Symptome des körperlichen Entzugs und ggf. die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahme von unterstützenden Medikamenten. ●● Im Fall eines akuten Suchtdrucks sollte der Patient zu Strategien beraten werden, die ihm bei der Bewältigung des Verlangens helfen können, z. B.: ––Gespräche mit dem Personal oder Vertrauenspersonen ––Ablenkung durch eine vom Patienten als angenehm empfundene und auf der Station durchführbare Tätigkeit, z. B. die Übernahme des Küchendiensts oder Hobbys wie Lesen, Kreuzworträtseln oder Gesellschaftsspiele ––Abbau körperlicher Unruhe durch Bewegung, z. B. durch die Teilnahme an Sportangeboten, Treppensteigen oder einen begleiteten Spaziergang an der frischen Luft ––ablenkende Reize setzen, z. B. durch ein Aromabad, scharfes Essen oder Abkühlen durch kaltes Wasser im Gesicht ––Entspannung durch beruhigende Teemischungen oder Aromatherapie ––Motivation zur Beeinflussung negativer Gedanken durch positive Gedanken: „Ich kann stolz auf mich sein, ich habe bereits 3 Tage ohne den Konsum von Drogen durchgehalten. Ich schaffe das!“ ––Vermeidung von Gesprächen, in denen es um die positiven Erlebnisse des Drogenkonsums geht Nach der Entgiftung sind im Rahmen der Rehabilitation und Entwöhnung abhängiger Menschen noch weitere Beratungs­ aspekte wichtig: ●● Der Patient sollte über die Risikofaktoren eines Rückfalls aufgeklärt werden, z. B. ––die Nähe zu konsumierenden Personen ––der Besitz und die Verfügbarkeit von Substanzmitteln ●● Der Patient sollte über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Umsetzung einer sinnvollen Tagesstruktur mit regelmäßiger Beschäftigung und Kontakten zu Mitmenschen beraten werden. ●● Dem Patienten sollten regelmäßige Gespräche angeboten werden, in denen er Dinge, die ihn b ­ eschäftigen, ­thematisieren kann. Insbesondere Emotionen und Probleme können so besprochen werden. ●● Er sollte vermittelt werden, dass Vertrauenspersonen im sozialen Umfeld notwendig sind. ●● Entsprechende Hilfsangebote (auch stationär) sollten dem Patienten aufgezeigt werden, z. B. Selbsthilfegruppen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Körperpflege • Patienten, die mit einer Abhängigkeitserkrankung in eine stationäre Behandlung kommen, haben i. d. R. Schwierigkeiten, ihren Alltag zu gestalten und für sich Sorge zu tragen. Dazu gehört häufig auch die regelmäßige Körperpflege. Deshalb ist es wichtig, nach der Aufnahme mit dem Patienten über die vorhandenen Pflegeprodukte zu sprechen. Besitzt der Patient alles Notwendige, z. B. eine Zahnbürste, Zahnpasta, Duschgel? Der Patient sollte nach seiner Selbsteinschätzung gefragt werden. Wird Unterstützung benötigt, oder ist der Patient zur eigenverantwortlichen Körperpflege in der Lage? Für viele Patienten ist die Körperpflege ein schambehaftetes Thema, bei dem sie nicht gerne Hilflosigkeit zugeben. Deshalb ist es wichtig zu beobachten, ob die Patienten gepflegt wirken. Pflegende sollten den Patienten ruhig darauf ansprechen, wenn sie das Gefühl haben, dass sich der Patient z. B. nie die Zähne putzt. Mitunter müssen sich Abhängigkeitserkrankte in stationären Behandlungen erst wieder an Strukturen und Regelmäßigkeiten gewöhnen. Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung Beschäftigung • Es ist wichtig, dass Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen neben einer beruflichen Tätigkeit Beschäftigungen finden, die ihnen Freude bereiten und die von Suchtgedanken ablenken. Durch Gespräche können Pflegende herausfinden, an welchen Aktivitäten ihre Patienten ­Interesse haben. Sie sollten ihre Patienten bei der Kontaktaufnahme unterstützen, z. B. zu Fitnessstudios, Volkshochschulen, Tanzkursen, Sportvereinen (eine Übersicht über örtliche Sportvereine ist beim Landessportbund zu finden). Dabei sind der Kreativität der Pflegenden keine Grenzen gesetzt. Sie sollten aber beachten, dass sie nicht nur die Angebote in Erwägung ziehen, die sie für die geeignetsten halten. Der Patient ist der Experte seines Lebens und sie sollten ihn in seiner Wahl unterstützen. Selbsthilfegruppen • Für viele Patienten sind Selbsthilfegruppen eine sehr wirksame Unterstützung. In nahezu jeder Stadt gibt es Ansprechpartner von den „Anonymen Alkoholikern“, dem „Blauen Kreuz“ oder anderen, die unter Umständen auch in die Klinik kommen, um mit dem Betroffenen ein erstes Gespräch zu führen. Spezielle Selbsthilfegruppen für Menschen mit Drogenabhängigkeit oder Spielsucht sind bei den örtlichen Drogenberatungsstellen bekannt. In örtlichen Tageszeitungen werden verschiedene Angebote und Treffpunkte veröffentlicht. Pflegende können ihre Patienten bei der Kontaktaufnahme zu solchen Gruppen unterstützen. In der Regel bieten Selbsthilfegruppen auch Unterstützungsangebote für Angehörige an. Diese können durch den Kontakt zu anderen Betroffenen entlastet werden, aber auch durch wichtige (Verhaltens-)Informationen die alkoholabhängigen Angehörigen unterstützen. Ernährung • Pflegende sollten mit dem Patienten über Ernährungsgewohnheiten sprechen. In vielen Lebensmitteln finden sich versteckte Alkohole oder Alkoholaromen (z. B. Rumaroma), die nicht kennzeichnungspflichtig sind. Die Verköstigung solcher Lebensmittel kann bei einem abhängigen Menschen zu einem Rückfall führen. Über derartige Lebensmittel geben Selbsthilfegruppen Auskünfte oder es 1393 Pflege bei Erkrankungen der Psyche kann im Internet recherchiert werden. Getränke dürfen sich z. B. „alkoholfrei“ nennen, wenn weniger als 0,5% Alkohol darin enthalten ist. Abstinent lebende alkoholabhängige Menschen sollten diese Getränke jedoch meiden. Die geschmackliche Nähe von alkoholhaltigem Bier zu „alkoholfreiem“ Bier kann z. B. zu einem Rückfall führen. Auch in Medikamenten wie Hustentropfen ist häufig Alkohol enthalten. Hier sollten sich die Patienten in Apotheken oder bei ihrem Arzt über die Zusammensetzung informieren. Notfallplan • Wichtig ist, dass sich alkoholabhängige Menschen bereits vor einem möglichen Rückfall Gedanken darüber machen, was in diesem Fall passiert. Ein Notfallplan, auf den in einer Krisensituation zurückgegriffen werden kann, sollte schon vorher überdacht und bestenfalls schriftlich festgehalten sein. Wenn in dem Notfallplan der Kontakt zu anderen Personen vorgesehen ist, sollten auch diese darüber informiert werden, damit sie in einer Krisensituation adäquat reagieren können. WISSEN TO GO Sucht und Abhängigkeit – Informieren, Schulen, ­Beraten Beratungsaspekte in der Phase der Entgiftung: ●● Aufklärung über Symptome des Entzugs und unterstützende Medikamente ●● Bewältigung des Suchtdrucks Beratungsaspekte im Rahmen von Entwöhnung und Rehabilitation: ●● Aufklärung über die Risikofaktoren eines Rückfalls ●● Notwendigkeit einer Tagesstruktur und von Sozialkontakten ●● Notwendigkeit von Gesprächen insbesondere über Emotionen und Probleme ●● Beschäftigung: Neben einer beruflichen Tätigkeit sollen Beschäftigungen Freude bereiten und von Suchtgedanken ablenken. ●● Selbsthilfegruppen: Für viele Patienten (und Angehörige) sind sie sehr hilfreich. ●● Notfallplan: bereits vor einem möglichen Rückfall (schriftlich) Gedanken darüber machen, was in diesem Fall passiert 65.6.2 Anorexie fühlen. Die Betroffenen haben das Gefühl, unzulänglich und ineffektiv zu sein, was durch die Essstörung kompensiert werden soll. Aber auch die Gesellschaft trägt zur Entwicklung bei: Schlankheit ist in den Medien und der Werbung das Symbol für Karriere, Erfolg, Lebensfreude und Aktivität. So ist der erste Schritt zur Magersucht oft eine Diät. Über den Körper und den Hunger „zu siegen“ kann sehr befriedigend sein – zumal das Selbstwertgefühl auch durch positive Rückmeldungen verstärkt wird („Du siehst aber gut aus! Hast Du abgenommen?