Pflege bei Erkrankungen der Psyche

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Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65
Pflege bei Erkrankungen
der Psyche
65.1 Bedeutung für den
­Patienten
Wenn ein Mensch an der Psyche erkrankt, verändert sich
das gesamte Leben. Häufig merken Betroffene bereits einige Zeit vor der Diagnosestellung, dass mit ihnen etwas
nicht stimmt. Aber auch das soziale Umfeld nimmt Verän­
derungen der Persönlichkeit wahr. Die Beziehung zwischen
dem erkranktem Menschen und der Familie, Freunden oder
Nachbarn wird durch Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Unverständnis belastet. Der betroffene Mensch fühlt sich anders
behandelt, als er es bisher gewohnt war, er fühlt sich „nicht
mehr normal“. Darüber hinaus nimmt die psychische Erkrankung häufig auch Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Es
kann zu einer Konfrontation mit Vorgesetzten kommen. Es
drohen Versetzungen oder Entlassungen, die den Betroffenen belasten.
Das
gesamte
F­ ugen.
Leben
gerät
aus
den
Wird der erkrankte Mensch dann stationär aufgenommen,
entstehen weitere Herausforderungen. Er muss sich mit
seiner psychischen Erkrankung, den Symptomen, den Medikamenten und den Nebenwirkungen auseinandersetzen
und nicht zuletzt seine neue Rolle als „psychisch Kranker“
akzeptieren. Für die Person selber und für die Angehörigen
1374
spielt die Frage, was man hätte anders machen können und
wer eigentlich „schuld“ an der Situation ist, häufig eine große Rolle, bis die neue Lebenssituation akzeptiert werden
kann. Besonders chronisch erkrankten Menschen fällt der
Blick in eine Zukunft mit der Krankheit schwer.
Psychisch erkrankte Menschen erleben nach der Diagnosestellung häufig Stigmatisierungen. Das bedeutet, dass
ihnen Dinge zugeschrieben werden, die im Volksmund
­
­geläufig sind. So hören Abhängigkeitserkrankte z. B., dass sie
keine Selbstdisziplin haben, Menschen mit Schizophrenie,
dass sie gewalttätig sind, und Mütter, die Kinder mit ADHS
haben, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen. Insgesamt fühlen sich die Betroffenen häufig diskriminiert, da sie immer wieder erleben, dass andere Menschen
sie als „nicht normal“ beurteilen. Diese Erlebnisse wirken
sich auf das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der
Patienten aus. Nicht nur, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung
häufig an Möglichkeiten der Selbstbestimmung verlieren,
z. B. da ihnen aufgrund eines Arbeitsplatzverlusts das nötige
Geld fehlt, auch das Selbstwertgefühl wird dadurch beeinträchtigt und eine für sie akzeptable Zukunftsperspektive
fehlt häufig.
Deshalb ist es wichtig, dass psychisch kranke Menschen
wertschätzend behandelt werden und ihnen vorurteilsfrei
begegnet wird. Jeder der Betroffenen hat bereits vor dem
stationären Aufenthalt einen mehr oder weniger langen
Leidensweg hinter sich, weshalb es wichtig ist, einfühlsam
mit diesen Menschen umzugehen. In der Psychiatrie haben
die betroffenen Menschen die Gelegenheit, ihre echten Gefühle und Gedanken zu äußern, die sie in der Gesellschaft
vermutlich immer wieder versucht haben zu verstecken. Es
ist notwendig, dass sensibel mit ihnen umgegangen wird, da
die Offenheit der Betroffenen im Umgang mit den eigenen
Sorgen und Nöten nicht selbstverständlich ist.
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Bedeutung für den Patienten ▶ S. 1374
▶ S. 1375
Mitwirken bei der Therapie
Psychosen aus dem
schizophrenen Formenkreis
Schizophrenie ▶ S. 1382
Medikamentöse
Therapie
▶ S. 1378
Schizoaffektive
Psychosen
Herausfordernde
Situationen
▶ S. 1379
Depression ▶ S. 1386
Affektive Störungen
Manie ▶ S. 1389
Alkoholabhängigkeit
Sucht und Abhängigkeit
Anorexie
▶ S. 1390
▶ S. 1394
Akute Belastungsreaktionen ▶ S. 1396
Belastungs- und
Anpassungsstörungen
Angst- und
Zwangsstörungen
▶ S. 1385
Anpassungsstörungen ▶ S. 1396
Posttraumatische
Belastungsstörung
▶ S. 1396
▶ S. 1397
Dissoziative Störungen
▶ S. 1398
Organisch bedingte
▶ S. 1402
psychische Störungen
Ausgewählte Kinder- und
jugendpsychiatrische Störungen
Psychosomatische Störungen ▶ S. 1403
Persönlichkeitsstörungen
Frühkindlicher Autismus
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
▶ S. 1402
▶ S. 1403
Paranoide P. ▶ S. 1399
Schizoide P.
▶ S. 1400
Histrionische P.
▶ S. 1400
Ängstliche
vermeidende P.
▶ S. 1400
Narzisstische P. ▶ S. 1400
Emotional
instabile P.
▶ S. 1400
Dependente/
▶ S. 1401
abhängige P.
Übersicht über die wichtigsten Medikamente ▶ S. 1404
65.2 Mitwirken bei der
­Diagnostik
Die Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen ist die Auf­
gabe des behandelnden Arztes oder Psychotherapeuten. Da
jedoch gerade in der Psychiatrie ein ganzheitliches Bild des
Patienten auch außerhalb des ärztlichen Gesprächs wesentlich für den Genesungsprozess ist, ist die interdisziplinäre
Sichtweise sehr wichtig. In Fallbesprechungen und Behandlungsplanungen sollten immer alle beteiligten Personen
­zusammenkommen und ihre Beobachtungen zusammenzutragen. Zu den Beteiligten gehören z. B. Arzt, Psychotherapeut/Psychologe, Pflegende, Sozialarbeiter, Ergo-, Beschäftigungs-, Physio- und Bewegungstherapeuten (▶ Abb.
65.1). Dies ist wichtig, da sich Patienten oft unterschiedlich
in Bezug auf ihre psychische Krankheit verhalten, je nachdem, ob sie sich in einem Gespräch mit dem Arzt befinden
oder in der Bewegungstherapie ganz aus sich herauskommen können.
65.2.1 Pflegerische Beobachtung
Merken Bedeutung
Die pflegerische Beobachtung hat in der Psychiatrie einen ganz
besonderen Stellenwert, da Beobachtungen, die Pflegende machen, sehr bedeutsam für den therapeutischen Prozess sein können. Einen sehr hohen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang
auch die schriftliche Pflegedokumentation und die Verlaufsberichterstellung.
Abb. 65.1Fallbesprechungen.
Pflegende engagieren sich in Fallbesprechungen und Behandlungsplanungen mit dem interdisziplinären Team.
Genau wie in anderen Bereichen werden auch in der psychiatrischen Pflege objektive von subjektiven Beobachtungskriterien unterschieden.
Objektive Beobachtung • Hierzu gehören wie in allen anderen Bereichen der Pflege z. B. das Messen der Vitalzeichen,
des Blutzuckers oder der Körpergröße oder des Gewichts.
Subjektive Beobachtung 
• 
Die Beobachtung subjektiver
Merkmale hat bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ­
einen sehr hohen Stellenwert, wird von Pflegenden
1375
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Mitwirken bei der Diagnostik
Professionelle
▶ S. 1376
Beziehung aufbauen
Mitwirken bei der D
­ iagnostik
Bei der Psychotherapie
▶ S. 1377
mitwirken
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
aber häufig als schwieriger empfunden. Zu den subjektiven
Kriterien gehört z. B. die Beurteilung der Bewusstseinslage
und der Wahrnehmung des Patienten: Gibt es Einschlafoder Durchschlafprobleme? Wie ist die Orientierungsfähigkeit bei dem ­Patienten? Auch die emotionale Lage des Patienten gehört zur subjektiven Beobachtung: Wie wird die
Stimmung des Patienten vom Pflegenden wahrgenommen?
Wirkt er ängstlich oder zurückgezogen oder eher angespannt und wütend? Ist der Patient in der Lage, sein Befinden zu formulieren? Wie arbeitet der Patient in der Therapie
mit (Compliance)? Weiterhin sind soziale Faktoren wichtig
für die Beobachtung: Hat der Patient Kontakte zu anderen
Patienten? Bestehen familiäre Kontakte? Wie verhält sich
der Patient im Kontakt mit anderen Menschen?
ACHTUNG
Auch wenn die Wahrnehmung aller Veränderungen beim Patienten wichtig ist, sollte der Stimmungslage besondere Aufmerksamkeit zukommen. Eine sehr niedergeschlagene und deprimierte
Stimmung kann z. B. auf Suizidalität hindeuten und ein sofortiges
Handeln erforderlich machen.
Assessmentinstrumente • Diese Beobachtungen dienen einerseits dazu, Pflegeprobleme und Ressourcen zu ermitteln, um daraus geeignete Pflegemaßnahmen ableiten zu
können. Darüber hinaus können Beobachtungen aber auch
besondere Bedeutungen für die Therapie haben. Unter Umständen werden von Pflegenden spezielle Assessmentin­
strumente angewandt, die den ärztlichen Dienst bei seiner
Diagnosestellung unterstützen. Pflegende tragen mit ihren
Beobachtungen dazu bei, ein umfassendes Bild des Patienten zu ­erlangen. Dabei geht es z. B. darum, wahrzunehmen,
wie aktiv sich ein Patient im Stationsalltag verhält, ob Kontaktaufnahmen und Kommunikation mit anderen Patienten
vorkommen, oder wie er sich in Bezug auf seine Krankheit
verhält. Je nach Assessmentinstrument sind verschiedene
Aspekte wichtig. Daher ist es notwendig, besonders auf eine
korrekte Durchführung der Anforderungen zu achten.
Merken Beobachtungen weitergeben
Wenn Ihnen im Alltag etwas auffällt, was dem behandelnden Arzt
noch nicht bekannt ist, ist es Ihre Aufgabe, die Information nicht
nur zu dokumentieren, sondern auch an den behandelnden Arzt
und Therapeuten weiterzugeben.
WISSEN TO GO
Pflegerische Beobachtung bei Erkrankungen der
­Psyche
●● Objektive
Beobachtung: z. B. Messen der Vitalzeichen,
des Blutzuckers, der Körpergröße, des Gewichts
●● Subjektive Beobachtung: z. B. Beurteilung von Bewusstseinslage, Orientierungsfähigkeit, emotionaler
Lage, Compliance, Sozialverhalten. Der Stimmungslage
kommt besondere Aufmerksamkeit zu.
●● Assessmentinstrumente: Von Pflegenden können spezielle Assessmentinstrumente angewandt werden, die
den Arzt bei der Diagnosestellung unterstützen. Dabei
geht es z. B. um aktive Teilnahme am Stationsalltag, Kontaktaufnahmen, Kommunikation, Verhalten.
1376
65.2.2 Labortechnische und
­apparative Diagnostik
Bei speziellen diagnostischen Verfahren wie Laboruntersuchungen bereiten Pflegende den Patienten vor und beachten wichtige Voraussetzungen, z. B. ob der Patient nüchtern
zur Untersuchung erscheinen muss. Weiterhin begleiten
sie Patienten zu bestimmten Untersuchungen, sofern diese
nicht alleine dazu in der Lage sind. Für Patienten mit psychischen Erkrankungen sind Verfahren wie EEG, EKG oder MRT
oft angstauslösend. Hier ist es hilfreich, beruhigend auf die
Patienten einzuwirken und ihnen zu erklären, was bei den
verschiedenen Verfahren passiert.
Im Stationsalltag führen Pflegende Screenings (Drogentests) oder Alkoholtests durch, falls der Verdacht eines Substanzmittelkonsums besteht.
65.3 Mitwirken bei der
­Therapie
Eine der wichtigsten Aufgaben von Pflegenden innerhalb
einer psychiatrischen Therapie ist die professionelle Bezie­
hungsgestaltung. Dazu eignet sich insbesondere die Bezugs­
pflege. Möglichst direkt bei der Aufnahme erhält der Patient
eine Bezugspflegekraft, die als Ansprechpartner für alle Belange des Patienten fungiert. Zu den Aufgaben einer Bezugspflegekraft in der Psychiatrie gehören:
●● Organisation von Abläufen:
––Schnittstellenfunktion zwischen ärztlichem Dienst,
Fachtherapien und Psychotherapie, Angehörigen und
Patienten
––Absprachen mit Fachtherapien
––Begleitung
––Erläuterung der Stationsregeln und Überprüfung der
Einhaltung
●● Bezugspflegeaufgaben:
––Pflegeanamnese, Pflegeplanung, Evaluation
––regelmäßige Bezugspflegegespräche
––Reflexion von Verhalten
––Förderung der Therapiemotivation
––Durchführung von begleitenden therapiebezogenen
­Interventionen
––Beratung von Angehörigen
●● Vermittlung von krankheitsspezifischem Wissen und
Umgang mit der Krankheit, Herstellen von Compliance
­
(Motivation zur Mitwirkung im therapeutischen Prozess)
und Adhärenz (Akzeptanz der Notwendigkeit der Behandlung, z. B. die Akzeptanz der regelmäßigen Medikamenteneinnahme)
65.3.1 Professionelle Beziehung
aufbauen
Die professionelle pflegerische Beziehung ist keine natürliche Beziehung und unterscheidet sich deshalb von alltäglichen Beziehungen. Sie entsteht aufgrund organisatorischer
Vorgaben und hat sowohl einen definierten Beginn und ein
definiertes Ende als auch ein definiertes Ziel: die Unterstützung des Patienten bei der Verbesserung seines gesundheitlichen Zustands.
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65
Mitwirken bei der T
­ herapie
Offene und wertschätzende Grundhaltung • Eine tragfähige
professionelle Beziehung kann nur entstehen, wenn Pflegende dem Patienten eine offene und wertschätzende Grundhaltung entgegenbringen. Da Betroffene i. d. R. Probleme
haben, sich selbst und ihre psychische Krankheit zu akzeptieren, benötigen sie Bezugspersonen, die sie so akzeptieren,
wie sie sind, und empathisch und nicht stigmatisierend mit
ihnen umgehen. Wie wichtig eine wertschätzende, empathische und von Akzeptanz geprägte Beziehung für den
Entwicklungsprozess eines Betroffenen ist, beschreibt der
Psychologe Carl Rogers in seinen Grundaussagen des personenzentrierten Ansatzes. Weitere hilfreiche Informationen
hierzu finden Sie im Kap. „Grundlagen und Anwendung professioneller Kommunikation“ (S. 121).
Merken Authentisch sein
Bleiben Sie in ihrem Handeln klar und authentisch. Besonders
in schwierigen und herausfordernden Situationen ist es wichtig,
so zu handeln, wie es dem eigenen Naturell entspricht. Patienten sind i. d. R. sehr sensibel und spüren, wenn Sie ihnen etwas
vorspielen. In diesem Fall werden sie sich nicht ernst genommen
fühlen und es können weitere Probleme daraus resultieren.
Vorbild und Lernmodell • Pflegende fungieren in vielen Fällen
mit ihrem Handeln als Vorbild für die Patienten. Sie stellen
ein Modell dar, an dem sich die Patienten orientieren und
lernen können. Gerade Menschen mit großen psychischen
Schwierigkeiten haben oft Probleme, eigene Handlungsalternativen zu entwickeln. Nehmen wir einen Konflikt als
Beispiel. Konflikte sind sowohl für Patienten als auch für
Pflegende eine Herausforderung. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben unter Umständen häufig erlebt,
dass Beziehungen oder Kontakte abgebrochen wurden, weil
sich ein Konflikt nicht lösen ließ. In der professionellen Beziehung ist es möglich, Konfliktlösungen zu erproben, ohne
dass daran eine Beziehung scheitert. Dem Patienten können
Gespräche angeboten werden, um über die Konfliktsituation
zu reflektieren. Dabei sollte genau überlegt werden, wie der
Patient am besten erreicht werden kann. Ist er sehr wütend
und aufgebracht, benötigt er unter Umständen zunächst einmal etwas Zeit, um seinem Ärger Luft zu machen, bevor er
bereit ist, über die Meinungsverschiedenheit zu reden. Sehr
wichtig ist es, den Patienten immer ernst zu nehmen und
ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Anderenfalls kann keine
gemeinsame Ebene geschaffen werden, auf der Konflikte geklärt und Verhaltensalternativen erarbeitet werden können.
Reflexion • Innerhalb einer professionellen Beziehung kommen Pflegende immer wieder in Situationen, die sie stark
herausfordern. Um diese Situationen bewältigen zu können,
ist es hilfreich, über das eigene Handeln und Erleben zu reflektieren. Gespräche mit Kollegen, kollegiale Beratungen,
Teamgespräche und Supervisionen können helfen, sich selber zu hinterfragen, Situationen anders zu betrachten und
neue Ansätze oder Lösungen zu finden.
Abb. 65.2Nähe und Distanz.
Das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz muss im Laufe der professionellen Beziehung immer wieder neu eingestellt werden.
WISSEN TO GO
Mitwirken bei der Therapie – professionelle Beziehung
aufbauen
Die professionelle pflegerische Beziehung hat einen defi­
nierten Beginn, ein definiertes Ende und ein definiertes
Ziel.
●● Angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis: sorgt für empathisches Begegnen und professionelle Unterstützung
●● Offene und wertschätzende Grundhaltung: Voraussetzung für eine tragfähige professionelle Beziehung
●● Authentisch sein: Pflegende sollten in ihrem Handeln
klar und authentisch sein.
●● Vorbild und Lernmodell: Pflegende dienen als Modell,
an dem die Patienten sich orientieren und lernen können.
●● Reflexion: Um stark herausfordernde Situationen bewältigen zu können, sollte das eigene Handeln und Erleben
reflektiert werden.
65.3.2 Bei der Psychotherapie
­mitwirken
Eine Psychotherapie unterstützt den Patienten mit geziel­
ten psychologischen Verfahren in seiner Krankheitsbewältigung. Dazu gehört i. d. R., sich mit der Ursache, dem Verlauf
und den Symptomen auseinanderzusetzen. Dabei werden
die Angehörigen und Bezugspersonen aus dem sozialen und
familiären System, falls möglich, einbezogen.
Die Psychotherapie kann verschiedene Ansätze haben.
­Einige wichtige Methoden, die in der Psychiatrie angewendet werden, sind die Verhaltenstherapie, die systemische
Familientherapie oder psychoanalytische und tiefenpsycho­
logische Verfahren.
Das Setting der Psychotherapie ist abhängig von der individuellen Problemstellung und Zielsetzung des Betroffenen. Es findet entweder im Einzel- oder Gruppensetting
statt. Es ist möglich, die Psychotherapie unter bestimmten
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Nähe und Distanz • Ein angemessenes Nähe- und Distanzverhältnis ist notwendig, um dem Patienten einerseits
empathisch begegnen und ihn andererseits professionell
­
unterstützen zu können und im Behandlungsprozess eine
professionelle Pflegerolle einzunehmen (▶ Abb. 65.2).
65
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Abb. 65.3Gruppensitzungen.
65.3.3 Medikamentöse Therapie
In einer therapeutischen Gruppe geht es darum, über Probleme mit
anderen Betroffenen zu sprechen und von den Erfahrungen anderer zu
profitieren.
Umständen an andere Orte zu verlagern, z. B. bei Menschen
mit ­Flugangst an den Flughafen.
In Einzelsitzungen sind der Patient und der Therapeut
­allein. In einer Einzelsitzung werden individuelle Erlebnisse
und Probleme besprochen und therapeutisch bearbeitet.
Pflegende werden unter Umständen in die Psychotherapie eingebunden. Es gibt auch Bereiche, in denen geschulte Pflegende eigenständig psychotherapeutische Bereiche
übernehmen. Die Psychoedukation, in der es unter anderem
­darum geht, die Krankheit zu akzeptieren und die krankheitsspezifischen Ursachen und Symptome zu verstehen,
wird von Pflegenden begleitet oder teilweise übernommen
und findet in Form von Gruppensitzungen statt (▶ Abb.
65.3). Paar- und Familientherapien werden ebenfalls den
therapeutischen Gruppen zugeordnet. Dort werden spezielle Probleme, die das jeweilige System betreffen, besprochen
und behandelt.
Gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben Pflegende eine besondere Aufgabe innerhalb der Psychotherapie. Da Kinder und Jugendliche i. d. R. enger begleitet werden
als Erwachsene, nehmen Pflegende oftmals an Familienge­
sprächen oder Therapiesitzungen teil, um den Prozess aktiv
mitzugestalten.
WISSEN TO GO
Medikamentengabe • Sie erfolgt i. d. R. kontrolliert und unter Aufsicht, da Betroffene in der Psychiatrie oftmals gerade zu Behandlungsbeginn wenig Krankheitseinsicht zeigen
und dementsprechend nicht erkennen, dass die Medikation
sinnvoll und notwendig ist. Pflegerische Beobachtungen
unterstützen den ärztlichen Behandlungsprozess. Verweigert ein Patient z. B. kontinuierlich die Tabletteneinnahme,
kann der Arzt mit dieser Information die Gründe eruieren
und ggf. auf die Verordnung von Tropfen mit dem gleichen
Wirkstoff ausweichen.
Beobachtung • 
Viele Psychopharmaka haben Nebenwirkungen, z. B. Zittern, Schwitzen, Obstipation oder Appetitsteigerung. Pflegende sollten sich über den Wirkstoff und
mögliche Nebenwirkungen der jeweiligen Medikamente informieren. Der Patient sollte nach Nebenwirkungen befragt
und auf Nebenwirkungen beobachtet werden. Aufgetretene
Nebenwirkungen sollten gründlich dokumentiert werden.
Besonders bei älteren Patienten sollte auf eine mögliche
Sturzgefahr in Verbindung mit der Einnahme von Psychopharmaka ­geachtet werden. Eine regelmäßige Vitalzeichenkontrolle ist i. d. R. ebenfalls erforderlich.
Informieren und Beraten • Es ist wichtig, dass der Patient
weiß, warum die Medikamentengabe notwendig ist und
welche Funktion sie hat. Um eine langfristige Akzeptanz
seitens der Patienten herzustellen ist es weiterhin wichtig,
bestehende Ängste und Sorgen über Nebenwirkungen und
Medikamentenabhängigkeiten so weit wie möglich abzubauen. Der Patient sollte über Besonderheiten der Einnahme
informiert sein.
Laborkontrollen • Um den Medikamentenspiegel zu bestimmen, werden regelmäßige Laborkontrollen durchgeführt.
Pflegende bereiten die dazu vorgesehenen Utensilien vor
Abb. 65.4Medikamente.
Mitwirken bei der Therapie – bei der Psychotherapie
­mitwirken
Pflegende werden evtl. in die Psychotherapie eingebunden. Geschulte Pflegende können eigenständig psychotherapeutische Bereiche übernehmen. Die Psychoeduka­
tion wird von Pflegenden begleitet oder teilweise übernommen. Dabei lernen die Patienten, die Krankheit zu akzeptieren und ihre Ursachen und Symptome zu verstehen.
