A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien - H-Net

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Andreas Reckwitz. Die Transformation der Kulturtheorien: Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist:
Velbrück Wissenschaft, 2000. 704 S. DM 149.00 (gebunden), ISBN 978-3-934730-15-1.
Reviewed by Andreas Pecar
Published on H-Soz-u-Kult (October, 2000)
A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien
Der Kulturbegriff hat in der Geschichtswissenschaft
in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Zunehmend versucht sich die Geschichtswissenschaft als Kulturwissenschaft zu etablieren. Dies hat im Wissenschaftsbetrieb
schon einige Spuren hinterlassen. Manche der für die kulturalistische Wende klassischen Texte finden sich mittlerweile auch in erschwinglichen Anthologien wieder
Christoph Conrad / Martina Kessel (Hgg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart
1998. . Und verschiedene Beiträge suchen ferner die unterschiedlichen Richtungen der Kulturgeschichte miteinander zu vergleichen und so die Bandbreite der methodischen Neuorientierung aufzuzeigen Vgl. nur exemplarisch: Wolfgang Hardtwig / Hans-Urich Wehler (Hgg.):
Kulturgeschichte heute, (Geschichte und Gesellschaft,
Sonderh. 16), Göttingen 1996; Thomas Mergel / Thomas
Welskopp (Hgg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zu einer Theoriedebatte, München
1997; Ute Daniel: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten in der Geschichtswissenschaft, in: GWU 48
(1997), 195-218 und 259-278. . So können die ansonsten
so unterschiedlichen Ansätze der Mentalitäts-, Alltags, Mikro- und Geschlechtergeschichte alle als Teil einer
neuen Kulturgeschichte aufgefaßt werden. Diese Heterogenität der unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Ansätze ist gleichzeitig auch das Problem der neueren Kulturgeschichte. So ist keineswegs klar, welche Vorstellung
von Kultur und Kulturgeschichte den Leser jeweils erwartet, wenn er ein Buch zur Hand nimmt, das der Kulturgeschichte zugerechnet wird. Schon die Bedeutungsvielfalt des Kulturbegriffes läßt sich kaum überschauen,
und noch heterogener gliedert sich die Vielfalt der kul-
turwissenschaftlichen Ansätze. Für kulturgeschichtlich
orientierte Arbeiten stehen meist einzelne Sozialtheorien
Pate, etwa von Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Niklas
Luhmann oder Clifford Geertz, die als Klassiker rezipiert
werden. Was diese unterschiedlichen Sozialtheorien miteinander verbindet und was sie unterscheidet, wird allerdings nur selten in den Blick genommen. Es ist daher zu
begrüßen, daß der Soziologe Andreas Reckwitz nunmehr
ein Werk vorgelegt hat, das den Vergleich prominenter
Kulturtheorien in den Mittelpunkt stellt.
Reckwitz wendet sich nicht allen Bereichen des cultural turn gleichermaßen zu. Die epistemologischen Auswirkungen des cultural turn bleiben ebenso unberücksichtigt wie die methodologischen Konsequenzen. Dagegen steht der Wandlungsprozeß der Sozialtheorien im
Mittelpunkt. Reckwitz geht davon aus, daß die modernen
Kulturtheorien ein theoretisches Feld bilden. Dieses Feld
läßt sich “nach außen” von anderen Sozialtheorien abgrenzen: gegenüber den sozialtheoretischen Paradigmen
des homo oeconomicus sowie des homo sociologicus treten die Kulturtheorien mit dem Anspruch auf, menschliches Handeln treffender beschreiben zu können, indem
sie den Menschen als animal symbolicum zum Untersuchungsgegenstand machen und die soziale Reproduktion von Handlungsmustern über kognitiv-symbolische
Schemata erklären. Dabei lassen sich die Kulturwissenschaften allerdings nicht als eine klare Einheit begreifen. Vielmehr rekonstruiert Reckwitz einen Transformationsprozeß der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien.