“). Daneben können einer Magersucht auch psychisch stark belastende Ereignisse als Ursachen zugrunde liegen: So kann z. B. ein sexueller Missbrauch Essstörungen auslösen. Therapie und Pflege Beispiel Anorexie Die 16-jährige Christina wird auf der Station aufgenommen. Sie wirkt deutlich untergewichtig. Im Aufnahmegespräch äußert sie, dass sie keine Notwendigkeit für die Aufnahme sehe, aber aufgrund des Drucks ihrer Eltern diesen Aufenthalt durchführe. Sie fühlt sich trotz einer deutlichen Gewichtsabnahme von 14 kg im letzten halben Jahr zu dick, deshalb hat sie ihre Ernährung auf 2 Äpfel, 2 Tomaten und 1 Gurke pro Tag reduziert (▶ Abb. 65.13). Pflegende sollten offen und wertschätzend auf die Patientin zugehen. Um eine positive professionelle Beziehung zu ermöglichen, sollten sie sie nicht belehren und nicht versuchen, ihr Verhalten infrage zu stellen. Die Patientin wird sich ertappt, angegriffen oder unverstanden fühlen und sie als Gegner wahrnehmen. Pflegende sollten Interesse an der Person zeigen. Hier liegt oftmals ein Problem von Menschen mit Essstörungen. Sie fühlen sich in der Gesellschaft nicht gesehen und wahrgenommen, was mit einem geringen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein einhergeht. Dies kann bis hin zu suizidalen Gedanken gehen, was stets berücksichtigt werden sollte. Da die Anorexie mit Mangelerscheinungen einhergeht, ist eine genaue Patientenbeobachtung sehr wichtig: Gibt es Anzeichen für Elektrolytstörungen (S. 1060)? Gibt es Anzeichen für Vitamin- und Mineralstoffmangel, z. B. Anämie, Müdigkeit und Atemnot bei Eisenmangel, Muskelkrämpfe bei Kalzium- und Phosphatmangel? Verbindliche Vereinbarungen • Anorektische („magersüchtige“) Jugendliche beschäftigen sich i. d. R. sehr stark mit der reAbb. 65.13Essen. Grundlagen Definition Anorexie Die Anorexie (Magersucht) ist ein absichtlich herbeigeführter Gewichtsverlust. Die Betroffenen haben massive Angst vor einer Gewichtszunahme. Trotz der Abmagerung erleben sie sich als zu dick, leiden also unter verzerrtem Selbsterleben und einer Körperschemastörung. Es fehlt die Krankheitseinsicht. Das extreme Untergewicht führt auch zu körperlichen Symptomen. Für die Entstehung einer Magersucht sind viele verschiedene Faktoren entscheidend. Psychologisch betrachtet, liegt der Anorexie ein seelischer Konflikt zugrunde. Kinder erkranken sehr häufig in der Pubertät an Magersucht – die Essstörung kann dann ein Ausdruck dafür sein, dass sich die Betroffenen durch die alterstypischen Anforderungen überfordert 1394 Menschen mit Anorexie reduzieren ihre tägliche Nahrungsaufnahme auf ein Minimum. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Belastungs- und ­Anpassungsstörungen Nahrungsaufnahme • In der pädagogisch-pflegerischen Arbeit mit Christina begleiten die Bezugspflegenden die Nahrungsaufnahme sehr eng. Dazu gehören insbesondere die Häufigkeit der Nahrungsaufnahme und die Auswahl der Nahrungsmittel. Da essgestörte Patienten i. d. R. eine negative Haltung gegenüber der Nahrungsaufnahme haben, ist die Esskultur wichtig. Die Mahlzeiten sollten gemeinsam zubereitet und appetitlich auf dem Teller angerichtet werden. Die Nahrungsaufnahme sollte begleitet und darauf geachtet werden, ob sich Christina an die Vereinbarungen hält und die vorgesehene Nahrung tatsächlich zu sich nimmt. Diskussionen über die Nahrung sollten vermieden und auf die Vereinbarung verwiesen werden. Wiegezeiten • Christina sollte sich nicht jeden Tag wiegen, sondern nur an einem festen Tag in der Woche zu einer bestimmten Uhrzeit, z. B. Montags morgens vor dem Frühstück. Pflegende sollten sich diesbezüglich nicht auf Diskussionen einlassen und sich auf die Vereinbarung berufen. Positives Feedback • Die Bezugspflegenden sollten versuchen, zu Christina eine tragfähige professionelle Beziehung aufzubauen. In regelmäßigen Bezugsgesprächen ­können sie positives Feedback zu Therapiefortschritten geben. Dieses Feedback ist sehr wichtig für Patienten mit Essstörungen, da sie i. d. R. sowohl unter einem verzerrten Selbstbild als auch unter einem negativen Selbstbewusstsein leiden. Die Patientin sollte motiviert werden, die Therapie ernst zu nehmen und durchzuhalten. Da Menschen mit Anorexie häufig sehr zielstrebig und leistungsbewusst sind, können kleinere Aufgaben innerhalb des S ­tationsalltags zu Erfolgserlebnissen führen und das Selbstbewusstsein langfristig steigern. Einbezug der Angehörigen • Auch der Umgang mit den Angehörigen ist ein wichtiges Thema im therapeutisch-pflegerischen Prozess. In der Regel werden die jungen Patienten nach ihrer Entlassung wieder in das Elternhaus zurückkehren. Deshalb ist es wichtig, ein gegenseitiges Verständnis zu fördern. Positive Anerkennung seitens der Angehörigen ist für die Entwicklung der Patienten sehr wichtig. Pflegende sollten die Kontakte begleiten, wenn Eltern ihre Kinder für Besuche oder Beurlaubungen abholen und für kurze Gespräche bereitstehen. So lernen sie auch die Eltern besser kennen und können die Kommunikation zwischen Eltern und Kind besser einschätzen. Pflegende sollten den Angehörigen vermitteln, dass es wichtig ist, auch zu Hause verbindlich an den Plänen weiterzuarbeiten. Da häufig die Krankheit eine zentrale Rolle gespielt hat, sollten Pflegende mit Angehörigen über Beschäftigungsalternativen sprechen, die die Be- ziehung zu Christina fördern. Dazu können z. B. gemeinsame Ausflüge oder Gesellschaftsspiele g ­ ehören. WISSEN TO GO Anorexie Die Magersucht ist ein absichtlich herbeigeführter Gewichtsverlust. Trotz der Abmagerung erleben sich die Betroffenen als zu dick (verzerrtes Selbsterleben). Psychologisch betrachtet, liegt ein seelischer Konflikt zugrunde. Der erste Schritt zur Magersucht ist oft eine Diät. Therapie und Pflege Pflegende sollten offen und wertschätzend auf die Patienten zugehen, sollten sie nicht belehren und nicht versuchen, ihr Verhalten infrage zu stellen. Sie sollten Interesse an der Person zeigen, die häufig ein geringes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein hat. Suizidale Absichten sind möglich. ●● Verbindliche Vereinbarungen: Ein „Therapievertrag“ hat einen hohen Stellenwert. ●● Nahrungsaufnahme: wird sehr eng begleitet ●● Wiegezeiten: an einem festen Tag zu einer festen Uhrzeit ●● Positives Feedback: in regelmäßigen Bezugsgesprächen positives Feedback zu Therapiefortschritten geben ●● Angehörige: Positive Anerkennung seitens der Angehörigen ist für die Entwicklung der Patienten sehr wichtig. Pflegende sollten den Angehörigen vermitteln, dass es wichtig ist, auch zu Hause verbindlich an den Plänen weiterzuarbeiten. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. duzierten Nahrungsaufnahme und versuchen, diese durch starken Willen und konsequentes Handeln immer weiter zu reduzieren. Anorektische Jugendliche sind geübt im „Schwindeln“. Sie haben über längere Zeit ihr privates Umfeld getäuscht und können sehr „kreativ“ werden, um sich nicht an Absprachen halten zu müssen. Oder sie verstecken Nahrungsmittel, die sie eigentlich essen sollten, beschweren die Kleidungsstücke beim Wiegen. Verbindliche Vereinbarungen mit den Patienten haben in der Arbeit mit den sehr strukturierten Patienten einen hohen Stellenwert. In einem gemeinsamen Gespräch mit allen Beteiligten, auch den Angehörigen, werden ein Therapieplan und die individuelle Zielsetzung erarbeitet. Dieser kann als „Therapievertrag“ formuliert werden. Durch die Unterschrift des Patienten wird die Verbindlichkeit und das Einverständnis hervorgehoben. 65.7 Belastungs- und ­Anpassungsstörungen Belastungs- und Anpassungsstörungen treten nach krisenhaften Erlebnissen auf, wenn diese nicht verarbeitet werden können. Man unterscheidet vor allem akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Es handelt sich bei allen Formen um eine Reaktion auf ein Ereignis, das als sehr heftig erlebt wird oder über einen längeren Zeitraum stattfindet: z. B. traumatische Erlebnisse wie Vergewaltigungen, schwere Unfälle oder Katastrophenerlebnisse; kritische Lebensereignisse wie, vom Partner verlassen zu werden, oder der Verlust nahestehender Menschen, aber auch Übergänge im Lebenslauf wie ein Umzug alleine in eine fremde Stadt oder eine Kündigung der Arbeitsstelle. Angehörige bestimmter Berufsgruppen haben ein erhöhtes Risiko zu erkranken, z. B. Rettungssanitäter, Feuerwehrmänner, Soldaten, Pflegende. Definition Belastungs- und A ­ npassungsstörungen Belastungs- und Anpassungsstörungen sind starke emotionale Reaktionen auf ein belastendes Ereignis. Die sog. akute Belastungsreaktion wird landläufig als „Nervenzusammenbruch“ bezeichnet. Am häufigsten ist die sog. posttraumatische Be­ lastungsstörung (PTBS), z. B. nach einer Vergewaltigung, einer ­Naturkatastrophe oder einem schweren Unfall. 