Die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka ist notwendig, um die akuten Symptome zu reduzieren.
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Die medikamentöse Behandlung nimmt in der Psychiatrie einen wichtigen Stellenwert ein, da sie maßgeblich am
­Behandlungserfolg beteiligt ist (▶ Abb. 65.4). Psychopharmaka sollen zunächst die akuten Symptome der psychischen
Krankheit reduzieren, Therapiebereitschaft erzeugen und
langfristig zu einem Heilungsprozess beitragen. Deshalb ist
es sehr wichtig, dass Pflegende die Gabe von Medikamenten
gewissenhaft anleiten, begleiten und überprüfen.
Mitwirken bei der T
­ herapie
und stellen sie dem behandelnden Arzt bereit bzw. führen
die Blutabnahme auf Anordnung und entsprechend ihrer
Qualifikation selbstständig durch.
Abb. 65.5Aggression.
WISSEN TO GO
Mitwirken bei medikamentöser Therapie
●● Medikamentengabe:
65.3.4 Herausfordernde Situationen
Aggressionen
Beispiel Aggression
Herr Yücksel wird von der Polizei auf die Station zur Krisenintervention gebracht. Er ist aufgefallen, weil er seine Nachbarn verbal
bedroht und Gegenstände auf sie geworfen hat. Anschließend hat
er einen Polizisten tätlich angegriffen. Ein Kollege kommt ins Stationszimmer und sagt: „Der ist aber aggressiv.“
Was bedeutet die Bezeichnung „Aggressivität“? In der Wissenschaft ist dies nicht eindeutig definiert. Im Alltag hängt
es vom subjektiven Betrachter ab, was er als Aggression
empfindet. In der Pflege werden unter der Bezeichnung
„­
aggressives Verhalten“ alle Formen der Aggression verstanden, die dazu führen, dass der Patient sich selbst oder
andere Personen verletzt: verbale Aggression wie fluchen,
schimpfen, drohen, nonverbale Aggression wie mit dem Fuß
aufstampfen, spucken, verächtlich wegschauen oder körper­
liche Aggression wie körperliche Gewalt oder Zerstörung
von Gegenständen (▶ Abb. 65.5).
Aggression, die sich gegen die eigene Person richtet, wird
mit „Autoaggression“ bezeichnet und äußert sich in Form
von selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität.
Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass es wichtig
ist, aggressives Verhalten genauer zu beschreiben. Gerade
in der Dokumentation sollte nicht stehen: „Herr Yücksel
verhält sich aggressiv“, sondern eine Beschreibung dessen,
was Herr Yücksel macht, z. B.: „Herr Yücksel wirkt körperlich angespannt und geht im Zimmer umher. Beim Öffnen
der Zimmertür ruft Herr Yücksel ,RAUS‘ und versucht, die
Pflegekraft durch Schließen der Tür aus seinem Zimmer zu
befördern.“
Verhalten gegenüber aggressiven Patienten
Wie kommt es zu aggressivem Verhalten? Was könnte Herrn
Yücksel zu seinem Verhalten bewegt haben? Aggressionen
haben immer etwas mit der Umwelt zu tun. Herr Yücksel
wurde von der Polizei auf die Station gebracht. Er ist demnach nicht freiwillig da, sondern wird gegen seinen Willen
an einem Ort festgehalten, an dem er nicht sein möchte. Dies
hat natürlich einen Grund, dennoch ist Herr Yücksel in dieser
Situation hilflos und entscheidungsunfähig. Er muss bleiben
Aggression kann sich sowohl körperlich als auch verbal zeigen.
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Sie erfolgt i. d. R. kontrolliert und
unter Aufsicht.
●● Beobachtung: Wirkstoff und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Der Patient wird befragt und
entsprechend beobachtet.
●● Informieren und Beraten: Notwendigkeit der Medikamentengabe und Besonderheiten der Einnahme; Ängste
über Nebenwirkungen und Abhängigkeiten so weit wie
möglich abbauen.
●● Laborkontrollen: Zur Bestimmung des Medikamentenspiegels.
und hat keine Lösungsmöglichkeit für sein Problem. Versteht
Herr Yücksel überhaupt, warum er auf der Station ist? Versteht er die deutsche Sprache? Er äußert sich momentan nur
mit einem „RAUS“, was darauf hindeuten könnte, dass er sich
möglicherweise nicht auf Deutsch verständigen kann.
Wichtig ist es, sich nicht von Herrn Yücksels Stimmung
anstecken zu lassen und ruhig und sachlich zu bleiben,
wenn man ihn anspricht. Wenn Herr Yücksel noch nicht
in der Verfassung ist, mit einem Mitarbeiter der Station in
Kontakt zu treten, aber keine Anzeichen vorliegen, dass er
sich selbst oder anderen einen Schaden zufügt, sollte er
zunächst in Ruhe gelassen und erst nach einiger Zeit angesprochen werden. Möglicherweise hat er sich dann schon
wieder ­beruhigt. Eventuell kann ein türkisch sprechender
Kollege hinzugezogen werden. So besteht für Herrn Yücksel
die Möglichkeit, muttersprachlich zu kommunizieren. Vielleicht kann er so besser erreicht werden.
Aggressionen frühzeitig erkennen
Wenn Aggressionen entstehen, zeichnet sich dieser Prozess i. d. R. frühzeitig ab. Pflegende sollten die Patienten
daher sehr genau beobachten und bei Bedarf darauf ansprechen. Eine verkniffene Mimik, Streitsituationen mit
Mitpatienten, körperliche Anspannung, gereizte Antworten
oder ­
getriebenes Umherlaufen können Frühwarnzeichen
von ­Aggressionen sein. Aggressionen äußern sich zwar bei
­jedem Menschen individuell, wenn man die Patienten aber
besser kennenlernt hat, wird man bereits sehr früh erkennen können, wenn sich eine negative Stimmung entwickelt.
Pflegende können den Patienten dann verschiedene Möglichkeiten anbieten, sich abzulenken oder abzureagieren,
damit sich die Situation nicht zuspitzt. Dabei sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Spaziergänge, Hilfestellungen
in der Küche, ein Aromabad, ein kurzes Gespräch – alles
kann helfen, von der Situation abzulenken.
Merken Direkte Ansprache
Wenn Sie mit aggressiven Bezugspatienten arbeiten, können Sie
mit ihnen direkt besprechen, wie sich aggressives Verhalten bei
ihnen anbahnt und ob es schon Ideen gibt, diese Entwicklung zu
verhindern.
1379
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Freiheitsbeschränkende Maßnahmen
Beispiel Aggression 2
Zurück zu Herrn Yücksel. Leider hat er nicht auf die Angebote der
Pflegenden reagiert. Nun bleibt er auch nicht mehr in seinem
Zimmer, sondern geht über die Station und schubst wortlos jeden Mitpatienten, der ihm über den Weg läuft. Als ihn ein Kollege
anspricht und ihn darauf hinweist, dies zu unterlassen, wird Herr
Yücksel sehr wütend, baut sich vor ihm auf und droht ihm verbal
Schläge an.
Es kann notwendig werden, an dieser Stelle freiheitsbeschränkende Maßnahmen anzuwenden, damit anderen kein
Schaden zugefügt wird. Dabei können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden:
●● geschlossene Türen: sog. „geschlossene Stationen“, Kriseninterventionsräume auf der Station, die von innen
nicht geöffnet werden können, komplizierte Schließmechanismen an den Türen
●● Fixiersysteme: Fixiergurte oder -betten, Bettgitter, Stecktische
●● sedierende Medikamente zum Ruhigstellen
Merken Rechtliche Grundlage
Freiheitsbeschränkende Maßnahmen dürfen nicht ohne Weiteres
getroffen werden. In einer Notsituation können sie angewendet
werden, um für die eigene Sicherheit und die anderer Menschen
zu sorgen (§32,34,35 StGB). Ein Patient darf nicht über längere
Zeit in einer Fixierungssituation belassen werden. Die freiheitsbeschränkende Maßnahme muss schriftlich durch den ärztlichen
Dienst angeordnet werden, darf aber auch dann nicht über unbestimmte Zeit durchgeführt werden. Eine richterliche Genehmigung ist nach einer bestimmten Zeit erforderlich. Dieser Zeitraum ist in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich.
Ein detail­liertes Fixierungsprotokoll ist notwendig, um einerseits
den Hergang und andererseits die weiteren regelmäßigen (Sicht-)
Kontakte zu dem Patienten zu dokumentieren.
In der Regel gibt es auf der Station Standards, in denen das
genaue Vorgehen bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
festgehalten ist. Das psychiatrische Pflegepersonal wird speziell für diesen Notfall ausgebildet. Fixierschulungen stellen
sicher, dass jeder Pflegende das Vorgehen sicher beherrscht
und kein Schaden entsteht. Es gibt in vielen Einrichtungen
Abb. 65.6Fixierung.
Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie bewegungsunfähig an ein Bett gefesselt würden?
1380
Deeskalationstrainings für Pflegende, damit diese sicherer
und deeskalierend in Konfliktsituationen agieren können.
Dabei muss immer auf die Sicherheit des Patienten geachtet werden. Werden freiheitsbeschränkende Maßnahmen
angewendet, muss sichergestellt sein, dass der Patient keine
Gegenstände bei sich hat, die für ihn oder andere gefährlich werden könnten, z. B. scharfe Gegenstände, Feuerzeuge.
Dazu müssen die Taschen und die Kleidung des Patienten
sorgfältig kontrolliert werden.
Wichtig ist außerdem, darüber nachzudenken, was eine
Fixierung für einen Patienten bedeutet. Er wird gegen seinen Willen z. B. an ein Bett gefesselt. In dieser demütigenden und unbequemen Position muss er dann eine ganze Zeit
verharren – oft ohne die Situation zu verstehen. Vielleicht
haben Sie die Möglichkeit zu erfahren, was eine Fixierung
bedeutet. Lassen Sie sich von einem Kollegen für 10 Minuten auf einem Bett fixieren. Sie werden feststellen, dass
eine Fixierung nur im absoluten Notfall angewendet werden
sollte (▶ Abb. 65.6). Sie muss im Verhältnis zu dem stehen,
was passieren könnte. Wenn ein Patient wütend vor einen
Mülleimer tritt oder die Türe knallt, ist dies noch lange kein
Grund für eine freiheitsentziehende Maßnahme. Erlebnisse
mit aggressiven Verhaltensweisen von Patienten sollten immer mit Kollegen oder in der Supervision reflektiert werden.
WISSEN TO GO
Aggressives Verhalten
●● alle Formen der Aggression, die Menschen verletzen: ver-
bal, nonverbal und körperlich
richtet sich gegen die eigene Person
●● „Autoaggression“
Verhalten gegenüber aggressiven Patienten
●● nicht von der aggressiven Stimmung anstecken lassen
●● versuchen, ruhig und sachlich zu bleiben
Aggressionen frühzeitig erkennen
●● genau beobachten: verkniffene Mimik, Streitsituationen mit Mitpatienten, körperliche Anspannung, gereizte
Antworten oder getriebenes Umherlaufen können Frühwarnzeichen sein
●● bei Frühwarnzeichen Möglichkeiten anbieten, sich abzulenken oder abzureagieren
Freiheitseinschränkende Maßnahmen
In einer Notsituation können sie angewendet werden,
um für die eigene Sicherheit und die anderer zu sorgen
(§32,34,35 StGB). Die Maßnahme muss schriftlich durch
den ärztlichen Dienst angeordnet werden. Eine richterliche
Genehmigung ist nach einer bestimmten Zeit erforderlich.
Ein detailliertes Fixierungsprotokoll ist notwendig. Zu den
Maßnahmen gehören:
●● geschlossene Türen: „geschlossene Stationen“, Kriseninterventionsräume
●● Fixiersysteme: Fixiergurte oder -betten, Bettgitter,
Stecktische
●● sedierende Medikamente
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Mitwirken bei der T
­ herapie
Akutpsychiatrie
Beispiel Suizidgefahr Schizophrenie
Der 30-jährige Herr Harms wird nach einem Suizidversuch auf der
akutpsychiatrischen Station aufgenommen. Er wurde von einer
Nachbarin im Heizungskeller beobachtet, wie er versuchte, sich
zu erhängen. Die Nachbarin informierte umgehend die Polizei.
In einem Erstgespräch mit dem diensthabenden Arzt erläutert Herr Harms, wie es zu seinem Suizidversuch gekommen ist.
Stimmen haben ihm gesagt, dass es Zeit sei, „allem ein Ende zu
setzen“. Die Stimmen seien aus dem TV und Radio gekommen.
Er wisse aber auch, dass die Nachbarn so dächten. Er könne hier
zwar frei reden, jedoch könne er nicht wieder nach Hause, weil
alles dann von vorne begänne. Deshalb müsse er weiterhin dringend versuchen, „allem ein Ende zu machen“.
Bei Herrn Harms besteht eine psychotische Form der Suizi­
dalität. Aufgrund einer Schizophrenie (S. 1382) kann er die
Realität nicht erkennen. Stimmen aus dem Fernseher drängen ihn dazu, sich das Leben zu nehmen. Er hat das Gefühl,
die Gedanken seiner Nachbarn lesen zu können. Der Suizidversuch von Herrn Harms war also keine bewusste und
realistische Entscheidung. Neben der pharmakologischen
Behandlung muss Herr Harms auf der Station eng begleitet
werden. In diesem akuten und unberechenbaren Zustand ist
es noch nicht möglich, ihn alleine zu lassen.
ACHTUNG
Wichtig ist, zu überprüfen, ob er noch Gegenstände bei sich trägt,
die ihm zu einem Suizid verhelfen könnten, z. B. scharfe Gegenstände oder Medikamente. Auch Schnürsenkel können in diesem
Fall gefährlich werden.
Herr Harms sollte sich zunächst in einer möglichst reizfrei­
en Umgebung aufhalten, in der kein TV oder Radio läuft. Es
sollte beruhigend mit ihm geredet und jede Maßnahme genau erklärt werden. In vielen akutpsychiatrischen Einrichtungen stehen sog. Überwachungszimmer zur Verfügung,
die eine kontinuierliche Überwachung durch ein an das
Stationszimmer angrenzendes Fenster sicherstellen können.
So ein Überwachungszimmer kann hilfreich sein, wenn der
Patient eine 1:1-Begleitung durch Pflegende ablehnt.
Ambulante Pflege
Beispiel Suizidgefahr Depression
Konflikte, Kontaktabbrüche oder Verluste können in eine
solche Krisensituation führen, z. B. der Tod eines nahestehenden Menschen, berufliche Belastungssituationen wie
eine Kündigung oder eine Abmahnung.
ACHTUNG
Nehmen Sie jeden Suizidgedanken ernst. Ein vollendeter Suizid
kann nie mehr rückgängig gemacht werden. In der Bevölkerung
besteht zum Teil die Annahme, dass laut geäußerte Suizidgedanken nur ein Hilfeschrei seien, auf den aber kein Suizidversuch folgte. Diese Annahme ist falsch. Wenn ein Suizid angekündigt wird,
heißt dies nicht, dass der Versuch nicht unternommen wird.
Das Thema Suizid direkt ansprechen • Wenn jemand Suizidgedanken äußert, müssen diese in jedem Fall ernst genommen werden. Pflegende sollten den Patienten direkt darauf
ansprechen, ohne ihn anzuklagen. Sie sollten nachfragen,
woher der Gedanke kommt, um ihn nachvollziehen zu können. Viele Patienten sind durch ein Gespräch deutlich entlastet. Auch wenn viele Menschen zunächst möglicherweise
Hemmungen haben, dieses sensible Thema anzusprechen,
ist es unbedingt notwendig.
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Suizidgefahr
Nachfragen • Frau Rausch könnte z. B. gefragt werden, ob es
Alternativen zum Suizid gibt. Möglicherweise entwickelt sie
selber gute Ideen. Es sollte auch nach positiven Dingen gefragt werden, die sie am Leben halten könnten. Gibt es möglicherweise doch noch unterstützende Ressourcen wie Familienangehörige, Nachbarn oder Kontakte aus der Kirche?
Viele ältere Menschen erhalten eine Unterstützung durch
ihren Glauben an Gott (▶ Abb. 65.7). Auch diesbezüglich
sollte konkret nachgefragt werden. Welche Probleme führen
Frau Rausch dazu, diese Gedanken zu entwickeln? Falls sie
bereits Medikamente für die Depression bekommt, sollte
erfragt werden, ob sie sie regelmäßig eingenommen hat. Es
sollte auch direkt nachgefragt werden, ob bereits konkrete
Pläne oder Ideen bestehen, wie sie sich das Leben nehmen
möchte. Hat sie einen realistischen und konkreten Plan,
ist höchste Vorsicht geboten. In diesem Fall hat sich Frau
Rausch bereits intensiv mit dem Thema der Selbsttötung
beschäftigt und es handelt sich nicht lediglich um eine Idee.
Die Lage richtig einschätzen • Bei einer sehr schnellen und
völligen Entspannung der Situation sollten Pflegende wachAbb. 65.7Glaube.
Im häuslichen Dienst versorgt Sandra Jung die 76-jährige Frau
Rausch, die an einer Depression leidet. Sie hat keine Familie mehr,
die sich um sie sorgt, und wohnt in einem Hochhaus, wo kaum
Kontakte zu Nachbarn bestehen. Einige Zeit bevor Frau Jung kam,
war Frau Rausch hingefallen und hatte sich eine leichte Verletzung am Knie zugezogen. Jetzt äußert sie weinend: „Es wär’ wohl
besser, wenn ich nicht mehr wäre. Ich falle nur allen zur Last,… das
macht doch keinen Sinn… Ich möchte nicht mehr sein.“
Frau Jung hat sofort die Befürchtung, dass Frau Rausch Suizid­
absichten hat. Frau Rausch hat eine Depression und gehört
damit zur Risikogruppe. Hierzu gehören weiterhin Menschen, die vereinsamt sind, alt sind, Medikamente, Alkohol
oder andere Substanzmittel in großer Menge regelmäßig
einnehmen und Menschen, die bereits einen Suizidversuch
unternommen haben. Durch eine Krisensituation können
bei diesen Menschen suizidale Gedanken entstehen. Im Fall
von Frau Rausch wurden die Gedanken durch die Hilflosigkeit nach ihrem Sturz in der Wohnung ausgelöst. Aber auch
Der Glaube an Gott kann manchen Menschen helfen, Krisen zu überstehen. © robyelo357/fotolia.com
1381
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
sam sein. Es ist immer möglich, dass der Patient dies nur
vortäuscht, um aus dem Kontakt zu gelangen. Es ist wichtig,
dass Pflegende das Gefühl haben, das ein „wirklicher und
echter“ Kontakt besteht. Die Abschätzung der Suizidalität ist
eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.
65.4 Psychosen aus dem
­schizophrenen Formenkreis
ACHTUNG
Grundlagen
Wenn der Patient nicht in der Lage ist, einen klaren Abstand zur
Suizididee zu beziehen, sind Sie in der Pflicht, etwas zu unternehmen. Er hat sich an Sie gewandt und seine Suizidgedanken geäußert. Wenn Sie diesbezüglich nicht reagieren, handelt es sich um
eine Straftat.
Psychiatrische Hilfe anbieten • Pflegende können dem Patienten eine klinische Intervention auf der Akutstation der
Psychiatrie anbieten. Alternativ bietet der sozialpsychiatrische Dienst in jeder Stadt i. d. R. einen psychiatrischen Notfalldienst an, der in Krisensituationen berät und unterstützt.
Gespräch dokumentieren • Unter Umständen möchte der Patient nicht, dass die Informationen weitergegeben werden.
Darauf dürfen Pflegende sich nicht einlassen. Sie sollten
dem Patienten verdeutlichen, dass Transparenz innerhalb
des pflegerischen Teams absoluten Vorrang hat. Das Gespräch muss unbedingt dokumentiert werden.
Hilfe suchen • Niemand sollte sich scheuen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Umgang mit suizidalen Patienten ist
eine große Herausforderung, die oftmals auch professionelle
Pflegekräfte mit langjähriger Berufserfahrung hilflos macht.
WISSEN TO GO
Suizidgefahr
Akutpsychiatrie
●● bei psychotischer Form ist ein Suizidversuch keine bewusste Entscheidung
●● neben medikamentöser Behandlung Patienten eng begleiten, nicht alleine lassen
●● überprüfen, ob er Gegenstände für einen Suizid bei sich
trägt
●● in eine möglichst reizfreie Umgebung bringen
Ambulante Pflege
●● Risikogruppe: Menschen mit Depression, vereinsamte,
alte Menschen, Menschen, die Substanzmittel in großer
Menge einnehmen oder bereits einen Suizidversuch unternommen haben
●● Ansprechen und nachfragen: Suizidgedanken immer
ernst nehmen; Patienten direkt darauf ansprechen. Sieht
er Alternativen zum Suizid? Gibt es unterstützende Ressourcen? Hat der Patient einen realistischen und konkreten Suizidplan, ist höchste Vorsicht geboten.
●● Lage richtig einschätzen: Bei sehr schneller Entspannung der Situation wachsam sein. Nimmt der Patient
keinen klaren Abstand zur Suizididee, muss etwas unternommen werden.
●● Psychiatrische Hilfe anbieten: z. B. klinische Intervention in der Psychiatrie oder sozialpsychiatrischer Dienst
●● Gespräch dokumentieren: Gespräch unbedingt dokumentieren
1382
65.4.1 Schizophrenie
Definition Schizophrenie
Schizophrenie ist eine tiefgreifende psychische Störung, die Denken, Wahrnehmung und Gefühle betrifft. Im Vordergrund stehen
Wahn, Wahrnehmungsstörungen, Denkstörungen und Störungen des Ich-Erlebens. Oft geht der Bezug zur Wirklichkeit verloren
und die Bewältigung des Alltags ist nicht mehr möglich.
In den meisten Fällen beginnt die Erkrankung zwischen dem
18. und 35. Lebensjahr, oft mit Symptomen, die nicht unbedingt auf eine Schizophrenie schließen lassen, wie Angst,
Schlafstörungen oder depressive Stimmung (= Vorstadium).