So verbergen sich hinter dem Begriff der Kulturtheorie zwei unterschiedliche Theoriestränge: Zum einen die
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Entwicklung der Kulturtheorien auf der ursprünglichen
Grundlage des Strukturalismus, angefangen von Claude Lévi-Strauss über Ulrich Oevermann und Michel Foucault bis zu Pierre Bourdieu. Zum anderen die Entwicklung der interpretativen Kulturtheorie von Alfred Schütz
über Erving Goffman und Clifford Geertz bis zu Charles
Taylor, die ursprünglich auf dem Fundament phänomenologischer Untersuchungen aufbaute. Beide Theoriestränge waren in den letzten dreißig Jahren einem
Wandlungsprozeß unterworfen, in welchem sich immer
stärker neue Gemeinsamkeiten beider Richtungen herausbildeten, während die unüberbrückbaren Gegensätze, die noch die sozialtheoretischen Entwürfe von LéviStrauss und Alfred Schütz voneinander trennten, mehr
und mehr in den Hintergrund traten. Der Transformationsprozeß der Kulturtheorie läßt sich begreifen als eine
Konvergenzbewegung zu einem einheitlichen kulturwissenschaftlichen Paradigma, so lautet die These, die Reckwitz in seinem materialreichen Werk zu belegen sucht.
er theoretischer Ansätze. Im Sinne des Strukturalismus
(Lévi-Strauss) muß eine Erklärung menschlichen Handelns stets die symbolischen Codes zu rekonstruieren
versuchen, die das Handeln hervorbringen. Diese Codes
sind übersubjektiv existierende Differenzsysteme, denen
sich die menschlichen Akteure nicht bewußt sind. Die
subjektiven Interpretationen des Handelns erscheinen
daher dem Strukturalisten letztlich unerheblich. Gerade diese subjektive Perspektive steht dagegen bei der
Sozialphänomenologie (Schütz) im Mittelpunkt. Die Betonung übersubjektiver Elemente verstelle letztlich den
permanenten Prozeß intentionaler Sinnzuschreibungen,
den es im einzelnen Subjekt zu analysieren gelte und ohne den menschliches Handeln letztlich nicht erklärt werden könne. Gemeinsam ist beiden ansonsten so unterschiedlichen Sozialtheorien ihre “mentalistische Ausrichtung” (551), das heißt der Versuch, menschliches Handeln
letztlich durch eine Rekonstruktion mentaler Strukturen
mit universalem Charakter erfassen zu können.
Kernstück seiner Untersuchung sind die Einzelstudien zu den einzelnen Sozialtheorien, die insgesamt mehr
als dreihundert Seiten einnehmen. Diese können hier
nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Allerdings sei
darauf hingewiesen, daß es sich bei den vorgestellten Sozialtheorien um eine recht heterogene Auswahl handelt.
Im Blickpunkt stehen der Ethnologe Claude Lévi-Strauss,
der Sozialanthropologe Clifford Geertz, die Soziologen
Ulrich Oevermann, Pierre Bourdieu, Alfred Schütz und
Erving Goffman, der Philosoph Charles Taylor sowie
der “Sozialwissenschaftler” Michel Foucault. Die meisten der hier aufgeführten Autoren haben sich explizit um
die Formulierung einer Sozialtheorie bemüht, waren also stärker theoretisch orientiert. Manche Autoren sind
dagegen vor allem durch empirische Einzeluntersuchungen hervorgetreten (vor allem Goffman), aus denen eine eigenständige Sozialtheorie erst erschlossen werden
muß. Alle Autoren lassen sich indes der Kulturtheorie zuordnen. Der dargelegte Transformationsprozeß ist daher
keineswegs auf einzelne Disziplinen wie die Soziologie
festgelegt, sondern umfaßt alle Sozialwissenschaften in
gleicher Weise. Mit Hilfe dieser Einzelstudien ist ein vergleichender Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen kulturalistischen Deutungsansätze
möglich, läßt sich auch ein aktueller Stand der kulturwissenschaftlichen Debatte resümieren.