1395 65 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.7.1 Akute Belastungsreaktionen Sie treten innerhalb von 5–60 Minuten nach einem Ereignis auf. Oft beschreiben Betroffene im Nachhinein ein „betäubtes“ Gefühl und berichten, von ihrem Handeln selber nichts mitbekommen zu haben. Die Aufmerksamkeit und die Entscheidungsfähigkeit sind in diesem Zustand meist gemindert, körperliche Symptome wie Zittern oder Schwitzen treten auf. Mitunter werden in diesem Zustand Suizidversuche durchgeführt. Meist ist jedoch eine psychiatrische Intervention nicht zwingend notwendig, da die Symptome nach wenigen Tagen wieder abklingen. Pflegende sollten ruhig mit dem Patienten sprechen, Sicherheit vermitteln und eine emotionale Entlastung in Form von Gesprächen anbieten. der Therapie ist, und eine Ahnung über den emotionalen Zustand des Patienten bekommen. Integrationsphase • In dieser geht es darum, alltagspraktische Fähigkeiten wieder zu erwerben, soziale Bezüge (wieder-)herzustellen und den Alltag bestreiten zu können (▶ Abb. 65.14). In dieser Phase kennen Pflegende den Patienten schon relativ gut. Sie sollten ihn in seinen Ressourcen bestärken und dabei unterstützen, in die Zukunft blicken zu können und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Abb. 65.14Integrationsphase. Sie treten nach wenigen Tagen bis maximal einem Monat nach dem belastenden Ereignis auf und dauern bis zu 6 Monate. Anpassungsstörungen beziehen sich auf veränderte Lebensbedingungen wie Verlust des Partners, Trennung oder unfreiwilliger Umzug in eine fremde Umgebung. Häufig sind Antidepressiva oder schlaffördernde Medikamente erforderlich. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Patienten ist notwendig, um die Ursache nachvollziehen zu können. Der Patient benötigt in dieser Situation Verhaltens­ alternativen, die Pflegende zusammen mit ihm erarbeiten können. Wie kann die Trauer bewältigt werden? Was kann ihm helfen? Vielleicht können Selbsthilfegruppen oder eine ambulante Psychotherapie dabei unterstützen, wieder im Alltag zurechtzukommen. 65.7.3 Posttraumatische ­Belastungsstörung Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt sich schleichend nach dem Ereignis und kann um bis zu 6 Monate verzögert auftreten. Patienten haben Symptome wie Schreckhaftigkeit, Teilnahmslosigkeit, Rückzug und Schlafstörungen. Oftmals treten sog. „Flash Backs“, also wiederholte starke Erinnerungen an das traumatische Erlebnis auf. Nach einem solchen „Flash Back“ sollten Pflegende mit dem Patienten darüber sprechen, was ihn ausgelöst haben könnte. Derartige Auslöser (Trigger) sollten bestenfalls zunächst vermieden werden. Stabilisierungsphase • Zunächst ist eine Stabilisierungsphase notwendig, in der die Symptome bearbeitet werden. Der Patient sollte nicht bedrängt werden, über seine Erlebnisse oder Erfahrungen zu reden. Er muss sich in seiner aktuellen Situation zurechtfinden und benötigt dazu Ruhe. Pflegende sollten regelmäßig Gespräche anbieten, in denen sie nur für den Patienten Zeit haben. Diese Wertschätzung ist nach einem traumatischen Erlebnis sehr wichtig. Der Patient bestimmt, worüber er reden möchte. Pflegende sollten dem Patienten dabei nicht zu nahe kommen. Körperkontakt und sehr enges Sitzen sollten tabu sein. Die Patienten sollten motiviert werden, aktiv an der Therapie teilzunehmen. Bearbeitungsphase • Nach der Stabilisierungsphase findet die Bearbeitungsphase des Traumas statt, in der Pflegende den Patienten weiterhin sehr sensibel begleiten. Es ist wichtig, dass sie in engem Gesprächskontakt zu dem Therapeuten bleiben, damit sie wissen, was gerade Bestandteil 1396 In der Integrationsphase geht es darum, alltagspraktische Fähigkeiten (wieder) zu erwerben. WISSEN TO GO Belastungs- und Anpassungsstörungen Sie treten nach krisenhaften Erlebnissen auf, wenn diese nicht verarbeitet werden können. ●● Akute Belastungsreaktionen: innerhalb von 5–60 Minuten nach einem Ereignis; Aufmerksamkeit und Entscheidungsfähigkeit sind meist gemindert, körperliche Symptome sind Zittern oder Schwitzen. Mitunter kommt es zu Suizidversuchen. Meist klingen die Symptome nach wenigen Tagen ab. ●● Anpassungsstörungen: nach wenigen Tagen bis maximal einem Monat nach dem Ereignis; dauern bis zu 6 Monate ●● Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): entwickelt sich schleichend nach dem Ereignis und kann um bis zu 6 Monate verzögert auftreten. Symptome sind Schreckhaftigkeit, Teilnahmslosigkeit, Rückzug und Schlafstörungen, oftmals treten sog. „Flash Backs“ auf. Therapie und Pflege ●● Stabilisierungsphase: Die Symptome werden bearbeitet. Der Patient bestimmt, worüber er reden möchte. Körperkontakt und enges Sitzen sollten tabu sein. ●● Bearbeitungsphase: Der Patient wird weiterhin sensibel begleitet und beim Therapeuten werden die Therapiephase und der emotionale Zustand des Patienten erfragt. ●● Integrationsphase: Hier geht es v. a. um alltagspraktische Fähigkeiten und soziale Bezüge. Der Patient wird in seinen Ressourcen bestärkt und dabei unterstützt, in die Zukunft zu ­blicken. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65.7.2 Anpassungsstörungen Angst- und ­Zwangsstörungen 65.8 Angst- und ­Zwangsstörungen Häufig müssen Angst- und Zwangspatienten zunächst lernen, dass es sich um eine „richtige“ Krankheit handelt, die ernst genommen wird und die die gleiche Berechtigung auf eine Behandlung hat wie jede andere Krankheit auch. 65.8.1 Grundlagen Angst schützt den Menschen vor Gefahren. Setzt sich z. B. eine Wespe auf die Hand, zucken die meisten Menschen unwillkürlich zusammen. Das hängt damit zusammen, dass sie sich vor einer Gefahr schützen wollen. Nimmt diese Angst jedoch eine sehr ausgeprägte Form an, die erhebliche Einschränkungen für das alltägliche und soziale Leben mit sich bringt, wird von einer Angststörung gesprochen. Abb. 65.15Zwangsstörungen. Definition Angststörungen Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Man unterscheidet situationsbezogene von situationsunabhängigen Angststörungen. Bei der situationsbezogenen Angst (= ­Phobie) versucht der Betroffene, die angstauslösende Situation zu vermeiden. Ist dies nicht möglich, leidet er an großer Furcht. Die situationsunabhängige Angst tritt auf, ohne dass es einen Auslöser oder eine bestimmte Situation gibt, die die Angst auslöst. Wenn die Angst lange anhält, bezeichnet man sie als generalisierte Angststörung. Tritt die Angst plötzlich und unverhofft auf, handelt es sich um eine Panikstörung. Angststörungen können unterschiedliche Ausmaße annehmen. Patienten mit Phobien haben häufig noch die Möglichkeit, angstauslösende Situationen zu umgehen, z. B. können sie mit dem Zug in den Urlaub fahren, wenn sie Angst vor dem Fliegen haben. Menschen mit generalisierten Angststörungen haben diese Möglichkeit oft nicht und vermeiden deshalb z. B. soziale Kontakte oder sind nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen. Definition Zwangsstörung Die Zwangsstörung ist eine Krankheit, bei der Patienten durch immer wiederkehrende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gequält werden, z. B. Kontrollzwang, Waschzwang, Zählzwang oder Ordnungszwang (▶ Abb. 65.15). Diese Zwangshandlungen folgen meist immer demselben Muster. Der Versuch, Widerstand dagegen zu leisten, führt zu starker Angst und innerer Unruhe. Zwangshandlungen werden von den Betroffenen durchgeführt, um ein befürchtetes Unheil abzuwenden. Meist ist den Patienten die Sinnlosigkeit der Zwänge bewusst. Die Hände zu waschen oder zu kontrollieren, ob die Herdplatte ausgeschaltet wurde, bevor man das Haus verlässt, ist wichtig. Menschen mit Zwangsstörungen führen diese Vorgänge jedoch extrem häufig aus und können an nichts anderes mehr denken. Die Ausmaße, die diese Zwangsstörungen annehmen können, bis der Patient mit seiner Situation nicht mehr zurechtkommt, sind i. d. R. enorm. Häufig sind Menschen mit Angst- und Zwangsstörungen unsichere