Die Symptome der ausgeprägten Schizophrenie werden untergliedert in:
●● Plus- oder Positivsymptome: Symptome, die im Vergleich
zu einem Nichterkrankten hinzukommen. Dies sind vor
allem:
––Wahneinfälle oder Wahnvorstellungen, z. B. Verfolgungs-, Vergiftungs- oder Größenwahn
––Wahrnehmungsstörungen in Form von Halluzinationen,
z. B. Stimmenhören
––Störungen des Ich-Erlebens: das eigene Ich fühlt sich
fremd an, andere Menschen lesen, steuern oder entziehen die Gedanken
––Denkstörungen, z. B. Zerfahrenheit im Denken, Gedankensprünge
●● Minus- oder Negativsymptome: Symptome, die im Vergleich zum Nichterkrankten vermindert sind, z. B. Antriebslosigkeit, Gefühlsarmut, Niedergeschlagenheit
●● psychomotorische Störungen: z. B. verlangsamte Bewegung, eingeschränkte Mimik und Gestik
Mitwirken bei der Therapie
Beispiel Schizophrenie
Herr Bayerlein wird mit akuten schizophrenen Symptomen auf der
Akutstation einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Er äußert,
dass seine Nachbarn ihn bespitzeln, durch die Steckdosen abhören
und die Briefe in seinem Briefkasten mit einem Nervengift versehen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben und langsam und qualvoll
zu töten. Er merke dies jeden Tag, habe die Steckdosen schon mit
Klebeband verschlossen und öffne die Post nur noch mit Gummihandschuhen. Irgendwann habe es ihm gereicht, dann habe er bei
den Nachbarn geklingelt, um sie zur Rede zu stellen. Dabei habe er
sicherheitshalber einen Baseballschläger mitgenommen, um sich
zu verteidigen – falls sie ihn angreifen würden. Plötzlich habe die
Polizei im Flur gestanden und ihn gebeten, mitzukommen. So sei
er plötzlich in der Psychiatrie gelandet. Von dem behandelnden
Arzt wird ihm das Medikament Haldol verordnet. Als ihm die erste
Dosierung verabreicht werden soll, reagiert Herr Bayerlein wütend
und fährt die Pflegekraft an: „Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass
Sie mit diesen Spitzeln unter einer Decke stecken? Sie wurden doch
von Ihnen beauftragt, mich auch hier in den Wahnsinn zu treiben.
Ich nehme Ihr Zeug nicht. Das wird mich doch umbringen.“ Herr
Bayerlein verlässt die Situation abrupt, begibt sich in sein Zimmer
und schlägt die Tür hinter sich zu.
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65
Psychosen aus dem s­ chizophrenen Formenkreis
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika (S. 1404)
hat bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen Priorität, um die akuten Symptome zu reduzieren und einen Realitätsbezug und Entspannung zu ermöglichen. In akuten
Phasen haben Patienten evtl. die Vorstellung, dass die Medikamente sie vergiften oder ihnen auf andere Weise nicht
guttun. Erst nach einer regelmäßigen Einnahme verringern
sich i. d. R. die Symptome und die Patienten bemerken eine
positive Wirkung der Medikamente. Bis dahin kann es unter
Umständen schwierig werden, sicherzustellen, dass der Patient das Medikament auch wirklich einnimmt. Betroffene
können sehr kreativ sein, sie sammeln die Medikamente z. B.
im Mund und spucken sie im Anschluss wieder aus.
ACHTUNG
Auch wenn sich die Medikamentengabe möglicherweise schwierig gestaltet, dürfen die Medikamente auf keinen Fall ohne das
Wissen der Betroffenen, z. B. in einem Getränk, verabreicht werden. Dieses Vorgehen würde einer Körperverletzung entsprechen.
Eine wichtige Aufgabe von Pflegenden ist es daher, die Patienten an die Medikamente heranzuführen, sie zu einer
regelmäßigen Einnahme zu motivieren und auf eventuelle
Fragen oder Ängste einzugehen.
Kommunikation
Auch in der nicht medikamentösen Therapie haben Pfle­
gende wichtige Aufgaben. Sie bieten dem Erkrankten eine
Möglichkeit, modellhaft an ihnen zu lernen. Dazu ist es zunächst wichtig, einige Aspekte der Kommunikation zu beachten.
Bei einem Gespräch mit Herrn Bayerlein muss dieser als
Mensch ernst genommen werden. Möglicherweise wird er
dabei von seinen Erlebnissen berichten. Seine Angst sollte
akzeptiert und sein Wahn nicht infrage gestellt werden.
Pflegende sollten versuchen, sich im Gespräch auf eine
Sach­
ebene zu begeben und z. B. über Hobbys, sportliche
Vorlieben, aktuelle sportliche Ereignisse und Autos zu reden.
So kann immer wieder ein Realitätsbezug einfließen, ohne
Herrn Bayerlein damit zu überfordern. Da er möglicherweise Probleme mit der Konzentration hat und vom „Hölzchen
aufs Stöckchen“ kommt (Denkzerfahrenheit), sollte er zunächst den letzten Gedanken zu Ende bringen können. Erst
dann kann man ihn auf seine Gedankensprünge aufmerksam machen, indem man die Anfangsfrage erneut stellt.
Kurze Fragen und Fragen, die sich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten lassen, können helfen, eine präzise Antwort zu
bekommen. Sollte man keine präzise Antwort bekommen,
oder die Antwort nicht verstehen, sollte dies nicht gewertet
werden. Es ist wichtig, authentisch zu bleiben, zu sagen, dass
man die Antwort nicht verstanden habe und die Frage einfach
erneut stellen. Sollte Herr Bayerlein sich darüber ärgern, ist
es wichtig, nicht emotional mitzuschwingen, sondern sach­
lich zu bleiben. Wenn Herr Bayerlein direkt über seinen Wahn
sprechen möchte, sollte er ausreden können, aber nicht zum
Weiterreden ermutigt werden. Der Realitätsbezug sollte wieder hergestellt werden, indem über sachliche Themen geredet
wird. Themen wie Religion oder Philosophie sollte vermieden
werden, da diese Themen für Personen mit schizophrenen Erkrankungen häufig zu abstrakt oder wahnhaft besetzt sind.
Informationen und Struktur
Es ist wichtig, die Compliance herzustellen. Das bedeutet,
dass Herr Bayerlein den therapeutischen Prozess versteht
und sich kooperativ zeigt. Dazu gehört, dass er Informationen über das Krankheitsbild, die Symptome und die Medikamente erhält. Ein strukturierter Therapieplan kann
Betroffenen helfen, Orientierung im Prozess zu erlangen
und das Gefühl zu bekommen, etwas „getan“ zu haben. Da
Patienten mit schizophrenen Erkrankungen häufig selber
nur zu wenigen strukturierten Handlungen in der Lage sind,
begleiten Pflegende sie auf dem Weg zu Fachtherapien wie
Ergo- oder Beschäftigungstherapie. Auf den kurzen Wegen
bieten sich kurze Gespräche an, um eine professionelle Beziehung herzustellen.
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Herr Bayerlein ist nicht auf eigenen Wunsch, sondern mithilfe der Polizei auf die Station gebracht worden. Sofern kein
akuter Anlass besteht, eine Selbst- oder Fremdgefährdung
anzunehmen und er sich in einem Überwachungszimmer
befindet, sollten ihm einige Minuten Zeit gelassen werden,
um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Erst nach
einiger Zeit, wenn Herr Bayerlein sich beruhigt hat, sollte
erneut Kontakt zu ihm aufgenommen werden.
Um eine wertschätzende Haltung und Respekt gegenüber
seiner Privatsphäre zu signalisieren, sollte er zunächst gefragt werden, ob er etwas Zeit hat. Er sollte nicht direkt aufgefordert werden, die Medikamente einzunehmen, sondern
gebeten werden zu überlegen, was ihm helfen könnte, die
Medikamente einzunehmen. Möglicherweise möchte Herr
Bayerlein keine Tropfen oder Saft einnehmen, sondern lieber eine Tablette, die er selbst aus der Verpackung nehmen
kann. In dem Fall kann der behandelnde Arzt nach Alternativen gefragt werden.
Psychoedukative Gruppen
Psychoedukative Gruppen werden von Pflegenden angeboten und teilweise durch Ärzte begleitet. In diesen Gruppen
sollen Patienten Wissen über die Erkrankung erlangen, Verhaltensalternativen aufbauen und sich über Erfahrungen
austauschen. Besondere Gruppen schulen Patienten in sozialen oder emotionalen Kompetenzen, hier sind spezielle
Fortbildungen der Pflegenden erforderlich. Weiterhin trainieren Pflegende die Patienten in ihren alltagspraktischen
Fähigkeiten, dazu gehören z. B. Kochtrainings, Haushaltstrainings oder gemeinsame Einkäufe.
Reflexion von Erfahrungen
Erfahrungen im Umgang mit dem Patienten werden im interdisziplinären Team reflektiert oder in Supervisionen
thematisiert. Wenn eine Bezugspflegeperson immer wieder ­Bestandteil des Wahns eines Patienten wird, ist es notwendig, die Bezüge und Zuständigkeiten zu ändern, um
die ­Situation zu entspannen und eine professionelle Beziehungsgestaltung zu ermöglichen.
Professionelle Beziehung
Die Beziehung zwischen Bezugspflegekraft und Patient
sollte über ein ausgewogenes Maß an Nähe und Distanz
verfügen. Je besser Pflegende den Patienten kennen, desto
besser werden sie ihn einschätzen können. Das ermöglicht
einen reflektierten Umgang mit Aggression, Wut, Stimmungsschwankungen und Ängsten. Der Patient beobachtet
seine Bezugspflegekraft genau (▶ Abb. 65.8). Deshalb ist es
wichtig, authentisch und sachlich zu bleiben und Kontakte
eher kurz, dafür häufiger zu dosieren. Der Patient sollte genügend Rückzugsmöglichkeiten haben und nicht bedrängt
werden.
1383
65
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Abb. 65.8Professionelle Beziehung.
dieser Phase können Suizidgedanken auftreten. Daher sollten Pflegende einen guten Kontakt zu den Patienten halten
und in Gesprächen die Stimmungslage und das Wohlbefinden eruieren, auch wenn die Patienten weniger Symptome
der Schizophrenie zeigen.
Neben den suizidalen Gedanken und der Aggression gegen
die eigene Person besteht bei Patienten mit Schizophrenie
unter Umständen auch fremdaggressives Verhalten. Besonders in akut psychotischen Phasen sind Betroffene häufig
nicht einfach einzuschätzen, z. B. weil kein informatives Gespräch möglich ist. Deshalb ist es wichtig, die Stimmungslage des Patienten empathisch zu beobachten.
Merken Nicht nachtragend sein
Patienten mit Schizophrenie sind sehr misstrauisch. Umso wichtiger ist es,
dass Pflegende in der Kommunikation authentisch sind. (Situation nachgestellt)
WISSEN TO GO
Schizophrenie – Therapie
Sie ist eine tiefgreifende psychische Störung mit Wahn­
ideen, Wahrnehmungsstörungen, Denkstörungen und
Störungen des Ich-Erlebens.
●● Medikamentöse Therapie:
––Patienten an die Medikamente heranführen, zu einer
regelmäßigen Einnahme motivieren, auf Fragen/Ängste eingehen
––Medikamente auf keinen Fall ohne Wissen der Betroffenen verabreichen (Körperverletzung)
●● Kommunikation:
––Patienten ernst nehmen: Angst akzeptieren, Wahn
nicht infrage stellen
––im Gespräch Realitätsbezug herstellen
––authentisch und sachlich zu bleiben
●● Informationen und Struktur:
––Compliance herstellen: Patient informieren über
Krankheitsbild, Symptome und Medikamente
––strukturierter Therapieplan hilft, Orientierung im Prozess zu erlangen
●● Psychoedukative Gruppen: Wissen über die Erkrankung
erlangen, Verhaltensalternativen aufbauen, sich über Erfahrungen austauschen, soziale oder emotionale Kompetenzen weiterentwickeln, alltagspraktische Fähigkeiten
●● Reflexion von Erfahrungen: Erfahrungen im interdisziplinären Team reflektieren
Beobachtungskriterien und
Pflegebasismaßnahmen
Patienten mit Schizophrenie haben ein erhöhtes Suizidrisiko.
Etwa 10–15% der Betroffenen sterben durch eine Selbsttötung. Ist die akute Psychose abgeklungen und ist der Patient
gut auf die Medikamente eingestellt, kann es vorkommen,
dass die Betroffenen Bilanz über ihre Situation ziehen. Wenn
sie erkennen, wie das zukünftige Leben ablaufen könnte, sind manche Patienten überfordert oder deprimiert. In
1384
Unruhe kann derartige konfliktreiche und angespannte Situationen häufig noch verschärfen. Andere Patienten, die
dabei sind, sollten gebeten werden, sich aus der Situation
zurückzuziehen.
Ernährung und Flüssigkeitszufuhr • In akuten schizophrenen
Phasen haben Patienten unter Umständen Defizite in ihrer
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Kreative Interventionen
können dem entgegenwirken. Wenn Herr Bayerlein befürchtet, dass ihn jemand vergiften will, sollte er selber die Wasserflasche öffnen oder ihm sollte die Möglichkeit gegeben
werden, abgepackte Nahrungsmittel zu erhalten. Ebenso
kann er gefragt werden, was ihm helfen würde. Gegebenenfalls hilft es ihm, wenn jemand das Essen vorkostet.
Körperpflege • Sie ist bei Patienten mit Schizophrenie möglicherweise beeinträchtigt. Hilfreich ist es, mit dem Patienten feste Duschtage zu vereinbaren, die in den Therapieplan
integriert werden. Falls der Patient nicht duschen möchte,
sollte ihm alternativ ein Bad oder Waschen am Waschbecken angeboten werden.
Schlafen • Oft kommen Patienten mit schizophrenen Erkrankungen schlecht zur Ruhe und schlafen nicht gut ein.
Hier ist wieder pflegerische Kreativität gefragt. Wirkt der
Patient ängstlich, sollte nachgeforscht werden, wovor er
Angst hat. Hat der Patient z. B. Angst vor der Dunkelheit,
sollte er ein Nachtlicht bekommen oder die Tür nur angelehnt werden. Besteht die Angst vor dem Alleinsein, kann es
vielleicht helfen, wenn er die Klingelanlage testet und ihm
versichert wird, dass so schnell wie möglich jemand kommt.
Kommt der Patient nicht zur Ruhe und wirkt abends noch
unruhig und angespannt, können Abendrituale installiert
werden, die der Patient als angenehm und beruhigend empfindet, z. B. Teetrinken oder Entspannungsübungen.
WISSEN TO GO
Schizophrenie – Beobachtungskriterien und Pflege­
basismaßnahmen
●● Stimmungslage:
erhöhtes Suizidrisiko, aggressives Verhalten → guten Kontakt halten und Stimmungslage eruieren
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Seien Sie nicht nachtragend, wenn Sie ein Patient z. B. im Wahn
wüst beschimpft. Möglicherweise sind Sie in dem Moment Bestandteil des Wahns und werden von dem Betroffenen als Angreifer erlebt. Ziehen Sie sich zurück und lassen Sie einen Kollegen mit
dem Patienten in Kontakt treten.
Affektive Störungen
und Flüssigkeitszufuhr: in akuter Phase auf
­Defizite achten
●● Körperpflege: möglicherweise beeinträchtigt; evtl. mit
dem Patienten z. B. feste Duschtage vereinbaren
●● Schlafen: oft bestehen Schlafprobleme, entsprechend
der ­Ursache pflegerische Angebote machen
ihnen die Möglichkeit einer ambulanten Psychotherapie zur
Bewältigung der Erlebnisse aufgezeigt werden.
WISSEN TO GO
Schizophrenie – Informieren, Schulen, Beraten
●● Aufklärung
über die Krankheit und ihre Symptome
der regelmäßigen Medikamentenein­
Informieren, Schulen, Beraten
●● Notwendigkeit
Die wichtigsten speziellen Beratungsaspekte für Patienten
mit Schizophrenie sind:
●● Der Patient sollte in Zusammenarbeit mit dem Arzt über
die Krankheit mit den entsprechenden Symptomen aufgeklärt werden.
●● Die Notwendigkeit der regelmäßigen Medikamenteneinnahme sollte thematisiert werden – auch in Zuständen, in
denen die Symptome besser sind. Bei Bedarf werden das
Medikament, die Einnahmeform und die Nebenwirkungen
erklärt.
●● Über frühe Anzeichen eines akuten Zustands sollte gesprochen werden, z. B. sozialer Rückzug, Verweigerung der
Medikamenteneinnahme, ansteigendes Misstrauen.
●● Weil eigene Lösungsstrategien unter Umständen aufgrund der Krankheit eingeschränkt sein können, sollte
dem ­Patienten Unterstützung bei Problemen angeboten
­werden.
●● Dem Patienten sollte vermittelt werden, dass eine geordnete Tagesstruktur wichtig ist und ein sozialer Rückzug
vermieden werden sollte.
●● frühe
Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung
Menschen mit schizophrenen Erkrankungen benötigen von
außen viel Struktur. Deshalb sollte die Situation nach der
Entlassung unbedingt vorher geregelt werden. Die Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten müssen genau überprüft werden. Es sollte ebenfalls überprüft werden, ob der
Betroffene für sich selber sorgen kann oder ob eine rechtliche Betreuung notwendig ist. Dabei arbeiten Pflegende eng
mit dem Kliniksozialdienst zusammen, der weitere Maßnahmen einleitet und Kontakte herstellt. Neben stationären Angeboten können ambulante Hilfen den Betroffenen
unterstützen, sein Leben mit der Krankheit zu bewältigen.
Wird der Patient wieder in sein ursprüngliches Lebensumfeld entlassen, benötigt er sozialpsychiatrische Kontakt­
stellen oder Beratungsstellen für mögliche problematische
­Situationen.
Der Betroffene benötigt einen strukturierten Tagesplan
mit Beschäftigungsmöglichkeiten. Rehabilitationsmaßnah­
men und Wiedereingliederung in eine Beschäftigung sind
wichtige Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. Eine
Übergangszeit in einer psychiatrischen Tagesklinik kann für
den Betroffenen hilfreich sein, grundsätzliche alltagspraktische Fähigkeiten wiederzuerlangen.
Wenn der Patient wieder in sein häusliches Umfeld entlassen wird, sollte beachtet werden, dass die Angehörigen
ebenfalls Unterstützung benötigen. Häufig sind weitere Familienangehörige ebenfalls von schizophrenen Erkrankungen betroffen. Angehörige sollten genau über die Krankheit
und darüber informiert werden, dass es absolut notwendig
ist, die Medikamente sehr genau einzunehmen. Angehöri­
gengruppen können hilfreich sein, den Austausch über etwaige Probleme ermöglichen. Angehörige haben oft Gewalterfahrungen mit dem Betroffenen gemacht. Daher sollte
nahme
Anzeichen eines akuten Zustands erkennen
Die Situation nach der Entlassung unbedingt vorher regeln: Ist eine rechtliche Betreuung notwendig? Der Patient
benötigt sozialpsychiatrische Kontaktstellen oder Beratungsstellen für problematische Situationen.
Der Betroffene benötigt einen strukturierten Tagesplan.
Rehabilitationsmaßnahmen und Wiedereingliederung in
eine Beschäftigung sind wichtige Aspekte. Eine Übergangszeit in einer psychiatrischen Tagesklinik kann hilfreich sein.
Die Angehörigen benötigen ebenfalls Unterstützung.
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●● Ernährung
65.4.2 Schizoaffektive Psychosen
Definition Die schizoaffektive Psychose ist eine Erkrankung, bei der die Betroffenen sowohl schizophrene als auch affektive Symptome haben. Affektive Störungen sind durch krankhafte Veränderungen
der Stimmung gekennzeichnet. Diese kann bei der Depression
niedergeschlagen oder bei der Manie gehoben sein. Man unterscheidet eine schizodepressive, eine schizomanische und eine gemischte Störung.
Prinzipiell können sämtliche Symptome der Schizophrenie
sowie der Manie und Depression auftreten. In der Akutphase wird mit Antipsychotika behandelt. Bei der schizodepressiven Störung wird zusätzlich ein Antidepressivum, bei der
schizomanischen Störung ein Stimmungsstabilisierer verabreicht. Hinzu kommen psycho- und soziotherapeutische
Maßnahmen.
65.5 Affektive Störungen
Definition Affektive Störungen
Affektive Störungen sind Erkrankungen, bei denen die Stimmung
(= Affektivität) und der Antrieb krankhaft verändert sind.
Nach der vorhandenen Symptomatik bzw. Stimmungslage
unterscheidet man:
●● Depression (depressive Episode): niedergeschlagene und
hoffnungslose Stimmung mit Antriebsminderung
●● Manie (manische Episode): gehobene oder reizbare Stimmung mit Antriebssteigerung
Tritt entweder nur eine depressive oder nur eine manische
Symptomatik auf, spricht man von einer unipolaren Störung.
Leidet der Patient sowohl an depressiven als auch manischen
Symptomen im Wechsel, so liegt eine bipolare Störung oder
manisch-depressive Erkrankung vor.
1385
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65.5.1 Depression
Grundlagen
Definition Depression
Bei der Depression leidet der Patient an gedrückter Stimmung,
Interessenverlust sowie vermindertem Antrieb und verminderter
Aktivität. Er verspürt eine innere Leere und beschreibt ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“, empfindet also weder Freude noch Leid
(▶ Abb. 65.9). Hinzu kommen körperliche Symptome, z. B. mangelnder Appetit, Übelkeit, Gewichtsverlust, Erschöpfung.
Depressive Erkrankungen gehören heute zu den häufigs­
ten psychischen Erkrankungen. Etwa 18 von 100 Menschen
erkranken im Laufe ihres Lebens daran. Dabei sind Frauen
häufiger betroffen als Männer. Eine Depression kann in jedem Lebensalter auftreten, auch bereits bei Kindern und Jugendlichen. Die Ersterkrankung wird aber häufig zwischen
dem 30. und 40. Lebensjahr beobachtet. Folgende Symptome treten häufig auf.
●● Gedanken: Grübeln, Selbstvorwürfe, kein Selbstvertrauen,
Konzentrationsschwierigkeiten, Entscheidungsschwierigkeiten, negative und pessimistische Betrachtung der Zukunft, Suizidgedanken, Todeswunsch
●● Körper: innere Nervosität, Appetitverlust oder gesteigerter
Appetit, Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Engegefühl in
der Brust, Verdauungsbeschwerden, Beeinträchtigung der
Atemwege
●● Emotionen: Angst, Leere, Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit,
Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung,
Einsamkeit, Gefühle der Wertlosigkeit und Angst, Gereiztheit, Empfindlichkeit
●● Verhalten: Antriebslosigkeit (besonders am Morgen) oder
unproduktive Getriebenheit und Hektik, Lustlosigkeit, sozialer Rückzug, Patient beginnt schnell zu weinen, keine
Energie, Jammern und Klagen
Mitwirken bei der Therapie
Medikamentöse Therapie
Im Rahmen der Therapie wirken Pflegende vielfältig mit.
Die medikamentöse Therapie erfolgt mit Antidepressiva (S. 1404). Sie sollten zur langfristigen Verbesserung der
Symptomatik regelmäßig verabreicht und eingenommen
Abb. 65.9Depression.
Das Krankheitsbild zeichnet sich u. a. durch eine negative Grundstimmung
aus. (Situation nachgestellt)
1386
werden. In einer Phase tiefer Depression erscheint den Betroffenen jedoch häufig jede Intervention sinnlos und kostet
sie viel Kraft. Daher ist es notwendig, dass Pflegende die Patienten beratend und anleitend begleiten.
