Prüfungsfragen zum Grundkurs „Judentum“ Reader zum Grundkurs „Judentum“ zur begleitenden Lektüre und Prüfungsvorbereitung Inhalt: Quellen: Glossar Stichworte zum Judentum Anfängen Sadduzäer; Pharisäer Der Jude Jesus in Tempel und Synagoge Jüdische Gruppen nach den Rabbinen Das „Höre Israel“ Das „Schmone Esre“ (18-Gebet) Talmud Das erste und zweite Gebot Menschenrechte Jüdische Feste Die Juden in Spanien Maimonides Der Wiener Judenplatz Kabbala Der Zionismus Vorzubereiten mithilfe der Vorlesungsmitschrift und dem „Reader“. Zusatzinfos auch unter „Grundkurs“ auf der Homepage http://mitglied.lycos.de/bodendorfer http://www.oppisworld.de/zeit/juden/judenlex.htm; http://www.etrend.ch/fundgrube/win_fundgrube/pal_glossar.htm den zusammengestellt von: Gerhard Bodendorfer 1. aus: Theologische Realenzyklopädie (TRE) Vortrag und Artikel: Jüdische Stimmen zu Jesus, Protokolle zur Bibel 5/2 (1996) 95-107 und weiteres Material zur Rezeption, von: Gerhard Bodendorfer u.a.: Der Tempel. Ort der „Nichtdarstellung“ Gottes, von: David Banon (Strassbourg-Lausanne): WuUdB (Der Tempel) 33-37. „Als ob sie vor mir ein Opfer dargebracht hätten“. Erinnerungen an den Tempel in der Liturgie der Synagoge, von: Clemens Leonhard. Bemerkungen zum sozialgeschichtlichen Hintergrund der Entwicklung der Synagoge von: Gerhard Bodendorfer, Protokolle zur Bibel 2, 1993, 47-59. Michael F. Mach, „Etwas Tempel“: WuUdB (Der Tempel) 38-40. nach: Sacha Stern, Jewish Identity in Early Rabbinic Writings (Arbeiten zur Geschichte des Antiken Judentums und des Urchristentums XXIII), Leiden-New York-Köln 1994. Übersetzung: Jakob Petuchowski 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. Arbeitsblatt Bodendorfer aus: Johannes Schaber (Hg.), Gemeinsame Wurzeln. Der Gottesglaube im Judentum, Christentum und Islam (Schriftenreihe der Ottobeurer Studienwoche 3), Leutesdorf 2002, von: Alfred Bodenheimer und Gerhard Bodendorfer Menschenrechte und Menschenwürde in der rabbinischen Literatur, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000), 67-92, von: Gerhard Bodendorfer http://www.zum.de/Faecher/Eth/SA/stoff6/juden_feste.htm Zwischen Duldung und Verfolgung. Das Schicksal der Juden im christlichen Spanien, in: Rainer Kampling/Bruno Schlegelberger (Hg.), Wahrnehmung des Fremden… Berlin 1996, von: Mariano Delgado in: Günter Stemberger (Hg.), Die Juden. Ein historisches Lesebuch, München 1990, von: Heinrich und Marie Simon von: Gerhard Bodendorfer von: Gerhard Bodendorfer Kalischer, Alkalai, Achad ha-Am, Herzl, aus: Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998, von: Shlomo Avineri 2 Versuchen Sie eine Definition von „Identität“ und eine mögliche Anwendung auf das Judentum Wo liegen die Anfänge des Judentums und welche sozialen, politischen und religiösen Hintergründe prägen es? Was hat die schriftliche Redaktion der Tora (Pentateuch) mit dem frühen Judentum zu tun? Nennen Sie die besondere Herausforderung des Judentums in der hellenistischen Zeit und einige Werke, die in dieser Zeit entstehen Wie kann man Jesus im Rahmen des frühen Judentums verstehen? Wie wurde Jesus im Judentum rezipiert? Was ist ein Rabbi? Nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Synagoge und Tempel Zählen Sie die jüdischen Feste auf und erklären Sie sie kurz Beschreiben Sie den Talmud Welche Funktion hat die Tora im Judentum? Welche Bedeutung kommt dem ersten und zweiten Gebot zu? Was versteht man unter den noachidischen Geboten? Nennen Sie Querbezüge und Unterschiede zwischen Judentum und Christentum Erzählen Sie etwas über den großen Gelehrten Maimonides? Erzählen Sie etwas über das Schicksal des Judentums in Spanien Erzählen Sie etwas über die Situation des Judentums in Mittelalter Was versteht man unter Kabbala? Welche Auswirkungen hat sie? Erzählen Sie etwas über die jüdische Aufklärung Nennen Sie einige Profile des Zionismus Erzählen Sie etwas über moderne jüdische Gruppen Grundkurs Judentum Judentum in den Anfängen Grundkurs Judentum Judentum in den Anfängen Apokalyptische Bewegungen stark: Periodisierung der Geschichte, Zusatzoffenbarung wichtig sog. zwischentestamentliche Literatur (besser: Jüdische Schriften aus hellenistischrömischer Zeit) beginnt: Henoch, Jubiläen, Testamente der 12 Patriarchen... Vergrößerung des Staatsgebietes; Hegemonie Bürgerkrieg um die Frage des Vorrangs vor politischer oder kulturell/religiöser Identitätsausprägung Pharisäer und Sadduzäer erscheinen Diasporazentren: Alexandrien (500.000? Juden – 1/3 der Bevölkerung) Stichworte zum Judentum in den Anfängen Perserreich: Juda als persische Provinz Autonomie Schriften wie die Tempelrolle entstehen als „Ergänzung zur Tora“, die in Qumran tradiert, aber nicht in den Kanon kamen Tora als Grundgesetz (Pentateuch) Tempel als politisches und religiöses Zentrum Hohepriester als Oberhaupt – kein König (loyal zu Persien) Judentum als ethnische Gemeinschaft mit kultureller Identität, die auf der Tora beruht: Feierliche Proklamation der Tora (Neh 9-10): Bundeserneuerung -Rückbezug auf Israel Esra als Schriftgelehrter (Esr 7,6) Etwa 100.000 Juden Rom Diaspora: Alexandrien Bestrebungen nach Polisbürgerrechten und Privilegien Gleichzeitig Bindung an Judäa Ptolemäische Herrschaft (ab 301v.) Septuaginta entsteht als Übersetzung der Tora „für“ Ptolemaios II. Philadelphos 382246v. Seleukidesche Herrschaft (ab 198v.) Autonomie gefährdet Hellenistisches System angestrebt Tempel geschändet Religiöse Aktivität unterbunden Aber auch Hinweise auf Attraktivität der hellenistischen Kultur Judentum als religiöse Bekenntnisbewegung Beschneidung, Sabbat und Feste haben besondere Bedeutung Apokalyptische Bewegungen entstehen: Hoffnung auf radikale Änderung der politischen Verhältnisse, Geschichtsbruch Weisheitsliteratur an der Blüte: Bewältigung des Daseins Ideal des Schriftgelehrten (Sira) Abgeschlossener Kanon der Prophetenschriften Makkabäer (ab 167v.) Kriegerisch in Guerillakrieg zuerst Autonomie, dann Unabhängigkeit erzwungen Tempel als religiöses Zentrum 164v.wieder eingeweiht: Chanukka Hasmonäerreich Staatliche Unabhängigkeit Hellenistische Verfassung des Staates Übernahme der Ethnarchen-, Hohepriester- und Feldherrnwürde (Strategos) (Simon): Verbindungen zu Rom und Sparta („Verwandtschaft“: 1 Makk 12) Unter Johannes Hyrkan I. (135/34-104) Königsherrschaft Widerstand der „Frommen“ gegen diese Ämterkumulation Philo von Alexandrien Rom als Schutzmacht der Juden Konflikte mit Griechen und Ägyptern Herodesenkel Agrippa in Alexandrien gefeiert (37/38), erbost Nichtjuden: sie erheben einen Aufstand 66n. begründet im Autonomiestreben schwachsinnigen Bettler zum „König der Juden“ und Aber auch große innere Uneinigkeit über Umgang mit kreuzigen ihn dann. Rom Caligula lässt Kaiserstauen in den Synagogen Vor 70n. etwa 7 Mio. Juden, 2,5 Mio. in Palästina aufstellen 70n. Zerstörung des Tempels unter Vespasian und Rom lässt schließlich die Juden in einem Stadtviertel seinem Sohn Titus zusammenpferchen, 600.000 Tote (1/4 der Juden Palästinas) Besserung unter Claudius Legende um Jochanan ben Zakkai Konstitution des rabbinischen Judentums in Jabne bei Jaffa Werke des Flavius Josephus (70-93) Diaspora: Negative Folgen des verlorenen Krieges, vor allem in Antiochien; viele Kriegsgefangene wurden freigekauft; 115-117 Diasporaaufstände 3 Nützt die Wirren zur politischen Einflussnahme 63v. Einzug des Pompeius in Jerusalem Verbündeter Rom wurde als neutraler Garant der Unabhängigkeit missverstanden Globale Interessen Roms, Erweiterung und Sicherung der Grenzen; politisches Interesse an der Region Zerschlagung des Hasmonäerstaats Einsetzung des Herodes (37-4): König (rex socius) Tempelbau als Zeichen seines „jüdischen“ Selbstverständnisses; messianisches Symbol Vier herodianische Nachfolgestaaten 6n. Judäa Prokuratur Judäa Quelle persönlicher Bereicherung der Prokuratoren 4 132-135 Bar Kokhba Aufstand in Palästina Jerusalem für Juden nach verlorenem Krieg verboten (Aelia capitolina in Iudaea capta) Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Gerhard Bodendorfer Der Jude Jesus Noch immer konzentriert und reduziert sich das Interesse am Judentum in christlichen Kreisen vor allem auf die Rolle Jesu und seine Zeit bzw. auf die damit verbundene Frage nach dem Messias. Noch immer werden die Fragen an die jüdische Religion nicht aus deren Selbstverständnis heraus gestellt, sondern aus dem Fragehorizont des christlichen Glaubens. Dies bedingt, dass systematisch-theologische Fragestellungen und christologische Deutehorizonte den Rahmen vorgeben. Nur wenige Christen wollen sich mit der Entwicklung des Judentums nach dem Neuen Testament auseinandersetzen. Interesse besteht maximal an folkloristischen oder esoterischen Elementen. Dies bedingt, dass ein starkes Defizit im Wissen über das Judentum besteht, ganz besonders im Hinblick auf Literatur, Theologie und zeitgenössische Strömungen. Eine an meinem Institut durchgeführte Umfrage zum Thema Sensibilität für Anitjudaismus unter Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Salzburg, OÖ und Wien hat im letzten Jahr ein erstaunliches Ergebnis gebracht. Es fiel auf, dass die Priester und LaienmitarbeiterInnen in der Kirche in überzeugendem Maß die seit dem Zweiten Vatikanum angebrochene Wende hin zu einem Dialog mit dem Judentum weitgehend angenommen haben. Die traditionell antisemitischen Stereotype, etwa die Schuld der Juden am Tod Jesu oder ein „typisch jüdischer“ Umgang mit Geld bestehen heute praktisch nicht mehr. Fast einhellig wurde der Aussage zugestimmt, das Christentum sei ohne seine jüdische Wurzel undenkbar, mit überwältigender Mehrheit wurde auch die Bedeutung des christlich-jüdischen Dialogs für einen persönlich und für die Kirche herausgestrichen. Doch im Detail, dort wo es um die theologischen Konsequenzen aus dieser Neubewertung des Judentums geht, gibt es noch genügend Aufgaben für Bewusstseinsbildung in innerkirchlicher Aus- und Fortbildung. Mehr als zwei Drittel der Befragten sehen einen Gegensatz zwischen dem „Liebesgebot Jesu“ und dem „Gesetzesgehorsam“ des Alten Testaments, fast die Hälfte ist der Meinung, die Kirche des Neuen Testaments hätte Israel als Gottesvolk abgelöst. Rund ein Viertel meint, der Bund Gottes mit Israel wäre aufgehoben und versteht das Alte Testament nur als Vorstufe des Neuen. Der Gedanke der Enterbung des Judentums, durch den der Glauben Israels in Jesus und durch die Kirche überboten, vollendet und abgelöst wird, ist noch weit verbreitet. Dabei ist gerade uns Katholiken die Kenntnis und die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judentums aufgetragen. Das Zweite Vatikanum hat mit dem 4. Artikel seiner Erklärung „Nostra aetate“ einen Meilenstein in der Neubesinnung zum Judentum gesetzt und darin geschrieben: 5 Der Jude Jesus »Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes (vinculum), wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist«. Das heißt: Indem und wenn die Kirche sich auf ihr ureigenes Geheimnis besinnt, stößt sie unweigerlich auf ihre Bindung zum Judentum. Um es mit den Worten Johannes Pauls II. (aus seiner Rede in der Synagoge von Rom) zu sagen: »Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas `Äußerliches´, sondern gehört in gewisser Weise zum `Inneren´ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.« Das Gespräch der Kirchen mit den Juden und mit der jüdischen Tradition ist als konstitutives Element kirchlichen Lebens ein Akt der Rückkehr zu den Wurzeln – und eine Suche nach Weggemeinschaft mit dem zeitgenössischen Judentum. Wer hier oberflächlich, unverständig oder zynisch von theologischem Philosemitismus reden oder nur das schlechte Gewissen der Kirchen am Werk sehen würde, hätte die Tiefendimension des Bandes nicht erfasst, das die Kirche und das Judentum unauflöslich verbindet, denn das Konzil gebraucht mit Band »vinculum« einen Begriff des Eherechts und drückt darin die Unverbrüchlichkeit und Dauerhaftigkeit dieser Verbindung aus. Die katholische Kirche ist »zum Dialog mit der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet«, wie Johannes Paul II. am 28. Oktober 1985 vor den Teilnehmern der Jahresversammlung der internationalen Kommission für die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum formulierte. Der wohl derzeit profilierteste Bibliker des deutschsprachigen Raums, der Münsteraner Erich Zenger spricht in diesem Zusammenhang von der bleibenden Verbundenheit des Christentums mit dem Judentum, was mehr ist als nur die Besinnung auf die Wurzel. Die bleibende Verbindung fordert uns daher auf, uns mit dem derzeit lebenden und pulsierenden Judentum auseinander zu setzen, von ihm zu lernen und mit ihm zu kommunizieren. In diesem Bewusstsein müssen wir die Frage nach der Religion Jesu heute als eine Frage nach der jüdischen Identität stellen, die unsere christliche prägt. Wir bekommen sie nicht mehr, indem wir unsere Augen vor dem lebendigen Judentum verschließen, das mit Jesus gerade nicht zu existieren aufgehört hat. Ganz im Gegenteil. Erst nach Jesus hat die Religion des Judentums jene prägende Entwicklung erfahren, die sie heute prägt. Der Urund Wurzelgrund aber ist das Alte oder besser Erste Testament: Diesem Ersten Testament will ich kurz Aufmerksamkeit widmen. Es sollte selbstverständlich sein, dass Jesus keine andere Bibel hatte als das sog. Erste Testament. Er nannte es wie auch die überwiegende Mehrzahl der im sog. Neuen Testament vertretenen Schriftsteller schlicht die Schrift oder auch „Gesetz und Propheten“, womit die beiden großen Teile der jüdischen Bibel gemeint sind. Lk 24,44 nimmt noch die Psalmen hinzu, wodurch der dritte große Kanonteil, die Schriften anklingt. Jesus verwendet diese Schrift als seine Bibel in all seinen Argumentationen. Sie ist ihm tief vertraut. Selbst gegenüber dem Satan argumentiert er nur mit ihr (Mt 4). Und er kann schon einmal seinen Gegnern sagen, dass sie im Gegensatz zu ihm die Schrift nicht kennen (Mk 12,23). Lk 4,16 zeigt uns Jesus als schriftgelehrten toratreuen Juden, der zur Vorlesung in der Synagoge aufgerufen wird: „So kam er auch nach Nazaret, wo 6 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja.“ Das Evangelium bemüht sich vielfach, Jesus als gläubigen Juden darzustellen. Mehr noch, den großen Vätern war es geradezu selbstverständlich, Jesus als einen gesetzestreuen Juden vorzustellen. Der keineswegs judenfreundliche Johannes Chrysostomus etwa berichtet gleich von einer dreifachen Erfüllung des Gesetzes durch Jesus. Jesus habe es nie übertreten, es durch den Sühnetod bestätigt und mit den matthäischen Antithesen sogar vertieft. Johannes von Damaskus behauptet, dass Christus das Gesetz erfüllte, indem er sich beschneiden ließ, die Sabbate hielt und all die Wundertaten vollbrachte, von denen die Schrift zeugt. Und der große Thomas von Aquin lässt Jesus sogar siebenfach das Gesetz erfüllen. Diese positive Betrachtung des Gesetzes in der Kirchengeschichte hatte allerdings einen nicht zu unterschätzenden Haken. Ausgangstext all dieser Betrachtungen ist die Bergpredigt. In ihr heißt es unmissverständlich: Mt 5,17 Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. 18 Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Die christliche Auslegung hat ihren Schwerpunkt vor allem auf das griechische ouvk h=lqon katalu/sai avlla. plhrw/sai gelegt. Man verstand diese plhrw/sai fast allgemein als „erfüllen, vollenden“ im Sinne eines qualitativ Neuen, etwa: „Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern zu vervollkommnen“. Darin sah man die Vollendung des von Haus aus unvollkommenen Gesetzes angelegt. Origenes sprach von der Entwicklung des Gesetzes analog zur Entwicklung eines Kindes zum Mann, wobei das Kind zwar verwandelt, aber nicht zerstört wird. Dem Gesetz würde durch Jesu die Gnade zur Vollkommenheit hinzugefügt. Johannes Chrysostomus meinte, Christus hätte die Rechtfertigung aus Glauben eingeführt und so den Zweck des Gesetzes erfüllt. Auch Irenäus spricht von einem Mehr, das Jesus bringt, in dem er Glaube und die Ausdehnung des Geltungsbereichs des Gesetzes von der Tat auf die Begierde bringt. Der Haken in der Auslegung liegt also genau in dem Umstand, dass die Erfüllung des Gesetzes durch Jesus mit einer Überhöhung und Neudeutung des Gesetzes verbunden wurde. Es finden sich kaum Spuren einer Interpretation, in der betont würde, dass Jesus das Gesetz in seinem Leben gehalten und in seinen Reden bestätigt habe. Doch genau das war in der Bergpredigt ausgesagt worden. Der Jude Jesus lebte und handelte nach der Weisung, die er wie all seine Zeitgenossen im Text der hebräischen Bibel fand. Anders als die alten Kirchenväter haben die Reformatoren allerdings Mt 5,17 gerade nicht als Vervollkommnung des Gesetzes gelesen. Sie meinten vielmehr, Jesus habe das Gesetz dadurch vervollkommnet, dass er es ausgelegt habe. „Ich will nicht ein ander 7 Der Jude Jesus odder new gesetz bringen, sondern eben die schrifft, so jr habt, nehmen und recht ausstreichen und also handeln, das jr wiset, wie mans halten sol“, meinte Luther in WA 32, 356. Diesem Grundverständnis könnte freilich auf den ersten Blick auch jeder Jude zustimmen. Denn gerade darin besteht ja das jüdische Verständnis der Schrift, dass sie immer und über alle Generationen hinweg neu gedeutet und interpretiert werden muss. Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen (aus Talmud bMQ 59ab): A B C D E F G H I J K L M N O P Q R Man hat gelehrt: An diesem Tag „äußerte R. Eliezer alle Einwendungen, die es auf der Welt gibt, und man nahm sie von ihm nicht an. Er sagte zu ihnen: Wenn die Halakha meiner Position entspricht, so möge dies jener Johannisbrotbaum erweisen! Da entwurzelte sich der Johannesbrotbaum (und bewegte sich) 100 Ellen von seinem Platz fort. Manche sagen: 400 Ellen. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Johannisbrotbaum! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halakha meiner Position entspricht, so möge dies der Wasserkanal erweisen! Da floss der Wasserkanal rückwärts. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Wasserkanal! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halakha meiner Position entspricht, so mögen dies die Wände des Lehrhauses erweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses um einzustürzen. Da herrschte sie R. Jehoschua an, und er sagte zu ihnen: Wenn die Gelehrten sich gegenseitig in der Halakha besiegen, was kümmert es euch?! Da fielen sie nicht um wegen der Ehre des R. Jehoschua und stellten sich auch nicht auf wegen der Ehre des R. Eliezer und stehen bis jetzt geneigt. Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halakha meiner Position entspricht, so möge sich dies aus dem Himmel erweisen! Da erklang eine Bat Qol (Himmelsstimme) und sagte: Was habt ihr gegen R. Eliezer? Die Halakha ist wie er in jedem Fall. Da stellte sich R. Jehoschua auf seine Füße und sagte: SIE IST NICHT IM HIMMEL! (Dtn 30,12) Warum (heißt es): Sie ist nicht im Himmel? Es sagte R. Jeremja, dass die Tora schon am Sinai gegeben wurde. Wir achten nicht auf die Bat Qol, denn Du hast schon geschrieben am Berg Sinai in die Tora: Nach der Mehrheit (ist) zu entscheiden (Ex 23,2). Es traf R. Natan Elija. Er fragte ihn: Was tat der Heilige, gepriesen sei Er, in dieser Stunde? Er sagte ihm: Er lächelte und sagte: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt! Das zitierte Beispiel zeigt sehr schön, dass die jüdische Tradition Exegese, also Bibelauslegung, in das grundsätzliche Verständnis von Text verankert. Niemand versteht Schrift, der sie nicht auslegt. Kehren wir wieder zu Jesus zurück. Wenn wir uns einig sind, dass er in seinem Verständnis von Tora, von göttlicher Weisung, als Interpret auftritt, dann ist zu fragen, worin das spezifisch Jesuanische etwa in den Antithesen liegt. Lassen Sie mich dazu kurz auf die Bergpredigt zurückkommen und den Text betrachten, der den Antithesen vorausliegt. Dort heißt es: 8 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Mt 5,20 Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Was wird hier gesagt? Entscheidendes, will man Jesu Verhältnis zu seiner jüdischen Welt verstehen, und ich spreche bewusst von Welt und nicht von Umwelt, da er selbst Teil dieser Welt ist. Jesus sagt. Die Gerechtigkeit seiner Anhänger muss noch größer sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Zum einen markiert es das Hauptanliegen der Bergpredigt und damit der Lehre Jesu überhaupt, Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist das alles verbindende Stichwort der Botschaft vom Gottesreich. Jesus meint nun gerade nicht, dass Schriftgelehrte und Pharisäer ungerecht wären oder nichts von der Gerechtigkeit verstünden. Vielmehr das Gegenteil ist wahr. In seinen Augen sind sie die Experten im Hinblick auf die Gerechtigkeit. Sie erkennen den Willen Gottes, sie deuten die Schrift und sie verstehen das Wort Gottes der jeweiligen Generation so auszudeuten, dass sie im Tun der Gerechtigkeit erlebbar wird. Jesu Jünger, also wir, müssen diese Experten noch übertreffen. Die Antithesen zeigen, worin dieses Übertreffen geschieht. Ich gehe in meinem Vortrag nicht auf die Antithesen ein, dass würde den Rahmen sprengen. Ich will nur ein paar Missverständnisse ausräumen. Missverständnis eins: Jesus tritt in den Antithesen gegen das Alte Testament auf. Das ist falsch. Er nimmt etwa im Beispiel Feindeshass Themen auf, die alttestamentlich nicht belegt sind. Jesus konzentriert sich aber in den Beispielen an den drei Kardinalgeboten des Judentums, die auch für Christen verständlich sind, nämlich sexuelle Vergehen, Mord und natürlich Götzendienst. Missverständnis zwei: Jesu übertrifft in den Antithesen herrschendes jüdisches Recht. Das ist falsch. Zu jedem einzelnen der Themen, die Jesus vorgibt, lassen sich Beispiele und Zitate in der Literatur des Judentums finden. Ich erinnere als Beispiel für die Rede vom Hinhalten der Backe nur an den markanten Spruch in BQ 89b: Wenn dein Genosse dich einen Esel nennt, binde dir einen Sattel um. Die jüdische Ethik hat die Bestimmungen des ersten Testaments regelmäßig verfeinert und beständig humanisiert. Gerade die rabbinische Literatur zeichnet sich durch ein hohes Maß an Humanismus aus. Hier finden sich massive Ansätze zur Gesinnungsethik ebenso wie auch die Bereitschaft, nicht mehr passende Regelungen aufzuheben. Inhaltlich steht also die jüdische Tradition den Vorstellungen Jesu in nichts nach. Missverständnis drei: Jesus hebt mit dem Liebesgebot als Hauptgebot das jüdische Gesetz auf. Betrachtet man die Bergpredigt, fällt auf, dass sie in einem konzentrischen Aufbau um das Vaterunser als Mitte kreist. Umrahmt wird das Vaterunser mit den Regeln zum Almosengeben, Beten und Fasten, den Anithesen und der Sorge um das Reich Gottes und schließlich dem Hinweis auf die dauerhafte Geltung aller Gebote und der Goldenen Regel: 12 Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten. 9 Der Jude Jesus Diese Goldene Regel steht also auf einer Ebene mit den Geboten, die alle ihre Geltung besitzen. Jesus hat hier Anteil an einer Diskussion, die das Judentum ebenfalls führte, und die einige Zeit nach Jesus zu einer interessanten Kontroverse führte. Man diskutierte nämlich über die Frage, ob es Gebote in der Bibel gäbe, welche das Zentrum der Gebote überhaupt darstellen, also ein Hauptgebot bildeten. Manche Rabbinen verbaten sich diese Diskussion und meinten, alle Gebote seien gleich wichtig. Dies würde Jesu ersten Statement entsprechen. Daneben gab es andere Rabbinen bzw. eine gewisse Schwerpunktsetzung, die auf die drei Hauptgebote Götzendienst, Unzucht und Mord abhob. Dies würde sich in den Antithesen angedeutet finden. Und wieder eine andere Linie der rabbinischen Diskussion suchte nach griffigen Grundregeln, die alle Gebote in sich vereinigen konnten. Dazu gehört die goldene Regel oder das Liebesgebot. Die goldene Regel wird bekanntlich von R. Hillel einem jungen Mann empfohlen, der ihn fragt, ob er die Grundlage der Tora kennenlernen könne, während er auf einem Bein steht. Hillel nennt ihm die goldene Regel. Vielleicht noch eindrucksvoller ist der Text bMakkot 23b-24a, ein Talmudtext. In ihm wird über mehrere Etappen argumentiert, dass die ursprünglich 613 Gebote und Verbote im Laufe der Zeit auf ihre Mitte hin befragt wurden. Es treten auf: David, Jesaja, Micha, Jesaja, Amos und schließlich Habakuk. Jeder von ihnen reduziert die Gebote auf einige wenige zentrale. Am Schluss bleibt ein Gebot über, das Habakuk definiert. Es heißt, Hab 2,4b: „Der Gerechte wird aus dem Glauben leben“. Glauben meint dabei im Kontext der hebräischen Bibel Vertrauen auf den sich offenbarenden Gott, auch gegen die momentan konkrete Wirklichkeit von Leid und Unterdrückung. Hierin sieht dieser Talmudabschnitt das Zentrum der Tora, das Zentrum des Gesetzes. Ich will diese Stelle nicht weiter auslegen und darf ganz „eitel“ auf einen Artikel von mir verweisen, der ausführlich auf den Text eingeht. Ich möchte die Stelle aber als Beispiel dafür sehen, dass jüdische Theologie und Gesetzesbetrachtung weit über einen mit Vorurteilen belasteten Rigorismus hinaus geht. Die Suche nach einer Mitte der Tora war dem Judentum in keiner Weise fremd. Gerade die Schwerpunktsetzung auf Gerechtigkeit und Glaube im genannten Text beweist, dass zwischen Teilen der jüdischen Auslegung und dem von Jesus vertretenen Grundsätzen mehr als nur Parallelen bestanden. Aus der Bergpredigt lernen wir weiters, dass es Jesus vor allem und zuerst um das Himmelreich ging, das jeder Mensch erlangen kann, indem er gerecht handelt. Das Tun steht im Vordergrund, nicht das Fürwahrhalten von Sätzen. Darum wird man die Gerechten auch nicht an ihren Beteuerungen erkennen, sondern an ihren Früchten. Die im Tun erlebte Gerechtigkeit setzt die Gebote Gottes in die Praxis um. Im Zentrum der Bergpredigt steht das Vaterunser: Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Beides gehört zusammen. Das Reich Gottes wird eintreten wenn Gottes Wille, wenn sein Gesetz geschieht. Ich will ein paar Beobachtungen im Hinblick auf den Juden Jesus hier zusammenfassen: Wie dem Judentum allgemein geht es Jesus in seiner Botschaft um Gott und die Durchsetzung seiner Herrschaft. 10 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Wie dem Judentum allgemein zeigt sich die Bedeutung des Willens Gottes in der Praxis eher als in der Theorie. Jesus fühlt sich nicht zu den Heiden gesandt, sondern zu Israel. Jesus meidet die griechisch-römischen Ballungszentren und umgibt sich mit der konservativ-jüdischen Mittel- und Unterschicht. Er erwählt zwölf Jünger in Anlehnung an die zwölf Stämme, um Israel zu erneuern. Er erhält schon von seiner Mutter den programmatischen Namen Jesus, der nichts anderes als „Retter“ bedeutet. War schon sie von seiner Aufgabe überzeugt und ehrgeizig? Der Jude Jesus Pharisäer und Schriftgelehrte stehen Jesus in ihren Grundhaltungen am nächsten. Die Texte zeigen, dass er große Schwierigkeiten im Umgang mit der herrschenden Nomenklatura, den Tempeloberen und sog. Sadduzäern hatte. Sowohl politisch als auch theologisch steht er dieser hellenistisch ausgerichteten Oberschicht mit äußerster Skepsis gegenüber. Auch wenn wir über die sog. Pharisäer nach der bestehenden Quellenlage wenig ausmachen können, lässt sich mit aller Vorsicht sagen, dass er sich wohl selber keiner der Gruppen zugeordnet fühlte. Unbestritten sah er sich selbst in einer Phase der anbrechenden Endzeit. Unbestritten sah er sich in diesem Zusammenhang in einem absoluten Naheverhältnis zu Gott, das seiner Botschaft eine Autorität verlieh, die der Autorität späterer Rabbinen überlegen zu sein scheint. Hier ist vielleicht spezifisch Jesuanisches auch in den Antithesen der Bergpredigt zu finden. Jesus lehrt nichts Neues, aber sein Umgang mit der Schrift zeigt, dass die Autorität, mit der er die Auslegung zum eigentlich verbindlichen Schriftzeugnis macht, eine bloße Paränese weit übersteigt. Anders als die Rabbinen stellt er sich auch nicht in einen Diskurs, sondern lehrt autoritativ. Seine Auslegung ist die einzig richtige. Im Kontext rabbinischen Denkes hätte ihm solche „Präpotenz“ wohl „den Lehrstuhl gekostet“. Aber Jesus ist eben weder Rabbi noch Schuloberhaupt. Wenn man ihn irgendwelchen Gruppen zuordnen möchte, so eignet sich im Prinzip nur eine Bewegung wirklich, auf die der ungarisch-englische jüdische Historiker Geza Vermes in seinem bahnbrechenden Buch „Jesus der Jude“1 hingewiesen hat, die Charismatiker. Durch Geza Vermes ist in der jüngeren Forschung die Bedeutung der charismatischen Frommen für ein Verständnis der historischen Person Jesu besonders hervorgehoben worden. Diese in den rabbinischen Schriften und auch bei Flavius Josephus bezeugten Menschen waren zumeist freidenkende Fromme, die sich durch Wundertaten und Heilungen auszeichneten. Ein bekannter Vertreter dieser Gruppe ist Choni/Onias, der etwa 90-68v. als Beter und Wundertäter aktiv war. Schon bei Josephus, und noch mehr in der Mischna Taanit, wird deutlich, dass Choni als von Gott besonders Geliebter galt. Sein Gebet bewirkt Regen. Er selbst weiß sich in einem besonderen Kindschafts-Verhältnis zu Gott stehend, das sich von jenem der Israeliten unterscheidet. Nach der Mischna ist er der Haussohn, ja das Hätschelkind (vgl. Prov 8,30), das sich alle möglichen Ungehörigkeiten seinem Vater gegenüber erlauben kann. Diesen kindlichen Gottesbezug schmückt die babylonische Gemara noch weiter aus. Choni habe zu Gott „Abba“ gesagt und sei ähnlich familiär mit ihm umgegangen wie ein verwöhntes Kind... wird darauf hingewiesen, dass das Beten um Regen eine Tradition sei, die auf die Propheten Elia (vgl. 1Kön 18) und Habakuk (Hab 2,1) zurückgehe. Choni war also vielleicht ein Einzelgänger seiner Zeit, er stand aber durch sein Beten und Wunderwirken in einem bis zum Propheten Elia zurückreichenden Traditionszusammenhang.2 Neben Choni ist vor allem Chanina ben Dosa bekannt und ein Enkel Chonis, Abba Chilkija sowie Chanan Hannechba, der einmal um Regen angefleht wurde: Abba, Abba, gib uns Regen! Da sagte er vor dem Heiligen, gepriesen sei Er: Herr der Welt. Tue es um jener willen, die nicht zwischen einem Abba unterscheiden können, der Regen gibt, und einem Abba, der keinen Regen gibt (bTaan 23a). Ihr Verhältnis zu Gott hatte ihr Vorbild im Verhältnis des Kleinkindes zum Vater. Ihre Frauen spielten in ihrem Leben eine angesehene Rolle. Ihr Wunderwirken war immer schon zum Voraus von großer Zuversicht, dass die Erfüllung von Gott gegeben werde, geprägt. Ihre eschatologische Erwartung war auf den heiligen Geist als den Bewirker der Auferstehung und Neugestaltung ausgerichtet, ihr „Messias“ war Elia, der bei der Auferstehung der Toten Hilfsdienste leisten werde. (Thoma 314f.) Von Choni berichtet Josephus in Ant 14,22ff. übrigens, dass er von einer aufgebrachten Menge gesteinigt worden sei, weil er sich weigerte, politisch für eine Seite aktiv zu sein. Auch wenn dieses Bild dem eher verklärten der rabbinischen Literatur widerspricht, zeigt es doch erneut Parallelen zum gekreuzigten Jesus. Chanina soll übrigens zum Verdruss seiner Frau in völliger Armut gelebt haben und zeigte wie auch die anderen Frommen Desinteresse an rituellen und rechtlichen Fragen. Neben dem vertrauten Umgang mit Gott, der Sohnschaft, dem Wundertun, verbindet auch noch die besondere Heilkraft Jesus mit diesen frühen Frommen. Vor allem die Verbindung der „Sohn Gottes“-Rede mit den Exorzismen Jesu sind hier typisch. Für den antiken Exorzismus gehört ein Redeverbot zum „Standardrepertoire“. Gemäß der Vorstellung, dass die Krankheit Folge von Sünde sein konnte, war der Exorzist und Heiler nicht zuletzt berufen, die Sünde zu vergeben. In einem stark beschädigten Fragment aus Höhle 4 in Qumran fand man das sog. Gebet des Nabonid, einer Erzählung, die von Dan 4 inspiriert war, und in der es heißt: 1 2 Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien. Übers. von Alexander Samely. Bearb. von Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn 1993 . - XII, 282 S. . - ISBN: 3-7887-1373-9. 11 12 Clemens Thoma, Das Messiasprojekt, Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994, 310f. Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Ich war mit einem bösen Geschwür sieben Jahre lang geschlagen... und ein gazer vergab mir meine Sünden. Er war ein Jude von den Söhnen Judas und sagte: Schreibe dies auf, um den Namen des höchsten Gottes zu rühmen und zu erheben.3 Der „Gazer“, wohl ein Exorzist, hat Sündenvergebung vorgenommen. Damit scheint er auch die Krankheit zu besiegen. Dieser Beleg mag Jesu Heilungen, in denen auch die Sündenvergebung eine Rolle spielt, in einem neuen Licht erscheinen lassen, die es nicht zwingend notwendig macht, ihn aus dem jüdischerseits Möglichen und Denkbaren herauszunehmen: Ihr sollt aber erkennen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf Erden Sünden zu vergeben. Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause! (Mk 2,10f.) Weiters sei daran erinnert, dass die großen Vorbilder der wundertätigen Heilung im Ersten Testament auch die ersten großen Propheten waren, nämlich Elija und Elischa, womit sich wieder der Kreis zwischen Prophetie und jesuanischem Wirken enger schließt. Die jüdische Literatur, schon die zwischentestamentliche, hat aber auch anderen wichtigen Personen der Bibel Heilkompetenz zugeschrieben, so Abraham (Genesisapokryphon) oder auch Mose (Artapanus), der der Legende nach den Pharao von den Toten auferweckt. David ist Exorzist und hat Macht über die Teufel. Somit ist Jesus in guter Gesellschaft. Alles in allem mag bislang dieser Ausflug genügen, um Jesus im Lichte der Zeit und vor allem auf dem Hintergrund der charismatischen Erweckungsbewegung zu sehen. Doch wollen wir weiter nach einem möglichen Hintergrund eines messianischen Anspruches Jesu forschen. Der Titel „Sohn Gottes“ wird vor allem, aber nicht nur im Mund von Dämonen geäußert. Die Jünger Jesu gebrauchen ihn nur bei Mt 4,5f., als Jesus auf dem See wandelt, hier also wiederum im Kontext einer Wunderhandlung. Wiederum im Kontext Wunder gehört auch die hämische Aufforderung, vom Kreuz zu steigen, wenn er Sohn Gottes sei (Mt 27,40). Dämonen, Heilungen, Wunder scheinen somit die eine Seite der Rede vom Sohn Gottes zu sein, die noch keinen messianischen Anspruch beinhaltet, zumindest keinen, der über das Maß jüdischerseits möglicher Beschreibung hinausgeht. So heißt es über Chanina: Die ganze Welt wird um meines (Gottes) Sohnes Chanina willen genährt; aber mein Sohn Chanina ist mit einem Kab Johannisbrot von einem Sabbatvorabend zum nächsten zufrieden. (bTaan 24b) Mk 15,39 schließlich sagt aber der heidnische Hauptmann: „Wahrlich, dieser Mensch ist Sohn Gottes gewesen!“ und bestätigt damit die große Linie des Markus, Jesus über sein Leid und seinen Tod als Messias darzustellen. Und in den Berichten von der Taufe Jesu wird der berühmte Königspsalm 2 auf Jesus 3 Vgl. J.T. Milik, Prière de Nabonide, RB 63 (1956) 407-411. 13 Der Jude Jesus gedeutet. Zumindest in der Markus- und Lukasfassung, die von einem persönlichen Erlebnis Jesu mit Anrede in 2. Person handeln, wird diese Berufung - und natürlich auch die eindeutig theologische und unhistorische Verklärungserzählung - zur übernatürlichen Berufung hochstilisiert. Matthäus überliefert in der 3. Person und setzt damit ein größeres Auditorium voraus. Demnach wäre Jesus nach seiner Taufe von einer himmlischen Stimme per Adoption in seiner zukünftigen Heils- und Wundertäterfunktion bestätigt worden. Dies muss noch immer keinen messianischen Anspruch bedeuten und steht ganz im Einklang mit jüdisch-rabbinischen Vorstellungen. Das ändert sich freilich durch die Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas, die Jesus im Sinne außerisraelitischer Vorstellungen zu einem übernatürlichen Herrscher hochstilisieren. Ihr Ursprung scheint mir am ehesten im hellenistisch beeinflussten Ägypten zu suchen zu sein. Ich verweise dabei auf die zahlreichen Veröffentlichungen von Manfred Görg. Damit bin ich auch schon am Ende dieser kurzen Ausführungen zum Titel „Sohn Gottes“. Er scheint mir aufgrund der jüdischen Belege ursprünglich von Jesus wie von jüdischen Frommen ganz im Sinne einer engen und vertrauten Beziehung zu Gott verwendet worden zu sein, so wie ja Israel als „Kind Gottes“ bereits in der Bibel etabliert ist (vgl. Jer 31,9 oder Jes 64,7). Sir 51,10 heißt es in einem Gebet eines einzelnen über Gott: „Du bist mein Vater, denn Du bist der Held meiner Erlösung“. In besonderer Weise konnte es den wundertätigen und exorzistisch wirksamen Menschen bezeichnen. In späterer Folge hat das vom Judentum losgelöste Christentum den Titel allerdings im herrschaftlichen Kontext hellenistisch-ägyptischer Prägung auf Jesus angewendet, um diesen als Messias, als eschatologischen und präexistenten Retter einzuführen. Dazu gehörte auch die im altägyptischen Kontext vertraute Jungfrauengeburt, die Inkarnationsvorstellung, die eine alte Adoptionsvorstellung ablöst. Von hier aus führt der Weg zu den alten Konzilien und zu einer Vorstellung von Jesus als Christus, die das Judentum nicht mehr mittragen kann und will. Ignatius von Antiochien schließlich kann Jesus als „unseren Gott“ bezeichnen (IgnEph 1,1). Bevor ich in einem weiteren Schritt die Evangelien danach befragen will, ob ein und wenn welches messianische Verständnis dem historischen Jesus gerecht werden könnte, sei noch ein kurzer Blick auf die Anklage vor dem Hohepriester gerichtet. Mk 14,61 berichtet von der Frage des Hohepriesters an Jesus: Bist du der Gesalbte, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin´s (nach Varianten: Du sagst, dass ich's bin!) Bei Mt 26,63f. heißt es hingegen: Und der Hohepriester sprach zu ihm: Ich beschwöre dich... dass du uns sagst, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes? Jesus sprach zu ihm: Du sagst es! Und Lk 22,67-70 läßt fragen: Bist du der Christus, so sage es uns! Er aber sprach zu ihnen: Sage ich's euch, so glaubtet ihr es nicht... Da sprachen sie alle: Bist du denn der Sohn Gottes? Er aber sprach zu ihnen: Ihr sagt, dass ich es bin! Die isolierte Meinung des Markus ist hier zu betonen. Sie steht wohl ganz im Dienste 14 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Der Jude Jesus seiner theologischen Absicht, Jesus angesichts des Leids als Messias herauszustellen. Mt und Lk sehen die Antwort Jesu im Spannungsfeld zwischen ausweichender Antwort und Verweigerung, ja gar Verneinung. Nicht einmal angesichts des Todes bekennt Jesus klar, ein Messias zu sein. Pilatus gegenüber äußert er noch deutlicher ein „Du sagst es“, was Lukas eindeutig als Verneinung interpretiert und Pilatus von der Schuldlosigkeit des Menschen überzeugt sein lässt. Freilich ist hier überall Gemeindebildung zu spüren und Jesu originales Wort nicht mehr eruierbar. Dennoch kann aufgrund der konsequenten Weigerung Jesu, sich in ein messianisches Korsett pressen zu lassen, der schroffen Zurückweisung des Petrus und der Antwort an den Hohepriester von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass Jesu selbst sich nicht als Messias verstanden wissen wollte. Dies besagt jedoch nicht, dass er kein gesundes Selbstbewusstsein und Sendungsbewusstsein gehabt hätte, in dem messianische Erwartungen eine wichtige Rolle spielten. diese 12 niemals politische Funktion ausgeübt haben, so bildeten sie doch allein durch ihr Vorhandensein eine politisch relevante Aussage. Jesus geht es um die Erneuerung des ganzen Volkes, um das Wiedererstehen eines Israel vor Zerstörung und Untergang, um Beleben der alten Jakobstradition. Die spätere Kirche hat - beispielsweise in der oben genannten Apk-Stelle - die Völker als zweites Glied an das 12 Stämmevolk hinzugedacht. Bereits in Jes 49,6; Sach 2,14f. oder PsSal 17,44 gehörte ja der Zustrom der Völker zu Israel zum Zeichen der messianischen Heilszeit dazu. Sie geht christlicherseits dann durch das Ausbreiten der Botschaft im Heidentum in Erfüllung. Jesus selbst sah sich nicht zu den Heiden gesandt. Seine direkten Ansprechpartner waren die einfachen ebenso wie die gelehrten Juden, nicht die hellenisierte römisch beeinflusste Gesellschaft. Darum ist auch nichts davon belegt, dass Jesus seine Botschaft in den großen galiläischen Städten verbreitet hätte, etwa in Sepphoris. Vielmehr hielt er sich in den aufstandsbereiten, religiös eher konservativen und zumeist antirömisch gesinnten Gegenden Galiläas auf, dem Land um den See. Messianische Perspektiven tauchen überall dort auf, wo Jesus den Ist-Zuständen den Kampf ansagt. 2) Die Botschaft vom Reich Gottes Was immer die konkrete nahe Endzeiterwartung Jesu gewesen sein mag, zweifellos hat er selbst sein Leben in den Dienst Gottes gestellt empfunden. Und er hat das Reich Gottes als Reich von Frieden und Gerechtigkeit, als Nähe Gottes unter den Menschen sich selbst in seiner Person zur Aufgabe gemacht. Dieses Reich ist zeichenhaft unter den Israeliten anwesend, wenn Jesus Kranke heilt, Dämonen austreibt, dann ist das Reich angebrochen. Geza Vermes faßt zusammen: Im Reich, wie er es sich vorstellt, gibt es keine Throne, keine Höflinge, keine himmlischen Chöre, keine Schlachten führenden Armeen mit Streitwagen, Schwertern, Lanzen. Statt dessen finden wir die Landschaften, Werkzeuge und Bewohner des galiläischen Landes und seines vom See geprägten Lebens vor. Das Reich ist wie ein Acker. Das Reich ist wie ein Weinberg, in dem die Tagelöhner von dem Besitzer gut und sogar großzügig behandelt werden. Das Reich ist wie ein winziges Senfkorn, das zu einer Pflanze heranwächst, die derart groß ist, dass Vögel in ihren Zweigen brüten können. Oder: Jesus assoziiert das Reich mit dem Fisch, dem Netz, dem Fang (Mt 13,47ff) und mit der Frau, die ihrem Mehl Sauerteig zusetzt, um Brot zu backen (Mt 13,33; Lk 13,20f). Das Himmelreich gehört den Kindern und denen, die ihnen gleichen, den Demütigen und denen, die Vertrauen haben (Mt 18,3f; Mk 10,13ff par). Es gehört den Armen, während es für Reiche schwieriger ist hineinzukommen als für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen; hineinzugelangen ist für sie also unmöglich. (242) Allen messianischen Texten war ja gemein gewesen, dass sie mit der Situation des Jetzt unzufrieden waren und eine Veränderung in der - nahen - Zukunft erwarteten. Diese Veränderung sollte vor allem mehr Gerechtigkeit und Recht für alle bieten. Sie sollte Frieden und Wohlstand sowie Gesundheit und ein Fehlen von Sünde voraussetzen. Hergestellt wird dieser Zustand fast immer von Gott selbst. Eine messianische Figur taucht dabei öfter als Garant, Stabilisator, Repräsentant dieser neuen Heilszeit auf oder hilft im besten Falle dabei mit, sie herzustellen. Jesus nun gehört - ebenso wie die charismatischen Frommen - in mehrerer Hinsicht zu dieser Kategorie: 1) Die Berufung der Jünger als „Einsammlung der Exile“ Bereits der Prophet Ezechiel hat in 37,15-28 für die nahe Zukunft die Wiedervereinigung der 10 verlorenen Nordstämme mit Juda und Benjamin erhofft. In 4 Es 13,1-13.25-53 wird von einer endzeitlichen Versammlung der Weltvölker gegen Jerusalem berichtet. Erst der eschatologische Menschensohn wird diese Bedrohung verhindern helfen und sie besiegen. Mit ihm sammelt sich ein Friedensheer aus den 10 Stämmen des Nordens. Ein erneuertes 12-Stämmevolk war auch die Erwartung der frühen Rabbinen, auch wenn sie bezüglich der Erfüllung oft skeptisch blieben. Unter dem Stichwort „Einsammlung der Exile“ (hebräisch „qibbuz galuyot“) ist diese Vorstellung Bestandteil messianischer Hoffnung geworden. Im NT wird in Apk 7,4-8 davon gesprochen, dass alle Stämme Israels gerettet und zur Auferstehung gebracht werden. Jesus hat in dieser Hoffnung durch die Erwählung von zwölf besonderen Jüngern zeichenhaft die Wiedervereinigung des Vokes zum Ausdruck gebracht. Er hat sie damit auch zu einem messianischen Symbol gemacht. Selbst wenn 15 3) Die Umkehr als Aufruf Jesu 16 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Die große Chance des ersttestamentlichen Menschen vor Gott bestand in der Möglichkeit der dauerhaften Umkehr, der teschuba. „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herangekommen“ sagt Jesus Mk 1,15 und Mt 4,17. Demnach ist es von geringer Bedeutung, wann das Reich kommt und in welcher Naherwartung die Jünger Jesu konkret lebten. Vielmehr soll sich jede Person angesichts des Nahens Gottes besinnen und umkehren. Dieser Aufruf entspricht ganz und gar der prophetischen Funktion, die bei der Betrachtung der Person Jesu mehr und mehr an Gestalt gewinnt. Habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch: Hier ist einer, der ist mehr als der Tempel (Mt 12,5f.). Die Männer von Ninive werden beim Gericht gegen diese Generation auftreten und sie verurteilen; denn sie haben sich nach der Predigt des Jona bekehrt. Hier aber ist einer, der ist mehr als Jona. Die Königin des Südens wird beim Gericht gegen diese Generation auftreten und sie verurteilen, denn sie kam vom Ende der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören. Hier aber ist einer, der mehr ist als Salomo (Mt 12,41f.). In diesem von Matthäus gezeichneten Portrait des Jesus von Nazaret ist er mehr als der Tempel (2 Makk 5,19). Das beweist Jesus durch sein Auftreten als SabbathalakhaInterpret. Man erinnert sich an die Qumranbelege, die vom kommenden Toraausleger sprechen. Er ist mehr als ein König, weil mehr als Salomo und schließlich mehr als Jona, der Prophet. Dabei fällt auf, dass hier zwar die drei Hauptlinien der jüdischen Erwartung, Priestertum, Prophetie und Königtum angesprochen werden, ein besonderer Schwerpunkt aber auf dem Prophetischen liegt. Denn so wie Jona den Typus des klassischen Propheten verkörpert, der zur Umkehr aufruft, gehört die Toraauslegung sowohl in Qumran wie auch in der rabbinischen Literatur zum Repertoire des Propheten, und Salomo ist nicht nur ein König, sondern vor allem der Weise und der friedliebende Dichter. Diese Weisheit des Salomo war bereits für den deuteronomistischen Autor von Gen 12,1-3 ein Zielpunkt der Wanderung des Abrahamsvolkes. Es war eine Weisheit gemeint, die er in Dtn 4 als Torabefolgung interpretieren konnte. Der König sollte demnach vor allem ein Ausleger und Befolger der Tora sein, wie es auch das dtn Königsgesetz vorsah. Mit dem Stichwort Tora ist erneut die Verbindung zum Prophetentum ausgedrückt. Lehre und Toraauslegung spielen für Jesus eine wichtige Rolle, und sie geschieht in Vollmacht (Mt 7,29; 21,23-27; Mk 1,22.27; 11,27-33 etc.). Die Magier der Kindheitsgeschichte - die freilich nicht viel mit einem Tatsachenbericht gemein hat, sondern vielmehr wundersame Legende von der Geburt eines großen Mannes ist - kommen zu Jesus, dem König (Mt 2,2). Sie bringen mit sich Gaben, die auch die Königin des Südens, die von Saba, dem Salomo überreichte (1 Kön 10). Weitere Indizien für die Beziehung Jesu zur Prophetie wurden bereits genannt, die Volksmeinung, die Bezüge zu Elija und Elischa, die Wundertaten etc. Ein besonderes Indiz für die Verbindung mit der Prophetie findet sich aber vor allem in der Erwähnung der besonderen Geistbegabung Jesu. Der Geist war das Zeichen des 17 Der Jude Jesus Propheten, wer ihn trägt, steht in prophetischer Tradition. Für die rabbinische Theologie gilt grundsätzlich, dass der Heilige Geist von Israel genommen war und derzeit der Wiederkunft harrt. Hinweise auf den Charismatiker Pinchas ben Jair und seinen Geistspruch mSot 9,15 und ähnliche Worte zeigen aber, dass auch späterhin der Zusammenhang von prophetischer Geistgabe und charismatischen Persönlichkeiten bekannt war. Die zwischentestamentliche Literatur und Josephus haben ebenfalls Indizien geliefert, dass die prophetische Geistbegabung in ihrem Umfeld thematisiert wurde. Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen. Das Königtum Jesu beschränkt sich weitgehend auf die nichtjüdische und römische Welt. Dies sowohl durch die Verhörfrage des Pilatus: „Bist du der König der Juden?“ (Mt 27,11 u.P.) als auch bei der Verspottung durch die Soldaten (Mt 27,29 u.P.). Die Kreuzesinschrift wurde von Römern verfaßt. Jesus als König zu verstehen war demnach in erster Linie den politisch denkenden Kräften des feindlichen Rom zu eigen. Sie werden ihn wohl auch zu einem Umsturz-Aufrührer hochstilisiert haben, der er selbst von seinem Verständnis nie war. Im Johannesevangelium, wo das Volk Jesus zum König ausrufen will, nachdem er ein Brotwunder getan hat, versteckt er sich vor der Menge (Joh 6,14f.). Das Johannesevangeliums allerdings hat Jesus weit stärker als die Synoptiker mit der Königswürde in Beziehung gebracht. Dazu verweise ich auf Ekkehard und Wolfgang Stegemanns Artikel: König Israels, nicht König der Juden? Jesus als König im Johannesevangelium, in: Ekkehard Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart u.a. 1993, 41-56. Ich kann mich hier auf zwei Sätze daraus beschränken: Die Konzeption des Johannes ist damit im Prinzip deutlich: Während er Jesus vom irdisch-politischen Königtum - besonders auch in seiner apokalyptisch-revolutionären Spielart - distanziert, gibt er ihm Züge eines weisheitlichen Königs. Im Sinne dieser Tradition ist Jesus wie Gott „König Israels“. (53) Wolfgang Stegemann macht im selben Sammelband4 auf die Theologie des Lukas aufmerksam, in der die Messianität Jesu vor allem darin besteht, den Heiden eine Möglichkeit zu geben, am Heil teilzuhaben: Im Unterschied zu Jesaja scheint Lukas freilich nicht die „Völkerwallfahrt“ zum Zion (Jes 2,2-5; 45,14-25; 60,1-9) als den Weg zu verstehen, auf welchem die Heidenvölker zum Heil Israels hinzukommen. Er denkt wohl vielmehr daran, daß durch die Verkündigung der frohen Botschaft von der „Umkehr zur Vergebung der Sünden“ unter allen Völkern Israels messianisches Heil auch den Heiden offenbar wird. Medium dieser Verkündigung 4 18 Jesus als Messias in der Theologie des Lukas, 21-40. Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum sind die „Zeugen“ vom Leiden und Auferstehen des Messias Jesus (Lk 24,46-48), zu denen als wichtigster Zeuge unter den Völkern schließlich Paulus hinzukommt. Denn Israel unter den Völkern will nach lukanischer Darstellung seine Aufgabe nicht wahrnehmen, „Licht der Völker“ zu sein. Lukas wird dann in der Apostelgeschichte häufiger und äußerst ausführlich begründen, daß die „Umkehr zum Leben“... von Gott auch den Heiden geschenkt ist. Sie müssen nicht erst Juden werden, um am Heil Israels Anteil zu bekommen (36f.). Diese Ausführungen zeigen deutlich einen Trend auf, der festzuhalten ist. Die frühe Kirche war sich der Verankerung Jesus im Judentum voll bewusst und hat sie auch keineswegs geleugnet. Das Beispiel der Theologie des Lukas zeigt, dass man vielmehr bestrebt war, in Jesus die Brücke zum Heidentum zu entdecken, eine Brücke, die über den Tod und die Auferstehung und damit auch über die messianische Bedeutung des Menschen Jesus führte. Freilich setzt der christliche Typ der messianischen Idee den Glauben voraus, daß Jesus von Nazareth Israels Messias ist. Im Falle der lukanischen Theologie ist diese Beziehung auf die Verheißung Israels nicht zu übersehen. Doch behauptet Lukas nicht, daß der Messias Jesus seine irdische Herrschaft schon angetreten hat. Die steht noch aus, der Messias dazu im Himmel bereit. Auf dem „Schauplatz der Geschichte“, um mit Scholem zu sprechen, hat sich Jesu messianische Hoheit erst antizipatorisch (etwa in seinen Heilungen und in seiner Verkündigung der Königsherrschaft Gottes zugunsten der Armen) realisiert... Wie Israel erwartet die Christenheit in dieser Hinsicht immer noch das Kommen des Messias und die Aufrichtung seiner Königsherrschaft in Israel sagt Stegemann (38f.) und sollte mit diesen Worten gehört und verstanden werden. Die weitere jüdische Jesusrezeption in Stichworten: Rabbinen haben Jesus kaum rezipiert: siehe Johann Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, Darmstadt 1978. Jesus als Verführer und Zauberer, Sohn des Pantera. Texte sind in ihrer Abfassung umstritten. Vielleicht ma. Einfügungen (Toldot Jeschu). Mittelalter: Toldot Jeschu (6. Jh.) – im MA bearbeitet. Jesus hat Wunder vollbracht, war aber Zauberer, der seine Zauberei in Ägypten erworben hat oder in das Allerheiligste des Tempels eingedrungen sei. Jesus war hinterlistig und selbstsüchtig. Judas sei vom Sanhedrin aufgefordert worden, sich in die Bewegung einzuschleichen und von innen 19 Der Jude Jesus aufzurollen. Trotzdem blieben noch viele Anhänger Jesu. Deshalb schleuste man einen Rabbi namens Petrus ein, der die vollständige Trennung vom Judentum bewirkte. Es waren also Juden, die das Geschick der chr. Gemeinschaft bestimmten, nicht göttlicher Wille. Günter Schlichting, ein jüdisches Leben Jesu: Die verschollene Toledot-Jeschu-Fassung tam u-mu´ad, Tübingen 1982. Andere Traditionen: Menachem Ham-Meiri von Perpignan (1249-1316): Christen keine Götzendiener, hoher ethischer Standard. Maimonides (1135-1204): Christentum und Islam gehören zum göttlichen Plan, die Welt durch Ausbreitung der Gotteserkenntnis bis zu den Heiden auf die Erlösung vorzubereiten. Jesus selbst aber war ein Häretiker. Profiat Durian (+1414): Jesus wollte nicht göttlich sein, sondern habe zur Bewahrung und Bindung an die Tora aufgerufen. Isaak Troki (1533-1594): Chizzuk Emuna: stellt Historiziät des NT in Frage. Jacob Emden (1697-1776): Jesus habe sich nur an Heiden gerichtet, um diese zur Annahme der noachidischen Gebote zu bewegen. Habe keinen Anspruch an Göttlichkeit erhoben. Moses Mendelssohn (1729-1789): Jesus moralische Persönlichkeit ohne übernatürliche Ansprüche. Jesus Lehrer der Ethik. Jesus hat nichts getan, was Juden zu Feinden gemacht hätte. 19. Jh.: Joseph Salvador und Heinrich Graetz machen Jesus zum Essener, der magische Rituale – in Ägypten gelernt - ausführte. Hier stehen die Toledot Jeschu noch im Hintergrund. Josef Salvador: Geschichte der mosaischen Institutionen (1828): nichts Neues verkündet oder getan. Christentum leitet sich wie der Islam gänzlich vom Judentum ab. 1841 Leben Jesus, Christentum jetzt Verbindung von gr. und hebr. Elementen. Bergpredigt finde sich auch bei Ben Sira. Jesus habe Dinge der Welt zugunsten des Jenseits abgewertet. J. Salvador, Das Leben Jesu und seine Lehre, die Geschichte der Entstehung der christlichen Kirche, ihrer Organisation und Fortschritte während des ersten Jahrhunderts, Dresden 1841. Die eine, die Moral Moses, stellt bis auf einen gewissen Punkt den Mann in seiner Kraft und Altersreife dar, begabt mit Urtheilskraft und Rechtssinn, fest und bestimmt in seinem Wort; die andere, die Moral Jesu, entspricht mehr dem Charakter des Weibes, mit dem tiefen Bedürfnis der Ergießung und Zärtlichkeit, mit der Gedankenerhebung und Entsagung, von der sie öfters Beispiele darbietet, wenn ein wahres Gefühl oder eine unwiderstehliche Täuschung sich ihrer Einbildungskraft und ihres Herzens bemächtigt haben (192). 20 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Samuel Hirsch: Judentum ist gleichbedeutend mit Toleranz, Christentum mit Intoleranz (wegen der Intoleranz gegenüber nichtchr. Religionen) wegen korumpierenden Einflusses des Heidentums, das zum Dogma führt. Der Jude Jesus Elijahu Rappoport: Buch Jeschua (1920: Jesus als Bundeserneuerer, Revolutionär gegen starres Gesetz). Samuel Hirsch, Die Humanität als Religion, Trier 1854. Jesus lehrte nur Jüdisches, wollte die Schrift wieder lebendig machen, wandte sich gegen buchstäblichen Gottesdienst der Pharisäer und Sadduzäer, wollte „die lebendige Stimme der Propheten“ hörbar machen. Heinrich Graetz: Jesus inspirierte die Juden mit Frömmigkeit, Leidenschaft, Glauben an Gott und Werten der Demut. War aber Essener und nahm Gottessohnschaft und Menschensohnschaft in Anspruch und glaubte, Macht über Dämonen und den Satan zu haben. Er reformierte das Judentum aber nicht. Sanhedrin für Tod verantwortlich. Christentum schließlich Produkt des Paulus. Verbindung zu den Essenern erklärte Graetz auch den Fanatismus im Christentum, bizarre, extremistische Elemente im Judenhass. War auch gegen die Reform des Judentums, das er als Christianisierung anprangerte. Heinrich Graetz, Sinai et Golgotha, ou les origines du judaisme et du christianisme, suivi d´un examen critique des Evangiles anciens et modernes, Paris 1867. Isaak Markus Jost (1793-1860): Geschichte der Israeliten: verherrlichter Jesus inmitten degenerierter rabbinischer Kultur. Juden sind treue Untertanen des Staates. Jesus habe durch seine Erneuerungstendenz den Hass der jüdischen Führung auf sich gezogen. Eugen Hoeflich (wendet sich positiv der Judasfigur zu). Leo Baeck (befreit Jesus von dogmatischem „Ballast“: Jesus Jude unter Juden, Vision eines jüdischen Urevangeliums). Constantin Brunner: Unser Christus oder das Wesen des Genies (1921: Jesus Mystiker, größtes Phänomen jüdischen Prophetentums wieder dem Judentum zurückgeben, antizionistisch). Franz Werfel: Paulus unter den Juden (1926: Paulus ist Israels Selbsthass, gegen Gamaliel, der Gesetz und die „heilige Menschenverantwortung“ gegen die „Menschwerdung Gottes“ betont, aber ambivalentes Ende. Jesus ist auch für den konvertierten Werfel letzter Typus jüdischer Menschlichkeit). Max Brod (zeichnet Jesus nationaljüdisch), 1952: Der Meister, wo er den Philosophen Maleagros von Gadara zu Jesus kommen lässt und Jesus als göttliche Person mit Liebeskraft beschreibt. Schalom Asch: The Nazarene (1939): Schildert Jesus als pharisäischen Juden. Moses Hess bezeichnete das Christentum als „Gift“ für die Juden: Moses Hess, Rom und Jerusalem: die letzte Nationalitätenfrage, Leipzig 1899. Gerhard Bodendorfer Abraham Geiger: stellt Jesus als frommen Juden dar und zeichnet ihn als Pharisäer, der gegen die Sadduzäer auftrat. Die frühe Jesusbewegung sei von Sadduzäern infiltriert worden, um es für antipharisäische Kampagne dienstbar zu machen. Dazu Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. - Dt. Erstausg. Berlin 2001. Zur Jesusinterpretationen im 20. Jh. siehe Armin Wallas, Rabbi Jeschua ben Josseph. Jüdische Jesus-Interpretation im 20. Jahrhundert, Das jüdische Echo 46 (1997), 21-38. Gerhard Bodendorfer, Jüdische Stimmen zu Jesus, Protokolle zur Bibel 5 (1996) 95-107. Einige Autoren, die Jesusliteratur schrieben (dazu Wallas): Albert Ehrenstein (zu Ahasver) Joseph Klausner: Jeshu Hanozri (1922: wichtiges Werk: Jesus pharisäischer Rabbi, aber unpolitisch und in mess. Erwartung, Betonung der jüdischen Ethik) Emil Ludwig (Jesus jüdischer Prophet) Martin Buber (Jesus ein Am-ha-aretz, kein Pharisäer, später rückt er ihn in Nähe Pharisäer). 21 Jüdische Stimmen zu Jesus, Protokolle zur Bibel 5/2 (1996) 95-107. In jüngerer Zeit läßt sich eine bemerkenswerte Wiederentdeckung Jesu durch jüdische Gelehrte feststellen. Dabei wird immer wieder auf seine tiefe Verwurzelung im Judentum hingewiesen. Die meisten Ansätze sind stark von (christlich-) dogmatischen Vorgaben wie Messiasvorstellung oder Hoheitstitel beeinflußt. Gefordert wird daher eine neue Diskussion um Jesus ohne christologische „Vor-Urteile“. . Der Umgang des Judentums mit dem Christentum schien in den letzten Jahrzehnten ausgespannt zu sein zwischen den beiden Polen der völligen Ignoranz und dem massiven Bestreben nach Dialog.[1] Bis heute findet sich auf der einen Seite dieses Spektrums die extreme Orthodoxie, die mit dem Christentum schlechterdings nichts anzufangen weiß und sich auch nicht um Verständigung bemüht. Ihr Hauptanliegen ist die „Neuevangelisierung“ des Judentums von der Orthodoxie her. 22 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Daneben existiert nach wie vor eine berechtige Skepsis gegenüber dem Christentum auch in nichtorthodoxen Kreisen. Der Holocaust-Theologe Eliezer Berkowitz formulierte es so: „Alles, was wir von den Christen wollen ist, daß sie ihre Finger von uns und unsern Kindern lassen“[2] Die andere, die dialogbereite Seite, wurde lange Zeit im deutschen Sprachraum von einigen wenigen Namen beherrscht, die von ganz unterschiedlicher Qualität zeugen. 1. Flusser, Ben-Chorin, Lapide Neben Martin Buber, der Jesus stets als seinen „großen Bruder“[3] bezeichnete, sind Pinchas Lapide, Schalom Ben-Chorin oder David Flusser weiten Kreisen ein Begriff geworden. Während m. E. Pinchas Lapide im Judentum selbst kaum anerkannt wird, führte Schalom Ben-Chorin mit seinem Sohn eine liberale jüdische Gemeinde in Jerusalem (´Or Hadash), die inzwischen auch in Österreich einen Ableger hat. David Flusser wirkte jahrelang als Professor für Neues Testament und frühes Christentum an der Hebrew University in Jerusalem. Sein Vermittlungsversuch des Christentums soll Juden wie Christen betreffen. Flussers Zugang zu Jesus ist nun tatsächlich einige Beobachtungen wert. Bereits 1968 erschien bei Rowohlt sein „Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“. Darin findet sich viel Lesenswertes über Flussers Jesusbild. Jesus sei demnach in Nazaret geboren, habe - als Ältester - vier Brüder und Schwestern gehabt, sei um 28/29 getauft worden und im Jahr 30 oder 33 gestorben. Die Jungfräulichkeit Mariens leugnet er nicht, zumindest nicht explizit. Flusser betätigt sich als Biograf Jesu, berichtet über seine Bildung, die Spannung mit der Familie, die sich erst nach Jesu Tod zum „Glauben“ bekennt. Flusser berichtet von der Taufe und Geistbegabung Jesu als historischem Ereignis. Johannes sei der endzeitliche Elija gewesen und mit Jesus sei das Königreich Gottes angebrochen. Jesus sei kein rationalistischer Theoretiker gewesen und habe sich zwar gegen den „Starrsinn der Stockfrommen“[4] gewendet, selbst aber nur die sittliche Seite gegenüber der rituellen des Gebotes betont und es nicht aufheben wollen. Insgesamt sei Jesus - und hier ist Flusser sicher auf dem richtigen Weg - ein Jude gewesen, der sich zu Juden gesandt fühlte. Die Pharisäer erscheinen bei Flusser wiederum recht unhistorisch klischeehaft, werden aber von jeder Schuld am Tode Jesu freigesprochen. Flusser legt Jesus in seiner Botschaft in der Peripherie der Essener an, ohne ihn mit diesen gleichzusetzen. Das Nahen des Königreichs Gottes sei ein zentraler Punkt der Verkündigung gewesen, in der die Umwertung aller Werte und nicht nur die soziale Dimension hervorstechen. Stichwort dazu wäre „realisierende Eschatologie“ durch Jesus. Ähnlich wie später Geza Vermes bringt auch Flusser die Nähe Jesu zu den jüdischen Charismatikern Choni oder Chanina ein. Aber gegenüber Vermes betont er die Einzigartigkeit der Sohnschaft Jesu als Folge der Erwählung durch den Heiligen Geist. Diese sei historisch jedoch eigentlich erst bei der Verklärung erfolgt, die Flusser somit ebenfalls als geschichtlich ansieht. Dieses Bewußtsein der Sohnschaft sei von Anfang an überschattet von der Todesahnung gewesen. Jesus habe aber seinen Tod nicht gewünscht oder gar als heilbringend erachtet. Dies sei Ergebnis nachjesuanischer Theologie. Jesus 23 Der Jude Jesus selber habe sich aber - nach anfänglichem Zögern - wohl selber als Menschensohn im Sinne eines endzeitlichen Richters verstanden. Über 20 Jahre später - 1990 - erschien im Kösel-Verlag München Flussers Buch „Das Christentum - eine jüdische Religion“. In ihm äußert er sich zu Maria, zu Christusliedern, zu den jüdischen Wurzeln des Christentums, der Messiaserwartung Jesu, zu Paulus und zum gemeinsamen Auftrag der Brüderlichkeit. Viele Annahmen wiederholt er aus seinem Jesusbuch. Er insistiert darauf, daß Jesus Johannes als Elija gesehen habe und vor allem darauf, daß Jesus der einzige antike Jude gewesen sei, der den Anfang des Königreiches Gottes predigte. Er selbst habe sich als Messias gesehen: „Solange daran nicht manche christliche Neutestamentler zu zweifeln begonnen haben - und sogar erklärt haben, das Leben Jesu sei unmessianisch gewesen (wie sieht denn ein messianisch lebender Mensch aus?) -, ist es keinem Juden eingefallen, an dem messianischen Selbstbewußtsein Jesu zu zweifeln... ich habe in den letzten Jahren viel Kraft und Fleiß darauf verwendet, sowohl hebräisch als auch englisch zu zeigen, daß sich Jesus als der Messias, der kommende Menschensohn wirklich verstanden hat“.[5] Nach Flusser habe Jesus urjüdische eschatologische Motive umgruppiert: nach der biblischen Zeit realisiert sich das Königreich des Himmels und wartet weiter auf das endzeitliche Gericht des Menschensohnes. Flusser gelingt es so - und dies muß man ihm als Verdienst anrechnen die Bedeutung der irdischen Wirksamkeit Jesu gegenüber dem sog. Sühnetod zu betonen. Seine penetrante Verteidigung der Messianität Jesu als zukünftiger Menschensohn zeigt aber gerade seinen persönlichen Zugang auf. Flusser interpretiert Jesus als Juden, vor und nach der Auferstehung. Aber er macht den unübersehbaren Versuch, den Juden Jesus als einmalig, als göttlich, als Messias erscheinen zu lassen. Flusser ist zweifellos um den Dialog bemüht, er äußert bedenkenswerte theologische Positionen, bleibt in vielen Einzelfragen m. E. aber zu unkritisch. Die Bezüge zwischen Essenern und Johannes d. Täufer, Jesus und Paulus, die Theologie der „Pharisäer“ u.a. bedürfen einer weit differenzierteren Sicht. Menschensohn, Messianität und Prophetenamt sind weitere Stichwörter, die viel Diskussion aufwerfen und in bezug auf Jesus mit großer Akribie untersucht wurden. Flusser ist hier zweifellos zu ergänzen und auch zu korrigieren. Schalom Ben-Chorin hat schon in seinem Buchtitel „Bruder Jesus. Mensch - nicht Messias“, München 1967, klargemacht, daß er Flussers Thesen nicht teilt. Seine Ausführungen unterliegen jedoch zum Teil derselben Kritik: zu viel wird als sicher vorausgesetzt, die Schulen Hillels und Schammais, die Pharisäer, all das sind Größen, die klar umrissen scheinen. Jesus stünde demnach den Pharisäern am nächsten. Er sei ein Rabbi, deshalb wohl auch verheiratet gewesen. Im einzelnen anders als Flusser und doch methodisch ihm gleich unterscheidet Ben-Chorin zwischen historisch glaubwürdigen und unglaubwürdigen Aussagen von und über Jesus. Die Auferstehung erscheint ihm so erst durch Paulus bedeutsam und historisch ungewiß. Anders als Flusser, der gerade in den Menschensohnworten Hinweise auf Jesu Messianität sieht, meint Ben-Chorin: „Das ist der Mensch schlechthin. Der Mensch, wie du und ich, der in seiner Geringfügigkeit 24 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum exemplarische Mensch. Als diesen Menschen, der in seiner Menschlichkeit exemplarisch lebt, unbehaust und den Leiden ausgesetzt, hat sich Jesus selbst verstanden. Indem er sich als Menschensohn bezeichnet, steht er nicht als Prophet oder als Messias, sondern als Bruder vor uns. Und da er der Menschensohn ist, bricht in ihm die Frage des Menschen auf: `Wer bin ich?