Persönlichkeiten, die sich für ihre Krankheit schämen, da die Symptome das Leben massiv beeinträchtigen. So dauert es möglicherweise Stunden, bis ein Betroffener mit einer Zwangserkrankung das Haus verlassen kann. Im schlimmsten Fall ist er dazu gar nicht mehr in der Lage, weil er nicht aufhören kann, daran zu denken, ob die Herdplatte auch wirklich ausgeschaltet ist. Pflegende sollten deshalb sehr behutsam auf die Patienten zugehen. Diese werden unter Umständen das erste Mal erleben, dass sie wegen ihrer Störung nicht belächelt oder ausgegrenzt werden. Ein Vertrauensverhältnis ist eine wichtige Basis, um den Patienten bei der Therapie zu unterstützen. Menschen mit Zwangsstörungen führen bestimmte Handlungen immer und immer wieder in demselben Muster aus. 1397 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.8.2 Therapie und Pflege Neben einer evtl. kurzfristigen pharmakologischen Be­ handlung werden verhaltenstherapeutische Interventionen durchgeführt. Der betroffene Patient muss lernen, sich mit seinen angst- oder zwangsbesetzten Situationen auseinanderzusetzen. Doch bereits davor hat der Patient i. d. R. Angst. Diese Angst äußert sich nicht nur psychisch, sondern auch physisch mit veränderten Körperfunktionen wie Schwitzen oder erhöhtem Puls und veränderten Körperwahrnehmungen wie Erstickungs- oder Engegefühlen in der Brust. Diese Symptome nimmt der Patient wahr und macht sich darüber Gedanken, was wiederum die Angst schürt. Ein Kreislauf entsteht, aus dem der Patient selber schlecht ausbrechen kann. Aus diesem Kreislauf heraus können Panikattacken entstehen, die bis zur Todesangst gehen können. Panikattacke Befindet sich ein Patient in einer Panikattacke, sollten ­Pflegende ihm nicht erläutern, dass seine Angst völlig unbegründet ist. Dies wird er weder so wahrnehmen noch empfinden. Es ist wichtig, den Patienten zunächst von seinen als bedrohlich erlebten Reizen abzuschirmen. Pflegende sollten mit dem Patienten in eine ruhige und reizarme Umgebung gehen und beruhigend auf ihn einwirken. Sie sollten in kurzen und knappen Sätzen sprechen, da sich Patienten in diesem Zustand nicht gut konzentrieren können. Sie sollten versuchen, mögliche Selbsthilfefähigkeiten des Patienten zu aktivieren: „Was hilft Ihnen sonst in so einer Situation?“ Weiterhin können dem Patienten Möglichkeiten zur Ablenkung angeboten werden, z. B. ein Spaziergang oder Entspannungsübungen. Manchmal ist der sensomotorische Kontakt hilfreich. Der Patient wird gebeten, beide Füße fest auf den Boden zu stellen, um die Bodenhaftung bzw. die Sitzfläche des Stuhls zu spüren. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit umfokussiert wird, ist der Patient abgelenkt. Ist die Panikattacke vorüber, ist es wichtig, sie gemeinsam mit dem Patienten zu reflektieren. Welche Situation hat dazu geführt? An welcher Stelle kann beim nächsten Mal früher interveniert werden? Was könnte ein Notfallplan für eine zukünftig nahende Panikattacke sein? Verhaltenstherapie In der Therapie arbeiten Pflegende sehr eng mit dem Therapeuten zusammen. Die Pflegeplanung und die Planung der therapeutischen Ziele sollten in eine gemeinsame Richtung führen. Hat ein Patient z. B. einen Waschzwang und muss sich nach jedem Kontakt mit Gegenständen 4-mal die Hände waschen, geht es darum, zunächst herauszufinden, was den Patienten dazu bewegt. Hat er Angst vor Infektionen oder Keimen? Fühlt er sich sonst nicht reinlich genug? Pflegende sollten versuchen, den Patienten und seine Beweggründe zu verstehen. In Absprache mit dem Therapeuten geht es dann darum, die Zahl der Waschungen zu verringern. Was passiert, wenn sich der Patient weniger als 4-mal die Hände wäscht? Äußert sich das in einem Gefühl starker Angst? In der Therapie mit angst- und zwangsgestörten Patienten geht es häufig um praktisches Ausprobieren und A ­ ustesten. Um den Patienten dazu zu ermutigen, ist eine vertrauensvolle Basis notwendig. Die enge Begleitung durch die ­Bezugspflegekraft ist für den Patienten wichtig, um eine sichere Basis zu haben, wenn er sich auf ein für ihn „gewagtes“ Terrain begibt. 1398 Merken Ausprobieren Drängen Sie den Patienten nicht dazu, etwas auszuprobieren, wovor er Angst hat, z. B., sich nicht die Hände zu waschen oder mit dem Aufzug zu fahren. Wägen Sie mit dem Patienten aber ab, welche Vor- und Nachteile das Ausprobieren haben könnte. Arbeiten Sie in kleinen Schritten und achten Sie auf kleine Erfolge. Wenn sich ein Patient, der Angst vor dem Fahrstuhlfahren hat, zum ersten Mal in den Aufzug stellt, ist dies auch bei geöffneter Aufzugstür für ihn bereits ein großer Erfolg. Auch die Arbeit mit Angehörigen ist sehr wichtig. Diese müssen mit dem angst- oder zwangsgestörten Patienten leben. Deshalb ist es notwendig, ihnen näherzubringen, dass es sich nicht um eine „Macke“ des Patienten handelt, sondern um eine „echte“ Krankheit. Angehörige können eine wichtige Stütze sein. Oftmals dauert es sehr lange, bis sich angst- oder zwangsgestörte Patienten von ihren Verhaltensmustern komplett lösen können. Wenn der Patient einverstanden ist, sollten die Angehörigen so weit wie möglich in den therapeutisch-pflegerischen Prozess einbezogen werden, sodass sie mit dem Patienten nach der Entlassung weiterhin gemeinsam arbeiten können. WISSEN TO GO Angst- und Zwangsstörungen Man unterscheidet situationsbezogene (= Phobie) von situationsunabhängigen (ohne Auslöser) Angststörun­ gen. Lang anhaltende Angst bezeichnet man als generalisierte Angststörung. Tritt die Angst plötzlich auf, handelt es sich um eine Panikstörung. Die Zwangsstörung ist eine Krankheit, bei der Patienten durch immer wiederkehrende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gequält werden. Therapie und Pflege Neben einer evtl. kurzfristigen pharmakologischen Behandlung werden verhaltenstherapeutische Interventionen durchgeführt. ●● Panikattacke: Patienten werden nicht belehrt, sondern von den als bedrohlich erlebten Reizen abgeschirmt, beruhigt und abgelenkt. Nach der Panikattacke wird über die Situation reflektiert. ●● Verhaltenstherapie: In der Therapie geht es häufig um praktisches Ausprobieren und Austesten. Hierzu ist eine vertrauensvolle Basis notwendig. Der Patient darf nicht bedrängt werden. Es wird in kleinen Schritten gearbeitet. Angehörige werden in die Therapie integriert. 65.9 Dissoziative Störungen 65.9.1 Grundlagen Definition Dissoziative Störungen Dissoziative Störungen werden auch als Konversionsstörungen oder somatoforme Störungen bezeichnet und beschreiben eine Vielzahl körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen, für die es keine organische Ursache gibt. Vielmehr handelt es sich um eine sog. Abwehrreaktion, bei der seelische Probleme in körperliche Symptome „umgewandelt“ werden (lat. conversio = Umwandlung). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Persönlichkeitsstörungen 65.9.2 Therapie und Pflege Die dissoziative Störung ist für Patienten häufig schwer zu begreifen. Pflegende sollten daher empathisch und sensibel mit den Betroffenen umgehen. Symptome sollten nicht heruntergespielt werden, nur weil es keine organischen Ursachen dafür gibt. Vielmehr ist es wichtig, den Patienten ernst zu nehmen. Die Krankheit basiert auf psychischen Konflikten, die in der Therapie aufgearbeitet werden sollen. Pflegende unterstützen diesen therapeutischen Prozess, indem sie z. B. den Patienten motivieren, therapeutische Übungen durchzuführen oder in den Fallbesprechungen ihre Beobachtungen einbringen. Bei Patienten mit Gangunsicherheiten sollte eine Sturz­ propyhlaxe erfolgen. Reize, die sich negativ auf den Patienten auswirken, sollten zunächst vermieden werden. Wird dem Patienten z. B. nach dem Baden immer übel, sollte er vielleicht beim nächsten Mal duschen. Hilft dieser Vorschlag nicht, ist es evtl. möglich, dass das Duschgel ihn unbewusst an vergangene Erlebnisse erinnert. Betroffene müssen i. d. R. erst selbst herausfinden, was ihnen gut- und was ihnen nicht guttut. Pflegende können sie darin unterstützen, Prozesse zu rekonstruieren und den „Übeltäter“, z. B. das Duschgel, als Auslöser negativer Erinnerungen zu identifizieren. Merken