Der Wirkstoff des Medikaments und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Der Patient sollte wissen, dass
es unter Umständen einige Zeit dauern kann, bis das Medikament eine spürbare Wirkung zeigt. Bei einigen Präparaten
kann die Wirksamkeit frühestens nach 2 Wochen festgestellt
werden. Die Patienten sollten zur weiteren Einnahme motiviert werden. Pflegende sollten genau erklären, wie die Medikamente einzunehmen sind und die Einnahme begleiten.
ACHTUNG
Da Menschen mit Depressionen häufig Suizidgedanken haben, ist
es notwendig, darauf zu achten, dass die Medikamente nicht für
einen möglichen Suizidversuch gesammelt werden.
Nicht medikamentöse Therapie
Die nicht medikamentöse Therapie nimmt einen hohen
Stellenwert ein. Patienten mit depressiven Erkrankungen
müssen i. d. R. aufgrund der potenziellen Suizidgefahr eng
begleitet werden. Die Arbeit mit den Betroffenen ist häufig
sehr anstrengend, da wenig Motivation gezeigt wird und
eine negative Grundstimmung den Beziehungsprozess begleitet.
Die Suizidalität muss durch Pflegende unbedingt abgeklärt
werden. Da ein großer Teil der Menschen mit depressiven
Syndromen eine innere Leere und Sinnlosigkeit empfindet,
ist der Gedanke des Suizidversuchs häufig nicht fern. Der Betroffene sollte direkt, aber einfühlsam darauf angesprochen
werden. So wie sich die Stimmung der Patienten verändert,
ändert sich auch das Suizidrisiko. Deshalb ist es notwendig,
über den gesamten Behandlungsprozess die potenzielle Suizidalität zu beachten.
Menschen mit depressiven Erkrankungen haben verschiedene Symptome. Es ist wichtig, mit dem Bezugspatienten zu
reden und dabei zu klären, welche depressiven Symptome
bei ihm auftreten. Diese Symptome sollten dokumentiert
werden. Der Patient sollte darüber informiert werden, dass
die Symptome zurückgehen, wenn sich der Krankheitszustand durch die Behandlung bessert.
Schlafentzugstherapie • Sie wird gerade zu Beginn zusätzlich zur medikamentösen Therapie durchgeführt, wenn die
Medikamente noch keine Wirkung zeigen. Die Therapie ist
nicht geeignet bei Menschen mit Kreislaufproblemen oder
Herzerkrankungen. Bei der Schlafentzugstherapie übernehmen Pflegende eine maßgeblich begleitende und unterstützende Funktion. Die Schlafentzugstherapie wirkt schnell
positiv auf die Stimmungslage des Patienten und wird
vorwiegend stationär durchgeführt. Es wird unterschieden
zwischen:
●● totaler Schlafentzug: Der Patient bleibt die komplette
Nacht über wach.
●● partieller Schlafentzug: Der Patient wird zu einem bestimmten Zeitpunkt geweckt, um die zweite Phase der
Nacht wach zu bleiben.
●● Schlafphasenverlagerung: Diese wird häufig im Anschluss an den Schlafentzug durchgeführt, damit der
positive Effekt, also die aufgehellte Stimmung, länger
anhängt. In der Schlafphasenverlagerung wird die Schlafzeit verändert. So schläft der Patient z. B. in der ersten
Nacht von 16 Uhr bis um Mitternacht, sofern die übliche Schlafzeit 8 Stunden beträgt. In den nachfolgenden
Nächten wird die Einschlafzeit jeweils um eine Stunde
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Affektive Störungen
Beim Schlafentzug oder bei der Schlafphasenverlagerung
setzen Pflegende die therapeutische Anordnung um, indem
sie den Patienten wecken und ihn in der Nacht und am Folgetag begleiten und beschäftigen, damit er nicht einschläft.
Weiterhin kontrollieren sie die Vitalwerte, da es oftmals zu
Kreislaufproblemen und Schwindelgefühlen kommt. Bereits
kurze Schlafphasen können das Ergebnis beeinträchtigen.
Dem Patienten (optimaler sind Patientengruppen) sollten
verschiedene Beschäftigungsalternativen (Gesellschaftsspiele, Handarbeit, Kreativangebote) oder Bewegungsmög­
lichkeiten angeboten (kurze Nachtspaziergänge, Bewegungstherapie am Tag) und für viel frische Luft gesorgt werden. Die Einbindung in einen strukturierten Behandlungsplan mit abwechslungsreichem Tagesprogramm hilft dem
Patienten, nicht einzuschlafen.
Pflegende sollten den Patienten über den Sinn der Schlafentzugstherapie umfassend informieren und ihn motivieren, sie durchzuhalten. Gerade bei Patienten, bei denen die
Medikation noch keine Wirkung gezeigt hat, ist die Schlafentzugstherapie eine gute Möglichkeit, schnell und effektiv
die Stimmung aufzuhellen und den Antrieb (vor allem bei
Antriebslosigkeit in den Morgenstunden) zu steigern und
auf diese Weise die Zeit bis zur Wirksamkeit der Medikation
zu überbrücken.
ACHTUNG
Bei latenter Suizidalität ist es wichtig, den Patienten auch bei
scheinbar verbesserter Stimmung eng zu begleiten und zu überwachen. Durch die Steigerung des Antriebs kann die Schwelle zur
Umsetzung eines Suizidversuchs herabgesetzt sein.
Elektrokrampftherapie • 
Sie wird bei therapieresistenten
Depressionen eingesetzt. Unter Vollnarkose, Muskelrelaxation und Sauerstoffbehandlung wird mithilfe von ca. 30 Sekunden andauernden Stromstößen ein epileptischer Anfall
ausgelöst. Es sind mehrere Behandlungen (6–12) in einem
Abstand von 2–3 Tagen notwendig. Als Hauptnebenwirkung
ergeben sich in vielen Fällen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, die jedoch reversibel sind.
Kommunikation
Pflegende benötigen viel Geduld und Reflexionsvermögen,
um zu verstehen, dass die Krankheit dem Betroffenen keine Verhaltensalternativen ermöglicht. Der Patient weist
Pflegende nicht wütend oder gereizt zurück, weil er sie
nicht mag, sondern weil er nicht anders kann. Es ist deshalb
wichtig, sich nicht zurückzuziehen, sondern immer wieder auf den Patienten zuzugehen und ihm Gesprächs- oder
Beschäftigungsangebote zu machen. Nimmt der Betroffene diese an, sollte direkt ein positives Feedback gegeben
werden. Menschen mit depressiven Erkrankungen können
diesen Fortschritt meist selber nicht sehen und benötigen
Rückmeldungen von außen. Falls der Betroffene die Rückmeldung ins Negative zieht, sollte man sich nicht davon
beeindrucken lassen und weiterhin positive Rückmeldung
geben. Kurze Gespräche sollten ausgedehnten Kontakten
vorgezogen werden.
Merken Kontakte kurz + häufig
Da Menschen mit depressiven Störungen häufig nicht in der
Lage sind, sich für längere Zeit zu konzentrieren, ist es hilfreich,
die Kontakte zwar kürzer, dafür in häufigeren Abständen zu
­gestalten.
Kontraproduktiv ist es, die Situation zu beschönigen („So
schlimm ist es ja gar nicht“), den Patienten extrem aufmuntern zu wollen, oder in die ferne Zukunft zu blicken
(„Sie werden sehen, nächstes Jahr um diese Zeit sieht alles
schon ganz anders aus“). Betroffene werden sich auf diese
Weise nicht verstanden fühlen und eher mit Gereiztheit,
Enttäuschung oder Rückzug reagieren. Oft sind sie nicht
in der Lage, eine positive Zukunft für sich zu sehen. Im
Gespräch sollte man lieber auf der sachlichen Ebene bleiben und sich authentisch verhalten. Spricht man mit dem
Patienten über die depressive Störung, sollte es das Ziel
sein, dem Patienten zu vermitteln, dass es sich bei der depressiven Störung um eine Krankheit und nicht um eine
generelle Störung des sozialen und emotionalen Verhaltens handelt.
WISSEN TO GO
Depressionen – Therapie
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verschoben, bis wieder eine reguläre Einschlafzeit am
Abend erreicht worden ist.
Der Patient leidet an gedrückter Stimmung, Interessenverlust sowie Verminderung von Antrieb und Aktivität. Er
verspürt eine innere Leere.
●● Medikamentöse Therapie: Wirkstoff und mögliche Nebenwirkungen sollten bekannt sein. Patienten aufklären,
dass es einige Zeit dauert, bis das Medikament wirkt; zur
regelmäßigen Einnahme motivieren; darauf achten, dass
Medikamente nicht gesammelt werden.
●● Schlafentzugstherapie: Sie wirkt schnell positiv auf die
Stimmung. Pflegende begleiten und beschäftigen den
Patienten und kontrollieren die Vitalwerte.
●● Nicht medikamentöse Therapie: Sie hat einen hohen
Stellenwert. Die Arbeit mit den Betroffenen ist häufig
sehr anstrengend, da eine negative Grundstimmung den
Beziehungsprozess begleitet. Die potenzielle Suizidalität
muss ­beachtet werden.
●● Kommunikation: Nimmt der Betroffene Gesprächsoder Beschäftigungsangebote an, sollte direkt ein positives Feedback gegeben werden. Kurze Gespräche sind
besser als ausgedehnte Kontakte. Kontraproduktiv ist es,
die Situation zu beschönigen.
Pflegebasismaßnahmen und
­Beobachtungskriterien
Vitalparameter • Menschen mit Depressionen klagen häufig
über somatische Beschwerden wie Herzrasen oder Schwindel. Es ist daher notwendig, eine regelmäßige Vitalzeichenkontrolle durchzuführen.
Flüssigkeitsaufnahme • Die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr der Patienten sollte beobachtet werden. Häufig nehmen
Menschen mit depressiven Störungen aus Motivationslosigkeit kaum Flüssigkeit zu sich. Es sollte darauf geachtet werden, ob der Patient ausreichend trinkt. Ggf. sollte der Patient
darauf hingewiesen, bzw. motiviert werden, in regelmäßigen Abständen etwas zu trinken.
Ernährung • Die Nahrungszufuhr kann gehemmt oder übersteigert sein. Das Essverhalten sollte gemeinsam mit dem
Patienten besprochen und bei Appetitlosigkeit auf eine
Mangelernährung geachtet werden. Vielleicht hat der Patient besondere Vorlieben, die die Motivation zur Nahrungsaufnahme fördern können. Bei Übersteigerung des Appetits
und der Aufnahme großer Mengen an Nahrung sollte der
1387
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Patient direkt darauf angesprochen werden. Dabei sollte
bedacht werden, dass viele Antidepressiva appetitanregend
wirken können.
Ausscheiden • Viele Patienten mit depressiven Störungen
klagen über Obstipation. Gegebenenfalls sollten geeignete
Maßnahmen eingeleitet werden.
Körperpflege • Die Körperpflege ist für Menschen mit depressiven Erkrankungen häufig sehr anstrengend. Sie sollten dazu motiviert werden, eine regelmäßige Körperpflege
durchzuführen. Schlechter Körpergeruch sollte dezent angesprochen werden, evtl. ist er dem Patienten gar nicht bewusst. Der Patient sollte wissen, dass starkes Schwitzen ein
Symptom der Krankheit ist und es deswegen notwendig ist,
regelmäßige Körperpflege durchzuführen.
Schlaf • Die meisten Patienten mit depressiven Störungen
klagen über Schlafprobleme. Häufig besteht die Schwierigkeit
darin, einzuschlafen. Betroffene beginnen oft nach dem Zubettgehen zu grübeln. Gemeinsam mit dem Patienten können
Rituale entwickelt werden, die vor dem Zubettgehen durchgeführt werden. Diese sind je nach Patient sehr individuell zu
gestalten. Pflegende können dabei verschiedene Ideen geben
und den Patienten entscheiden lassen, welche Rituale für
ihn passen könnten. Hilfreich ist es, verschiedene Vorschläge
zu machen, da Menschen mit depressiven Störungen häufig
nicht in der Lage sind, selber kreative Ideen zu entwickeln.
Beliebte Rituale sind Entspannungsübungen (▶ Abb.
65.10), Entspannungsmusik, Hörbücher (keine Dramen, Krimis oder Psychothriller), entspannende Fußbäder mit beruhigenden Aromen (Lavendel, Melisse, Baldrian, Kamille),
oder Tagebuch schreiben (Sorgen „von der Seele schreiben“).
Es sollte eine angenehme und dunkle Schlafumgebung mit
wenig Störquellen gestaltet werden (Geräusche, Lichter von
Monitoren). Bereits einige Zeit vor dem Zubettgehen sollten
helle Lichtquellen (Leuchtstoffröhren) gedimmt und dämmrige Beleuchtung (Nachttischlampen) genutzt werden. Den
Schlaf stören oder verhindern können Alkohol (auch kleinere Mengen), Koffein, Teein, Nikotin sowie üppige und fetthaltige Mahlzeiten vor dem Zubettgehen. Ebenso sollte der
Patient vermeiden, tagsüber zu schlafen.
Abb. 65.10Entspannungsübungen.
Entspannungsübungen können am besten in der Gruppe durchgeführt
werden.
1388
Weitere Maßnahmen • Da bei Frauen mit depressiven Störungen häufig Probleme mit der Menstruation bzw. dem
Ausbleiben der Menstruation bestehen, sollten Pflegende
dies mit den Patientinnen besprechen. Bei problematischen
Zyklen oder Ausbleiben der Menstruation sollte eine gynäkologische Untersuchung erfolgen.
Merken Sturzprophylaxe
Beachten Sie bei älteren Personen mit depressiven Störungen die
Sturzgefahr und führen Sie dementsprechend Prophylaxen durch.
WISSEN TO GO
Depressionen – Beobachtungskriterien und Pflegeba­
sismaßnahmen
●● Vitalparameter:
Betroffene klagen häufig über Herzrasen oder Schwindel
●● Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr: ggf. zum Trinken
animieren; bei Appetitlosigkeit nach Motivationsmöglichkeiten schauen; bei übersteigertem Appetit Patienten direkt darauf ansprechen (viele Antidepressiva wirken appetitanregend)
●● Ausscheiden: bei Obstipation geeignete Maßnahmen
einleiten
●● Körperpflege: für Menschen mit depressiven Erkrankungen häufig sehr anstrengend; zu einer regelmäßigen
Körperpflege motivieren
●● Schlaf fördern: viele Patienten haben Schlafprobleme;
gemeinsam Einschlafrituale entwickeln; für angenehme
Schlafumgebung mit wenig Störquellen sorgen; vermeiden, tagsüber zu schlafen
Informieren, Schulen, Beraten
Die wichtigsten Beratungsaspekte für Menschen mit Depressionen sind:
●● Der Betroffene sollte dabei unterstützt werden, die Depression als Erkrankung zu akzeptieren und nicht als „Verhaltensstörung“, an der er allein die „Schuld“ hat.
●● Dem Patient sollte die Erkrankung mit ihren Symptomen
erklärt werden.
●● Der Patient sollte wissen, wie wichtig die regelmäßige Einnahme der Medikamente ist und dass es unter Umständen einige Zeit dauert, bis die Medikamente eine spürbare
Wirkung zeigen. Er sollte motiviert werden, die Therapie
durchzuhalten. Auch nach einer Verbesserung ist es notwendig, die medikamentöse Therapie gemäß Arztan­
ordnung zunächst weiterzuführen, da es sonst schnell zu
Rückfällen kommen kann.
●● Der Patient sollte über die Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente informiert werden. Falls
sich der Patient durch die Nebenwirkungen massiv beeinträchtigt fühlt, sollte der Kontakt zum behandelnden Arzt
hergestellt werden.
●● Der Betroffene sollte darüber informiert werden, dass
sich soziale Kontakte i. d. R. positiv auswirken, und dabei
unterstützt werden, vorhandene Kontakte aufrechtzuerhalten. Vielleicht ist dem Betroffenen seine Erkrankung
unangenehm und peinlich und er möchte keinen Besuch
haben, da er keine Gesprächsthemen hat. In diesem Fall
kann ihm angeboten werden, die Angehörigen oder Bekannten zusammen zu empfangen und das Gespräch anzuregen.
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65
Sucht und Abhängigkeit
Die Entlassung von Menschen mit depressiven Erkrankungen in ihr vorheriges Lebensumfeld muss intensiv thematisiert, geplant und gestaltet werden. Der Patient sollte auf
seine Entlassung gut vorbereitet werden. Dazu gehört es, die
Krankheit mit ihren Symptomen verstanden und möglichst
akzeptiert zu haben. Die regelmäßige Einnahme der Medikamente sollte ebenso akzeptiert werden. Der Patient sollte
nach der Entlassung regelmäßige Kontakte zum behandelnden Haus- oder Facharzt pflegen.
Tagesstruktur planen • Eine Tagesstruktur erweist sich als
sinnvoll. Bereits vor der Entlassung sollte gemeinsam mit
dem Patienten ein grober Wochenplan erstellt werden. An
welchen Tagen soll die Wohnung geputzt werden? Gibt es
Aktivitäten, die der Patient in seinen Wochenplan integrieren möchte? Wann finden Bewegungs- und Ruhephasen
statt? Welche sozialen Kontakte finden regelmäßig statt?
Ambulante psychiatrische Pflege • Je nach Alter und Zustand
der Person ist zu prüfen, ob eine ambulante psychiatrische
Pflege oder eine ambulante Psychotherapie hilfreich ist.
Möglicherweise kann eine Tagesklinik den Übergang in die
eigene Häuslichkeit erleichtern, da dort der Tagesablauf gemeinsam mit therapeutischem und pflegerischem Fachpersonal strukturiert werden kann.
Selbsthilfegruppen • Sie können durch Kontakte zu anderen
Betroffenen helfen, die Krankheit als solche zu akzeptieren
und sich auszutauschen. Viele Betroffene empfinden es als
deutliche Entlastung, haben aber große Hemmschwellen,
den Kontakt aufzunehmen. Vielleicht ist es möglich, dies bereits in der Klinik zu arrangieren und erste persönliche Kontakte herzustellen. Oft sind Personen aus Selbsthilfegruppen
bereit, Besuche in Kliniken durchzuführen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, wie hoch die Hemmschwellen seitens
der Betroffenen sein können.
Angehörige einbinden • Angehörige haben oft Angst vor der
Rückkehr der Person mit der depressiven Störung, da sie
durch den stationären Aufenthalt oftmals eine Entlastung erlebt haben. Es ist notwendig, dass sie das Krankheitsbild mit
den zugehörigen Symptomen verstehen, um adäquat mit sich
und der depressiven Person umgehen zu können. Pflegende
sollten die Angehörigen darüber informieren, wie wichtig
die medikamentöse Behandlung im Verlauf ist. Die Erfahrung
zeigt, dass der Patient die Medikamente umso weniger für
sinnvoll erachten wird, je besser es ihm geht. Ein eigenes und
spontanes Absetzen ohne Abklärung mit dem behandelnden
Arzt kann zu unerwünschten Wirkungen führen. Bei Patienten, die nicht in der Lage sind, die Medikamente eigenständig
einzunehmen, sollte eine Eingabe gesichert werden.
WISSEN TO GO
Depressionen – Informieren, Schulen, Beraten
●● Depression
als Erkrankung akzeptieren und nicht als
„Verhaltensstörung“
●● Erkrankung mit ihren Symptomen erklären
●● Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente
●● Tagesstruktur planen: Bereits vor der Entlassung sollte
gemeinsam mit dem Patienten ein grober Wochenplan
erstellt werden, z. B. Putztag, Aktivitäten, soziale Kontakte.
●● Ambulante
psychiatrische Pflege: Es ist zu prüfen, ob
eine ambulante psychiatrische Pflege, eine ambulante
Psychotherapie oder eine Tagesklinik hilfreich ist.
●● Selbsthilfegruppen: Viele Betroffene empfinden den
Austausch in einer Selbsthilfegruppe als deutliche Entlastung, haben aber große Hemmungen, den Kontakt
aufzunehmen. Hierbei sollte Unterstützung angeboten
werden.
●● Angehörige einbinden: Angehörige sollten das Krankheitsbild mit den zugehörigen Symptomen verstehen,
um adäquat mit sich und der depressiven Person umgehen zu können.
65.5.2 Manie
Definition Manie
Die Stimmung des Patienten ist unangemessen gehoben. Charakteristisch sind sorglose Heiterkeit, gesteigerter Antrieb, Überaktivität und Selbstüberschätzung. Diese gehobene Stimmung kann
in Gereiztheit und Aggressivität umschlagen.
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Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung
Patienten suchen i. d. R. viele Kontakte und streben nach Aufmerksamkeit mit teilweise distanzgeminderten Verhaltensweisen. Charakteristisch ist die fehlende Krankheitseinsicht.
Aufgrund dessen ist es notwendig, auf ein angemessenes
Nähe- und Distanzverhältnis zu achten. Da Patienten in dieser Phase mitunter in einen regelrechten Kaufrausch verfallen, sollte dies bei möglichen gemeinsamen Einkäufen als
Symptom der Krankheit dringend berücksichtigt werden.
Merken Geschenke
Wenn Sie von Patienten in diesem Zustand Dinge geschenkt bekommen, nehmen Sie diese nicht an und signalisieren Sie dem Betroffenen, dass Sie dies in Ihrer Rolle als Pflegeperson nicht dürfen.
Die Behandlung der Manie muss wegen der mangelnden
Krankheitseinsicht meist stationär (auch mit richterlichem
Beschluss) durchgeführt werden. Für die Behandlung der
akuten manischen Phase spielen Medikamente eine zentrale Rolle. Eingesetzt werden zum einen Stimmungsstabili­
sierer bzw. Antidepressiva (z. B. Lithium) und zum anderen
Neuroleptika (z. B. Olanzapin), siehe ▶ Tab. 65.1.
Eine Psychotherapie wird häufig erst nach der akuten
Phase begonnen, da die Patienten aufgrund der noch bestehenden Symptomatik meist nicht zu konzentrierten Gesprächen und therapeutischem Arbeiten fähig sind.
65.6 Sucht und Abhängigkeit
Definition Abhängigkeit
Abhängigkeit ist das unwiderstehliche Verlangen nach dem Konsum einer Substanz oder danach, sich in einer bestimmten Weise
zu verhalten, um einen kurzfristigen befriedigenden Erlebniszustand zu erreichen.
Es gibt verschiedene Formen von Abhängigkeiten. Man unterscheidet zwischen substanzgebundenen Abhängigkeiten,
bei der psychotrope Substanzen eingenommen werden, und
nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten wie Spielsucht,
Arbeitssucht und Internetsucht.
1389
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Definition Psychotrope Substanzen
Psychotrope Substanzen sind Stoffe, die das Bewusstsein oder die
Psyche beeinflussen. Dazu zählen Alkohol, bestimmte Medikamente und Drogen.