´“[6] Pinchas Lapide schließlich ist bekannt für sein pointiertes Eintreten für den jüdischen Jesus und formuliert so etwa in einem 1979 erschienenen Buch „Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen“[7] 3 Thesen: 1. These: Jesus hat sich seinem Volk nicht 2. These: Das Volk hat Jesus nicht abgelehnt, und 3. These: Jesus hat sein Volk nicht verworfen. als Messias kundgegeben; Die streitbare und leider zu plakative Form der Auseinandersetzung mit dem Thema prägt das gesamte Buch. Der historische Jesus soll darin von den Verfälschungen und Verzerrungen befreit werden, die bereits die Evangelisten anbrachten, um des Rabbi Jesu Messianität zu beweisen. Implizit unterstellt Lapide schon dem frühen Christentum, Jesus aus antijudaistischen Motiven hochstilisiert zu haben. Mag im einzelnen letztlich vieles von Lapides Grundannahmen stimmen, bleiben die Art und Weise der Darstellung und seine oft viel zu wenig reflektierten Behauptungen zu kritisieren. Sie stützen sich wie bei Flusser oder Ben-Chorin ebenso wieder auf ein vorliegendes unreflektiertes Bild des „Kernjudentums“ zur Zeit Jesu. Je verschwommener, undeutlicher und offener dieses Bild wird, umso mehr versinken die Zugänge zum „Juden“ Jesus in Spekulation. Allgemein kann festgehalten werden, daß die jüdischen Zugänge zu Jesus von einigen wenigen Fragen geleitet sind. Dazu gehören eben die Messiasfrage (Hoheitstitel), der Zugang zur Tora, seine „Gruppenzugehörigkeit“ und die Frage nach der Schuld am Tod. Diesbezüglich erwähne ich auch die Arbeiten von J. T. Pawlikowski.[8] Der Jude Jesus Feindesliebe usw. Besonderen Raum nimmt natürlich auch die Person Jesu ein: Messiasfrage, Menschensohn, Sohn Gottes. Hagners Arbeit zeigt deutlich auf, wie sehr die eigenen theologischen Positionen in die Beurteilung Jesu eingeflossen sind. Er hebt die Bedeutung der Aufklärung im Judentum hervor, die das Interesse an Jesus beflügelt hat. Er geht auf die verschiedenartigen Schwierigkeiten ein, die sich den jüdischen Wissenschaftlern beim Umgang mit Jesus stellten. Vor allem in Fragen der Halakha, aber natürlich auch im Selbstverständnis Jesu suchen die Autoren ganz unterschiedlich nach Wegen, die es erlauben, Jesus im Kontext eines rabbinischen Judentums zu halten. Ich will dies an einem einzigen Beispiel erläutern, nämlich der Frage nach dem Sabbatgebot.[11] Montefiore etwa sah im Verhalten Jesu eine Bestätigung der von ihm vertretenen liberalen Position, daß manche Halakhagebote absurd und legalistisch waren. Abrahams sah ähnlich wie Montefiore Jesus die Halakha brechen, wobei er die Sabbatregelungen der Schulen Hillels und Schammais als historische Voraussetzungen akzeptierte. Auch für Klausner oder Cohen war Jesu Sabbatverhalten ein Halakhabruch. Andere wie Jacobs, Schonfield oder Trattner sahen in Jesu Verhalten keineswegs einen Halakhabruch, sondern nur einen Widerspruch gegenüber „haarspalterischen“ Pharisäergruppen. Daube verwies auf die Argumentation Jesu in Mt 12, die ihm letztlich gut rabbinisch erschien. Nach Kohler habe sich Jesus einfach an die Schule des Hillel angehängt. Nach Flusser sei das Ährenraufen am Sabbat ein griechischer Übersetzungsfehler aus einem hebräischen Original des Mk. Das Aufheben herabgefallener Ähren, ihr Zerreiben in den Händen sei auch am Sabbat erlaubt gewesen. Erst die spätere Übersetzung habe daraus ein Ährenraufen gemacht. Nach Flusser komme dazu, daß nicht Jesus, sondern nur die Jünger sich diesbezüglich schuldig machten. Besonders interessant sei der Umstand, daß die Heilung einer verdorrten Hand am Sabbat, im Gegensatz zu anderen Heilungen, nur mit dem Wort und ohne Berührung erfolgte, was somit auch an Sabbaten erlaubt wäre. Lapide und Vermes schließen sich hier an. Vermes erwähnt allerdings gerechterweise auch Lk 13,13ff, wo Jesus eine kranke Frau am Sabbat sehr wohl berührt, deutet dies aber als Sondergut des Lukas, der damit die - ansonsten unverständlichen - Vorwürfe gegenüber einem die Sabbathalakha brechenden Jesus untermauern würde. 2. Die Arbeit Donald A. Hagners Vor allem in der englischsprachigen Literatur tat und tut sich einiges. Bruce Chilton faßt in seinem jüngst erschienenen Artikel die Ansätze zusammen[9] und bereits 1984 hat Donald A. Hagner in seinem Buch „The Jewish Reclamation of Jesus“[10] wichtige jüngere jüdische Stimmen zu Jesus zusammengetragen und befragt. Er konzentrierte sich dabei auf so wichtige Gelehrte wie Claude Goldsmith Montefiore, Israel Abrahams, Joseph Klausner, Geza Vermes, Samuel Sandmel und auf die schon genannten BenChorin, Flusser, Lapide. Hagners Arbeit zeigt an vielen Beispielen die Bemühungen auf, die jüdische Autoren dieses Jahrhunderts darauf verwenden, Jesus als den ihren, den jüdischen, wiederzugewinnen. Hagner zeigt an heiklen Themen die jüdischen Standpunkte auf, so zu den Antithesen der Bergpredigt, den Sabbatregelungen, der Autoritätsfrage, dem Scheidungsrecht, den Speisegeboten, ethischen Weisungen Jesu, der 25 M. E. zeigen die Beispiele sehr deutlich ein Dilemma der jüdischen Auslegung auf, das sehr häufig anzutreffen ist. Ich meine den Versuch, Jesus mit dem sog. „rabbinischen Judentum“ in Einklang zu bringen. Ein solches ist vor der Mischna und den frühesten Midraschim nicht greifbar, und das ist nun einmal fast 200 Jahre nach Jesus. Immer wieder strapazierte Texte wie die Pirqe Abot erweisen sich bei näherem Hinsehen zusehends als spät. Der konkrete politische, soziale und religiöse Einfluß der Rabbinen war in frühen Zeiten weit geringer als die Schriften vorgeben. Und insgesamt müßte weit eher die sog. zwischentestamentliche Literatur auf Parallelen zu Jesus befragt werden als die rabbinische, wenngleich freilich diese auch Reminiszenzen auf frühere Epochen bietet, die jedoch sehr genau zu prüfen sind. Die jüdische Jesusdeutung unterliegt hier auf weiten Strecken einem ähnlichen Problem wie die christliche. Ist es dort die traditionelle Sicht Jesu als Neuerer, der sich vom rabbinischen Judentum absetzt und dieses sprengt, 26 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum so hat die jüdische Deutung sich bemüht, zumindest den historischen Jesus in die rabbinische Tradition einzufügen. M. E. verstellt das kontroverstheologische Vor-Urteil von vornherein eine ungezwungene Suche nach dem wirklichen Jesus von Nazaret. Bewußt oder unbewußt wird er in ein Schema gepreßt, vorgegeben von einem dogmatischen Christusbild und einer konservativen Rabbinistik. Dies gilt selbstverständlich für die klassische christliche Exegese, die Jesus zumeist in Abhebung von einem Strack-Billerbeck-Judentum als torakritischen Erneuerer definierte, mit einer nicht geringen eschatologischen Erwartung und starkem Selbstbewußtsein, das sich als Exklusivbeziehung zum Abba-Gott darstellt. Die jüdischen Gesprächspartner haben dagegen die Einbindung des toratreuen Jesus in das Judentum betont und nicht davor zurückgeschreckt, auch Zuordnungen zu Gruppen zu treffen (Pharisäer[12], Zelot[13]). Neuere Zugänge bemühen sich um stärkere Flexibilität, aber die wirklich großen Entwürfe eines umfassenden Jesusbildes sind trotz unübersehbarer Literatur rar. 3. Geza Vermes Ich möchte hier kurz an die Arbeiten von Geza Vermes erinnern.[14] Sein Ansatz scheint mir, bei kritikwürdigen Details, bislang der ausgereifteste und vernünftigste zu sein. Der britische jüdische Historiker hält fest, daß es ihm um den historischen Jesus geht. Er beginnt daher seine Ausführungen mit den Daten zur Person, stellt Jesus als Zimmermann, Lehrer, Heiler, Wundertäter und Exorzist vor, geht auf seine Einbindung in Galiläa ein und zeigt in besonderer Weise Parallelen zu den charismatischen Frommen auf. Bekannt sind hier Choni der Kreiszieher oder Chanina ben Dosa. Als in Galiläa beheimatete Wundertäter mit einer sehr persönlichen Gottesbeziehung seien sie am ehesten mit dem historischen Jesus zu vergleichen. Der gesamte zweite und dritte Teil des Buches ist - und hier entspricht Vermes ganz der genannten Tendenz - den Hoheitstiteln (Prophet, Herr, Messias, Menschensohn, Sohn Gottes) gewidmet. Auch Vermes sieht sich demnach genötigt, intensiv auf die Debatte um die Person des Christus einzugehen. Und er tut dies unter Rückgriff auf zwischentestamentliche und rabbinische Literatur äußerst gewissenhaft und argumentativ. Demnach ließe sich für Jesus weder ein Selbstverständnis als Messias noch als hoheitlich mißverstandener Menschensohn im Sinne der späteren Danielrezeption feststellen. Bezüglich der Sohnschaft Jesu weist Vermes wieder auf Parallelen zu den charismatischen Wundertätern hin. Choni galt als „Haussohn“ bei Gott und von Chanina heißt es: „Die ganze Welt wird um meines Sohnes Chanina willen genährt; aber mein Sohn Chanina ist mit einem Kab Johannisbrot von einem Sabbatvorabend zum nächsten zufrieden“ (bTaan 24b). Auch R. Meir wird von Gott als „mein Sohn“ bezeichnet (vgl. bHag 15b). Wie bei Jesus erkennen auch die „rabbinischen“ Dämonen die Wundertäter an. Chanina etwa wird von der Königin der Dämonen, Agrat, angefleht, ihr doch wenigstens Mittwoch und Freitag abend als Betätigungsfelder zu lassen, was Chanina gewährt. Für Vermes gilt jedenfalls, daß Jesus selbst sich im Rahmen eines bunten Spektrums jüdischer Persönlichkeiten der Zeit recht gut einordnen lasse und konstatiert erst für die hellenistische Kirche die Tendenz, den 27 Der Jude Jesus Jesus der Evangelien aus dem Judentum herauszureißen und als Gott zu überhöhen. In seinem äußerst unpolemisch gehaltenen Buch äußert Vermes nur sanft Vermutungen über die Motivation der Christen, Jesus als Messias zu verherrlichen: „Die Wortstreiter für das Christentum scheinen einem eingebürgerten Verfahren gefolgt zu sein: Das Evangelium war perfekt, aber mit den Juden war etwas grundsätzlich verkehrt. Deren Widerspenstigkeit in der Zurückweisung des Messias, der größten aller göttlichen Verheißungen an Israel, war der Höhepunkt einer uralten Verderbtheit, und diese war der Hauptgrund dafür, daß ihre Privilegien nun unwiderruflich auf die Nichtjuden übergegangen waren“[15]. Eigentlicher Rädelsführer der Umdeutung Jesu zum Christus sei - und hier trifft sich Vermes mit beinahe allen jüdischen Jesusforschern - natürlich Paulus: „Ich vermute, daß von dem Augenblick an, als Paulus als »Apostel der Heiden« (Röm 11,13; Apg 9,15) anerkannt und eine an Nichtjuden gerichtete Mission von der Kirchenführung in Jerusalem gebilligt worden war (Apg 15), die urspüngliche Ausrichtung des Wirkens Jesu radikal umgeformt wurde. Nichtjuden traten der Kirche in großer Zahl bei, und sie tat - in Übereinstimmung mit dem damals im Judentum vorherrschenden Konversionsmodell - ihr bestes, den neuen Anforderungen gerecht zu werden und sich der veränderten Situation anzupassen... Eine andere einschneidende und an die Substanz gehende Veränderung infolge der Verpflanzung der christlichen Bewegung auf heidnischen Boden betraf den Status der Tora, die für Jesus die Quelle der Inspiration und den Maßstab für seine Lebensführung darstellte. Trotz Jesu gegenteiliger Anordnung wurde sie nicht nur für unverbindlich, sondern für abgeschafft, annulliert und überholt erklärt. Die Tora, die er mit solcher Einfachheit und Tiefe aufgefaßt und mit solcher Integrität für das, was er als dessen innere Wahrheit sah, umgesetzt hatte, wurde von Paulus hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkung als ein Instrument von Sünde und Tod definiert... Derselbe Paulus ist ... dafür verantwortlich, daß die imitatio Dei eine beispiellose Wendung nahm, die die große Kluft zwischen Judentum und Christentum schuf“[16]. Die Einführung von Mittlern und der Christozentrismus gegenüber dem Theozentrismus Jesu trenne daher Christen von Juden, nicht aber Juden von Jesus. Denn Jesus „aus Fleisch und Blut (wurde) in Galiläa und in Jerusalem gesehen und gehört, kompromißlos und beharrlich in seiner Gottes- und Nächstenliebe, überzeugt davon, daß er seine Mitmenschen durch Beispiel und Lehre mit seiner eigenen leidenschaftlichen Beziehung zum Vater im Himmel anstecken könnte. Und dies tat er... Viele Zeitalter sind vergangen, seit der einfache jüdische Mensch der Evangelien in den Hintergrund trat, um für die prächtige und majestätische Figur des kirchlichen Christus Platz zu machen“.[17] Nun ist die Zuordnung Jesu zu den Charismatikern nicht neu - Vermes greift hier selbst auf George Foot Moore zurück - und nicht alles am Entwurf unproblematisch. Chilton äußert mehrere Kritikpunkte, auf die ich hier nicht näher eingehe. Dennoch ist Vermes als positives Beispiel kritischer jüdischer Auseinandersetzung mit Jesus hervorzuheben. 4. Der jüdische Jesus wird wiederentdeckt 28 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum Insgesamt konnte Daniel Harrington[18] eine bemerkenswerte Tendenz moderner jüdischer Wissenschaftler feststellen, Jesus in das Judentum zu integrieren und gerade dadurch von vielen christlichen Forschern abzuheben. Clemens Thoma gibt in seinem „Messiasprojekt“[19] einen kurzen Überlick über die jüdischen Stimmen zu Jesus, die ich hier noch kurz zitiere: „Für die meisten mittelalterlichen Juden war Jesus eine gefährliche Unperson: ein Zauberer, ein Betrüger, ein Veranlasser der Judenfeindschaft, ein Unterdrücker der Tora und der Gründer einer götzendienerischen judenfeindlichen Religion. Es gab aber bereits damals einzelne Juden, die aus Mt 5,17f und Lk 18,18f herauslasen, daß Jesus die Tora nicht hatte abschaffen wollen, und daß er sich auch geweigert hatte, sich den Mantel der Gottheit umzuhängen. Diese Juden ergriffen die Gelegenheit, um Jesus gegen das Christentum auszuspielen. Jesus sei ein toraverbundener Jude gewesen, seine Botschaft sei aber im Christentum einer Idolatrie verdreht worden... Rabbi Menachen Ham-Meiri von Perpignan (1249-1316) erklärte, die Christen seien keine Götzendiener, sondern verträten eine Lehre von hohem ethischen Standard. Rabbi Jacob Emden (1697-1776) meinte, Jesus habe seine Botschaft nicht an das jüdische Volk gerichtet, sondern ausschließlich an die Völker, um diese zum Einhalten der Noachidischen Gebote zu bewegen. Moses Mendelssohn (1729-1786) betonte im Anschluß an mittelalterliche Vorstellungen, man könne auch dann gute Gründe gegen das Christentum vorbringen, wenn man vom moralischen Charakter seines Stifters überzeugt sei; allerdings müsse man die Voraussetzung akzeptieren, daß Jesus keinerlei Ansprüche auf Göttlichkeit für sich gemacht habe. Im 19. und 20. Jh. wurde jüdischerseits sehr viel über Jesus und das Christentum geschrieben. Liberale und zionistisch gestimm Untaber auch traditionelle Juden äußerten sich zu Jesus und zum Christentum in vielfältiger Weise. Jesus sei ein nationalistischer Jude gewesen, eine ethische hebräische Persönlichkeit par excellence. Er habe keine universale Religion gründen wollen: Joseph Klausner (1874-1958). Jesus sei ein Apokalyptiker gewesen, auch seine Anhänger seien an seinem Tod mitschuldig gewesen. Er habe nur eine jüdische Sekte gegründet. Diese sei dann zu einer universalen Religion umgewandelt worden. Der jüdische Monotheismus sei das ganze Geheimnis der Kraft und des Einflusses sowohl Jesu als auch des Christentums und des Islam. Die beiden nachjüdischen Religionen hätten nur deshalb Überlebenschancen, weil sich in ihnen der jüdische Monotheismus als Lebenselixier befinde: Yehezkel Kaufmann (18891963). Die christlichen Auslegungen der heiligen Schrift könnten jüdischerseits als eine der 70 Möglichkeiten, die Tora zu verstehen, akzeptiert werden: Jakob J. Petuchowski: 1925-1991.“[20] Die genannten Beispiele mögen genügen, um eine Tendenz anzugeben. Namhafte und hochgebildete jüdische Wissenschafter wie Geza Vermes oder David Flusser, engagierte Brückenbauer wie Schalom Ben-Chorin und viele andere haben Jesus als Juden wiederentdeckt und ins Bewußtsein gerufen. Dem entsprechen das verstärkte 29 Der Jude Jesus begrüßenswerte Interesse christlicher TheologInnen an einer Integration Jesu ins Judentum und die faszinierenden Ansätze jüdisch-christlicher Theologien.[21] Daneben ist vornehmlich in Israel ein neuerwachtes religionswissenschaftliches Interesse am Christentum und auch an der Kirchengeschichte entstanden. Dies ist aus Vorlesungszyklen, Vorträgen oder an Arbeitsschwerpunkten verschiedener ForscherInnen ersichtlich. Hier findet wohl eine begrüßenswerte Emanzipation statt, die das Christentum als wichtigen gesellschaftlichen und religiösen Faktor ernst nimmt, ohne sich von ihm vereinnahmen zu lassen. Wie es in Westeuropa eine Zeit lang zum guten Ton gehörte, sich intensiv mit den ostasiatischen Religionen zu beschäftigten, entdeckt das jüdische Israel das Christentum. In kritischer Distanz, mit wissenschaftlichem Interesse, ohne Berührungsängste. Die jüdisch-feministische Literatur hat ebenfalls Jesus zum Thema gemacht, wenn auch nicht in Form großer Monografien, so doch vor allem in der Auseinandersetzung mit einer zeitweilig antijudaistisch anmutenden Inbesitznahme des Jesus von Nazaret durch christliche oder postchristliche Feministinnen, die ihn, den „Neuen Mann“ als einen die jüdische „Männerwirtschaft“ überwindenden Feministen darstellen wollen. Diesbezüglich hat sich vor allem Susannah Heschel in verschiedenen Publikationen überaus kritisch geäußert.