Tabuthema Sie sollten allerdings nicht mit dem Patienten das Trauma thematisieren. Weisen Sie darauf hin, dass es sich hier um ein Thema handelt, welches mit dem Therapeuten aufgearbeitet wird. Binden Sie den Patienten stattdessen in alltagspraktische Gespräche ein oder reden Sie über Themen, die den Patienten interessieren, z. B. die letzten Fußballergebnisse. Da häufig nicht bekannt ist, was bei dem Patienten ein Trauma ausgelöst hat, sollte der Körperkontakt auf das ­Notwendigste beschränkt werden, z. B. beim Messen der Vitalzeichen. Gespräche sollten in einem „sicheren“ Abstand geführt werden. Die Intimzone des Menschen befindet sich im westlichen Kulturkreis z. B. in einem Radius von etwa 60 cm. Diese Distanz sollte nicht unterschritten werden, z. B. bei der Auswahl eines Sitzplatzes im Raum. Im Radius von bis zu 120 cm befindet sich der persönliche Raum. Hier wird das Gegenüber als persönlicher Gesprächspartner wahrgenommen, ohne sich bedrängt zu fühlen. Ein größerer Radius bis zu 4 Metern bezeichnet die soziale Zone, alles darüber hinaus ist die öffentliche Zone. Betroffene schätzen i. d. R. eher eine gewisse Distanz, weshalb sich der Kontakt auf den persönlichen Raum beschränken sollte. WISSEN TO GO Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) Sie beschreiben eine Vielzahl körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen, für die es keine organische Ursache gibt. Es handelt sich um eine Abwehrreaktion, bei der seelische Probleme in körperliche Symptome „umgewandelt“ werden, z. B. Bewegungsstörungen, Krampfanfälle, Wahrnehmungsstörungen, Bauch- und Kopfschmerzen oder Erbrechen. Therapie und Pflege Die psychischen Konflikte sollten in der Therapie aufgearbeitet werden. Reize, die sich negativ auf den Patienten auswirken, sollten vermieden werden. Pflegende sollten nicht mit dem Patienten das Trauma thematisieren. Körperkontakt sollte auf das Notwendigste beschränkt und Gespräche in einem „sicheren“ Abstand geführt werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die meisten Konversionsstörungen werden psychodyna­ misch erklärt. Man geht davon aus, dass es im Unbewussten des Patienten ungelöste Konflikte gibt, die sich in Form körperlicher Symptome, z. B. als Magenschmerzen, äußern. Auch traumatische Erlebnisse wie eine Vergewaltigung oder das Überleben schwerer Katastrophen können eine Konversionsstörung auslösen, damit die furchtbare Erfahrung psychisch überstanden wird. Durch die Entstehung körperlicher Symptome kommt es zu einer psychischen Entlastung. Die Symptome sind vielfältig. Sie äußern sich z. B. als Bewe­ gungsstörungen wie Lähmungen, Unsicherheiten beim Gehen, Krampfanfälle. Auch die Wahrnehmung kann betroffen sein. Manche Patienten glauben, nicht mehr richtig sehen, riechen oder hören zu können. Andere klagen über Bauchund Kopfschmerzen oder Erbrechen. 65.10 Persönlichkeitsstörungen Definition Persönlichkeitsstörungen Hierunter werden anhaltende (chronische) Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster zusammengefasst, die deutlich von der Norm abweichen. Meist äußern sie sich bereits in jungen Jahren. Die meisten Patienten mit Persönlichkeitsstörungen leiden zunächst nicht unter ihnen. Häufig ist es die Interaktion mit der Umwelt, die ihnen Probleme bereitet. Im Umgang mit diesen Patienten ist es für Pflegende sehr wichtig, dass sie auf ihre eigene Persönlichkeit achten und diese durch ein ausgewogenes Maß an Nähe und Distanz sowie durch re­ flektierende Gespräche mit Kollegen oder durch Supervision schützen. Es gibt viele unterschiedliche Formen der Persönlichkeitsstörungen. Bei jeder ist ein anderer Umgang mit den Patienten erforderlich. 65.10.1 Paranoide ­Persönlichkeitsstörung Diese Patienten sind äußerst misstrauisch und kritisch (▶ Abb. 65.16). Da sie stets etwas Negatives von ihren Mitmenschen erwarten, nehmen sie Pflegende genau unter die Lupe und interpretieren ihr Verhalten. Es ist deshalb sehr wichtig, glaubwürdig zu agieren. Pflegende sollten genau überlegen, was sie dem Patienten sagen, denn genau das sollten sie auch einhalten. Wenn sie die Patienten enttäuschen, werden sie es sehr schwer haben, ein kleines Maß an Vertrauen zu gewinnen, und erhalten einen sarkastischen Gegner, der ihnen das Leben schwer macht. Pflegende sollten deshalb authentisch bleiben und in kleinen Schritten auf die Person zugehen – und sie sollten immer bedenken, dass die Person nicht absichtlich paranoid ist. 1399 Pflege bei Erkrankungen der Psyche Abb. 65.16Paranoide Persönlichkeitsstörung. Menschen mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung sind sehr misstrauisch. (Situation nachgestellt) 65.10.2 Schizoide ­Persönlichkeitsstörung Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung sind gerne allein und haben wenig Interesse am Kontakt mit anderen Menschen. Sie wahren eine große Distanz zu ihren Mitmenschen, die für dieses Verhalten häufig kein Verständnis aufbringen können und mit Wut oder Enttäuschung reagieren. Häufig sind diese Personen sehr intelligent, zeigen aber eingeschränkte Kompetenzen im Bezug auf ihr Sozialverhalten. Vielleicht kann auf intellektueller Ebene ein Gesprächsinteresse geweckt werden, durch das man einen Zugang zu dem Patienten erhält. Pflegende sollten nicht enttäuscht sein, wenn dieser Vorgang sehr lange dauert und sie wenige Rückmeldungen wie Sympathiebekundungen, Freude oder andere emotionale Reaktionen e ­ rhalten. Sie sollten dem Menschen trotzdem ihre Wertschätzung ent­ gegenbringen und ihm regelmäßigen Kontakt anbieten. 1400 65.10.4 Ängstlich vermeidende ­Persönlichkeitsstörung Diese Personen versuchen, vieles zu vermeiden, um sich vor Enttäuschungen zu schützen – vor allem Beziehungen. Pflegende sollten Geduld haben und eine Beziehung kleinschrittig aufbauen. Sie sollten verbindliche Gesprächstermi­ ne vereinbaren und bereits kleine Erfolge der sozialen Kontaktaufnahme loben. Die professionelle Beziehung sollte als „Lernebene“ thematisiert werden, die zum Aufbau weiterer Beziehungen dienen kann. Eine Entlassung aus dem stationären Setting kann von den Betroffenen als Beziehungsabbruch erlebt werden. Deswegen ist es wichtig, dem Patienten zu erklären, dass es sich um eine professionelle Beziehung handelt, die irgendwann endet. Der Abschied sollte gemeinsam besprochen werden. Häufig ist es hilfreich, eine kleine gemeinsame Aktivität zu planen. Pflegende können sich z. B. mit dem Patienten verabreden, um gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken und über den Behandlungsprozess zu reflektieren. Dabei können sie den Fokus auf positive Veränderungen legen und den Patienten für Erfolge loben. Dies hat bei Menschen mit einem geringen Selbstbewusstsein positive Effekte. 65.10.5 Narzisstische ­Persönlichkeitsstörung Menschen mit narzisstischen Störungsbildern haben ihren Mitmenschen gegenüber eine sehr hohe Erwartungs­ haltung. Sie wollen bewundert werden (▶ Abb. 65.17). Sie fühlen sich großartig und wollen auch so wahrgenommen werden. Wenn dies nicht passiert, neigen diese Patienten häufig zu aggressivem Verhalten. Dieses sollte nicht toleriert werden. Pflegende sollten im Umgang mit diesen Patienten Geduld haben und versuchen, den Patienten wie jeden anderen zu behandeln, aber nicht abzuwerten – es steckt mitunter ein minderes Selbstwertgefühl und Angst vor Kritik hinter der Störung. Pflegende sollten dem Patienten klarmachen, dass ihm keine Sonderbehandlungen zustehen. 