Bei allen psychotropen Substanzen unterscheidet man zwischen Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit:
●● „Missbrauch“ beschreibt den übermäßigen Gebrauch
einer Substanz, der zu körperlichen und psychischen
­
­Schäden führt (z. B. Alkohol → Leberentzündung).
●● „Abhängigkeit“ beschreibt das starke Verlangen und
den zwanghaften Wunsch, diese Substanzen zu sich zu
nehmen, und die fehlende Selbstkontrolle (= psychische
Abhängigkeit oder sog. „Craving“). Die Dosis muss kontinuierlich gesteigert werden, da sich der Körper an die
Substanzmenge anpasst, sog. Toleranzentwicklung. Wenn
dies nicht möglich ist, kommt es zu Entzugssymptomen
(= körperliche Abhängigkeit).
65.6.1 Alkoholabhängigkeit
Die Alkoholabhängigkeit als eine sehr häufige Form wird
im Folgenden hauptsächlich behandelt. In Deutschland sind
etwa 1,3 Mio. Menschen alkoholabhängig. Männer sind dabei häufiger betroffen als Frauen. In psychiatrischen Kliniken sind Alkoholkranke die größte Patientengruppe.
Mitwirken bei der Therapie
Die Behandlung abhängigkeitserkrankter Menschen gliedert
sich in die Entgiftung, die Entwöhnung und die Rehabilitation. Je nach Behandlungsphase überwiegen verschiedene
therapeutische Ziele.
Entgiftung
In dieser Phase geht es darum, den körperlichen Entzug zu
bewältigen. In der Regel wird die Entgiftung mit Medikamenten begleitet, die den Patienten vor ­gefährlichen Entzugssymptomen schützen, z. B. dem Alkoholdelir (Delirium
tremens).
Motivation und Unterstützung • Pflegende begleiten die Patienten in dieser Phase eng und beobachten die Patienten
­genau. In dieser Phase lassen sich bereits mögliche Komorbiditäten (zusätzliche Erkrankungen) wie eine depressive
Störung erkennen, die den weiteren Behandlungsverlauf
beeinflussen können. Es geht besonders darum, die Motivation des Patienten zu unterstützen. Häufig haben Menschen
mit Abhängigkeitserkrankungen weniger Leidensdruck
und somit weniger B
­ ehandlungsmotivation, wenn sich der
körperliche Zustand bessert. Gerade deswegen sollten Pflegende den Patienten immer wieder darin unterstützen, die
Entgiftung zu Ende zu führen und über mögliche weitere Behandlungen nachzudenken, z. B. eine Entwöhnungstherapie.
Abhängige Menschen können in ihrer Argumentation, dass
sie „das Zeug nie mehr ­anfassen“, sehr überzeugend wirken.
Jedoch ist es sehr u
­ nwahrscheinlich, dass Menschen, die
über viele Jahre regelmäßig S
­ ubstanzmittel konsumiert haben, in einer nur kurzen Entgiftungszeit von etwa 2 Wochen
komplett von ihrer Sucht Abstand nehmen können.
Angehörige stärken • Der Kontakt der Pflegenden zu Angehörigen ist in dieser Zeit sehr wichtig. Menschen, die Patienten in der Entgiftung besuchen, haben i. d. R. bereits viel
mitgemacht. Es ist wichtig, auch sie zu motivieren, ihre Angehörigen zu bestärken. Die Co-Abhängigkeit ist in diesem
1390
Fall ein besonderes Thema. Abhängigkeitserkrankte Menschen haben ihr Umfeld häufig schon sehr stark in ihrem
Sinne beeinflusst. So ist es möglich, dass z. B. eine Frau ihren
Mann deckt, weil dieser nicht in der Lage ist, zur Arbeit zu
gehen. So ruft sie bei seinem Chef an und meldet ihn krank.
Angehörige schämen sich oft für das Verhalten des Abhängigen und sind bemüht, dass niemand die Wahrheit herausbekommt. Pflegende sollten die Angehörigen bestärken, den
abhängigen Patienten in seiner Motivation zu unterstützen
und ehrlich zu sich, zum Patienten und auch zur Umwelt zu
sein. Pflegende sollten auch einmal die Angehörigen fragen,
wie es ihnen geht, denn vermutlich hat sich längere Zeit alles nur um den Abhängigen gedreht.
Beobachten • Die Patienten sollten genau beobachtet werden.
Nicht selten werden in der Not auch seltsame Wege gewählt,
um die Sucht zu befriedigen. So ist es bereits vorgekommen,
dass Patienten Händedesinfektionsmittel tranken, da sie
wussten, dass darin Alkohol enthalten ist. Auch nach Besuchen von Angehörigen oder Freunden sollten Patienten genau
beobachtet werden. Durch Manipulationen und co-abhängige
Angehörige ist es durchaus möglich, dass bei einem Besuch
heimlich Substanzmittel auf die Station gebracht werden.
Merken Offene Ansprache
Wenn Sie den Eindruck haben, dass der abhängige Patient versucht, Angehörige zu manipulieren und unter Druck zu setzen,
um Alkohol oder Drogen auf die Station zu schmuggeln, sprechen
Sie die Angehörigen ruhig offen darauf an. Sie sind unter Umständen sehr froh, wenn der Druck nicht mehr auf ihnen lastet.
Hilfe bei Craving
Gerade in der Entgiftungsphase kommt es oft zu dem sog.
Craving bzw. Suchtdruck: Der Patient hat ein großes Verlangen nach seinem Substanzmittel.
Beispiel Craving
Frau Wolf ist 39 Jahre alt und seit 10 Jahren Alkoholikerin. Sie
hat angefangen zu trinken, als ihr Freund sie mit ihrer Nachbarin
betrogen hat. Nun führt sie bereits ihre dritte Entgiftung durch,
bislang hat sie jedoch aufgrund ihres starken Suchtdrucks keine
Behandlung durchgehalten. Sie spricht eine Pflegende an und
äußert, dass sie großen Suchtdruck hat und nicht weiß, was sie
dagegen tun kann.
Wichtig ist, in direktem Kontakt mit Frau Wolf zu bleiben
und sie in dieser Situation nicht zurückweisen. Frau Wolf
möchte sich ihrem Problem stellen und sucht Hilfe. Es gibt
verschiedene Möglichkeiten, sich von dem Verlangen abzulenken.
Ablenkung • Wenn Frau Wolf in ihrer Situation angespannt
wirkt, ist es möglich, durch Bewegung den Druck zu reduzieren. Ihr kann ein Spaziergang angeboten, mit ihr ein
paar Treppen rauf- und runtergestiegen oder gefragt werden, ob sie Interesse hat, einen Mitarbeiter bei einigen
­organisatorischen Dingen zu begleiten (Post wegbringen,
etwas aus dem Labor besorgen usw.). Was könnte Frau
Wolf Spaß machen (▶ Abb. 65.11)? Vielleicht beschäftigt
sie sich gerne mit Kreuzworträtseln, Handarbeiten, Illustrierten oder Puzzles? Vielleicht möchte sie einen Film
ansehen oder Stationsdienste erledigen? Wenn Frau Wolf
eine Beschäftigung findet, die sie interessiert, kann diese
sie vom Suchtdruck ablenken.
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65
Sucht und Abhängigkeit
Linderung durch Reize • Oft helfen auch Reize, den Suchtdruck zu lindern. Bei Nahrungsmitteln können Süßigkeiten,
scharfe Nahrungsmittel (Peperoni, Chili auf dem Essen),
saures Essen (saure Gurken, Linsensuppe mit Essig) helfen.
Es ist möglich, einen Eiswürfel auf die Haut zu legen oder die
Reizwirkung eines Igelballs auf der Haut zu nutzen. Ebenfalls können warme/kalte Duschen Linderung verschaffen.
Ein Bad mit ätherischen Ölen kann ebenfalls einen wichtigen Reiz anbieten. Hierzu können spezielle Badeöle wie Melisse oder Lavendel benutzt werden.
Abb. 65.11Ablenkung bei Craving.
Eigenes Verhalten reflektieren
a
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Das Verhalten der Pflegenden sollte bei Menschen mit
Abhängigkeitserkrankungen stets konsequent sein. Wenn
sie etwas sagen, ist es wichtig, dies auch einzuhalten. Es
sollte deshalb immer vorher genau überlegt werden, was
man den Patienten verspricht. Ebenso sollte vorher überlegt werden, welche Konsequenzen gegenüber den Patienten bei unangebrachtem Verhalten ausgesprochen werden.
­Ignoriert der Patient z. B. die Aufforderung, zur Medikamentenausgabe zu erscheinen, wäre es nicht angebracht
zu sagen, dass er anderenfalls keine Medikamente mehr
erhält, denn dies liegt nicht in der Entscheidung von Pflegenden. So wirken sie unglaubwürdig und nicht verlässlich
auf den Patienten.
Es ist wichtig, das eigene Verhalten und die Einstellung zu
Patienten immer wieder im Teamgespräch zu reflektieren.
Es ist für Pflegende notwendig, über ihre Haltung und Einstellung nachzudenken. Bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen ist ein geregeltes Nähe- und Distanzverhältnis
wichtig für den Therapieerfolg.
Merken Verantwortung
Übernehmen Sie keine Verantwortung für die Patienten. Sie sind
erwachsene Menschen, die lernen müssen, selber Verantwortung
zu tragen. Machen Sie sich nicht verantwortlich, wenn Patienten
die Therapie nicht fortführen. Erwachsene Menschen müssen eigene Entscheidungen treffen.
b
Entwöhnungstherapie
Nach der erfolgreich abgeschlossenen Entgiftung entscheiden
sich viele Patienten, eine Entwöhnungstherapie zu durchlaufen. Hier geht es darum, nicht nur den Körper vom Substanzmittel zu befreien, sondern auch im Kopf neue Strukturen zu
schaffen. Der Patient soll lernen, langfristig ohne den Alkohol
zu leben. Im Vergleich zu vielen anderen Krankheiten muss
der Patient mit einer Suchterkrankung motiviert werden, für
sein Verhalten, für seine Entscheidungen und für sein ganzes
Leben aktiv und langfristig Verantwortung zu übernehmen.
Viele Abhängige haben sich in eine passiv-abhängige Rolle
begeben, um keine negativen Konsequenzen zu erleben und
Probleme zu vermeiden. Es ist leichter, wenn der Chef nicht
nett ist, die Kollegen mobben, die Bank einen Fehler gemacht
hat usw., denn der Patient kann „doch selber nichts dafür“.
Pflegende sollten mit dem Patienten über seine Abstinenzabsichten sprechen, da bei alkoholabhängigen Menschen die
Rückfallgefahr im Alltag hoch ist.
Eine geregelte Tagesstruktur ist sehr wichtig für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. In der Klinik wird
diese sehr strukturiert vorgegeben. Pflegende sollten den
Patienten motivieren, diese Struktur einzuhalten. Wenn er
sich bereits in der Klinik an eine geregelte Struktur gewöhnt,
fällt es ihm im Alltag leichter, diese beizubehalten.
c
Es gibt unzählige Arten von Beschäftigungen, die vom Suchtdruck ablenken können.
a Tischfußball.
b Malen.
c Kartenspiele.
1391
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Alkoholtest, Drogenscreening
Wenn ein Rückfall vermutet wird, ist es sinnvoll, einen Alkoholtest oder ein Drogenscreening durchzuführen. Dabei ist
die Anleitung genau zu beachten, da die Geräte und Screenings häufig sehr sensibel reagieren (▶ Abb. 65.12). Ebenfalls
sollte auf der Station ein Konsens darüber bestehen, ob die
Patienten von gleichgeschlechtlichen Pflegenden zur Toilette
begleitet werden, damit das Screening nicht verfälscht werden kann. Im Internet sind vielfältige Mittel erhältlich, mit
denen Drogentests angeblich manipuliert werden können.
Pflegende müssen sich nicht vor dem Patienten rechtfertigen, warum sie die Kontrolle durchführen, auch wenn sie
diesbezüglich infrage gestellt werden („Trauen Sie mir denn
überhaupt nicht?“). Es ist allgemein üblich, in einer Behandlung Tests durchzuführen und darauf müssen sich Patienten
in einer Entzugsbehandlung einstellen.
Abb. 65.12Drogenscreening.
Zu den pflegerischen Aufgaben gehört es, Urinproben für einen Drogentest vorzubereiten.
Rehabilitation
Die Wiedereingliederung, die sich stationär, teilstationär
oder ambulant an die Entwöhnungsphase angliedern kann,
befasst sich hauptsächlich mit dem Ziel, wieder in ein geregeltes berufliches und soziales Leben zurückzufinden. In der
Regel sind in dieser Phase jedoch wenige Pflegende tätig, da
die Aufgaben primär in das Tätigkeitsfeld von Sozialarbeitern fallen.
WISSEN TO GO
●● Entgiftung:
der körperliche Entzug wird bewältigt, Medikamente schützen vor Entzugssymptomen. In dieser
Phase ist wichtig:
––bessert sich der körperliche Zustand, besteht weniger
Behandlungsmotivation → Motivation des Patienten
weiter unterstützen
––Angehörige bestärken, den Patienten zu unterstützen
––Patienten genau beobachten
––bei Craving Ablenkung durch Bewegung/Beschäftigung oder Linderung durch Reize anbieten
●● Entwöhnung: Der Patient lernt, langfristig ohne Alkohol
zu leben und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Eine geregelte Tagesstruktur ist sehr wichtig.
●● Rehabilitation: wieder in ein geregeltes berufliches und
soziales Leben zurückfinden
Pflegebasismaßnahmen und
­Beobachtungskriterien
In der Entgiftung müssen die Vitalfunktionen des Patienten
genauestens überwacht werden. Der Körper des Patienten
befindet sich in einem Ausnahmezustand – dem körperlichen Entzug. Häufig besteht zudem eine Mangel- und Fehl­
ernährung. Der Entzug wird zwar i. d. R. mit Medikamenten
unterstützt, dennoch kann es zu verschiedenen Komplikationen und Entzugssymptomen kommen. Pflegende sollten
in Kontakt mit dem Patienten bleiben und regelmäßig nach
seinem Befinden fragen. Auch Suizidgedanken sind möglich,
deshalb ist es wichtig, auch in diesem Bereich sehr sensibel
wahrzunehmen. Jede Auffälligkeit sollte dokumentiert werden. Folgende Symptome können auftreten:
●● psychische Entzugssymptome:
––Angstzustände
––Aggressivität
––depressive Verstimmung
––Nervosität
––Konzentrationsschwäche
––Halluzinationen
––Orientierungsstörungen
––Suizidgedanken
●● somatische Entzugssymptome:
––Frieren, Schwitzen
––Zittern, Tremor
––epileptische Anfälle
––Herz-Kreislauf-Probleme (insbesondere bei älteren Patienten Sturzrisiko beachten)
––Schlafstörungen
––Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen
––Kopfschmerzen
ACHTUNG
Sucht und Abhängigkeit – Therapie
Man unterscheidet zwischen substanzgebundenen Ab­
hängigkeiten (Alkohol, Medikamente, Drogen) und nicht
substanzgebundenen Abhängigkeiten (Spielsucht, Arbeitssucht, Internetsucht). Die Alkoholabhängigkeit ist
durch das starke Verlangen nach Alkohol, die fehlende
Selbstkontrolle und die sich stetig steigernde Trinkmenge
definiert. Die Behandlung gliedert sich in 3 Phasen.
1392
Insbesondere schwere Entzugssymptome können auf ein Alkoholdelir (Delirium tremens) hinweisen. In diesem Fall klagen Patienten häufig über Halluzinationen: optisch, z. B. kleine Tiere;
akustisch, z. B. Stimmen. Die Patienten wirken desorientiert oder
bewusstseinsgetrübt. Weitere Zeichen sind unter anderem motorische und psychische Unruhe (Agitiertheit), Tremor, Schwitzen,
starkes Zittern und Blutdruckkrisen. Wenn Sie diese Symptome
wahrnehmen, informieren Sie umgehend einen Arzt. In diesem
Zustand des Prädelirs kann der lebensbedrohliche Zustand eines
Alkoholdelirs noch abgewendet werden.
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65
Sucht und Abhängigkeit
WISSEN TO GO
Sucht und Abhängigkeit – Beobachtungskriterien und
Pflegebasismaßnahmen
In der Entgiftung müssen die Vitalfunktionen überwacht
und der Patient genau beobachtet werden, um Komplikationen und Entzugssymptome zu erkennen. Auch Suizidgedanken sind möglich.
Es können psychische Entzugssymptome (z. B. Angstzustände, Aggressivität, Halluzinationen, Orientierungsstörungen, Suizidgedanken) und somatische Entzugs­
symptome (z. B. Frieren, Schwitzen, Tremor, epileptische
Anfälle, Herz-Kreislauf-­Probleme) auftreten. Schwere Entzugssymptome können auf ein Alkoholdelir hinweisen.
Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung haben
i. d. R. Schwierigkeiten, ihren Alltag zu gestalten und für
sich zu sorgen, z. B. durch regelmäßige Körperpflege. Pflegende eruieren, ob Unterstützung benötigt wird.
Informieren, Schulen, Beraten
Die wichtigsten Beratungsaspekte bei Menschen mit Sucht­
erkrankungen in der Phase der Entgiftung sind:
●● Aufklärung des Patienten in Zusammenarbeit mit dem
­behandelnden Arzt über Symptome des körperlichen Entzugs und ggf. die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahme von unterstützenden Medikamenten.
●● Im Fall eines akuten Suchtdrucks sollte der Patient zu Strategien beraten werden, die ihm bei der Bewältigung des
Verlangens helfen können, z. B.:
––Gespräche mit dem Personal oder Vertrauenspersonen
––Ablenkung durch eine vom Patienten als angenehm empfundene und auf der Station durchführbare Tätigkeit, z. B.
die Übernahme des Küchendiensts oder Hobbys wie Lesen, Kreuzworträtseln oder Gesellschaftsspiele
––Abbau körperlicher Unruhe durch Bewegung, z. B. durch
die Teilnahme an Sportangeboten, Treppensteigen oder
einen begleiteten Spaziergang an der frischen Luft
––ablenkende Reize setzen, z. B. durch ein Aromabad, scharfes Essen oder Abkühlen durch kaltes Wasser im Gesicht
––Entspannung durch beruhigende Teemischungen oder
Aromatherapie
––Motivation zur Beeinflussung negativer Gedanken
durch positive Gedanken: „Ich kann stolz auf mich sein,
ich habe bereits 3 Tage ohne den Konsum von Drogen
durchgehalten. Ich schaffe das!“
––Vermeidung von Gesprächen, in denen es um die positiven Erlebnisse des Drogenkonsums geht
Nach der Entgiftung sind im Rahmen der Rehabilitation und
Entwöhnung abhängiger Menschen noch weitere Beratungs­
aspekte wichtig:
●● Der Patient sollte über die Risikofaktoren eines Rückfalls
aufgeklärt werden, z. B.
––die Nähe zu konsumierenden Personen
––der Besitz und die Verfügbarkeit von Substanzmitteln
●● Der Patient sollte über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Umsetzung einer sinnvollen Tagesstruktur
mit regelmäßiger Beschäftigung und Kontakten zu Mitmenschen beraten werden.
●● Dem Patienten sollten regelmäßige Gespräche angeboten werden, in denen er Dinge, die ihn b
­ eschäftigen,
­thematisieren kann. Insbesondere Emotionen und Probleme können so besprochen werden.
●● Er sollte vermittelt werden, dass Vertrauenspersonen im
sozialen Umfeld notwendig sind.
●● Entsprechende Hilfsangebote (auch stationär) sollten dem
Patienten aufgezeigt werden, z. B. Selbsthilfegruppen.
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Körperpflege • Patienten, die mit einer Abhängigkeitserkrankung in eine stationäre Behandlung kommen, haben i. d. R.
Schwierigkeiten, ihren Alltag zu gestalten und für sich Sorge
zu tragen. Dazu gehört häufig auch die regelmäßige Körperpflege. Deshalb ist es wichtig, nach der Aufnahme mit dem
Patienten über die vorhandenen Pflegeprodukte zu sprechen.
Besitzt der Patient alles Notwendige, z. B. eine Zahnbürste,
Zahnpasta, Duschgel? Der Patient sollte nach seiner Selbsteinschätzung gefragt werden. Wird Unterstützung benötigt,
oder ist der Patient zur eigenverantwortlichen Körperpflege in der Lage? Für viele Patienten ist die Körperpflege ein
schambehaftetes Thema, bei dem sie nicht gerne Hilflosigkeit zugeben. Deshalb ist es wichtig zu beobachten, ob die
Patienten gepflegt wirken. Pflegende sollten den Patienten
ruhig darauf ansprechen, wenn sie das Gefühl haben, dass
sich der Patient z. B. nie die Zähne putzt. Mitunter müssen
sich Abhängigkeitserkrankte in stationären Behandlungen
erst wieder an Strukturen und Regelmäßigkeiten gewöhnen.
Gesundheitsförderung und Alltagsbewältigung
Beschäftigung • Es ist wichtig, dass Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen neben einer beruflichen Tätigkeit Beschäftigungen finden, die ihnen Freude bereiten und die von
Suchtgedanken ablenken. Durch Gespräche können Pflegende herausfinden, an welchen Aktivitäten ihre Patienten
­Interesse haben. Sie sollten ihre Patienten bei der Kontaktaufnahme unterstützen, z. B. zu Fitnessstudios, Volkshochschulen, Tanzkursen, Sportvereinen (eine Übersicht über
örtliche Sportvereine ist beim Landessportbund zu finden).
Dabei sind der Kreativität der Pflegenden keine Grenzen gesetzt. Sie sollten aber beachten, dass sie nicht nur die Angebote in Erwägung ziehen, die sie für die geeignetsten halten.
Der Patient ist der Experte seines Lebens und sie sollten ihn
in seiner Wahl unterstützen.
Selbsthilfegruppen • Für viele Patienten sind Selbsthilfegruppen eine sehr wirksame Unterstützung. In nahezu jeder
Stadt gibt es Ansprechpartner von den „Anonymen Alkoholikern“, dem „Blauen Kreuz“ oder anderen, die unter Umständen auch in die Klinik kommen, um mit dem Betroffenen ein
erstes Gespräch zu führen. Spezielle Selbsthilfegruppen für
Menschen mit Drogenabhängigkeit oder Spielsucht sind bei
den örtlichen Drogenberatungsstellen bekannt. In örtlichen
Tageszeitungen werden verschiedene Angebote und Treffpunkte veröffentlicht. Pflegende können ihre Patienten bei
der Kontaktaufnahme zu solchen Gruppen unterstützen. In
der Regel bieten Selbsthilfegruppen auch Unterstützungsangebote für Angehörige an. Diese können durch den Kontakt
zu anderen Betroffenen entlastet werden, aber auch durch
wichtige (Verhaltens-)Informationen die alkoholabhängigen
Angehörigen unterstützen.