Der Gegensatz von Geist und Außenwelt steht bei
beiden Startpunkten der Kulturtheorie im Mittelpunkt
und hat seinerseits wiederum lange zurückreichende
Wurzeln, die letztlich bis zu Kants Kritik der reinen
Vernunft zurückreichen. Im Verlauf des Transformationsprozesses verlieren nun sowohl der gemeinsame
Aspekt von Strukturalismus und Sozialphänomenologie
(die mentalistische Ausrichtung) als auch der Antagonismus zwischen Holismus auf der einen und Subjektivismus auf der anderen Seite an Bedeutung. Statt dessen
wenden sich spätere Sozialtheorien (z.B. von Pierre Bourdieu und Charles Taylor) von einer Rekonstruktion der
rein geistigen Welt ab und einer Untersuchung der sozialen Praktiken zu. Diese Hinwendung zu den sozialen
Praktiken hat nun aber zur Folge, daß der ursprünglich
angenommene Antagonismus zwischen der subjektiven
und der objektiven Perspektive der Kulturanalyse zunehmend als obsolet erscheint. Vielmehr stehen nun Verhaltensroutinen, kollektive Sinnmuster sowie Symbole und
Rituale im Mittelpunkt der Betrachtung, d. h. die Wissensordnungen, die dem menschlichen Akteur ein konkretes Handeln entweder als sinnvoll nahelegen oder als
sinnlos ausschließen. Um diese Wissensordnungen zu rekonstruieren, muß schließlich auch der postulierte universale Charakter mentaler Strukturen aufgegeben werden. Statt dessen lassen sich die unterschiedlichen sozialen Praktiken auch nur durch jeweils als unterschiedWie kann nun aber der Transformationsprozeß der lich angenommene Wissensordnungen hinreichend erKulturtheorien beschrieben werden, und welche Konse- klären, ist also bei der Untersuchung der sozialen Prakquenzen ergeben sich daraus für eine Geschichtswissen- tiken immer auch eine Untersuchung der jeweils spezifischaft, die sich als Teil der Kulturwissenschaft begreischen kulturellen und sozialen Kontextbedingungen vonfen will? Am Anfang stand ein Antagonismus zwei2
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nöten.
gehend unbeantwortete Verhältnis zwischen Texten und
Praktiken sowie ferner den Antagonismus zwischen eiNicht alle untersuchten Sozialtheorien lassen sich in nem Homogenitätsmodell der Kultur auf der einen und
gleichem Maße diesem Transformationsprozeß zuord- einem Modell zahlreicher kultureller Interferenzen auf
nen. In beiden Strängen gibt es darüber hinaus noch eine der anderen Seite. Weitere offene Fragen werden sich unSeitenlinie, die die Kultur als Text interpretieren möch- schwer finden lassen. Von einem “Ende der Kulturheorie”
te. Insbesondere im Frühwerk Foucaults sowie in einiist daher bei Reckwitz zu keinem Zeitpunkt die Rede.
gen Arbeiten von Geertz lassen sich Versuche in diese
Richtung feststellen. Unabhängig von der gegenwärtigen
Mit Reckwitz Analyse des Transformationsprozesses
Konjunktur dieser Deutung von “Geschichte als Text” in der Kulturtheorien liegt ein vielschichtiges Werk vor,
manchen Bereichen der Literaturwissenschaft und (sel- das auch für die Geschichtswissenschaft mehrere Vertener) der Geschichtswissenschaft hält Reckwitz diese wendungsmöglichkeiten bereithält. Es vergleicht zahltheoretische Entwicklung zu Recht für einen Irrweg. Die reiche unterschiedliche kulturtheoretische Ansätze, die
Vorstellung, daß Texten, Ritualen oder symbolischen For- zumindest teilweise auch in der Geschichtswissenschaft
men eine immanente Bedeutung zugeschrieben werden auf große Resonanz stoßen. Es zeigt auf, welche theorekönne, die unabhängig von den jeweiligen Wissensfor- tischen Interpretationsansätze durch den Transformatimen der Autoren, Produzenten oder Rezipienten exis- onsprozeß mittlerweile zu Recht als überholt gelten dürtiert, erweist sich bei der Interpretation menschlichen fen und daher auch bei geschichtswissenschaftlichen InHandelns als wenig hilfreich.
terpretationen wenig Überzeugungskraft entfalten können. Und es macht deutlich, daß sich die heutige KulDaß die Kulturtheorie auch nach der weitgehend
turtheorie mit guten Gründen vor allem als Theorie sovollzogenen Konvergenz der beiden ursprünglich gezialer Praktiken etabliert hat, wovor sich auch die Getrennt verlaufenen Stränge nicht an ihr Ende gekommen schichtswissenschaft nicht verschließen sollte. In diesem
ist, macht Reckwitz ebenfalls deutlich. Als offene Enden Sinne sei die Untersuchung von Reckwitz jedem Historider Kulturtheorie sieht er zum einen das bisher weit- ker nachdrücklich empfohlen.
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Citation: Andreas Pecar. Review of Reckwitz, Andreas, Die Transformation der Kulturtheorien: Zur Entwicklung eines
Theorieprogramms. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October, 2000.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=16243
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