65.10.3 Histrionische ­Persönlichkeitsstörung 65.10.6 Emotional instabile ­Persönlichkeitsstörung Die Patienten verhalten sich anderen Personen gegenüber zunächst zugewandt und offen und sind bemüht, Aufmerksamkeit und Beachtung zu erlangen, wobei sie mitunter unecht wirken können. Aufmerksamkeit und Beachtung erwarten sie in einem erhöhten Maße. Wenn dieses Maß nicht erfüllt wird, neigen sie zu dramatisierenden Verhaltensweisen. Pflegende sollten versuchen, ein realistisches Maß an ­Zuwendung für diese Patienten zu ermöglichen. Sie sollten feste Termine vereinbaren, an denen sie nur für diese eine Person Zeit haben. In den Gesprächen sollten sie thematisieren, dass es ihnen ein Anliegen ist, ihre Zeit so aufzuteilen, dass alle Bezugspatienten einen gerechten Anteil daran erhalten. Lob und Anerkennung sollten realistisch dosiert, aber nicht vergessen werden. Menschen mit emotional instabilen Persönlichkeiten haben extreme Stimmungsschwankungen. Bereits kleinste Ereignisse können die Stimmungslage verändern. Menschen mit emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen berichten häufig von der Angst vor dem Alleingelassen- oder Verlas­ senwerden. Impulsiver Typus • Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung dieses Typus äußert sich in extremen bis exzessiven Verhaltensweisen (Suizidversuche, Trinken bis zur ­Alkoholvergiftung, Rasen mit dem Auto). Patienten mit dieser Störung sind kaum in der Lage, Kritik zu ertragen, und reagieren darauf schnell gereizt und aggressiv. Pflegende sollten sich nicht davon beeindrucken lassen. Sie sollten mit dem Patienten besprechen, dass sie seine negativen, aber auch seine positiven Seiten sehen. Sie sollten immer wieder einen Bezug zur Realität herstellen: Warum ist es z. B. verboten, so schnell zu fahren? Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Persönlichkeitsstörungen Abb. 65.17Narzisstische Persönlichkeitsstörung. 65.10.7 Dependente/abhängige Persönlichkeitsstörung Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Patienten mit dependenten Abhängigkeitsstörungen haben Angst, Verantwortung zu tragen. Deshalb können sie nur schwer eigene Entscheidungen treffen und machen sich so von anderen Personen abhängig. Wenn diese Personen in die stationäre Behandlung kommen, haben sie i. d. R. bereits einen Leidensweg mit Gewalterfahrungen, Substanzmittelkonsum oder finanzieller Ausbeutung hinter sich. Pflegende sollten darauf achten, dass sich die Personen während des Aufenthalts nicht von ihnen abhängig machen. Sie sollten immer wieder kleine Entscheidungen fördern, zu denen die Patienten stehen müssen, z. B. „Möchten Sie lieber spazieren gehen oder ein Gesellschaftsspiel spielen?“ Weiterhin sollten sie positive Rückmeldungen geben. Besonders wichtig ist es, dass sich die Person ein soziales Netz aufbaut, in dem sie nach der Entlassung Halt findet. Unterstützung können neben Angehörigen und Freunden Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder ambulante Therapien geben. WISSEN TO GO Persönlichkeitsstörungen Menschen mit dieser Störung fühlen sich großartig und wollen bewundert werden. (Situation nachgestellt) Borderline-Typus • Betroffene berichten häufig von einem Zustand innerer Leere. Die Angst vor dem Verlassenwerden dominiert andere Gefühle. Um dem entgegenzuwirken, begeben sie sich in sehr intensive, aber wenig stabile Beziehungen, in denen sie Druck auf andere ausüben. Werden die oft sehr hohen Erwartungen enttäuscht, kommt es häufig zu emotionalen Krisen mit Selbstverletzungen. Pflegende sollten deshalb sehr transparent und klar mit diesen Bezugspatienten umgehen. Abwesenheitszeiten sollten besprochen und ein Kollege benannt werden, der in dieser Zeit als Ansprechpartner fungiert. Personen mit Borderline-Störungen können ganze Teams durcheinanderbringen. Pflegende sollten deshalb sehr klar kommunizieren und sorgfältig dokumentieren. Wichtig ist, dass besonders auf ein angemessenes Nähe-DistanzVerhältnis geachtet wird und sich Pflegende nicht in zu intensive Beziehungen verstricken lassen. Reflektierende ­Gespräche und Supervisionen sind eine notwendige Basis für den Umgang mit diesen Patienten. Weiterhin sollten Pflegende darauf achten, dass sie den Patienten körperlich nicht zu nahe kommen, denn häufig haben die Patienten bereits Missbrauchserfahrungen gemacht. Hierunter werden chronische Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster zusammengefasst. ●● Paranoide Persönlichkeitsstörung: Patienten sind misstrauisch und kritisch → glaubwürdig agieren, authentisch bleiben, in kleinen Schritten auf die Person zugehen. ●● Schizoide Persönlichkeitsstörung: Betroffene wahren eine große Distanz zu ihren Mitmenschen, besitzen ein eingeschränktes Sozialverhalten → Wertschätzung entgegenbringen und regelmäßige Kontakte anbieten. ●● Histrionische Persönlichkeitsstörung: Patienten erwarten in einem erhöhten Maße Aufmerksamkeit und Beachtung. Wird dies nicht erfüllt, neigen sie zu dramatisierenden Verhaltensweisen → realistisches Maß an Zuwendung ermöglichen, z. B. feste Gesprächstermine. ●● Ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung: Betroffene vermeiden vieles, um sich vor Enttäuschungen zu schützen → Geduld haben, Beziehung kleinschrittig aufbauen. ●● Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Betroffene haben ihren Mitmenschen gegenüber eine sehr hohe Erwartungshaltung und wollen bewundert werden. Wenn dies nicht passiert, neigen sie zu aggressivem Verhalten, was nicht toleriert werden sollte. ●● Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: ––Impulsiver Typus: extreme bis exzessive Verhaltensweisen; Patienten ertragen kaum Kritik und reagieren schnell gereizt und aggressiv → nicht beeindrucken lassen und immer wieder Bezug zur Realität herstellen. ––Borderline-Typus: Angst vor dem Verlassenwerden dominiert andere Gefühle; Betroffene begeben sich intensive Beziehungen, in denen sie Druck in sehr ­ ausüben. Bei enttäuschten Erwartungen kommt es häufig zu emotionalen Krisen mit Selbstverletzungen → transparent und klar mit den Patienten umgehen und sorgfältig dokumentieren. ●● Dependente/abhängige Persönlichkeitsstörung: Betroffene haben Angst, Verantwortung zu tragen, und können nur schwer Entscheidungen treffen, was sie von anderen Personen abhängig macht → darauf achten, dass sie sich nicht abhängig machen; immer wieder kleine Entscheidungen fördern. 1401 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.11 Organisch bedingte ­psychische Störungen Sie werden in akute und chronische Störungen unterteilt. Einige Formen der akuten Störungen verlaufen reversibel (eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands ist möglich, z. B. Delir), chronische Störungen verlaufen irreversibel und fortschreitend, z. B. Demenz. Informationen zu den irreversiblen Störungen wie der Demenz finden Sie im Kap. „Pflege bei Erkrankungen des Nervensystems“ (S. 1247). Bei akuten Störungen mit organisch bedingter Ursache ist es notwendig, den Patienten kontinuierlich zu begleiten und zu überwachen, insbesondere die Vitalwerte sollten regel­ mäßig kontrolliert werden. Pflegende sollten eine reizarme und ruhige Atmosphäre schaffen und deutlich und in kurzen Sätzen mit dem Patienten sprechen. Ein häufiger Wechsel von Ansprechpartnern sollte in dieser Zeit unbedingt vermieden werden. Nach wenigen Stunden bis hin zu einigen Wochen bilden sich die Symptome eines Delirs zurück. Dennoch bleiben häufig zunächst kognitive Störungen. Deshalb sind die dann wichtigsten Ziele Rehabilitation und Wiederherstellung der Fähigkeiten. Dabei werden die Ressourcen des Patienten berücksichtigt und gefördert. Wenn der Patient z. B. in der Lage ist, mit Unterstützung seiner Körperpflege nachzugehen, sollte er nur so weit unterstützt werden, wie es unbedingt notwendig ist (aktivierende Pflege). Es ist wichtig, die Gehirnfunktion im Rahmen alltagspraktischer Tätigkeiten zu trainieren, um einen langfristigen Erfolg zu haben. Pflegende sollten z. B. versuchen, die Patienten zu ermutigen, nicht ausschließlich fernzusehen, sondern auch mal ein Kreuzworträtsel zu lösen oder ein Buch zu lesen, sofern sie dazu in der Lage sind. Vielleicht kann man dem Patienten auch einmal etwas vorlesen und anschließend mit ihm sprechen. 