Ernährung • Pflegende sollten mit dem Patienten über Ernährungsgewohnheiten sprechen. In vielen Lebensmitteln
finden sich versteckte Alkohole oder Alkoholaromen (z. B.
Rumaroma), die nicht kennzeichnungspflichtig sind. Die
Verköstigung solcher Lebensmittel kann bei einem abhängigen Menschen zu einem Rückfall führen. Über derartige
Lebensmittel geben Selbsthilfegruppen Auskünfte oder es
1393
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
kann im Internet recherchiert werden. Getränke dürfen sich
z. B. „alkoholfrei“ nennen, wenn weniger als 0,5% Alkohol
darin enthalten ist. Abstinent lebende alkoholabhängige
Menschen sollten diese Getränke jedoch meiden. Die geschmackliche Nähe von alkoholhaltigem Bier zu „alkoholfreiem“ Bier kann z. B. zu einem Rückfall führen. Auch in Medikamenten wie Hustentropfen ist häufig Alkohol enthalten.
Hier sollten sich die Patienten in Apotheken oder bei ihrem
Arzt über die Zusammensetzung informieren.
Notfallplan • Wichtig ist, dass sich alkoholabhängige Menschen bereits vor einem möglichen Rückfall Gedanken darüber machen, was in diesem Fall passiert. Ein Notfallplan,
auf den in einer Krisensituation zurückgegriffen werden
kann, sollte schon vorher überdacht und bestenfalls schriftlich festgehalten sein. Wenn in dem Notfallplan der Kontakt
zu anderen Personen vorgesehen ist, sollten auch diese darüber informiert werden, damit sie in einer Krisensituation
adäquat reagieren können.
WISSEN TO GO
Sucht und Abhängigkeit – Informieren, Schulen,
­Beraten
Beratungsaspekte in der Phase der Entgiftung:
●● Aufklärung über Symptome des Entzugs und unterstützende Medikamente
●● Bewältigung des Suchtdrucks
Beratungsaspekte im Rahmen von Entwöhnung und Rehabilitation:
●● Aufklärung über die Risikofaktoren eines Rückfalls
●● Notwendigkeit einer Tagesstruktur und von Sozialkontakten
●● Notwendigkeit von Gesprächen insbesondere über Emotionen und Probleme
●● Beschäftigung: Neben einer beruflichen Tätigkeit sollen
Beschäftigungen Freude bereiten und von Suchtgedanken ablenken.
●● Selbsthilfegruppen: Für viele Patienten (und Angehörige) sind sie sehr hilfreich.
●● Notfallplan: bereits vor einem möglichen Rückfall
(schriftlich) Gedanken darüber machen, was in diesem
Fall passiert
65.6.2 Anorexie
fühlen. Die Betroffenen haben das Gefühl, unzulänglich und
ineffektiv zu sein, was durch die Essstörung kompensiert
werden soll.
Aber auch die Gesellschaft trägt zur Entwicklung bei:
Schlankheit ist in den Medien und der Werbung das Symbol
für Karriere, Erfolg, Lebensfreude und Aktivität. So ist der erste Schritt zur Magersucht oft eine Diät. Über den Körper und
den Hunger „zu siegen“ kann sehr befriedigend sein – zumal
das Selbstwertgefühl auch durch positive Rückmeldungen
verstärkt wird („Du siehst aber gut aus! Hast Du abgenommen?“). Daneben können einer Magersucht auch psychisch
stark belastende Ereignisse als Ursachen zugrunde liegen: So
kann z. B. ein sexueller Missbrauch Essstörungen auslösen.
Therapie und Pflege
Beispiel Anorexie
Die 16-jährige Christina wird auf der Station aufgenommen. Sie
wirkt deutlich untergewichtig. Im Aufnahmegespräch äußert sie,
dass sie keine Notwendigkeit für die Aufnahme sehe, aber aufgrund des Drucks ihrer Eltern diesen Aufenthalt durchführe. Sie
fühlt sich trotz einer deutlichen Gewichtsabnahme von 14 kg im
letzten halben Jahr zu dick, deshalb hat sie ihre Ernährung auf
2 Äpfel, 2 Tomaten und 1 Gurke pro Tag reduziert (▶ Abb. 65.13).
Pflegende sollten offen und wertschätzend auf die Patientin zugehen. Um eine positive professionelle Beziehung zu
ermöglichen, sollten sie sie nicht belehren und nicht versuchen, ihr Verhalten infrage zu stellen. Die Patientin wird
sich ertappt, angegriffen oder unverstanden fühlen und sie
als Gegner wahrnehmen. Pflegende sollten Interesse an der
Person zeigen. Hier liegt oftmals ein Problem von Menschen
mit Essstörungen. Sie fühlen sich in der Gesellschaft nicht
gesehen und wahrgenommen, was mit einem geringen
Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein einhergeht. Dies
kann bis hin zu suizidalen Gedanken gehen, was stets berücksichtigt werden sollte.
Da die Anorexie mit Mangelerscheinungen einhergeht,
ist eine genaue Patientenbeobachtung sehr wichtig: Gibt
es Anzeichen für Elektrolytstörungen (S. 1060)? Gibt es Anzeichen für Vitamin- und Mineralstoffmangel, z. B. Anämie,
Müdigkeit und Atemnot bei Eisenmangel, Muskelkrämpfe
bei Kalzium- und Phosphatmangel?
Verbindliche Vereinbarungen • Anorektische („magersüchtige“)
Jugendliche beschäftigen sich i. d. R. sehr stark mit der reAbb. 65.13Essen.
Grundlagen
Definition Anorexie
Die Anorexie (Magersucht) ist ein absichtlich herbeigeführter
Gewichtsverlust. Die Betroffenen haben massive Angst vor einer
Gewichtszunahme. Trotz der Abmagerung erleben sie sich als zu
dick, leiden also unter verzerrtem Selbsterleben und einer Körperschemastörung. Es fehlt die Krankheitseinsicht. Das extreme
Untergewicht führt auch zu körperlichen Symptomen.
Für die Entstehung einer Magersucht sind viele verschiedene
Faktoren entscheidend. Psychologisch betrachtet, liegt der
Anorexie ein seelischer Konflikt zugrunde. Kinder erkranken
sehr häufig in der Pubertät an Magersucht – die Essstörung
kann dann ein Ausdruck dafür sein, dass sich die Betroffenen durch die alterstypischen Anforderungen überfordert
1394
Menschen mit Anorexie reduzieren ihre tägliche Nahrungsaufnahme auf ein Minimum.
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65
Belastungs- und ­Anpassungsstörungen
Nahrungsaufnahme • In der pädagogisch-pflegerischen Arbeit mit Christina begleiten die Bezugspflegenden die Nahrungsaufnahme sehr eng. Dazu gehören insbesondere die
Häufigkeit der Nahrungsaufnahme und die Auswahl der
Nahrungsmittel. Da essgestörte Patienten i. d. R. eine negative Haltung gegenüber der Nahrungsaufnahme haben, ist die
Esskultur wichtig. Die Mahlzeiten sollten gemeinsam zubereitet und appetitlich auf dem Teller angerichtet werden.
Die Nahrungsaufnahme sollte begleitet und darauf geachtet
werden, ob sich Christina an die Vereinbarungen hält und
die vorgesehene Nahrung tatsächlich zu sich nimmt. Diskussionen über die Nahrung sollten vermieden und auf die
Vereinbarung verwiesen werden.
Wiegezeiten • Christina sollte sich nicht jeden Tag wiegen,
sondern nur an einem festen Tag in der Woche zu einer
bestimmten Uhrzeit, z. B. Montags morgens vor dem Frühstück. Pflegende sollten sich diesbezüglich nicht auf Diskussionen einlassen und sich auf die Vereinbarung berufen.
Positives Feedback • Die Bezugspflegenden sollten versuchen, zu Christina eine tragfähige professionelle Beziehung
aufzubauen. In regelmäßigen Bezugsgesprächen ­können sie
positives Feedback zu Therapiefortschritten geben. Dieses
Feedback ist sehr wichtig für Patienten mit Essstörungen, da
sie i. d. R. sowohl unter einem verzerrten Selbstbild als auch
unter einem negativen Selbstbewusstsein leiden. Die Patientin sollte motiviert werden, die Therapie ernst zu nehmen
und durchzuhalten. Da Menschen mit Anorexie häufig sehr
zielstrebig und leistungsbewusst sind, können kleinere Aufgaben innerhalb des S
­tationsalltags zu Erfolgserlebnissen
führen und das Selbstbewusstsein langfristig steigern.
Einbezug der Angehörigen • Auch der Umgang mit den Angehörigen ist ein wichtiges Thema im therapeutisch-pflegerischen Prozess. In der Regel werden die jungen Patienten
nach ihrer Entlassung wieder in das Elternhaus zurückkehren. Deshalb ist es wichtig, ein gegenseitiges Verständnis zu
fördern. Positive Anerkennung seitens der Angehörigen ist
für die Entwicklung der Patienten sehr wichtig. Pflegende
sollten die Kontakte begleiten, wenn Eltern ihre Kinder für
Besuche oder Beurlaubungen abholen und für kurze Gespräche bereitstehen. So lernen sie auch die Eltern besser kennen und können die Kommunikation zwischen Eltern und
Kind besser einschätzen. Pflegende sollten den Angehörigen
vermitteln, dass es wichtig ist, auch zu Hause verbindlich an
den Plänen weiterzuarbeiten. Da häufig die Krankheit eine
zentrale Rolle gespielt hat, sollten Pflegende mit Angehörigen über Beschäftigungsalternativen sprechen, die die Be-
ziehung zu Christina fördern. Dazu können z. B. gemeinsame
Ausflüge oder Gesellschaftsspiele g
­ ehören.
WISSEN TO GO
Anorexie
Die Magersucht ist ein absichtlich herbeigeführter Gewichtsverlust. Trotz der Abmagerung erleben sich die
Betroffenen als zu dick (verzerrtes Selbsterleben). Psychologisch betrachtet, liegt ein seelischer Konflikt zugrunde.
Der erste Schritt zur Magersucht ist oft eine Diät.
Therapie und Pflege
Pflegende sollten offen und wertschätzend auf die Patienten zugehen, sollten sie nicht belehren und nicht versuchen, ihr Verhalten infrage zu stellen. Sie sollten Interesse
an der Person zeigen, die häufig ein geringes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein hat. Suizidale Absichten sind
möglich.
●● Verbindliche Vereinbarungen: Ein „Therapievertrag“
hat einen hohen Stellenwert.
●● Nahrungsaufnahme: wird sehr eng begleitet
●● Wiegezeiten: an einem festen Tag zu einer festen Uhrzeit
●● Positives Feedback: in regelmäßigen Bezugsgesprächen
positives Feedback zu Therapiefortschritten geben
●● Angehörige: Positive Anerkennung seitens der Angehörigen ist für die Entwicklung der Patienten sehr wichtig.
Pflegende sollten den Angehörigen vermitteln, dass es
wichtig ist, auch zu Hause verbindlich an den Plänen weiterzuarbeiten.
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duzierten Nahrungsaufnahme und versuchen, diese durch
starken Willen und konsequentes Handeln immer weiter zu reduzieren. Anorektische Jugendliche sind geübt im
„Schwindeln“. Sie haben über längere Zeit ihr privates Umfeld getäuscht und können sehr „kreativ“ werden, um sich
nicht an Absprachen halten zu müssen. Oder sie verstecken
Nahrungsmittel, die sie eigentlich essen sollten, beschweren
die Kleidungsstücke beim Wiegen. Verbindliche Vereinbarungen mit den Patienten haben in der Arbeit mit den sehr
strukturierten Patienten einen hohen Stellenwert. In einem
gemeinsamen Gespräch mit allen Beteiligten, auch den Angehörigen, werden ein Therapieplan und die individuelle
Zielsetzung erarbeitet. Dieser kann als „Therapievertrag“
formuliert werden. Durch die Unterschrift des Patienten
wird die Verbindlichkeit und das Einverständnis hervorgehoben.
65.7 Belastungs- und
­Anpassungsstörungen
Belastungs- und Anpassungsstörungen treten nach krisenhaften Erlebnissen auf, wenn diese nicht verarbeitet werden
können. Man unterscheidet vor allem akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Es handelt sich bei allen Formen um eine
Reaktion auf ein Ereignis, das als sehr heftig erlebt wird oder
über einen längeren Zeitraum stattfindet: z. B. traumatische
Erlebnisse wie Vergewaltigungen, schwere Unfälle oder Katastrophenerlebnisse; kritische Lebensereignisse wie, vom
Partner verlassen zu werden, oder der Verlust nahestehender Menschen, aber auch Übergänge im Lebenslauf wie ein
Umzug alleine in eine fremde Stadt oder eine Kündigung der
Arbeitsstelle. Angehörige bestimmter Berufsgruppen haben
ein erhöhtes Risiko zu erkranken, z. B. Rettungssanitäter,
Feuerwehrmänner, Soldaten, Pflegende.
Definition Belastungs- und A
­ npassungsstörungen
Belastungs- und Anpassungsstörungen sind starke emotionale
Reaktionen auf ein belastendes Ereignis. Die sog. akute Belastungsreaktion wird landläufig als „Nervenzusammenbruch“
bezeichnet. Am häufigsten ist die sog. posttraumatische Be­
lastungsstörung (PTBS), z. B. nach einer Vergewaltigung, einer
­Naturkatastrophe oder einem schweren Unfall.
1395
65
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65.7.1 Akute Belastungsreaktionen
Sie treten innerhalb von 5–60 Minuten nach einem Ereignis auf. Oft beschreiben Betroffene im Nachhinein ein
„betäubtes“ Gefühl und berichten, von ihrem Handeln selber nichts mitbekommen zu haben. Die Aufmerksamkeit
und die Entscheidungsfähigkeit sind in diesem Zustand
meist gemindert, körperliche Symptome wie Zittern oder
Schwitzen treten auf. Mitunter werden in diesem Zustand
Suizidversuche durchgeführt. Meist ist jedoch eine psychiatrische Intervention nicht zwingend notwendig, da die
Symptome nach wenigen Tagen wieder abklingen. Pflegende sollten ruhig mit dem Patienten sprechen, Sicherheit
vermitteln und eine emotionale Entlastung in Form von
Gesprächen anbieten.
der Therapie ist, und eine Ahnung über den emotionalen
Zustand des Patienten bekommen.
Integrationsphase • In dieser geht es darum, alltagspraktische Fähigkeiten wieder zu erwerben, soziale Bezüge
(wieder-)herzustellen und den Alltag bestreiten zu können
(▶ Abb. 65.14). In dieser Phase kennen Pflegende den Patienten schon relativ gut. Sie sollten ihn in seinen Ressourcen
bestärken und dabei unterstützen, in die Zukunft blicken zu
können und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Abb. 65.14Integrationsphase.
Sie treten nach wenigen Tagen bis maximal einem Monat
nach dem belastenden Ereignis auf und dauern bis zu 6 Monate. Anpassungsstörungen beziehen sich auf veränderte
Lebensbedingungen wie Verlust des Partners, Trennung
oder unfreiwilliger Umzug in eine fremde Umgebung. Häufig sind Antidepressiva oder schlaffördernde Medikamente
erforderlich. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem
Patienten ist notwendig, um die Ursache nachvollziehen zu
können. Der Patient benötigt in dieser Situation Verhaltens­
alternativen, die Pflegende zusammen mit ihm erarbeiten
können. Wie kann die Trauer bewältigt werden? Was kann
ihm helfen? Vielleicht können Selbsthilfegruppen oder eine
ambulante Psychotherapie dabei unterstützen, wieder im
Alltag zurechtzukommen.
65.7.3 Posttraumatische
­Belastungsstörung
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt
sich schleichend nach dem Ereignis und kann um bis zu
6 Monate verzögert auftreten. Patienten haben Symptome
wie Schreckhaftigkeit, Teilnahmslosigkeit, Rückzug und
Schlafstörungen. Oftmals treten sog. „Flash Backs“, also wiederholte starke Erinnerungen an das traumatische Erlebnis
auf. Nach einem solchen „Flash Back“ sollten Pflegende mit
dem Patienten darüber sprechen, was ihn ausgelöst haben
könnte. Derartige Auslöser (Trigger) sollten bestenfalls zunächst vermieden werden.
Stabilisierungsphase • Zunächst ist eine Stabilisierungsphase notwendig, in der die Symptome bearbeitet werden. Der
Patient sollte nicht bedrängt werden, über seine Erlebnisse
oder Erfahrungen zu reden. Er muss sich in seiner aktuellen Situation zurechtfinden und benötigt dazu Ruhe. Pflegende sollten regelmäßig Gespräche anbieten, in denen sie
nur für den Patienten Zeit haben. Diese Wertschätzung ist
nach einem traumatischen Erlebnis sehr wichtig. Der Patient bestimmt, worüber er reden möchte. Pflegende sollten
dem Patienten dabei nicht zu nahe kommen. Körperkontakt
und sehr enges Sitzen sollten tabu sein. Die Patienten sollten
motiviert werden, aktiv an der Therapie teilzunehmen.
Bearbeitungsphase • Nach der Stabilisierungsphase findet
die Bearbeitungsphase des Traumas statt, in der Pflegende den Patienten weiterhin sehr sensibel begleiten. Es ist
wichtig, dass sie in engem Gesprächskontakt zu dem Therapeuten bleiben, damit sie wissen, was gerade Bestandteil
1396
In der Integrationsphase geht es darum, alltagspraktische Fähigkeiten (wieder) zu erwerben.
WISSEN TO GO
Belastungs- und Anpassungsstörungen
Sie treten nach krisenhaften Erlebnissen auf, wenn diese
nicht verarbeitet werden können.
●● Akute Belastungsreaktionen: innerhalb von 5–60 Minuten nach einem Ereignis; Aufmerksamkeit und Entscheidungsfähigkeit sind meist gemindert, körperliche
Symptome sind Zittern oder Schwitzen. Mitunter kommt
es zu Suizidversuchen. Meist klingen die Symptome nach
wenigen Tagen ab.
●● Anpassungsstörungen: nach wenigen Tagen bis maximal einem Monat nach dem Ereignis; dauern bis zu
6 Monate
●● Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): entwickelt sich schleichend nach dem Ereignis und kann um
bis zu 6 Monate verzögert auftreten. Symptome sind
Schreckhaftigkeit, Teilnahmslosigkeit, Rückzug und
Schlafstörungen, oftmals treten sog. „Flash Backs“ auf.
Therapie und Pflege
●● Stabilisierungsphase: Die Symptome werden bearbeitet. Der Patient bestimmt, worüber er reden möchte.
Körperkontakt und enges Sitzen sollten tabu sein.
●● Bearbeitungsphase: Der Patient wird weiterhin sensibel
begleitet und beim Therapeuten werden die Therapiephase und der emotionale Zustand des Patienten erfragt.
●● Integrationsphase: Hier geht es v. a. um alltagspraktische Fähigkeiten und soziale Bezüge. Der Patient wird in
seinen Ressourcen bestärkt und dabei unterstützt, in die
Zukunft zu ­blicken.
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65.7.2 Anpassungsstörungen
Angst- und ­Zwangsstörungen
65.8 Angst- und
­Zwangsstörungen
Häufig müssen Angst- und Zwangspatienten zunächst lernen, dass es sich um eine „richtige“ Krankheit handelt, die
ernst genommen wird und die die gleiche Berechtigung auf
eine Behandlung hat wie jede andere Krankheit auch.
65.8.1 Grundlagen
Angst schützt den Menschen vor Gefahren. Setzt sich z. B.
eine Wespe auf die Hand, zucken die meisten Menschen unwillkürlich zusammen. Das hängt damit zusammen, dass sie
sich vor einer Gefahr schützen wollen. Nimmt diese Angst
jedoch eine sehr ausgeprägte Form an, die erhebliche Einschränkungen für das alltägliche und soziale Leben mit sich
bringt, wird von einer Angststörung gesprochen.
Abb. 65.15Zwangsstörungen.
Definition Angststörungen
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Man unterscheidet situationsbezogene von situationsunabhängigen Angststörungen. Bei der situationsbezogenen Angst
(= ­Phobie) versucht der Betroffene, die angstauslösende Situation
zu vermeiden. Ist dies nicht möglich, leidet er an großer Furcht.
Die situationsunabhängige Angst tritt auf, ohne dass es einen
Auslöser oder eine bestimmte Situation gibt, die die Angst auslöst. Wenn die Angst lange anhält, bezeichnet man sie als generalisierte Angststörung. Tritt die Angst plötzlich und unverhofft auf,
handelt es sich um eine Panikstörung.
Angststörungen können unterschiedliche Ausmaße annehmen. Patienten mit Phobien haben häufig noch die Möglichkeit, angstauslösende Situationen zu umgehen, z. B. können
sie mit dem Zug in den Urlaub fahren, wenn sie Angst vor
dem Fliegen haben. Menschen mit generalisierten Angststörungen haben diese Möglichkeit oft nicht und vermeiden
deshalb z. B. soziale Kontakte oder sind nicht mehr in der
Lage, das Haus zu verlassen.
Definition Zwangsstörung
Die Zwangsstörung ist eine Krankheit, bei der Patienten durch immer wiederkehrende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
gequält werden, z. B. Kontrollzwang, Waschzwang, Zählzwang
oder Ordnungszwang (▶ Abb. 65.15). Diese Zwangshandlungen
folgen meist immer demselben Muster. Der Versuch, Widerstand
dagegen zu leisten, führt zu starker Angst und innerer Unruhe.
Zwangshandlungen werden von den Betroffenen durchgeführt,
um ein befürchtetes Unheil abzuwenden. Meist ist den Patienten
die Sinnlosigkeit der Zwänge bewusst.
Die Hände zu waschen oder zu kontrollieren, ob die Herdplatte ausgeschaltet wurde, bevor man das Haus verlässt,
ist wichtig. Menschen mit Zwangsstörungen führen diese
Vorgänge jedoch extrem häufig aus und können an nichts
anderes mehr denken. Die Ausmaße, die diese Zwangsstörungen annehmen können, bis der Patient mit seiner Situation nicht mehr zurechtkommt, sind i. d. R. enorm. Häufig
sind Menschen mit Angst- und Zwangsstörungen unsichere
Persönlichkeiten, die sich für ihre Krankheit schämen, da
die Symptome das Leben massiv beeinträchtigen. So dauert
es möglicherweise Stunden, bis ein Betroffener mit einer
Zwangserkrankung das Haus verlassen kann. Im schlimmsten Fall ist er dazu gar nicht mehr in der Lage, weil er nicht
aufhören kann, daran zu denken, ob die Herdplatte auch
wirklich ausgeschaltet ist.
Pflegende sollten deshalb sehr behutsam auf die Patienten
zugehen. Diese werden unter Umständen das erste Mal erleben, dass sie wegen ihrer Störung nicht belächelt oder ausgegrenzt werden. Ein Vertrauensverhältnis ist eine wichtige
Basis, um den Patienten bei der Therapie zu unterstützen.