65.12 Ausgewählte kinderund jugendpsychiatrische ­Störungen 65.12.1 Frühkindlicher Autismus Für ein Kind mit Autismus ist es eine sehr belastende Situation, wenn es in einer Klinik aufgenommen wird. Autistische Kinder mögen fremde Umgebungen sowie fremde Personen nicht, können sich kaum in neuen Umgebungen zurechtfinden und haben unter Umständen extreme Angst. Pflegende sollten versuchen, so früh wie möglich Kontakt zu den Eltern des Kindes zu bekommen, um in Erfahrung zu bringen, welcher Tagesablauf für das Kind zu Hause wichtig ist. Findet das Zähneputzen z. B. immer vor oder nach dem Frühstück statt? Ist dem Kind die Farbe des Zahnputzbechers wichtig? Dabei darf ruhig nach Details gefragt werden, die Eltern können viele wichtige Dinge erklären, die dem Kind den Ablauf erleichtern können. Vielleicht ist es möglich, dass das autistische Kind die Station vor der Aufnahme einige Male besucht und dabei auch die pflegenden Bezugspersonen kennenlernt. Aufnahme • Wenn das Kind auf die Station kommt, sollte versucht werden, eine möglichst ruhige Umgebung zu schaffen. Vielleicht können die anderen Kinder in der Zeit etwas anderes unternehmen, sodass das Kind nicht unnötig überfordert wird. Das Kind sollte nach der Aufnahme sehr genau beobachtet werden. Es kommt nicht selten zu selbstverletzenden Verhaltensweisen, weil sich autistische Kinder in fremden Umgebungen schlecht zurechtfinden. Unterstützung • Das Kind sollte von Pflegenden durch den Tag begleitet werden. Je nach Schweregrad der Störung ist es möglich, dass das autistische Kind nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Das Kind sollte in einer ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und bei der Körperhygiene unterstützt und regelmäßig zur Toilette begleitet werden. Kontakt zu Gleichaltrigen • Das Kind sollte im Kontakt mit Gleichaltrigen von Pflegenden begleitet werden. Autistische Kinder werden schnell zu Mobbingopfern, da andere Kinder nicht mit dem Verhalten umgehen können. Pflegende sollten den anderen Kindern erklären, was der Autismus für das Kind bedeutet. Autistische Kinder meiden Körperkontakt. Das sollten Pflegende unbedingt beachten und auch den anderen Kindern vermitteln. WISSEN TO GO Grundlagen Frühkindlicher Autismus Definition Autismus Die Entwicklung des Kindes ist beeinträchtigt. Betroffen sind verbale und nonverbale Kommunikation, Kontaktaufnahme und zwischenmenschliche Beziehungen. Autistische Kinder mögen fremde Umgebungen und Personen nicht, können sich kaum in neuen Umgebungen zurechtfinden und haben u. U. extreme Angst. Es ist wichtig, den Tagesablauf und die Gewohnheiten des Kindes zu kennen. ●● Aufnahme: möglichst ruhige Umgebung schaffen; Kind nach der Aufnahme genau beobachten ●● Unterstützung: Kind durch den Tag begleiten; bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und der Körperhygiene unterstützen Der frühkindliche Autismus ist eine Beeinträchtigung der Entwicklung des Kindes vor dem 3. Lebensjahr. Betroffen sind verbale und nonverbale Kommunikation, Kontaktaufnahme und zwischenmenschliche Beziehungen. Das Verhalten des Kindes beschränkt sich auf wenige Muster, die sich immer wiederholen. Die Entwicklung der Kinder ist tiefgreifend gestört, die zwischenmenschliche Kommunikation stark eingeschränkt. Etwa die Hälfte der betroffenen Kinder lernt nicht sprechen. Gefühlsreaktionen wie Mitleid fehlen. An anderen Menschen besteht im Allgemeinen wenig Interesse. Stattdessen interessieren sich die Kinder für Gegenstände. Sie schauen ihrem Gegenüber nie in die Augen, sondern scheinen durch einen hindurchzusehen. 1402 Umgang Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65 Psychosomatische ­Störungen Grundlagen Definition ADHS Ein Kind mit ADHS ist stets unruhig, abgelenkt und unaufmerksam. Es unterliegt einem dauernden Bewegungsdrang und einer starken Impulsivität. Auch das Sozialverhalten ist beeinträchtigt. Die Symptome sind situationsunabhängig und bestehen über Jahre. Umgang Kinder mit ADHS sind als „Zappelphilipp“ bekannt. Sie bekommen im Alltag oft wenig positive Rückmeldung, sondern werden meist als anstrengend empfunden. Pflegende sollten versuchen, bei dem Kind das Positive zu suchen. Sie sollten genau darauf achten, was ihnen an dem Kind positiv auffällt, und das Kind dafür loben. Wenn es das Kind z. B. nicht schafft, die kompletten Hausaufgaben auf einmal zu erledigen, dafür aber einige Aufgaben schafft und zwischenzeitlich eine Pause braucht, sollte nicht geschimpft werden, dass die Hausaufgaben nicht fertig sind, sondern das Kind für jede einzelne erledigte Aufgabe gelobt werden. Im Umgang mit dem Kind sollten Pflegende sachlich und konsequent bleiben. Sie sollten dem Kind deutlich machen, was von ihm erwartet wird, und nicht, was nicht von ihm erwartet wird, z. B.: „Bitte häng Deine Jacke an den Haken“ und nicht „Wirf die Jacke nicht immer auf den Boden“. Verhandlungen mit den Kindern sind sinnlos, Pflegende sollten konsequent bleiben und mögliche Beschimpfungen seitens des Kindes nicht persönlich nehmen. Das Kind ist in dem Moment wütend und kann sich im nächsten Moment schon wieder ganz anders fühlen. Es sollte deswegen unbedingt vermieden werden, negative Situationen und Vorhaltungen aufzuschaukeln („Das machst Du heute schon zum dritten Mal“). Je klarer Pflegende in ihren Strukturen und Anforderungen sind, desto besser kann sich das Kind mit den Regeln zurechtfinden. Deshalb ist es für das Kind einfacher, wenige, aber sinnvolle Regeln zu haben. Sollte das Kind die Regeln nicht einhalten, sollte es nicht ziellos bestraft werden, sondern Konsequenzen sollten ausgewählt werden, die sich logisch auf das Fehlverhalten beziehen. Wenn das Kind z. B. ein Spielzeug zerstört, kann es danach erst einmal nur mit Spielzeugen spielen, die nicht so leicht kaputtgehen. Wird das Kind daraufhin wütend, sollte man nicht mit dem Tem­ po und der Stimmung des Kindes mitgehen, sondern ruhig und sachlich bleiben und die Konsequenz erklären. Merken Hilfreiche Strategien Achten Sie auch darauf, welche Strategien dem Kind helfen können. Wenn Sie z. B. von dem Kind erwarten, dass es konzentriert seine Hausaufgaben erledigt, sorgen Sie dafür, dass das Kind dabei nicht gestört wird, und vermeiden Sie visuelle Reize, z. B. den Gameboy neben dem Schreibtisch oder andere Kinder, die im selben Raum spielen. Durch die Übernahme von Verantwortung wird das Selbst­ wertgefühl des Kindes gestärkt. Wenn es z. B. beim Kochen oder Tischdecken helfen darf, bekommt es das Gefühl, wichtig zu sein. In der Regel übernehmen Kinder mit ADHS im Stationsablauf gerne eine regelmäßige Aufgabe, für die sie beachtet und gelobt werden. Pflegende sollten nicht nachtragend sein, wenn etwas nicht so funktioniert hat, wie sie gedacht haben. Spätestens wenn das Kind zu Bett geht, sollte die Situation geklärt und die Stimmung neutral sein. Da Kinder mit ADHS häufig sehr sensibel sind, sollten sie nicht mit schlechten Gefühlen zu Bett geschickt werden. WISSEN TO GO Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Ein Kind mit ADHS ist stets unruhig, abgelenkt und unaufmerksam. Es unterliegt einem dauernden Bewegungsdrang und einer starken Impulsivität. Auch das Sozialverhalten ist beeinträchtigt. Die Betroffenen bekommen im Alltag oft wenig positive Rückmeldung. Pflegende sollten genau darauf achten, was ihnen an dem Kind positiv auffällt, und es dafür loben. Im Umgang sollte man sachlich und konsequent bleiben und mögliche Beschimpfungen nicht persönlich nehmen. Negative Situationen und Vorhaltungen sollten nicht aufgeschaukelt werden. Je klarer Pflegende in ihren Strukturen und Anforderungen sind, desto besser kann sich das Kind mit den Regeln zurechtfinden. Die Übernahme von Verantwortung stärkt das Selbstwertgefühl des Kindes. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 65.12.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 65.13 Psychosomatische ­Störungen Es gibt verschiedene somatische Auffälligkeiten, für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Psychosomatische Störungen haben immer auch etwas mit der Psyche des Menschen zu tun. Wenn ein Patient häufig über Bauch- oder Kopfschmerzen klagt, ist zu hinterfragen, ob es einen Grund für diese Beschwerden gibt. Redewendungen wie „sich einen Kopf um etwas machen“ oder „auf den Magen schlagen“ deuten bereits darauf hin, dass es psychische Prozesse gibt, die sich körperlich äußern. Pflegende sollten in ihren Bezugsgesprächen über mögliche Ursachen sprechen, genau beobachten und den Patienten nach weiteren Symptomen fragen, z. B.: ●● Anspannung ●● Überforderung, Belastung ●● Angst/Sorge ●● Rückzug ●● anstehende wichtige Termine (Gerichtstermin, Scheidungstermin, therapeutisches Gespräch mit Familienangehörigen?) Entspannungsverfahren können in Anspannungssituationen helfen. Mit dem Angebot beispielsweise von Gesprächen, Spaziergängen oder Bädern kann dem Patienten verdeutlicht werden, dass sein Problem ernst genommen wird. Pflegende sollten Gesprächsangebote machen und auch die Möglichkeit aufzeigen, diese Probleme im therapeutischen Gespräch zu besprechen. Vielen Patienten wird nicht klar sein, dass die somatischen Beschwerden mit ihrem psychischen Zustand zusammenhängen. 1403 65 Pflege bei Erkrankungen der Psyche 65.14 Übersicht über die ­wichtigsten Medikamente Die ▶ Tab. 65.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten eingesetzten Medikamente bei psychischen Erkrankungen. Tab. 65.1 Die wichtigsten Medikamente bei psychischen Erkrankungen. Benzodiazepine häufig verwendete Wirkstoffe und Handelsnamen ●● Bromazepam: Therapieziel/Anwendung Nebenwirkungen/Beobachtungskriterien/ zu beachten z. B. Lexotanil z. B. Valium, Stesolid ●● Flunitrazepam: z. B. Rohypnol ●● Flurazepam: z. B. Dalmadorm ●● Midazolam: z. B. Dormicum ●● Benzodiazepine blockieren die Weitergabe bestimmter Nervenreize. ●● sie wirken dadurch beruhigend, krampflösend und schlaffördernd ●● Einsatz bei Angstzuständen, Schlafstörungen, Depressionen ●● Müdigkeit Neuroleptika (Antipsychotika) Typische (konventionelle) Neuro­ leptika: ●● Haloperidol: z. B. Haldol ●● Benperidol: z. B. Glianimon ●● Levomepromazin: z. B. Neurocil ●● Thioridazin: z. B. Melleril Atypische Neuroleptika (der 2. Generation): ●● Clozapin: z. B. Leponex ●● Olanzapin: z. B. Zyprexa ●● Quetiapin: z. B. Seroquel ●● Die ●● Bewegungsstörungen, Antidepressiva Johanniskraut (Hypericum): z. B. Cesradyston, Esbericum, Felis, Hyperforat ●● erhöhen ●● Diazepam: MAO-Hemmer: z. B. Aurorix ●● Tranylcypromin: z. B. Parnate ●● Moclobemid: Trizyklische Antidepressiva: z. B. Saroten ●● Nortriptylin: z. B. Nortrilen ●● Imipramin: z. B. Tofranil ●● Opipramol: z. B. Insidon ●● Amitriptylin: Selektive Serotoninaufnahme­ hemmer (SSRI): ●● Fluoxetin: z. B. Fluoxgamma, Fluox Puren ●● Paroxetin: z. B. Paroxat, ­Paroxedura ●● Citalopram: z. B. Cipramil, CitaLich 1404 Wirkung von Neuroleptika beruht auf der Hemmung bestimmter Rezeptoren im Gehirn. ●● wirken vor allem antipsychotisch, vermindern z. B. das Auftreten von Halluzinationen oder Wahnvorstellungen und Angstzuständen ●● Einsatz bei schweren akuten ­Psychosen wie Schizophrenie, aber auch bei Alkoholdelir oder Angstzuständen die Konzentration von Serotonin und Noradrenalin im Gehirn ●● verbessern die Stimmung und erhöhen den Antrieb bei Depressionen ●● vermindertes Reaktionsvermögen → Sturzprophylaxe! ●● Schlafstörungen → ggf. einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus entgegenwirken, abends Einschlafrituale einführen ●● Obstipation ●● Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, auch mit Alkohol ●● hohes Abhängigkeitspotenzial ●● ggf. Entzugserscheinungen bei langem Konsum und abruptem Absetzen, z. B. Stimmungsschwankungen, Unruhe bis hin zu epileptischen Anfällen oder Delir ●● Schwindel sog. extrapyramidale Störungen (EPS), z. B. parkinsonähnliche Symptome, unwillkürliche Muskelzuckungen, Dyskinesien (Störungen des Bewegungsablaufs) → Sturzprophylaxe → Achtung bei heißen Getränken ●● Blutbildveränderungen → Blut- und Leberwerte kontrollieren Johanniskraut: Reaktionen ●● Müdigkeit ●● allergische Aufhebung der Wirkung der Antibabypille MAO-Hemmer: ●● Mundtrockenheit ●● Schwindel ●● Schläfrigkeit ●● Übelkeit, Obstipation ●● Schlafstörungen Trizyklische Antidepressiva: ●● Mundtrockenheit ●● Müdigkeit, ●● Aggression Schwindel, Sprachstörungen ●● orthostatische ●● Obstipation Dysregulation, RR ↓, HF ↑ Tetrazyklische Antidepressiva: ●● Benommenheit ●● Zittern ●● unwillkürliche Bewegungen ●● orthostatische Hypotonie Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Wirkstoffgruppe Übersicht über die w ­ ichtigsten Medikamente Tab. 65.1 Fortsetzung. Wirkstoffgruppe häufig verwendete Wirkstoffe und Handelsnamen Therapieziel/Anwendung Selektive Serotoninaufnahme­ hemmer (SSRI): Nebenwirkungen/Beobachtungskriterien/ zu beachten Selektive Serotoninwiederaufnahme­ hemmer: ●● Mundtrockenheit ●● gastrointestinale Beschwerden, z. B. Diarrhö, Obstipation, Übelkeit ●● Nervosität, Unruhe, Zittern ●● Miktionsstörungen ●● Schluckbeschwerden ●● Fluoxetin: z. B. Fluoxgamma, Fluox Puren ●● Paroxetin: z. B. Paroxat, ­Paroxedura ●● Citalopram: z. B. Cipramil, CitaLich Die stimmungsaufhellende Wirkung setzt erst nach einigen Wochen ein, die antriebssteigernde allerdings sofort. Da der Leidensdruck nach wie vor besteht, aber der Antrieb höher ist, kann es zu Suizidgedanken und -versuchen kommen. ●● wirken stimmungsstabilisierend, Wirkmechanismus ist unklar ●● Prophylaxe und Therapie der manischen Phasen bei manischdepressiven Erkrankungen (affektive Störungen, schizoaffektive Störung) ●● leichter Tremor Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Lithium: z. B. Qilonum, LithiumAspartat ●● Polyurie/Polydipsie und Durst Struma ●● gastrointestinale Beschwerden ●● Muskelschwäche ●● Gewichtszunahme ●● euthyreote Mein Patient Frau Fichter: Ich fühle mich so leer. „Ist in den letzten Jahren irgendetwas Einschneidendes im Leben ihrer Mutter passiert?“ Corinna Fichter ist so erleichtert. Endlich ist ihre Mutter mit ihr in die Psychiatrie gekommen. Sie hat sich solche Sorgen gemacht. Schon seit Monaten ist ihre Mutter müde und schlapp, spricht langsam und monoton und ist irgendwie gar nicht mehr richtig da. Früher haben sie immer am Wochenende zusammen neue Rezepte ausprobiert. Erst auf den Markt, Zutaten aussuchen und dann stundenlang gekocht. Das findet überhaupt nicht mehr statt. „Vor einem Jahr hat mein Vater meine Mutter verlassen. Er hat gesagt, er würde sie nicht mehr lieben. Jetzt wohnt er mit einer jüngeren Kollegin zusammen, sie ist erst 34 und meine Mama ist 47. Mein Vater ist schon 55. Meine Mama hat das ziemlich mitgenommen, sie hat ja auch für ihn und für mich auf eine eigene Karriere verzichtet. Nach der Trennung hat sie nur noch geweint. Die Trauer fand ich ja normal, aber jetzt? So kenne ich Mama gar nicht. Sie schläft auch kaum noch, ist nachts total lange wach und schon Stunden vor mir auf, und ich stehe nicht spät auf, meist so um 7.“ „Ich habe gar kein Gefühl mehr in mir drin, ich fühle mich einfach nur leer.“ sagt Corinnas Mutter dem Arzt. „Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen. Ich bin ja immer mit meinen Freundinnen dienstags und donnerstags zum Zumba. Aber das geht jetzt schon länger nicht mehr. Ich vermisse es, und ich vermisse meine Freundinnen, aber ich kann einfach nicht.“ „Es kann sein, dass sie an einer Depression oder depressiven Störung leiden“, sagt der Arzt. „Eventuell ausgelöst durch die Trennung. Ich will aber noch ein paar Tests machen, damit wir sichergehen, dass nichts Organisches dahinersteckt und wir Sie richtig behandeln. Wir werden Ihnen erstmal Blut abnehmen und schauen, ob Sie eine Unterfunktion der Schilddrüse haben. Ich würde Sie gerne für die Untersuchungen stationär aufnehmen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Falls sich herausstellt, dass Sie tatsächlich eine Depression haben, kann man das heute gut behandeln. Dann bekommen Sie Medikamente, die das Ungleichgewicht an Botenstoffen in Ihrem Gehirn wieder ausgleichen. Außerdem gibt es in unserem Haus tolle Psychotherapieangebote, auch mit Bewegungsübungen und in der Gruppe.“ Zu Corinna gewandt sagt er: „Sie werden sehen, mit der richtigen Behandlung ist Ihre Mutter bald wieder so wie früher und sie spazieren voller Begeisterung über den Markt.“ © dalaprod/fotolia.com Was ist zu tun? ●● Worauf sollten Sie Frau Fichter hinweisen, wenn Sie sie zur Einnahme von Antidepressiva beraten? ●● Manchmal wird bei Depressionen eine Schlafentzugstherapie durchgeführt. Was sind Ihre Aufgaben bei dieser Therapie? ●● Wie sollte eine gute Kommunikation mit Menschen mit Depressionen aussehen? Worauf sollten Sie achten? ●● Sie führen ein Beratungsgespräch mit Frau Fichter: Welche Themen sprechen Sie an? 1405