Menschen mit Zwangsstörungen führen bestimmte Handlungen immer
und immer wieder in demselben Muster aus.
1397
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65.8.2 Therapie und Pflege
Neben einer evtl. kurzfristigen pharmakologischen Be­
handlung werden verhaltenstherapeutische Interventionen
durchgeführt. Der betroffene Patient muss lernen, sich mit
seinen angst- oder zwangsbesetzten Situationen auseinanderzusetzen. Doch bereits davor hat der Patient i. d. R. Angst.
Diese Angst äußert sich nicht nur psychisch, sondern auch
physisch mit veränderten Körperfunktionen wie Schwitzen
oder erhöhtem Puls und veränderten Körperwahrnehmungen wie Erstickungs- oder Engegefühlen in der Brust. Diese
Symptome nimmt der Patient wahr und macht sich darüber
Gedanken, was wiederum die Angst schürt. Ein Kreislauf
entsteht, aus dem der Patient selber schlecht ausbrechen
kann. Aus diesem Kreislauf heraus können Panikattacken
entstehen, die bis zur Todesangst gehen können.
Panikattacke
Befindet sich ein Patient in einer Panikattacke, sollten
­Pflegende ihm nicht erläutern, dass seine Angst völlig unbegründet ist. Dies wird er weder so wahrnehmen noch
empfinden. Es ist wichtig, den Patienten zunächst von seinen als bedrohlich erlebten Reizen abzuschirmen. Pflegende
sollten mit dem Patienten in eine ruhige und reizarme Umgebung gehen und beruhigend auf ihn einwirken. Sie sollten
in kurzen und knappen Sätzen sprechen, da sich Patienten in
diesem Zustand nicht gut konzentrieren können. Sie sollten
versuchen, mögliche Selbsthilfefähigkeiten des Patienten
zu aktivieren: „Was hilft Ihnen sonst in so einer Situation?“
Weiterhin können dem Patienten Möglichkeiten zur Ablenkung angeboten werden, z. B. ein Spaziergang oder Entspannungsübungen.
Manchmal ist der sensomotorische Kontakt hilfreich. Der
Patient wird gebeten, beide Füße fest auf den Boden zu stellen, um die Bodenhaftung bzw. die Sitzfläche des Stuhls zu
spüren. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit umfokussiert
wird, ist der Patient abgelenkt. Ist die Panikattacke vorüber,
ist es wichtig, sie gemeinsam mit dem Patienten zu reflektieren. Welche Situation hat dazu geführt? An welcher Stelle
kann beim nächsten Mal früher interveniert werden? Was
könnte ein Notfallplan für eine zukünftig nahende Panikattacke sein?
Verhaltenstherapie
In der Therapie arbeiten Pflegende sehr eng mit dem Therapeuten zusammen. Die Pflegeplanung und die Planung der
therapeutischen Ziele sollten in eine gemeinsame Richtung
führen. Hat ein Patient z. B. einen Waschzwang und muss
sich nach jedem Kontakt mit Gegenständen 4-mal die Hände
waschen, geht es darum, zunächst herauszufinden, was den
Patienten dazu bewegt. Hat er Angst vor Infektionen oder
Keimen? Fühlt er sich sonst nicht reinlich genug? Pflegende
sollten versuchen, den Patienten und seine Beweggründe
zu verstehen. In Absprache mit dem Therapeuten geht es
dann darum, die Zahl der Waschungen zu verringern. Was
passiert, wenn sich der Patient weniger als 4-mal die Hände
wäscht? Äußert sich das in einem Gefühl starker Angst?
In der Therapie mit angst- und zwangsgestörten Patienten
geht es häufig um praktisches Ausprobieren und A
­ ustesten.
Um den Patienten dazu zu ermutigen, ist eine vertrauensvolle Basis notwendig. Die enge Begleitung durch die
­Bezugspflegekraft ist für den Patienten wichtig, um eine
sichere Basis zu haben, wenn er sich auf ein für ihn „gewagtes“ Terrain begibt.
1398
Merken Ausprobieren
Drängen Sie den Patienten nicht dazu, etwas auszuprobieren,
wovor er Angst hat, z. B., sich nicht die Hände zu waschen oder
mit dem Aufzug zu fahren. Wägen Sie mit dem Patienten aber
ab, welche Vor- und Nachteile das Ausprobieren haben könnte.
Arbeiten Sie in kleinen Schritten und achten Sie auf kleine Erfolge.
Wenn sich ein Patient, der Angst vor dem Fahrstuhlfahren hat,
zum ersten Mal in den Aufzug stellt, ist dies auch bei geöffneter
Aufzugstür für ihn bereits ein großer Erfolg.
Auch die Arbeit mit Angehörigen ist sehr wichtig. Diese
müssen mit dem angst- oder zwangsgestörten Patienten
leben. Deshalb ist es notwendig, ihnen näherzubringen,
dass es sich nicht um eine „Macke“ des Patienten handelt,
sondern um eine „echte“ Krankheit. Angehörige können
eine wichtige Stütze sein. Oftmals dauert es sehr lange, bis
sich angst- oder zwangsgestörte Patienten von ihren Verhaltensmustern komplett lösen können. Wenn der Patient
einverstanden ist, sollten die Angehörigen so weit wie möglich in den therapeutisch-pflegerischen Prozess einbezogen
werden, sodass sie mit dem Patienten nach der Entlassung
weiterhin gemeinsam arbeiten können.
WISSEN TO GO
Angst- und Zwangsstörungen
Man unterscheidet situationsbezogene (= Phobie) von
situationsunabhängigen (ohne Auslöser) Angststörun­
gen. Lang anhaltende Angst bezeichnet man als generalisierte Angststörung. Tritt die Angst plötzlich auf, handelt
es sich um eine Panikstörung. Die Zwangsstörung ist eine
Krankheit, bei der Patienten durch immer wiederkehrende
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gequält werden.
Therapie und Pflege
Neben einer evtl. kurzfristigen pharmakologischen Behandlung werden verhaltenstherapeutische Interventionen durchgeführt.
●● Panikattacke: Patienten werden nicht belehrt, sondern
von den als bedrohlich erlebten Reizen abgeschirmt, beruhigt und abgelenkt. Nach der Panikattacke wird über
die Situation reflektiert.
●● Verhaltenstherapie: In der Therapie geht es häufig um
praktisches Ausprobieren und Austesten. Hierzu ist eine
vertrauensvolle Basis notwendig. Der Patient darf nicht
bedrängt werden. Es wird in kleinen Schritten gearbeitet.
Angehörige werden in die Therapie integriert.
65.9 Dissoziative Störungen
65.9.1 Grundlagen
Definition Dissoziative Störungen
Dissoziative Störungen werden auch als Konversionsstörungen
oder somatoforme Störungen bezeichnet und beschreiben eine
Vielzahl körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen, für die
es keine organische Ursache gibt. Vielmehr handelt es sich um
eine sog. Abwehrreaktion, bei der seelische Probleme in körperliche Symptome „umgewandelt“ werden (lat. conversio = Umwandlung).
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65
Persönlichkeitsstörungen
65.9.2 Therapie und Pflege
Die dissoziative Störung ist für Patienten häufig schwer zu
begreifen. Pflegende sollten daher empathisch und sensibel
mit den Betroffenen umgehen. Symptome sollten nicht heruntergespielt werden, nur weil es keine organischen Ursachen dafür gibt. Vielmehr ist es wichtig, den Patienten ernst
zu nehmen. Die Krankheit basiert auf psychischen Konflikten, die in der Therapie aufgearbeitet werden sollen. Pflegende unterstützen diesen therapeutischen Prozess, indem
sie z. B. den Patienten motivieren, therapeutische Übungen
durchzuführen oder in den Fallbesprechungen ihre Beobachtungen einbringen.
Bei Patienten mit Gangunsicherheiten sollte eine Sturz­
propyhlaxe erfolgen. Reize, die sich negativ auf den Patienten auswirken, sollten zunächst vermieden werden. Wird
dem Patienten z. B. nach dem Baden immer übel, sollte er
vielleicht beim nächsten Mal duschen. Hilft dieser Vorschlag
nicht, ist es evtl. möglich, dass das Duschgel ihn unbewusst
an vergangene Erlebnisse erinnert. Betroffene müssen i. d. R.
erst selbst herausfinden, was ihnen gut- und was ihnen
nicht guttut. Pflegende können sie darin unterstützen, Prozesse zu rekonstruieren und den „Übeltäter“, z. B. das Duschgel, als Auslöser negativer Erinnerungen zu identifizieren.
Merken Tabuthema
Sie sollten allerdings nicht mit dem Patienten das Trauma thematisieren. Weisen Sie darauf hin, dass es sich hier um ein Thema
handelt, welches mit dem Therapeuten aufgearbeitet wird. Binden Sie den Patienten stattdessen in alltagspraktische Gespräche
ein oder reden Sie über Themen, die den Patienten interessieren,
z. B. die letzten Fußballergebnisse.
Da häufig nicht bekannt ist, was bei dem Patienten ein
Trauma ausgelöst hat, sollte der Körperkontakt auf das
­Notwendigste beschränkt werden, z. B. beim Messen der Vitalzeichen. Gespräche sollten in einem „sicheren“ Abstand
geführt werden. Die Intimzone des Menschen befindet sich
im westlichen Kulturkreis z. B. in einem Radius von etwa
60 cm. Diese Distanz sollte nicht unterschritten werden, z. B.
bei der Auswahl eines Sitzplatzes im Raum. Im Radius von
bis zu 120 cm befindet sich der persönliche Raum. Hier wird
das Gegenüber als persönlicher Gesprächspartner wahrgenommen, ohne sich bedrängt zu fühlen. Ein größerer Radius
bis zu 4 Metern bezeichnet die soziale Zone, alles darüber
hinaus ist die öffentliche Zone. Betroffene schätzen i. d. R.
eher eine gewisse Distanz, weshalb sich der Kontakt auf den
persönlichen Raum beschränken sollte.
WISSEN TO GO
Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)
Sie beschreiben eine Vielzahl körperlicher und psychischer
Beeinträchtigungen, für die es keine organische Ursache
gibt. Es handelt sich um eine Abwehrreaktion, bei der
seelische Probleme in körperliche Symptome „umgewandelt“ werden, z. B. Bewegungsstörungen, Krampfanfälle,
Wahrnehmungsstörungen, Bauch- und Kopfschmerzen
oder Erbrechen.
Therapie und Pflege
Die psychischen Konflikte sollten in der Therapie aufgearbeitet werden. Reize, die sich negativ auf den Patienten
auswirken, sollten vermieden werden. Pflegende sollten
nicht mit dem Patienten das Trauma thematisieren. Körperkontakt sollte auf das Notwendigste beschränkt und
Gespräche in einem „sicheren“ Abstand geführt werden.
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Die meisten Konversionsstörungen werden psychodyna­
misch erklärt. Man geht davon aus, dass es im Unbewussten des Patienten ungelöste Konflikte gibt, die sich in Form
körperlicher Symptome, z. B. als Magenschmerzen, äußern.
Auch traumatische Erlebnisse wie eine Vergewaltigung oder
das Überleben schwerer Katastrophen können eine Konversionsstörung auslösen, damit die furchtbare Erfahrung psychisch überstanden wird. Durch die Entstehung körperlicher
Symptome kommt es zu einer psychischen Entlastung. Die
Symptome sind vielfältig. Sie äußern sich z. B. als Bewe­
gungsstörungen wie Lähmungen, Unsicherheiten beim Gehen, Krampfanfälle. Auch die Wahrnehmung kann betroffen
sein. Manche Patienten glauben, nicht mehr richtig sehen,
riechen oder hören zu können. Andere klagen über Bauchund Kopfschmerzen oder Erbrechen.
65.10 Persönlichkeitsstörungen
Definition Persönlichkeitsstörungen
Hierunter werden anhaltende (chronische) Wahrnehmungs-,
Denk- und Verhaltensmuster zusammengefasst, die deutlich von
der Norm abweichen. Meist äußern sie sich bereits in jungen Jahren.
Die meisten Patienten mit Persönlichkeitsstörungen leiden
zunächst nicht unter ihnen. Häufig ist es die Interaktion mit
der Umwelt, die ihnen Probleme bereitet. Im Umgang mit
diesen Patienten ist es für Pflegende sehr wichtig, dass sie
auf ihre eigene Persönlichkeit achten und diese durch ein
ausgewogenes Maß an Nähe und Distanz sowie durch re­
flektierende Gespräche mit Kollegen oder durch Supervision
schützen.
Es gibt viele unterschiedliche Formen der Persönlichkeitsstörungen. Bei jeder ist ein anderer Umgang mit den Patienten erforderlich.
65.10.1 Paranoide
­Persönlichkeitsstörung
Diese Patienten sind äußerst misstrauisch und kritisch
(▶ Abb. 65.16). Da sie stets etwas Negatives von ihren Mitmenschen erwarten, nehmen sie Pflegende genau unter die
Lupe und interpretieren ihr Verhalten. Es ist deshalb sehr
wichtig, glaubwürdig zu agieren. Pflegende sollten genau
überlegen, was sie dem Patienten sagen, denn genau das
sollten sie auch einhalten. Wenn sie die Patienten enttäuschen, werden sie es sehr schwer haben, ein kleines Maß an
Vertrauen zu gewinnen, und erhalten einen sarkastischen
Gegner, der ihnen das Leben schwer macht. Pflegende sollten deshalb authentisch bleiben und in kleinen Schritten auf
die Person zugehen – und sie sollten immer bedenken, dass
die Person nicht absichtlich paranoid ist.
1399
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
Abb. 65.16Paranoide Persönlichkeitsstörung.
Menschen mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung sind sehr misstrauisch. (Situation nachgestellt)
65.10.2 Schizoide
­Persönlichkeitsstörung
Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung sind gerne
allein und haben wenig Interesse am Kontakt mit anderen
Menschen. Sie wahren eine große Distanz zu ihren Mitmenschen, die für dieses Verhalten häufig kein Verständnis aufbringen können und mit Wut oder Enttäuschung reagieren.
Häufig sind diese Personen sehr intelligent, zeigen aber eingeschränkte Kompetenzen im Bezug auf ihr Sozialverhalten.
Vielleicht kann auf intellektueller Ebene ein Gesprächsinteresse geweckt werden, durch das man einen Zugang
zu dem Patienten erhält. Pflegende sollten nicht enttäuscht sein, wenn dieser Vorgang sehr lange dauert und
sie wenige Rückmeldungen wie Sympathiebekundungen,
Freude oder andere emotionale Reaktionen e
­ rhalten. Sie
sollten dem Menschen trotzdem ihre Wertschätzung ent­
gegenbringen und ihm regelmäßigen Kontakt anbieten.
1400
65.10.4 Ängstlich vermeidende
­Persönlichkeitsstörung
Diese Personen versuchen, vieles zu vermeiden, um sich
vor Enttäuschungen zu schützen – vor allem Beziehungen.
Pflegende sollten Geduld haben und eine Beziehung kleinschrittig aufbauen. Sie sollten verbindliche Gesprächstermi­
ne vereinbaren und bereits kleine Erfolge der sozialen Kontaktaufnahme loben. Die professionelle Beziehung sollte als
„Lernebene“ thematisiert werden, die zum Aufbau weiterer
Beziehungen dienen kann.
Eine Entlassung aus dem stationären Setting kann von den
Betroffenen als Beziehungsabbruch erlebt werden. Deswegen ist es wichtig, dem Patienten zu erklären, dass es sich
um eine professionelle Beziehung handelt, die irgendwann
endet. Der Abschied sollte gemeinsam besprochen werden.
Häufig ist es hilfreich, eine kleine gemeinsame Aktivität zu
planen. Pflegende können sich z. B. mit dem Patienten verabreden, um gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken und über
den Behandlungsprozess zu reflektieren. Dabei können sie
den Fokus auf positive Veränderungen legen und den Patienten für Erfolge loben. Dies hat bei Menschen mit einem
geringen Selbstbewusstsein positive Effekte.
65.10.5 Narzisstische
­Persönlichkeitsstörung
Menschen mit narzisstischen Störungsbildern haben ihren Mitmenschen gegenüber eine sehr hohe Erwartungs­
haltung. Sie wollen bewundert werden (▶ Abb. 65.17). Sie
fühlen sich großartig und wollen auch so wahrgenommen
werden. Wenn dies nicht passiert, neigen diese Patienten
häufig zu aggressivem Verhalten. Dieses sollte nicht toleriert
werden.
Pflegende sollten im Umgang mit diesen Patienten Geduld
haben und versuchen, den Patienten wie jeden anderen zu
behandeln, aber nicht abzuwerten – es steckt mitunter ein
minderes Selbstwertgefühl und Angst vor Kritik hinter der
Störung. Pflegende sollten dem Patienten klarmachen, dass
ihm keine Sonderbehandlungen zustehen.
65.10.3 Histrionische
­Persönlichkeitsstörung
65.10.6 Emotional instabile
­Persönlichkeitsstörung
Die Patienten verhalten sich anderen Personen gegenüber zunächst zugewandt und offen und sind bemüht, Aufmerksamkeit und Beachtung zu erlangen, wobei sie mitunter unecht
wirken können. Aufmerksamkeit und Beachtung erwarten sie
in einem erhöhten Maße. Wenn dieses Maß nicht erfüllt wird,
neigen sie zu dramatisierenden Verhaltensweisen.
Pflegende sollten versuchen, ein realistisches Maß an
­Zuwendung für diese Patienten zu ermöglichen. Sie sollten
feste Termine vereinbaren, an denen sie nur für diese eine
Person Zeit haben. In den Gesprächen sollten sie thematisieren, dass es ihnen ein Anliegen ist, ihre Zeit so aufzuteilen, dass alle Bezugspatienten einen gerechten Anteil daran
erhalten. Lob und Anerkennung sollten realistisch dosiert,
aber nicht vergessen werden.
Menschen mit emotional instabilen Persönlichkeiten haben
extreme Stimmungsschwankungen. Bereits kleinste Ereignisse können die Stimmungslage verändern. Menschen mit
emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen berichten
häufig von der Angst vor dem Alleingelassen- oder Verlas­
senwerden.
Impulsiver Typus • Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung dieses Typus äußert sich in extremen bis exzessiven Verhaltensweisen (Suizidversuche, Trinken bis zur
­Alkoholvergiftung, Rasen mit dem Auto). Patienten mit dieser Störung sind kaum in der Lage, Kritik zu ertragen, und
reagieren darauf schnell gereizt und aggressiv. Pflegende
sollten sich nicht davon beeindrucken lassen. Sie sollten mit
dem Patienten besprechen, dass sie seine negativen, aber
auch seine positiven Seiten sehen. Sie sollten immer wieder
einen Bezug zur Realität herstellen: Warum ist es z. B. verboten, so schnell zu fahren?
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65
Persönlichkeitsstörungen
Abb. 65.17Narzisstische Persönlichkeitsstörung.
65.10.7 Dependente/abhängige
Persönlichkeitsstörung
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Patienten mit dependenten Abhängigkeitsstörungen haben
Angst, Verantwortung zu tragen. Deshalb können sie nur
schwer eigene Entscheidungen treffen und machen sich so
von anderen Personen abhängig. Wenn diese Personen in
die stationäre Behandlung kommen, haben sie i. d. R. bereits
einen Leidensweg mit Gewalterfahrungen, Substanzmittelkonsum oder finanzieller Ausbeutung hinter sich.
Pflegende sollten darauf achten, dass sich die Personen
während des Aufenthalts nicht von ihnen abhängig machen.
Sie sollten immer wieder kleine Entscheidungen fördern, zu
denen die Patienten stehen müssen, z. B. „Möchten Sie lieber
spazieren gehen oder ein Gesellschaftsspiel spielen?“ Weiterhin sollten sie positive Rückmeldungen geben. Besonders
wichtig ist es, dass sich die Person ein soziales Netz aufbaut,
in dem sie nach der Entlassung Halt findet. Unterstützung
können neben Angehörigen und Freunden Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder ambulante Therapien geben.
WISSEN TO GO
Persönlichkeitsstörungen
Menschen mit dieser Störung fühlen sich großartig und wollen
bewundert werden. (Situation nachgestellt)
Borderline-Typus • Betroffene berichten häufig von einem
Zustand innerer Leere. Die Angst vor dem Verlassenwerden
dominiert andere Gefühle. Um dem entgegenzuwirken, begeben sie sich in sehr intensive, aber wenig stabile Beziehungen, in denen sie Druck auf andere ausüben. Werden die
oft sehr hohen Erwartungen enttäuscht, kommt es häufig zu
emotionalen Krisen mit Selbstverletzungen. Pflegende sollten deshalb sehr transparent und klar mit diesen Bezugspatienten umgehen. Abwesenheitszeiten sollten besprochen
und ein Kollege benannt werden, der in dieser Zeit als Ansprechpartner fungiert.
Personen mit Borderline-Störungen können ganze Teams
durcheinanderbringen. Pflegende sollten deshalb sehr klar
kommunizieren und sorgfältig dokumentieren. Wichtig
ist, dass besonders auf ein angemessenes Nähe-DistanzVerhältnis geachtet wird und sich Pflegende nicht in zu
intensive Beziehungen verstricken lassen. Reflektierende
­Gespräche und Supervisionen sind eine notwendige Basis
für den Umgang mit diesen Patienten. Weiterhin sollten
Pflegende darauf achten, dass sie den Patienten körperlich
nicht zu nahe kommen, denn häufig haben die Patienten bereits Missbrauchserfahrungen gemacht.
Hierunter werden chronische Wahrnehmungs-, Denk- und
Verhaltensmuster zusammengefasst.
●● Paranoide Persönlichkeitsstörung: Patienten sind
misstrauisch und kritisch → glaubwürdig agieren, authentisch bleiben, in kleinen Schritten auf die Person
zugehen.
●● Schizoide Persönlichkeitsstörung: Betroffene wahren
eine große Distanz zu ihren Mitmenschen, besitzen ein
eingeschränktes Sozialverhalten → Wertschätzung entgegenbringen und regelmäßige Kontakte anbieten.
●● Histrionische Persönlichkeitsstörung: Patienten erwarten in einem erhöhten Maße Aufmerksamkeit und
Beachtung. Wird dies nicht erfüllt, neigen sie zu dramatisierenden Verhaltensweisen → realistisches Maß an
Zuwendung ermöglichen, z. B. feste Gesprächstermine.
●● Ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung: Betroffene vermeiden vieles, um sich vor Enttäuschungen
zu schützen → Geduld haben, Beziehung kleinschrittig
aufbauen.
●● Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Betroffene haben ihren Mitmenschen gegenüber eine sehr hohe Erwartungshaltung und wollen bewundert werden. Wenn
dies nicht passiert, neigen sie zu aggressivem Verhalten,
was nicht toleriert werden sollte.
●● Emotional instabile Persönlichkeitsstörung:
––Impulsiver Typus: extreme bis exzessive Verhaltensweisen; Patienten ertragen kaum Kritik und reagieren
schnell gereizt und aggressiv → nicht beeindrucken
lassen und immer wieder Bezug zur Realität herstellen.
––Borderline-Typus: Angst vor dem Verlassenwerden
dominiert andere Gefühle; Betroffene begeben sich
intensive Beziehungen, in denen sie Druck
in sehr ­
ausüben. Bei enttäuschten Erwartungen kommt es
häufig zu emotionalen Krisen mit Selbstverletzungen
→ transparent und klar mit den Patienten umgehen
und sorgfältig dokumentieren.
●● Dependente/abhängige Persönlichkeitsstörung: Betroffene haben Angst, Verantwortung zu tragen, und
können nur schwer Entscheidungen treffen, was sie von
anderen Personen abhängig macht → darauf achten,
dass sie sich nicht abhängig machen; immer wieder kleine Entscheidungen fördern.
1401
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65.11 Organisch bedingte
­psychische Störungen
Sie werden in akute und chronische Störungen unterteilt.
Einige Formen der akuten Störungen verlaufen reversibel
(eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands ist
möglich, z. B. Delir), chronische Störungen verlaufen irreversibel und fortschreitend, z. B. Demenz.
Informationen zu den irreversiblen Störungen wie der Demenz finden Sie im Kap. „Pflege bei Erkrankungen des Nervensystems“ (S. 1247).
Bei akuten Störungen mit organisch bedingter Ursache ist
es notwendig, den Patienten kontinuierlich zu begleiten und
zu überwachen, insbesondere die Vitalwerte sollten regel­
mäßig kontrolliert werden. Pflegende sollten eine reizarme
und ruhige Atmosphäre schaffen und deutlich und in kurzen
Sätzen mit dem Patienten sprechen. Ein häufiger Wechsel
von Ansprechpartnern sollte in dieser Zeit unbedingt vermieden werden.
Nach wenigen Stunden bis hin zu einigen Wochen bilden
sich die Symptome eines Delirs zurück. Dennoch bleiben
häufig zunächst kognitive Störungen. Deshalb sind die dann
wichtigsten Ziele Rehabilitation und Wiederherstellung der
Fähigkeiten. Dabei werden die Ressourcen des Patienten berücksichtigt und gefördert. Wenn der Patient z. B. in der Lage
ist, mit Unterstützung seiner Körperpflege nachzugehen,
sollte er nur so weit unterstützt werden, wie es unbedingt
notwendig ist (aktivierende Pflege). Es ist wichtig, die Gehirnfunktion im Rahmen alltagspraktischer Tätigkeiten zu
trainieren, um einen langfristigen Erfolg zu haben. Pflegende sollten z. B. versuchen, die Patienten zu ermutigen, nicht
ausschließlich fernzusehen, sondern auch mal ein Kreuzworträtsel zu lösen oder ein Buch zu lesen, sofern sie dazu
in der Lage sind. Vielleicht kann man dem Patienten auch
einmal etwas vorlesen und anschließend mit ihm sprechen.
65.12 Ausgewählte kinderund jugendpsychiatrische
­Störungen
65.12.1 Frühkindlicher Autismus
Für ein Kind mit Autismus ist es eine sehr belastende Situation, wenn es in einer Klinik aufgenommen wird. Autistische
Kinder mögen fremde Umgebungen sowie fremde Personen
nicht, können sich kaum in neuen Umgebungen zurechtfinden und haben unter Umständen extreme Angst. Pflegende
sollten versuchen, so früh wie möglich Kontakt zu den Eltern
des Kindes zu bekommen, um in Erfahrung zu bringen, welcher Tagesablauf für das Kind zu Hause wichtig ist. Findet
das Zähneputzen z. B. immer vor oder nach dem Frühstück
statt? Ist dem Kind die Farbe des Zahnputzbechers wichtig?
Dabei darf ruhig nach Details gefragt werden, die Eltern können viele wichtige Dinge erklären, die dem Kind den Ablauf
erleichtern können. Vielleicht ist es möglich, dass das autistische Kind die Station vor der Aufnahme einige Male besucht
und dabei auch die pflegenden Bezugspersonen kennenlernt.
Aufnahme • Wenn das Kind auf die Station kommt, sollte versucht werden, eine möglichst ruhige Umgebung zu
schaffen. Vielleicht können die anderen Kinder in der Zeit
etwas anderes unternehmen, sodass das Kind nicht unnötig
überfordert wird. Das Kind sollte nach der Aufnahme sehr
genau beobachtet werden. Es kommt nicht selten zu selbstverletzenden Verhaltensweisen, weil sich autistische Kinder
in fremden Umgebungen schlecht zurechtfinden.
Unterstützung • Das Kind sollte von Pflegenden durch den
Tag begleitet werden. Je nach Schweregrad der Störung ist
es möglich, dass das autistische Kind nicht weiß, wie es sich
verhalten soll. Das Kind sollte in einer ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und bei der Körperhygiene unterstützt und regelmäßig zur Toilette begleitet werden.
Kontakt zu Gleichaltrigen • Das Kind sollte im Kontakt mit
Gleichaltrigen von Pflegenden begleitet werden. Autistische
Kinder werden schnell zu Mobbingopfern, da andere Kinder
nicht mit dem Verhalten umgehen können. Pflegende sollten den anderen Kindern erklären, was der Autismus für das
Kind bedeutet. Autistische Kinder meiden Körperkontakt.
Das sollten Pflegende unbedingt beachten und auch den anderen Kindern vermitteln.
WISSEN TO GO
Grundlagen
Frühkindlicher Autismus
Definition Autismus
Die Entwicklung des Kindes ist beeinträchtigt. Betroffen sind
verbale und nonverbale Kommunikation, Kontaktaufnahme
und zwischenmenschliche Beziehungen. Autistische Kinder
mögen fremde Umgebungen und Personen nicht, können
sich kaum in neuen Umgebungen zurechtfinden und haben
u. U. extreme Angst. Es ist wichtig, den Tagesablauf und die
Gewohnheiten des Kindes zu kennen.
●● Aufnahme: möglichst ruhige Umgebung schaffen; Kind
nach der Aufnahme genau beobachten
●● Unterstützung: Kind durch den Tag begleiten; bei der
Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und der Körperhygiene unterstützen
Der frühkindliche Autismus ist eine Beeinträchtigung der Entwicklung des Kindes vor dem 3. Lebensjahr. Betroffen sind verbale und
nonverbale Kommunikation, Kontaktaufnahme und zwischenmenschliche Beziehungen. Das Verhalten des Kindes beschränkt
sich auf wenige Muster, die sich immer wiederholen.
Die Entwicklung der Kinder ist tiefgreifend gestört, die zwischenmenschliche Kommunikation stark eingeschränkt.
Etwa die Hälfte der betroffenen Kinder lernt nicht sprechen.
Gefühlsreaktionen wie Mitleid fehlen. An anderen Menschen besteht im Allgemeinen wenig Interesse. Stattdessen
interessieren sich die Kinder für Gegenstände. Sie schauen
ihrem Gegenüber nie in die Augen, sondern scheinen durch
einen hindurchzusehen.
1402
Umgang
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65
Psychosomatische ­Störungen
Grundlagen
Definition ADHS
Ein Kind mit ADHS ist stets unruhig, abgelenkt und unaufmerksam. Es unterliegt einem dauernden Bewegungsdrang und einer
starken Impulsivität. Auch das Sozialverhalten ist beeinträchtigt. Die Symptome sind situationsunabhängig und bestehen
über Jahre.
Umgang
Kinder mit ADHS sind als „Zappelphilipp“ bekannt. Sie
bekommen im Alltag oft wenig positive Rückmeldung,
sondern werden meist als anstrengend empfunden. Pflegende sollten versuchen, bei dem Kind das Positive zu suchen. Sie sollten genau darauf achten, was ihnen an dem
Kind positiv auffällt, und das Kind dafür loben. Wenn es
das Kind z. B. nicht schafft, die kompletten Hausaufgaben auf einmal zu erledigen, dafür aber einige Aufgaben
schafft und zwischenzeitlich eine Pause braucht, sollte
nicht geschimpft werden, dass die Hausaufgaben nicht
fertig sind, sondern das Kind für jede einzelne erledigte
Aufgabe gelobt werden.
Im Umgang mit dem Kind sollten Pflegende sachlich und
konsequent bleiben. Sie sollten dem Kind deutlich machen,
was von ihm erwartet wird, und nicht, was nicht von ihm
erwartet wird, z. B.: „Bitte häng Deine Jacke an den Haken“
und nicht „Wirf die Jacke nicht immer auf den Boden“. Verhandlungen mit den Kindern sind sinnlos, Pflegende sollten
konsequent bleiben und mögliche Beschimpfungen seitens
des Kindes nicht persönlich nehmen. Das Kind ist in dem
Moment wütend und kann sich im nächsten Moment schon
wieder ganz anders fühlen. Es sollte deswegen unbedingt
vermieden werden, negative Situationen und Vorhaltungen
aufzuschaukeln („Das machst Du heute schon zum dritten
Mal“).
Je klarer Pflegende in ihren Strukturen und Anforderungen sind, desto besser kann sich das Kind mit den Regeln
zurechtfinden. Deshalb ist es für das Kind einfacher, wenige, aber sinnvolle Regeln zu haben. Sollte das Kind die Regeln nicht einhalten, sollte es nicht ziellos bestraft werden,
sondern Konsequenzen sollten ausgewählt werden, die sich
logisch auf das Fehlverhalten beziehen. Wenn das Kind z. B.
ein Spielzeug zerstört, kann es danach erst einmal nur mit
Spielzeugen spielen, die nicht so leicht kaputtgehen. Wird
das Kind daraufhin wütend, sollte man nicht mit dem Tem­
po und der Stimmung des Kindes mitgehen, sondern ruhig
und sachlich bleiben und die Konsequenz erklären.
Merken Hilfreiche Strategien
Achten Sie auch darauf, welche Strategien dem Kind helfen können. Wenn Sie z. B. von dem Kind erwarten, dass es konzentriert
seine Hausaufgaben erledigt, sorgen Sie dafür, dass das Kind
dabei nicht gestört wird, und vermeiden Sie visuelle Reize, z. B.
den Gameboy neben dem Schreibtisch oder andere Kinder, die im
selben Raum spielen.
Durch die Übernahme von Verantwortung wird das Selbst­
wertgefühl des Kindes gestärkt. Wenn es z. B. beim Kochen
oder Tischdecken helfen darf, bekommt es das Gefühl, wichtig zu sein. In der Regel übernehmen Kinder mit ADHS im
Stationsablauf gerne eine regelmäßige Aufgabe, für die sie
beachtet und gelobt werden.
Pflegende sollten nicht nachtragend sein, wenn etwas nicht
so funktioniert hat, wie sie gedacht haben. Spätestens wenn
das Kind zu Bett geht, sollte die Situation geklärt und die
Stimmung neutral sein. Da Kinder mit ADHS häufig sehr
sensibel sind, sollten sie nicht mit schlechten Gefühlen zu
Bett geschickt werden.
WISSEN TO GO
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
(ADHS)
Ein Kind mit ADHS ist stets unruhig, abgelenkt und unaufmerksam. Es unterliegt einem dauernden Bewegungsdrang und einer starken Impulsivität. Auch das Sozialverhalten ist beeinträchtigt.
Die Betroffenen bekommen im Alltag oft wenig positive
Rückmeldung. Pflegende sollten genau darauf achten, was
ihnen an dem Kind positiv auffällt, und es dafür loben. Im
Umgang sollte man sachlich und konsequent bleiben und
mögliche Beschimpfungen nicht persönlich nehmen. Negative Situationen und Vorhaltungen sollten nicht aufgeschaukelt werden. Je klarer Pflegende in ihren Strukturen
und Anforderungen sind, desto besser kann sich das Kind
mit den Regeln zurechtfinden. Die Übernahme von Verantwortung stärkt das Selbstwertgefühl des Kindes.
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65.12.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
65.13 Psychosomatische
­Störungen
Es gibt verschiedene somatische Auffälligkeiten, für die
keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Psychosomatische Störungen haben immer auch etwas mit der
Psyche des Menschen zu tun. Wenn ein Patient häufig über
Bauch- oder Kopfschmerzen klagt, ist zu hinterfragen, ob es
einen Grund für diese Beschwerden gibt. Redewendungen
wie „sich einen Kopf um etwas machen“ oder „auf den Magen schlagen“ deuten bereits darauf hin, dass es psychische
Prozesse gibt, die sich körperlich äußern. Pflegende sollten
in ihren Bezugsgesprächen über mögliche Ursachen sprechen, genau beobachten und den Patienten nach weiteren
Symptomen fragen, z. B.:
●● Anspannung
●● Überforderung, Belastung
●● Angst/Sorge
●● Rückzug
●● anstehende wichtige Termine (Gerichtstermin, Scheidungstermin, therapeutisches Gespräch mit Familienangehörigen?)
Entspannungsverfahren können in Anspannungssituationen
helfen. Mit dem Angebot beispielsweise von Gesprächen,
Spaziergängen oder Bädern kann dem Patienten verdeutlicht werden, dass sein Problem ernst genommen wird.
Pflegende sollten Gesprächsangebote machen und auch die
Möglichkeit aufzeigen, diese Probleme im therapeutischen
Gespräch zu besprechen. Vielen Patienten wird nicht klar
sein, dass die somatischen Beschwerden mit ihrem psychischen Zustand zusammenhängen.
1403
65
Pflege bei Erkrankungen der Psyche
65.14 Übersicht über die
­wichtigsten Medikamente
Die ▶ Tab. 65.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten
eingesetzten Medikamente bei psychischen Erkrankungen.
Tab. 65.1 Die wichtigsten Medikamente bei psychischen Erkrankungen.
Benzodiazepine
häufig verwendete Wirkstoffe
und Handelsnamen
●● Bromazepam:
Therapieziel/Anwendung
Nebenwirkungen/Beobachtungskriterien/
zu beachten
z. B. Lexotanil
z. B. Valium, Stesolid
●● Flunitrazepam: z. B. Rohypnol
●● Flurazepam: z. B. Dalmadorm
●● Midazolam: z. B. Dormicum
●● Benzodiazepine
blockieren die
Weitergabe bestimmter Nervenreize.
●● sie wirken dadurch beruhigend,
krampflösend und schlaffördernd
●● Einsatz bei Angstzuständen,
Schlafstörungen, Depressionen
●● Müdigkeit
Neuroleptika
(Antipsychotika)
Typische (konventionelle) Neuro­
leptika:
●● Haloperidol: z. B. Haldol
●● Benperidol: z. B. Glianimon
●● Levomepromazin: z. B. Neurocil
●● Thioridazin: z. B. Melleril
Atypische Neuroleptika
(der 2. Generation):
●● Clozapin: z. B. Leponex
●● Olanzapin: z. B. Zyprexa
●● Quetiapin: z. B. Seroquel
●● Die
●● Bewegungsstörungen,
Antidepressiva
Johanniskraut (Hypericum): z. B.
Cesradyston, Esbericum, Felis,
Hyperforat
●● erhöhen
●● Diazepam:
MAO-Hemmer:
z. B. Aurorix
●● Tranylcypromin: z. B. Parnate
●● Moclobemid:
Trizyklische Antidepressiva:
z. B. Saroten
●● Nortriptylin: z. B. Nortrilen
●● Imipramin: z. B. Tofranil
●● Opipramol: z. B. Insidon
●● Amitriptylin:
Selektive Serotoninaufnahme­
hemmer (SSRI):
●● Fluoxetin: z. B. Fluoxgamma,
Fluox Puren
●● Paroxetin: z. B. Paroxat,
­Paroxedura
●● Citalopram: z. B. Cipramil, CitaLich
1404
Wirkung von Neuroleptika
beruht auf der Hemmung bestimmter Rezeptoren im Gehirn.
●● wirken vor allem antipsychotisch, vermindern z. B. das
Auftreten von Halluzinationen
oder Wahnvorstellungen und
Angstzuständen
●● Einsatz bei schweren akuten
­Psychosen wie Schizophrenie,
aber auch bei Alkoholdelir oder
Angstzuständen
die Konzentration von
Serotonin und Noradrenalin im
Gehirn
●● verbessern die Stimmung und
erhöhen den Antrieb bei Depressionen
●● vermindertes
Reaktionsvermögen
→ Sturzprophylaxe!
●● Schlafstörungen → ggf. einer Umkehr des
Tag-Nacht-Rhythmus entgegenwirken,
abends Einschlafrituale einführen
●● Obstipation
●● Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, auch mit Alkohol
●● hohes Abhängigkeitspotenzial
●● ggf. Entzugserscheinungen bei langem
Konsum und abruptem Absetzen, z. B.
Stimmungsschwankungen, Unruhe bis hin
zu epileptischen Anfällen oder Delir
●● Schwindel
sog. extrapyramidale Störungen (EPS), z. B. parkinsonähnliche
Symptome, unwillkürliche Muskelzuckungen, Dyskinesien (Störungen des
Bewegungsablaufs) → Sturzprophylaxe
→ Achtung bei heißen Getränken
●● Blutbildveränderungen → Blut- und Leberwerte kontrollieren
Johanniskraut:
Reaktionen
●● Müdigkeit
●● allergische
Aufhebung der Wirkung der Antibabypille
MAO-Hemmer:
●● Mundtrockenheit
●● Schwindel
●● Schläfrigkeit
●● Übelkeit, Obstipation
●● Schlafstörungen
Trizyklische Antidepressiva:
●● Mundtrockenheit
●● Müdigkeit,
●● Aggression
Schwindel, Sprachstörungen
●● orthostatische
●● Obstipation
Dysregulation, RR ↓, HF ↑
Tetrazyklische Antidepressiva:
●● Benommenheit
●● Zittern
●● unwillkürliche Bewegungen
●● orthostatische Hypotonie
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Wirkstoffgruppe
Übersicht über die w
­ ichtigsten Medikamente
Tab. 65.1 Fortsetzung.
Wirkstoffgruppe
häufig verwendete Wirkstoffe
und Handelsnamen
Therapieziel/Anwendung
Selektive Serotoninaufnahme­
hemmer (SSRI):
Nebenwirkungen/Beobachtungskriterien/
zu beachten
Selektive Serotoninwiederaufnahme­
hemmer:
●● Mundtrockenheit
●● gastrointestinale Beschwerden, z. B. Diarrhö, Obstipation, Übelkeit
●● Nervosität, Unruhe, Zittern
●● Miktionsstörungen
●● Schluckbeschwerden
●● Fluoxetin:
z. B. Fluoxgamma,
Fluox Puren
●● Paroxetin: z. B. Paroxat,
­Paroxedura
●● Citalopram: z. B. Cipramil,
CitaLich
Die stimmungsaufhellende Wirkung setzt
erst nach einigen Wochen ein, die antriebssteigernde allerdings sofort. Da der Leidensdruck nach wie vor besteht, aber der Antrieb
höher ist, kann es zu Suizidgedanken und
-versuchen kommen.
●● wirken
stimmungsstabilisierend,
Wirkmechanismus ist unklar
●● Prophylaxe und Therapie der
manischen Phasen bei manischdepressiven Erkrankungen
(affektive Störungen, schizoaffektive Störung)
●● leichter
Tremor
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Lithium: z. B. Qilonum, LithiumAspartat
●● Polyurie/Polydipsie
und Durst
Struma
●● gastrointestinale Beschwerden
●● Muskelschwäche
●● Gewichtszunahme
●● euthyreote
Mein Patient Frau Fichter: Ich fühle mich so leer.
„Ist in den letzten Jahren irgendetwas Einschneidendes im Leben
ihrer Mutter passiert?“ Corinna Fichter ist so erleichtert. Endlich
ist ihre Mutter mit ihr in die Psychiatrie gekommen. Sie hat sich
solche Sorgen gemacht. Schon seit Monaten ist ihre Mutter müde
und schlapp, spricht langsam und monoton und ist irgendwie gar
nicht mehr richtig da. Früher haben sie immer am Wochenende
zusammen neue Rezepte ausprobiert. Erst auf den Markt, Zutaten aussuchen und dann stundenlang gekocht. Das findet überhaupt nicht mehr statt.
„Vor einem Jahr hat mein Vater meine Mutter verlassen. Er hat
gesagt, er würde sie nicht mehr lieben. Jetzt wohnt er mit einer jüngeren Kollegin zusammen, sie ist erst 34 und meine Mama ist 47.
Mein Vater ist schon 55. Meine Mama hat das ziemlich mitgenommen, sie hat ja auch für ihn und für mich auf eine eigene Karriere
verzichtet. Nach der Trennung hat sie nur noch geweint. Die Trauer
fand ich ja normal, aber jetzt? So kenne ich Mama gar nicht. Sie
schläft auch kaum noch, ist nachts total lange wach und schon
Stunden vor mir auf, und ich stehe nicht spät auf, meist so um 7.“
„Ich habe gar kein Gefühl mehr in mir drin, ich fühle mich einfach nur leer.“ sagt Corinnas Mutter dem Arzt. „Ich kann mich
zu nichts mehr aufraffen. Ich bin ja immer mit meinen Freundinnen dienstags und donnerstags zum Zumba. Aber das geht jetzt
schon länger nicht mehr. Ich vermisse es, und ich vermisse meine
Freundinnen, aber ich kann einfach nicht.“
„Es kann sein, dass sie an einer Depression oder depressiven Störung leiden“, sagt der Arzt. „Eventuell ausgelöst durch die Trennung.
Ich will aber noch ein paar Tests machen, damit wir sichergehen,
dass nichts Organisches dahinersteckt und wir Sie richtig behandeln. Wir werden Ihnen erstmal Blut abnehmen und schauen, ob
Sie eine Unterfunktion der Schilddrüse haben. Ich würde Sie gerne
für die Untersuchungen stationär aufnehmen. Aber machen Sie sich
keine Sorgen. Falls sich herausstellt, dass Sie tatsächlich eine Depression haben, kann man das heute gut behandeln. Dann bekommen Sie Medikamente, die das Ungleichgewicht an Botenstoffen
in Ihrem Gehirn wieder ausgleichen. Außerdem gibt es in unserem
Haus tolle Psychotherapieangebote, auch mit Bewegungsübungen
und in der Gruppe.“ Zu Corinna gewandt sagt er: „Sie werden sehen, mit der richtigen Behandlung ist Ihre Mutter bald wieder so
wie früher und sie spazieren voller Begeisterung über den Markt.“
© dalaprod/fotolia.com
Was ist zu tun?
●● Worauf
sollten Sie Frau Fichter hinweisen, wenn Sie sie zur Einnahme von Antidepressiva beraten?
●● Manchmal wird bei Depressionen eine Schlafentzugstherapie
durchgeführt. Was sind Ihre Aufgaben bei dieser Therapie?
●● Wie sollte eine gute Kommunikation mit Menschen mit Depressionen aussehen? Worauf sollten Sie achten?
●● Sie führen ein Beratungsgespräch mit Frau Fichter: Welche Themen sprechen Sie an?
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