[22] Die große Dame der jüdischen Theologie, Pnina Navé Levinson hat jüngst in einem Interview für die feministische Zeitschrift „Schlangenbrut“ sehr pointiert gesagt: „Solange an den theologischen Fakultäten die Prüfungsordnungen nicht geändert werden, wird sich nichts ändern; solange der Antijudaismus als Kirchenlehre vertreten wird, ebenfalls nicht. Feministinnen, die im Studium nur Abwertendes über das Judentum hören, daß Jesus die Frauen angenommen, die Kinder zu sich gelassen habe, von den Juden umgebracht wurde und die Juden uns den Vatergott eingebracht haben, solange kann sich nichts ändern.“[23] Jüdische Frauen kämpfen hier also auch um eine ausgewogene, nicht antijudaistische Sicht Jesu in ihren eigenen Reihen. 5. Die „messianischen“ Juden Nur erwähnt werden sollen alle jene jüdischen Gruppen, die sich als „messianische Juden“ bezeichnen und immerhin nach Schätzungen bis zu 100.000 Menschen ausmachen sollen.[24] Hier ist die „Internationale Judenchristliche Allianz“ zu nennen oder amerikanische Vereinigungen wie die „Blue Collar Congregation“ in Minneapolis, das „Beth Yeshua“ in Philadelphia, das „Beth Messiah“ in Washington, „Adat ha Tikvah“ und „B´nai Maccabim“ in Chicago oder ebensolche in Kanada. Am 27. Juni 1979 wurde von 19 Gruppen die amerikanische Dachorganisation „Union of Messianic Jewish Congregations“ gegründet. Zentrale Inhalte sind das Vertrauen auf die Bibel als absolute Autorität in allen Fragen des Lebens und der Glaube an Jesus, der durch seinen Tod und die Auferstehung die Welt erlöst hat und als Messias und Gott anzuerkennen ist. 30 Grundkurs Judentum Der Jude Jesus Grundkurs Judentum David H. Stern brachte in Amerika beispielsweise eine Übersetzung des Neuen Testaments als „Jüdisches Neues Testament“ heraus und leitete diese mit Bemerkungen zu den jüdischen Wurzeln oder zum Messias Jeschua ein. Erstaunlicherweise kommt hier das „Verheißung-Erfüllung“-Schema voll zum tragen. Jesus erfüllt die Weissagungen des AT. Stellen wie Gen 3,15; 12,3; 17,19; 21,12; 28,14 oder Num 24,17.19 und noch viele mehr verwiesen auf Jesus. Das NT wird von ihm als „Neue Torah“ verstanden. Ziel dieser Tora „ist der Messias, der jedem, der vertraut, Gerechtigkeit anbietet.“[25] In Deutschland ist der Verein „Ruf der Versöhnung“ des Arie ben Israel zu nennen, der sich in den Dienst der Versöhnung von Juden und Christen aber auch Juden und Arabern gestellt hat und eine periodische Zeitschrift gleichen Namens herausgibt, Studienaufenthalte in Israel organisiert, Seelsorge betreibt, Altersheime und Jugendheime unterstützt. Auch wenn diese Aktivitäten als solche zweifellos positiv zu bewerten sind, bleibt der tatsächliche Gewinn für einen partnerschaftlichen jüdisch-christlichen Dialog durch diese Gruppen gering. Mitunter wird die theologische Position dieser Gruppen, wie die Übersetzung von Stern zeigt, sogar eher hinderlich für einen Dialog sein. 6. Zukunftsperspektiven Eine wirkliche religiöse Annäherung wird es erst geben, wenn die über Jahrhunderte überlieferten gleichen Urteile und beschrittenen Wege verlassen werden. So wäre es - um abschließend nur ein Beispiel zu nennen - dringend an der Zeit, die Bedeutung der Messiasfrage für ein adäquates Verständnis von Juden- und Christentum grundsätzlich zu hinterfragen. Dogmatische Vorverständnisse müssen neuen Ansätzen weichen. Das verdienstvollerweise gerade jüdischerseits betonte - Judesein Jesu hat konsequent ernst genommen zu werden. Juden und Christen sollten die dogmatische Ebene verlassen und müßten sich dennoch nicht auf einen rein historisierenden Standpunkt zurückziehen. Diese Abkehr von eingefahrenen dogmatischen Sichtweisen scheint aber den Kirchen schwer zu fallen. Noch immer gilt, was Gerschom Scholem 1963 sagte: „Eine Erörterung des messianischen Problemkomplexes betrifft einen delikaten Bereich. Ist es doch hier, daß der essentielle Konflikt zwischen Judentum und Christentum sich entscheidend entwickelt hat und fortbesteht“.[26] Eine Einsicht in die theologische Bandbreite des Judentums und der strukturelle Vergleich zwischen Tora-Theologie und Christologie könnten das jüdisch-christliche Gespräch auf theologischer Ebene enorm befruchten. Dazu bedarf es aber nicht zuletzt in der Kirche mehr judaistisch ausgebildeter TheologInnen. 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Fußnoten 1 2 3 Vgl. als Überblick W. Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht, Weimar 1988. E.F. Talmage (Ed.), Disputation and Dialogue, New York 1975, 293. Vgl. dazu D. Berry, Buber´s View of Jesus as Brother, JES 14 (1977) 203-218. 31 32 Der Jude Jesus D. Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien), Reinbek 1968, 47. D. Flusser,Das Christentum - eine jüdische Religion, München 1990, 47f. S. Ben-Chorin, Bruder Jesus. Mensch - nicht Messias, München 1967, 134f. P. Lapide/U. Luz, Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen, Zürich u.a. 1979. J.T. Pawlikowski, The Trial and Death of Jesus: Reflections in Light of a new Understanding of Judaism, ChicStud 25 (1986) 79-94, u.a. B. Chilton, Jesus within Judaism, in: J. Neusner (Ed.), Judaism in Late Antiquity II (HO 17), Leiden u.a. 1995, 262-284. D.A. Hagner, An Analysis and Critique of Modern Jewish Study of Jesus, Grand Rapids 1984. Vgl. zu diesem Punkt Hagner, Analysis (Anm. 10) 105ff. Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei L. Swidler, Der umstrittene Jesus (Kaiser Taschenbücher 130), Gütersloh 1993, 59-67. Vgl. H. Falk, Jesus the Pharisee, New York 1985. Heute selten, vgl. z.B. R. Eisler, Jesus basileus ou basileusas, 2 Bde., Heidelberg 1929f. G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen 1993. Vermes, Jesus (Anm. 14) 139f. Vermes, Jesus (Anm. 14) 271-273. Vermes, Jesus (Anm. 14) 274. D. Harrington, The Jewishness of Jesus: Facing Some Problems, CBQ 49 (1987) 1-13. C. Thoma, Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994. Thoma, Messiasprojekt (Anm. 19) 335f. Vgl. die Arbeiten von F. W. Marquart oder C. Thoma. Vgl. etwa: S. Heschel, Jüdisch-feministische Theologie und Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie, in: L. Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte, München 1988, 54-103. In neuerer Zeit erschienen zwei wichtige Sammelbände: C. Kohn-Ley/I. Korotin (Hg.), Der feministische „Sündenfall“, Wien 1994; L. Schottroff/M.-T. Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlichfeministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (Biblical Interpretation Series 17), Leiden u.a. 1996. In letzterem wenden sich christliche Theologinnen gegen die antijudaistische Ausdeutung der Bibel. Hervorzuheben ist der Artikel von M.S. Gnadt, „Abba isn´t Daddy“. Aspekte einer feministisch-befreiungstheologischen Revision des Abba Jesu, 115-131. Schlangenbrut 51 (1995) 13. So zumindest nach D.H. Stern, Das jüdische Neue Testament. Eine Übersetzung des Neuen Testamentes, die seiner jüdischen Herkunft Rechnung trägt, Stuttgart 1994. Stern, Testament (Anm. 24) XXVI. G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, zuletzt in K. Koch/J.M. Schmidt (Hg.), Apokalyptik (WdF 365), Darmstadt 1982, 327-369: 327. Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Die Bedeutung von Tempel und Synagoge im Judentum Zusammenstellung für den Grundkurs Im Qumranschrifttum, in weiten Teilen des äthiopischen Henoch, in der Testamentenliteratur, in den Psalmen Salomos, in der Himmelfahrt des Mose und wohl noch anderswo werden messianische Gestalten beschrieben, die in beachtenswerter Parallelität zu den Eigenschaften des Johannes Hyrkan stehen. Im Grunde kommen vier Kennzeichen des Messias (oder der Messiasse) mehr oder weniger ausgeglichen zum Tragen: Die messianischen Gestalten - teilweise auch schon ihre Vorgestalten - kommen 1. aus dem vertraulichen Umgang mit Gott her, und sie tragen 2. hohepriesterliche, 3. fürstliche und 4. prophetische Züge an sich.1 Das hohepriesterliche Amt war an den Tempel als Zentrum der religiösen Identität des Volkes gebunden. Der Tempel war daher von Anfang an mit Hoffnungen, Erwartungen und auch Enttäuschungen verbunden. Seine Zerstörung unter Nebukadnezzar und seine Entweihung unter Antiochus IV. demütigten das Selbstbewußtsein des Volkes und führten zur dringenden Hoffnung nach Erneuerung und Wiederaufbau, einte der Tempel doch spätestens seit der Reform des Joschija im 7.Jh.v. alle Teile Israels zu einem Gottesvolk, das sich wenigstens dreimal jährlich anläßlich der großen Feste hier einfinden sollte, um gemeinsam vor Gott der Befreiung aus der Knechtschaft, der Gabe der Tora und des Landes und der Früchte dieses Landes zu gedenken und freudig zu feiern. Die zwischentestamentliche Zeit war ebenfalls geprägt von der Hoffnung auf Erneuerung des Tempels, geschürt durch die Einweihung durch Judas Makkabäus nach seinem Sieg über die Griechen und durch die hasmonäischen Versuche einer Wiederbelebung des Kultes. Die Qumranleute erhofften dagegen eine vollständige Erneuerung des Tempelkultes, da ihnen die Jerusalemer Reformen nicht genügten und sie diese als Gott mißfällig erachteten (CD 6,2-21 u.a., vgl. vor allem die Tempelrolle). Messianische Hoffnung und Tempelkulterneuerung können zusammengehören, ja werden nicht zuletzt nach der endgültigen Zerstörung des Tempels 70n. besonders akut. Gerade dieser Zusammenhang wirft ein bezeichnendes Licht auf die Aktion des Herodes, der daranging, mit dem Bau eines der bedeutendsten Gebäude der Antike sich selbst ein Denkmal zu setzen. Der Tempelbau des Herodes, dessen Spuren bis heute Pilger und Touristen fasziniert und dessen bautechnische Leistung die antiken Historiker schwärmen ließ, kann wohl mit gutem Recht auch als Zeichen latenten messianischen Anspruches der herodianischen Familie gesehen werden. Da traten einige auf und machten folgende Zeugenaussage gegen ihn: Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen mit Händen gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen andern, nicht mit Händen gemachten, erbauen. Aber auch in diesem Falle stimme ihr Zeugnis nicht überein heißt es bei Mk 14,57-59. Auch wenn Mt 26 diese Aussage zusehens entschärft und ein direktes Jesuswort nicht mehr zu eruieren sein wird, so bleibt hier und durch die prophetische Zeichenhandlung der Tempelreinigung der tempelkritische Zugang Jesu 1 Grundkurs Judentum unbestritten. Er steht damit in guter jüdischer Tradition, unterstreicht die messianische Bedeutung des Tempels, ohne selbst Angaben über die Art und Weise der Neugestaltung zu machen. Das menschliche Bauwerk wird seiner Aufgabe jedoch augenscheinlich nicht gerecht. Und wenn Kinder zu dir sagen: Laßt uns gehen, wir wollen den Tempel aufbauen! dann höre nicht auf sie. Und wenn Greise zu dir sagen: Komm, wir wollen den Tempel niederreißen! dann höre auf sie. Denn der Aufbau von Kindern ist ein Niederreißen, und das Niederreißen von Alten ist ein Aufbau soll Johanan ben Zakkai nach ARN B 31 (66f.) gesagt haben. Die kritische Sicht des Tempelbaus wird hier nach der Zerstörung 70 noch deutlicher als zuvor. Die Erneuerung des Tempels wird mehr und mehr zur eschatologischen Hoffnung, die Menschen nicht einlösen sollen. Dies trifft schließlich auch auf die Tempelbaupläne des Kaisers Julian (361-363) zu. Zwischen 67 und 70, also am Höhepunkt des Aufstandes gegen Rom, wird von den radikalen Kräften, den Zeloten, ein Steinmetz zum Hohepriester ausgerufen, Pinchas ben Samuel aus Chafta. Josephus überschüttet diese Tat mit Spott (Bell 4,147-157). Tatsächlich aber stammte dieser Pinchas aus zadokidischer Familie und sollte wohl nach den umstrittenen Hohepriestern der hasmonäischen Linie wieder unumstritten, auch für die Qumran-Leute akzeptabel sein. War er vielleicht gar in messianischer Absicht an die Spitze gesetzt worden? Dies läßt sich kaum mehr entscheiden, verliert sich doch seine Spur 70 im Untergang des Tempels selbst. Wahrscheinlich war er unter den Toten, da Titus alle Priester hinrichten ließ. Der Hebräerbrief, v.a. das Kap. 7 bringt einen Nachhall auf die hohepriesterlich-messianische Dimension, wenn er Christus als letzten Hohepriester schlechthin darstellt. Messiasprojekt 132. 33 Tempel und Synagoge 34 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Der Tempel. Ort der „Nichtdarstellung“ Gottes Von David Banon (Strassbourg-Lausanne) WuUdB (Der Tempel) 33-37 Die Errichtung des Heiligtums (hebr. Mischkan) beherrscht den Großteil der letzten Kapitel des Buches Exodus: Kapite12,5 bis 31 und 35 (Vers 4) bis 40. Dieses Heiligtum steht so im Zentrum von vier Sabbatperikopen ( am Sabbat gelesene Verse). Die beiden ersten handeln vom „Auftrag“ und den Einzelheiten des geplanten Vorhabens, während die beiden letzten sich der Umsetzung und einer Bestandsaufnahme und Wertung widmen. Eingeschoben zwischen diese Bibelstellen taucht die Episode vom Goldenen Kalb auf, wobei immer wieder auf die Errichtung des Heiligtums verwiesen wird. Ein Zugeständnis? Daß dem Heiligtum ein so großer Stellenwert zukommt, wirft schon deshalb Fragen auf, weil die Errichtung eines Mischkan nach den Zehn Geboten, der wichtigsten Quelle der biblisch-jüdischen Glaubenslehre, nicht vorgesehen ist. Das Projekt kommt erst an späterer Stelle und wie zufällig ins Gespräch. Nach dem Midrasch soll das Heiligtum auf Drängen des jüdischen Volkes entstanden sein: Herr des Universums, die Könige der Völker, besitzen Paläste, in denen man einen Tisch findet, Kerzenleuchter und andere Zeichen des Königtums, so daß sie als solche erkennbar sind. Und Du, unser König, Befreier und Retter, Sollst Du kein Zeichen des Königtums haben, damit alle Bewohner auf Erden erkennen, daß du der König bist? (Midrasch Haggada, Teruma 27,1) Das Zeltheiligtum - und der später nach seinem Vorbild errichtete Tempel waren trotz des Gesamtaufbaus, der symbolträchtigen Materialien, des Weiheritus und des Bauauftrages durch Gott, nur ein notwendiger Kompromiß, ein Zugeständnis an die Natur des Menschen, der die Vorstellung von einem unsichtbaren Gott, vom deus absconditus, nicht akzeptieren kann. In Ex 25,8 heißt es: „Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen.“ Ein rätselhafter Vers! Fast scheint die elementare Grammatikregel, wonach das Verb angeglichen werden muß, mißachtet worden zu sein: Der im Singular ('ein Heiligtum') beginnende Vers endet mit einem Plural ('unter ihnen'). Statt diesen „Druckfehler“ zu korrigieren, versuchen ihm die Lehrmeister des Midrasch auf den Grund zu gehen. Nach einer Erklärung lasse Gott sich nicht auf einen einzelnen Aufenthaltsort festlegen. Er beschränke sich nicht nicht auf einen umgrenzten Raum, sei nicht lokalisierbar, nicht auf einen Raum festzunageln. Auch wenn einer der Namen Gottes in der jüdischen Überlieferung „Ort“ (Hamakom) bedeutet, ist dieser Name im Sinne des Midrasch zu verstehen: Rav Huna sprach im Namen von Rav Ami: Warum bezeichnet man das geweihte Heilige auch als Makom? Weil Er der Ort der Welt ist und Seine Welt Ihm nicht als Wohnstatt dienen könnte. (Genesis Rabba 68,10; siehe auch Raschi zu Ex 33,2) 35 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Mit anderen Worten: Gott ist „ortlos“. Er umschließt alle Orte der Welt und geht über sie hinaus (und falls er eine Wohnstätte hat, kann er mit ihr nicht gleichgesetzt werden. Vgl. Jes 6,1). Deshalb wenden sich die Lehrmeister des Midrasch gegen den Glauben der Heidenpriester, sie könnten das Heilige festhalten, es einsperren oder auf einen Punkt festnageln. Der Wunsch nach dem Bau eines Heiligtums bedeutet folglich einen Rückschritt, eine Nachahmung der Götzendiener, einen Ausdruck der Unfähigkeit, Gott mit Herz und Geist zu dienen, ohne zu versuchen, ihm ein greifbares Äußeres zu geben, das doch immer nur Zerrbild sein kann. Und wie um den Unterschied zwischen der monotheistischen Lehre („der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße“ Jes 66,1; Levitikus Rabba 30,2) und dem Götzendienst (der sich unter anderem im ortsansässigen Lokalgott ausdrückt) aufrechtzuerhalten, wie um dem gefährlichen, aber nicht ausrottbaren Bedürfnis nach Nachahmung Einhalt zu gebieten, beschreibt die Bibel minutiös und detailliert dieses tragbare Heiligtum, ein Bollwerk gegen das Goldene Kalb, in dem nichts, aber auch gar nichts, an den Götzendienst erinnert. Eine leere Kultstätte als Aufnahmeort des Wortes. Das Zeltheiligtum kann theologisch als Reaktion auf den Turmbau zu Babel begriffen werden, hinter dem die Absicht gesteckt hatte, sich „einen Namen zu machen“, während es jetzt eben darum ging, einen „Namen zu heiligen“. Hatte Babel für den Sturmangriff auf Gott gestanden, so sollte das Heiligtum Gottes Wort in sich aufnehmen. Griff der Turm zwischen Himmel und Erde Platz, so stand das Zelt für die Verneinung jeder Gebundenheit an einen bestimmten Ort. Denn in Babel hatten die Menschen ihre Identität darin gesehen, den Raum durch seine Weihe zu beherrschen, die Distanz zwischen sich und der unendlichen Sphäre des Göttlichen durch die Errichtung eines gewaltigen Bauwerkes zu überbrücken. Dieser Turm, der fest in der Erde verankert bis in den Himmel hinaufreichen sollte, bedeutete die Verabsolutierung des Raumes, durch die die zeitliche Dimension - und vor allem das gesprochene Wort - verdrängt wurde. Das Heiligtum ist nur insofern ein räumlicher Bezugspunkt, als in ihm das Wort angesiedelt werden soll. Als Örtlichkeit dient es lediglich der Mahnung und dem Angedenken daran, daß der Dialog mit Gott möglich und im Gange ist. Erst durch das Wort erhält das Heiligtum als Raum Bedeutung, Richtung und somit Sinn. Folglich wird mit dem Heiligtum eine Verwurzelung in der unpersönlichen Natur, eine räumliche Festlegung Gottes vermieden, daher auch seine Bezeichnung „Zelt der Begegnung“ (Ohel moed). Entgegen mystischen Anschauungen, die Räume zu Heiligtümern erheben, indem in ihnen ortsgebundene Götter angesiedelt werden, steht das Heiligtum der Bibel vornehmlich für die zeitliche Dimension. Das Mischkan (oder Mikdasch) ist ein Zelt, das weniger Gott als vielmehr dem Menschen zugedacht ist. Mit Blick auf Gott ist er ein „Nicht-Ort“, eine Mahnung, daß dem Herrn keine Wohnstätte zugewiesen werden kann, sondern ein Ort, an dem der Mensch stets erneut zur Einhaltung des Gesetzes (Exodus Rabba 34,1) ermahnt und zur Verantwortung gerufen wird. Zogen die Israeliten nicht zum Heiligtum, um dem Wort zu lauschen? Um seinen Befehlen zu gehorchen oder um 36 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge bei Verstößen Buße zu tun? Nicht zufällig wird der später errichtete Tempel als 'Debir' (von dabar = Wort) bezeichnet (1 Kön 6ff), ein Ausdruck für einen Raum, für ein Forum par excellence, für das Zwiegespräch mit Gott. Das Heiligtum bereitet durch das Lauschen des Gottesworts die Gotteserkenntnis vor. Es verkittet Risse, überwindet Gräben und verkürzt Distanzen, doch kann es weder die auf dem Sinai vernommenen Worte - die Zehn Gebote und andere (Ex 21) - noch das Gesetz ersetzen. Verweist uns das Heiligtum durch seine räumliche Dimension nicht an jene Art der Offenbarung, die „Rede“ ist? An das Wort, das an jemanden gerichtet wird, das auf den anderen zugeht? Dies verringert die Gefahr, Gott über seinem Auffangbecken, seiner Wohnstatt, zu vergessen. Begegnet uns hier nicht die naive Überraschung des Titus? Seine Verblüffung, als er nach der Erstürmung und Plünderung des Tempels im Allerheiligsten nur Leere, nur ein Nichts antrifft? Nichts hinter den Vorhängen! Nichts als ein leerer Raum! Denn das Heiligtum wird zum Ausdruck ohne Inhalt, sobald man das Wort, das zwischen den Flügeln der Cherubim über der Bundeslade vernehmbar war, aus ihm vertrieben hat; wenn man zwar Opfergaben darbringt und sich vor der Bundeslade verneigt, aber dabei die in den steinernen Tafeln eingemeißelten Gesetze mißachtet und mit Füßen tritt. Wer so handelt, verneigt sich vor einer leeren Hülle, mißachtet, absichtlich oder nicht, den Inhalt des Wortes. Das Heiligtum bildet, wie im Midrasch Haggada (Teruma 27,1) angedeutet, keineswegs ein Symbol des Königtums oder einfach ein Zeichen. Um wahrgenommen und beachtet zu werden, muß es auf ein anderes, nicht räumliches, sondern zeitliches Zeichen verweisen. Nur der im vierten der Zehn Gebote verankerte Sabbat wird (Ex 31, 13 und 17) explizit „Zeichen „ genannt. Dagegen wird weder das Heiligtum noch eines seiner Bestandteile je mit diesem Namen belegt. Seltsam bleibt also der Zweck dieses Ortes: Er umschließt eine Leere, die das Wort in sich aufnehmen, es organisieren soll. Er hat die Aufgabe, das Wort auf andere auszurichten, es ihnen zu verkünden, vor allem denen, die noch nichts von ihm mitbekommen haben. So hatte das Heiligtum auf Erden nur dann einen Sinn, „wenn es seinem Zweck nach zum Thron in der Höhe ausgerichtet ist (maschon/meschuwan: Wohnstatt/ausgerichtet)“. (Ex 15,17; vgl. Talmud Jeruschalmi, Berachot, Kap. 4 Halacha 5). Und worin besteht diese Ausrichtung hin zur Transzendenz, wenn nicht in der Sorge für den anderen und in der Errichtung einer gerechten Gesellschaft oder zumindest eines „Rechtsstaates“. Wichtig ist auch das „Mobiliar“ im Heiligtum, seine Materialien, Bestandteile und Funktionen: die Bundeslade mit den cherubim, der Tisch mit den Schaubroten, der Leuchter, der Rauchopferaltar und der Brandopferaltar. Auch dieses Mobiliar steht für die grundlegend soziale Symbolik des Heiligtums - die keine Gelegenheit zur Flucht in den Mystizismus bietet. So symbolisiert der Tisch mit den Schaubroten beispielsweise die dauerhafte Verantwortung der politischen Macht - der Könige - gegenüber dem Hunger der Menschen. Es handelt sich nicht direkt um das Brot einer symbolischen Gemeinschaft, sondern um ein Brot, das den Hunger der Menschen stillt und nur so Anspruch auf den Symbolwert eines Brotes der Gemeinschaft erheben kann. Im Kult ging es darum, die Opferbrote, die Brote des Angesichts, in einem Gestus der Erhebung 37 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge und Heiligung vom Marmortisch auf den goldenen Tisch und in die Münder der Priester zu befördern. Zudem diente der Brandopferaltar, der eherne Altar, als Ort der Selbstbeherrschung, an dem der Mensch lernte - oder zumindest lernen sollte -, seine Triebe zu kontrollieren. So begriffen, symbolisiert das Heiligtum den Gestaltungsort der rechtlich-politischer Institutionen der Gesellschaft Israels. Während Athen um die Agora zentriert ist, steht der Tempel im Zentrum des Staates und der Gemeinschaft der Kinder Israels, und dies ohne Götterstatue und ohne eine Priesterkaste mit unumschränkter Macht. Im Heiligtum ruht vielmehr die Lade mit den Statuten des Bundes, mit anderen Worten, die Tora. Diese zentrale Schrift bildet die einzige Existenzberechtigung des Tempels, über ihre Vermittlung wohnt die Gottheit in der Stadt. Tempel oder Tora sind so die Zeugnisse des nicht darstellbaren Gottes, also Zeugnisse seiner Abwesenheit oder paradoxalen Gegenwart, die notwendig ist für den Fortbestand einer Welt, die aus der Scheidung vom göttlichen Wesen hervorgegangen ist. Der Tempel als gesellschaftlicher und politischer Kodex Israels Das Verbot, Gott darzustellen, ist so im Zentrum der Macht verankert, und nur in diesem Sinn ist der Tempel Schauplatz der Machtausübung oder vielmehr die Quelle der Macht. In dieser Hinsicht kommt der Bundeslade, in der die Statuten des Bundes, also die Tora, verwahrt werden, kardinale Bedeutung zu. Dabei geht es weniger um die Gegenwart des Gesetzes als darum, daß sie der Ausgangspunkt aller Gesetze ist, die Quelle, aus der die Menschen zur Schlichtung von Streitigkeiten und zum Aufbau ihrer Gesellschaft schöpfen. Wenn also Tempel und Tora Zeugnisse des nicht darstellbaren Gottes sind, wenn der Tempel die Quelle aller Gesetze und jeder Macht ist, dann gründet sich der jüdische Staat auf ein Vakuum, auf eine Abwesenheit. Wer kontrolliert den Tempel als Quelle der Macht? Nicht die Priesterkaste. Hinter dem System seiner Verwaltung steht ein ganz eigenes Modell. Um dies zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß das Volk Israel in Stämmen organisiert ist. Einer dieser zwölf Stämme hat an der Aufteilung des Bodens keinen Anteil, so daß er nicht über ein eigenes Territorium verfügt: der Stamm Levi, dessen Erbteil allein Gott ist (Num 26,62; Jos 13,14 und 18,17) und der für den Kult und für den Tempel verantwortlich zeichnet. Charakteristisch für die jüdische Priesterschaft ist damit die Besitzlosigkeit im Hinblick auf Territorium und Boden. Leviten steht lediglich städtischer Hausbesitz zu: Sechs Asylstädte und 42 weitere „Städte“, in denen ihnen Boden zum Wohnen, nicht aber zur Bewirtschaftung zugewiesen ist (Num 35,1-8). Kraft dieses Prinzips erhalten die Leviten den Zehnten von den besitzenden Stämmen als Ausgleich und Ersatz dafür, daß ihnen ein Einkommen aus Grundbesitz verwehrt bleibt. Deshalb zählen sie in der Bibel auch gewöhnlich zu den Armen in der Stadt („...und die Leviten, die ja nicht wie du Landteil und Erbbesitz haben, die Fremden, die Waisen und die Witwen...“ (Dtn 14,29), die beim Almosengeben nicht übergangen werden sollen. Obwohl die Leviten so als „Parias“ erscheinen, ist ihre Funktion im Staatsgefüge von enormer Bedeutung: Innerhalb der politischen Gemeinschaft stehen sie für das „Prinzip der Nicht-Vertretung“, was bedeutet, daß ihnen nicht jene Mittlerrolle zwischen Gott und den Gläubigen zukommt, die den Kern der theokratischen Herrschaft bildet. Dieses 38 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Prinzip spiegelt sich auch in Unterteilung des Stammes der Leviten in zwei Funktionen wider: Während die Familie Aarons (die Priester) die Aufgabe des Opferpriesters erfüllt, sind die eigentlichen Leviten mit Gesängen, dem Tempeldienst, der Lehre und der Gerichtsbarkeit betraut (2 Chr 19,8-11 ). Diese Aufgaben werden nach dem Rotationsprinzip auf die 24 Klassen der Leviten verteilt, wobei jedes Amt die Erfüllung eines anderen ausschließt. Daß der Tempel der Autorität der Priester untersteht (nur der Hohepriester tritt einmal jährlich zu Jom Kippur ins Allerheiligste ein), bedeutet keineswegs, daß diese Autorität sich über die Tempelmauern hinaus auf die gesamte Gesellschaft erstreckt (was man angesichts der zentralen Bedeutung des Tempels innerhalb des Staates erwarten könnte). Deshalb haben die Meister des Midrasch den Begriff des Mischkan als Akrostichon gesehen, hinter dem sich eine Verfassung verbirgt. *Als Akrostichon: Sie zerlegen das Wort Mischkan in seine Bestandteile, also in die Buchstaben mem, schin, kaf und nun, die dann als Anfangsbuchstaben neuer Wörter gelten. Daraus ergibt sich folgende Aufstellung. Melech König Schofet Richter Kohen Priester Navi Prophet *Als Verfassung: Sie umfaßt die vier Ämter, die in drei aufgehen, da Königtum und Richteramt in Personalunion ausgeübt werden. Doch ist diese Verfassung keineswegs starr; sie stellt vielmehr eine Art institutionelle Grundlage dar, aus der sich die einzelnen Funktionen und ihre Bedeutung herleiten. Da das Richteramt über allen anderen Ämtern steht, kommt dem König eine herausragende Stellung zu; zunächst einmal deshalb, weil diese Funktionen gegenüber der Gesetzgebung, der Kriegführung oder der Repräsentation höheres Ansehen genießt. Dann auch deshalb, weil der König mit ihr eine weitere Aufgabe, ein Amt der Berufung (Ex 18,13-27), erhält. Andererseits ist der König nicht nur der Melech, sondern auch der „Gesalbte“ (Maschiah, aus dem sich das Wort Messias ableitet). Diese Salbung durch den Richter-Propheten, die ein ganzes Geschlecht erhebt, ist freilich an Verpflichtungen geknüpft, denen sich der Gesalbte nicht entziehen kann, ohne vom Propheten als dem Garanten des Gesetzes zur Ordnung gerufen zu werden. Aber hat dies so immer funktioniert? Blieb die Integrität dieser Institutionen trotz der Begierden und Intrigen der Menschen, trotz ihrer Winkelzüge und Raffinessen erhalten? Anscheinend nicht! Bekannte Gründe haben im dreizehnten Herrschaftsjahr des Joschija (637-609 v. Chr.) und unter seinen Nachfolgern Jojakim und Zidkija zum Bruch des Bundes geführt: Mißachtung von Freiheit und Gerechtigkeit, das Scheffeln von Reichtümern, die Weigerung, sie weiter zu verteilen, usw. Anzuführen ist hier zudem der Abfall des Königs (König Zidkija erfüllt seine Pflichten zu keinem Zeitpunkt), die Verweltlichung der Priesterschaft ( die sich mit dem Zehnten nicht mehr begnügen und den Propheten mundtot machen wie Paschhur, der Jeremia schlagen und in den Bock spannen läßt, vgl. Jer 20, 1-6 ), sowie das Auftauchen von Lügenpropheten. So manifestiert sich die Auflösung der oben erwähnten Verfassung. Der Mensch als Heiligtum Gottes 39 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Die einzige Möglichkeit, eine heilsame Krise auszulösen, das Volk wachzurütteln und es vom Irrweg auf die Wege des Lebens zurückzuführen, ist der Appell an die Teschuwa. Wörtlich genommen, bezeichnet dieser hebräische Ausdruck weniger Reue als vielmehr Umkehr, also eine Rückbesinnung auf sich selbst, auf sein innerstes Wesen und damit auf Gott. Der Ausdruck beinhaltet so eine Richtungsänderung und Neuorientierung. Aber Teschuwa bedeutet zugleich auch Antwort. Der Akt der Rückbesinnung auf sich und Gott ist eine Antwort auf die Verirrungen der Institutionen. Sind diese Institutionen folglich überflüssig? Es scheint so! Denn das wahre Heiligtum Gottes ist der Mensch. Dies ist denn auch der Sinn des oben angeführten Verses: „Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen.“ (Ex 25,8) Die Gegenwart Gottes ist nicht anders denkbar als unter dem Volk Israel, unter den Menschen, „ um ihr Gebet und ihren Dienst zu empfangen“ (Kommentar des italienischen Rabbiners Sforno aus dem 16. Jh. zu Ex 25,8). „Ich werde mitten unter den Israeliten wohnen und ihnen Gott sein. Sie sollen erkennen, daß ich der Herr, ihr Gott bin, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen, ich, der Herr, ihr Gott.“ (Ex 29,45-46). Auch Salomo erinnert an diese Gewißheit: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.“ (1 Kön 8,27). Der Prophet Jeremia formuliert dies in kraftvollen Worten als Gebot: „Ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten herausführte, nichts gesagt und nichts befohlen, was Brandopfer und Schlachtopfer betrifft. Vielmehr gab ich ihnen folgendes Gebot: Hört auf meine Stimme, dann will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein. Geht in allem den Weg, den ich euch befehle, damit es euch gut geht.“ (Jer 7,22-23). Die einzige Forderung, das einzige Gebot, besteht darin, auf Gottes Stimme zu hören. Und dies wiederum heißt, sein Wort empfangen, zu Ihm zurückkehren und Teschuwa tun. Wenn aber Gott in des Menschen Innersten, in seiner Seele, keine Wohnstätte fände, wäre jede Teschuwa vergeblich. Des Herrn erste Gnade besteht darin, daß Er den Menschen zu seiner Wohnstätte macht. Und als weitere Gnade zieht Er sich aus dem einzelnen auch dann nicht zurück, wenn er gefehlt und das Heiligtum seines Innersten besudelt hat. Anscheinend residiert Gott auch dann in den Tiefen der Seele, wenn der Mensch zum Sünder wird. Der amerikanische Rabbiner Soloveitchick ( 19031993 ) drückte es so aus: „Gott hat zwei Wohnorte im Inneren des Menschen. Der eine ist das Heiligtum der Tugenden und Gefühlsregungen: Güte, Barmherzigkeit, Gottesfurcht, Freude, Kummer, Verwunderung usw. Der andere ist das Heiligtum der Vernunft. Wenn der Mensch nachsinnt oder die Tora studiert, wenn er seinen Verstand schärft und ihn heiligt, wird er zur Residenz Gottes.“ Doch bedeutet dies keineswegs, daß das Zusammenleben Gottes mit den Menschen immer nur harmonisch verläuft, als sei es eine Glückseligkeit. Vielmehr bereitet es im wesentlichen Schmerzen, denn es erfordert andauernde Anstrengungen, seine Triebe, Neigungen und Begierden zu zügeln. Denn das heißt, das „Joch“ des höchsten Gottes anzunehmen, den Willen Gottes auf dem Altar der Transzendenz zu heiligen. 40 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Clemens Leonhard „Als ob sie vor mir ein Opfer dargebracht hätten“ Erinnerungen an den Tempel in der Liturgie der Synagoge* Problemstellung Mit dem Dialog, der von E. Fleischer über den Ursprung der jüdischen Pflichtgebete angeregt wurde, ist die Frage nach der historischen und theologischen Verwandtschaft zwischen der Liturgie des Tempels und der Synagoge untrennbar verbunden.2 Dabei ist zunächst an den Ursprung der jüdischen Liturgie zu denken und zu untersuchen, welche Beziehung sie zum Tempel und seiner Zerstörung hat; ob sie nach 70 gleichsam aus dem Nichts geschaffen wurde oder ob sie auf Vorläufer zurückgeht, die viele ihrer Charakteristika schon zur Zeit, als der zweite Tempel noch bestand, aufweisen. Die Beziehung der jüdischen Liturgie zum Tempel endet aber nicht im ersten Jahrhundert. Im Gegenteil, die Liturgie des Tempels bleibt für die Liturgie der Synagoge ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Verständnisses im ganzen und mancher ihrer rituellen Details. Die Beziehung zwischen Tempel- und Synagogenliturgie ist dabei nicht nur in der Rekonstruktion des Verständnisses der Frühzeit problematisch, sondern bleibt ein spannungsvolles Thema in der Liturgiegeschichte. Fragen wie die wertende Distanz zum Tempel und die Kontinuität von Institutionen und Interpretationen der Tempelliturgie in * 2 Mein besonderer Dank gilt der österreichischen Akademie der Wissenschaften für die Freistellung zur Forschung, die mir durch das Stipendium des APART-Programms gewährt ist. Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Referats, das ich am 11.01.2001 am Sonderforschungsbereich in Bonn auf die freundliche Einladung von Prof. Dr. Albert Gerhards halten durfte. Ich danke Prof. Dr. Günter Stemberger für die ausführliche Diskussion des Themas vor meinem Referat und die Lektüre einer Version dieses Aufsatzes sowie für zahlreiche Hinweise auf Literatur und Stellen der rabbinischen Texte. In seinem Aufsatz (2001, im Druck) diskutiert er wichtige Aspekte der Thematik dieses Essays in einem breiteren literarischen und historischen Rahmen. Rabbinische Texte sind (wenn nicht anders angegeben) nach Bar-Ilan University/Responsa Project 1999. Global Jewish Database. Ramat Gan: Bar-Ilan Research and Development Company Ltd. [CD-ROM Version 7.0] zitiert. Fleischer (1989/90). Langer (1999, vgl. auch 2000) fasste die Diskussion zusammen, worauf Fleischer (2000) kritisch reagierte und kurz seine Position darlegte. Falk (2000) präsentiert die Ergebnisse der Erforschung möglicher Parallelen zwischen in Qumran belegten liturgischen Texten und der späteren Liturgie der Synagoge. Am Tempel selbst ist die Gleichzeitigkeit des Vollzugs der Opferliturgie und einer Gebetsliturgie durch das Schweigen, mit dem die Opfer dargebracht wurden, ausgeschlossen, vgl. Knohl (1996). Der Ausdruck bishtiqa „(etwas) schweigend (tun)“ kommt in den Talmudim und der Tosefta fast ausschließlich im Kontext der Opfer vor (G. Stemberger). Liturgie als Gebet war daher vom Tempel als Ort der Opferliturgie per definitionem getrennt. Zum Gottesdienst der Synagoge vgl. Van der Horst (1999). Weinfeld (1988, 482f) erreicht unter anderem durch die Gleichsetzung von da‛at – in einer Benediktion von 1QS – und tora, dass bereits die Liturgie von Qumran die wesentlichen Elemente des Anfangs des späteren Morgengebets, bzw. in diesem Fall die Benediktion über die Toralektüre, enthielt. Er macht allerdings keine Angaben zur Torarezitation, wie sie im Mittelalter durch die Lektüre von Num 28 ins Morgengebet aufgenommen wurde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Benediktion über die Tora auch eine Folge der erst später belegten Rezitation gewisser Passagen aus ihr war. An dieser Stelle weist ihr Text als Privatgebet die größte Variationsbreite auf, Heinemann (1977, 171f). 41 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge der Synagoge werden in den Epochen der Liturgiegeschichte unterschiedlich beantwortet und hinterlassen ihre Spuren in den Riten und Texten. Die umfassende Beschreibung dieser Beziehung ist eine Aufgabe, die die Möglichkeiten eines Aufsatzes übersteigt. Im folgenden Essay soll in den ersten Texten des Gebetbuchs nach den Spuren der Auseinandersetzung mit der Liturgie des Tempels gesucht werden. Die gefundenen Stellen sind Anregungen für die folgenden Überlegungen und kein vollständiges Repertoire zur Tempelthematik im Gebet. Aus ihnen ergeben sich zwei Haltungen zur Tempelliturgie (in der Synagogenliturgie), die im Anschluss daran kurz auf ihre Wurzeln in der rabbinischen Literatur hin untersucht werden. Die Zusammenfassung bündelt die Beobachtungen für den Einstieg in Detailanalysen. Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, wichtige Fragen zu stellen, keine Sammlung von Antworten auf dieselben. Bibeltexte und Gebete zu Beginn des täglichen Morgengebets Die jüdische Tagzeitenliturgie sieht für Werktage drei Gebete vor (Morgen-, Nachmittags- und Abendgebet), die am Shabbat um das Musaf erweitert werden. Die Namen der Horen erinnern bereits an die Liturgie des Tempels. Morgen- und Abendgebet sind zwar Begriffe, die die bloße Tageszeit bezeichnen, Mincha (Gebet am Nachmittag, bzw. vor dem Abend) und Musaf verweisen allerdings bereits auf die Opfer, die zur jeweiligen Zeit im Tempel dargebracht wurden. Auf die zeitliche Übereinstimmung zwischen den Opfern der Vergangenheit und den Gebeten der Gegenwart wurde Wert gelegt: „Rabbi Jehoshua Ben Levi sagte: ‚Die Gebete richteten sie entsprechend der Tmidim [der immerwährenden Opfer am Morgen und am Abend jeden Tages] ein’“ (bBer 26b, vgl. tBer 3,1ff).3 Wer ein traditionelles jüdisches Gebetbuch aufschlägt, gelangt zu den Benediktionen zum Händewaschen, zum Anlegen von Tallit und Tfillin sowie zum Dank dafür, nach der Nacht wieder heil erwacht zu sein (vgl. yBer 4,2 7d). Die kurzen Benediktionen sind von bBer 60b angeregt, wo der Lobpreis Gottes in die Verrichtungen des Tages integriert wird, z. B.: „Gepriesen bist du GOTT, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt hat und uns die Händewaschung geboten hat.“ Seit Amram (Ben Sheshna) Gaon (gest. ca. 875) ist dieser Abschnitt durch liturgische Dichtungen erweitert worden. Schon zu Beginn interpretiert sich der Beter, der die Synagoge betritt, in der aus Bibelzitaten zusammengestellten Dichtung „Wie schön sind deine Zelte, Jakob…“4 als einer der in den Tempel schreitet: „Und ich komme in der Fülle deiner Gnade in dein Haus. Ich werfe mich zum Allerheiligsten deiner Heiligkeit in Furcht vor dir hin“ (Ps 5,8). Die Gebete dieses Abschnitts gehören zu den jüngsten Teilen des Morgengebets.5 Sie wurden lange als Privatgebete betrachtet und erst langsam und keineswegs überall in die 3 4 5 42 In diesem System wird das Abendgebet dann zum Problem, wenn es nicht am späten Nachmittag, sondern tatsächlich in der Nacht verrichtet wird, da es im Tempel keine Opfer während der Nacht geben konnte. Maimonides integriert dadurch das Gebet ins Opfersystem, dass er auf das Weiterbrennen der Teile des (vor-)abendlichen Tamid während der Nacht anspielt [In: Mischne Tora. Kap. Hilkhot tfilla unesiat kappayim 1,6]. Ma Tovu (Num 24,5), aus dem 11. Jh.; Elbogen (1993, 76f §12, 2). Hoffman (1979, 128): „the last … to be codified“. Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge öffentliche Liturgie der Synagoge vor dem eigentlichen Morgengebet integriert. Trotzdem sind sie in ihrem Grundbestand bereits Teil des ältesten überlieferten Gebetbuchs (Amram Gaon).6 Die hohe Popularität und Autorität des Gebetbuchs von Amram Gaon führten jedoch dazu, dass Vervielfältigung und Überarbeitung ineinander flossen und den Urtext unerreichbar machten.7 Die Gebete sollten vom Vorbeter der Synagoge gesprochen werden, damit niemand, der sie nicht rezitieren konnte, vom Vollzug ausgeschlossen war.8 Diesen kurzen Benediktionen mit der Erweiterung durch mittelalterliche Dichtungen folgt ein Abschnitt des Torastudiums. Er besteht aus Bibeltexten, die von talmudischen Texten und späteren Gebeten ein- und ausgeleitet werden. Nachdem nun Tora rezitiert wird, konnten an dieser Stelle Gebete gesprochen werden, die die Gelehrten des Talmud dem Torastudium zuordneten, die aber bei der liturgischen Lesung des Wochenabschnitts der Tora nicht aufgenommen worden waren. Ziel und Zweck der Auswahl der Bibeltexte und der sie umgebenden Gebete ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität der Liturgie des Tempels und damit zur Frage der sakramententheologischen Bedeutung der Liturgie von Gebet und Schriftlesung. Nach dem Zitat der Einsetzung des Priestersegens (Num 6,24ff) folgt im Siddur Amrams quasi einer der beiden „Einsetzungsberichte“ des Morgengebets mit Num 28,1–10, in dem das Tamid angeordnet wird.9 Die Lesung wurde durch weitere Bibeltexte erweitert, die das Szenario der Opfer präzisieren. So beginnen die Kurzlesungen heute (noch nicht bei Amram) mit Ex 30,17–21, wo es um die Herstellung der Einrichtungen für die priesterlichen Waschungen und die Anordnung dieser Waschungen selbst geht. Lev 6,1– 6 ergänzt den Text über das Tamid mit Details aus den Geboten zum Brandopfer und dem nicht verlöschenden Feuer am Altar. Der Lesung über das Tamid folgt der Vers Lev 1,11 über die Schlachtung und Ausschüttung des Blutes. Die Bibeltexte über die Opfer bleiben nicht ohne rabbinisch legitimierte Exegese innerhalb der Liturgie. Mit dem langen Abschnitt „An welchem Ort finden die Schlachtopfer statt? …“ (mZev 5,1ff) wird das Szenario weiter entfaltet. Die 13 Auslegungsregeln des Rabbi Jishmael schließen den Abschnitt des Morgengebets ab. Die umfangreichen Texte der Tora und der rabbinischen Literatur, die in (bzw. vor) jedem Morgengebet zu rezitieren sind, sollen nicht täglich mit aller exegetischen Tiefe rezipiert und meditiert werden. Ihre Anwesenheit an dieser Stelle entspricht aber den ältesten rabbinischen Traditionen, mit dem Verlust der Liturgie des Tempels einerseits intellektuell und andererseits liturgisch umzugehen. Das ist in zwei Exkursen durch Parallelen anzuzeigen. [Exkurs: Lesungen der Opfergesetze] Die Mischna deutet in Bezug auf die Festlesungen (mMeg 3,4ff) das älteste Lesesystem – bzw. gerade die Unterbrechung 6 7 8 9 Spätere Gebetbücher enthalten Erweiterungen dieses Texts. Der Opfergedanke wird z. B. durch die Lesung von Gen 22 (Bindung Isaaks) im folgenden Kontext betont und erweitert. Reif (1993, 186f). Elbogen (1993, 76). Für Maimonides war ihr Charakter als öffentliches Gebet umstritten, nicht aber die prinzipielle Verpflichtung, sie zu verrichten, Freehof (1950/51, 339ff). Goldschmidt (1971, 3 = [Morgenbenediktionen] bet Z. 9), Übersetzung: Hedegård (1951, 16). 43 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge eines nicht spezifizierten Lesesystems durch die im Kalender fixierten Feste – an. So ist zwar Ex 12,1ff als Lesung in den Wochen vor Pesach vorgesehen, am Fest selbst wird aber Lev 22,26ff gelesen. Dass am Versöhnungstag Lev 16 zu lesen ist, ist zu erwarten, weil der Versöhnungstag nicht wie Pesach oder das Wochenfest einen historisierenden Festinhalt hat. Die Mischna sieht aber auch für das Laubhüttenfest, das schon vor 70 mit einer historischen Erinnerung an den Exodus versehen worden war (Lev 23,43), Lesungen der Opfergesetzgebung vor: „Am ersten Tag des Laubhüttenfests liest man den Festabschnitt aus Leviticus (aus Lev 23) und an den übrigen Tagen des Laubhüttenfests den Abschnitt über die Festopfer (Num 29,17–39)“ (mMeg 3,5). Für das Wochenfest sieht die Mischna (Meg 3,5) die Einsetzung des Fests nach Dtn 16,9 vor. Die Tosefta (Meg 3,5) kennt die Alternative Lesung von Ex 19,1ff. Dieser Text beschreibt, wie die Israeliten im dritten Monat (ca. 50 Tage) nach Pesach die Wüste Sinai erreichen. Damit wird der Ablauf des Auszugs aus Ägypten auf den Jahreskreis übertragen und die Festlesung zur Erinnerung an den Exodus. Im Talmud (bMeg 31a) werden die beiden Texte auf den ersten und zweiten Festtag (der Diaspora) angesetzt. Eine analoge Tendenz zeigt sich zum Neujahrsfest. Am ersten Tag wird die Einsetzung des Fests und der Opfer gelesen (m/tMeg 3,5: Lev 23,24) am zweiten Tag Gen 21,1ff (tMeg 3,6 und bMeg 31a). Das System der Festlesungen hat ursprünglich ein starkes Interesse an der Opfergesetzgebung, bzw. der Rezitation der Einsetzungstexte der Feste als Teile der Tempelliturgie. Die bereits vor der Entstehung der Mischna belegte Akkumulation historisierender Festinhalte ist für die Zeit der zitierten Quellen liturgisch nicht relevant. [Exkurs: Das Studium der Opferliturgie] Nicht nur die Festlesungen der Synagogenliturgie betonen die Opferliturgie, sie ist auch in den Anweisungen zur Gestaltung der Tischliturgie präsent. Die Tosefta verlangt, dass man sich die gesamte Pesachnacht mit den Gesetzen, die das Pesach (-lamm/-opfer) betreffen, befasst (tPes 10,11f): „Jeder ist verpflichtet, sich die ganze Nacht mit den Gesetzen, die das Pesach betreffen, zu beschäftigen. Sogar nur mit seinem Sohn oder nur mit sich selbst, oder sogar nur mit seinem Schüler. Eine Begebenheit mit Rabban Gamaliel und den Ältesten, die im Haus des Baytos Ben Zonin in Lod zu Tische lagen. Sie beschäftigten sich die ganze Nacht bis zum Hahnenschrei mit den Gesetzen, die das Pesach betreffen. [Die Tischdiener] hoben vor ihnen [die Tabletts] weg. Da wurden sie aufgestört! und gingen ins Lehrhaus [= Bethaus].“ Wenn nach 70 kein Pesachtier mehr verzehrt werden kann, weil es nicht mehr im Tempel geschlachtet werden kann, tritt als Ersatz dafür das Studium der Pesachgesetze ein. Das Pesach ist zwar keines der Opfer, die regelmäßig im Tempel von darauf spezialisiertem Personal durchgeführt werden (wie das Tamid), doch auch der Modus seines Ersatzes ist das Studium der es betreffenden Gesetze. Analoge Gedanken werden (zum Zitat von Mal 1,11) auch in bMen 110a breit entfaltet.10 Darüber hinaus wird im palästinischen Talmud die Lehre Shim‛ons des Gerechten über die drei Grundfesten der Welt (Tora, Gottesdienst, Werke der Barmherzigkeit) zweimal zur Aussage „Die Welt steht nur auf den Opfern.“ assoziiert (yTaan 4,2 68a). In yMeg 3,6 74b wird die Passage sogar als einziger Kommentar zur Mischna über die Lesung der 10 44 Vgl. Stemberger (2001 im Druck, Kap. 4). Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Opfergesetze zu Sukkot gebracht. Als Belegvers wird darauf Jes 51,16 herangezogen und seine Textelemente auf die drei Grundfesten der Welt verteilt. Zunächst reichen „Tora“ und „Werke der Barmherzigkeit“, um „im Schatten des Heiligen – gepriesen sei er – zu sitzen“.11 Die Auslegung von Jes 51,16 wird nach einem kurzen Einschub fortgesetzt und „das Einpflanzen des Himmels und die Gründung der Erde“ auf die Opfer hin interpretiert. Diese Exegese wird durch die Beobachtung von Rabbi Chanina Bar Pappa erhärtet, dass Israel („mein Volk“) nirgends in der Schrift außer hier „Zion“ genannt wird. Die Opfer bleiben in dieser Stelle des Talmud eine der Grundfesten der Welt. Dadurch aber, dass die Passage als Argument für die Lesung der Opfergesetze gebracht wird, ist evident, wie die Opfer nach 70 noch ihre Funktion als Säule der Welt erfüllen. Mit den beiden Exkursen nimmt der Zweck der Rezitation der Bestimmungen über das Tamid (und der sie ergänzenden Texte aus der Tora und der rabbinischen Literatur) deutliche Konturen an. Das Studium des Textes ist zur selben Tageszeit und mit derselben Regelmäßigkeit an die Stelle des Opfervollzugs getreten.12 Das Bild, das sich durch die Anordnung und Auswahl der Lesungen ergibt, wird durch die Gebetstexte explizit gemacht und bestätigt. Den Lesungen der Opfergesetze wird zunächst die folgende Bitte vorangesetzt: „GOTT, unser Gott, und Gott unserer Väter es möge dir gefallen, dass du dich unser erbarmst, uns alle unsere Sünden vergibst, uns von allen unseren Verbrechen entsühnst, alle unsere Vergehen vergibst und den Tempel rasch in unseren Tagen aufbaust, damit wir vor dir das Tamidopfer, das uns entsühnt, darbringen, wie du über uns in deiner Tora durch Mose, deinen Diener, aus dem Mund deiner Ehre geschrieben hast, so wie gesagt ist: [Es folgen die Bibeltexte.]“13 Verzeihung und Erbarmen Gottes möge im Licht des Gebets dazu führen, dass Gott die Wiederaufnahme der Opfer im Tempel ermöglicht. Die folgenden Opfergesetze erinnern Gott daran, wonach sich der Beter im einzelnen sehnt. Nach der Rezitation der Texte folgt ein Gebet, das einen anderen Akzent setzt: „Herr der Welten, du hast uns geboten das Tamidopfer zu seinem Termin darzubringen, Priester in ihrem Gottesdienst, Leviten auf ihrer Tribüne und Israeliten an ihrem Standplatz zu sein. Aber jetzt ist durch unsere Verbrechen der Tempel verwüstet und das Tamid abgeschafft und wir haben weder einen Priester in seinem Gottesdienst noch einen Leviten auf seiner Tribüne noch einen Israeliten auf seinem Standplatz. Du aber hast gesagt, ‚Wir wollen Stiere durch unsere Lippen ersetzen!’ [Hos 14,3].14 Deshalb möge es dir gefallen, GOTT, unser Gott und Gott unserer Väter, dass die Rede unserer Lippen vor dir [= von dir] Grundkurs Judentum angerechnet, angenommen und mit Wohlgefallen akzeptiert sei, als ob wir das Tamidopfer zu seinem Termin und an seinem Ort und seinen Ausführungsbestimmungen entsprechend dargebracht hätten.“15 Diese Bitte, die den Lesungsabschnitt des Morgengebets vor den Morgenpsalmen abschließt, gibt den Lesungen einen anderen Sinn als die oben zitierte. Sie drückt die Hoffnung aus, dass Gott das Opfer der „Lippen“ – die Rezitation der Bibeltexte – anstelle der Opfer selbst anerkennen möge. Dadurch werden die Texte sakramententheologisch anders qualifiziert. Die Versöhnung mit Gott, die vor 70 auf die Opfer hin gewährt wurde,16 wird jetzt auf die Lesung hin erbeten. Die Bitte wird durch den Beleg aus Hos 14,3 theologisch legitimiert. Die Lesungstexte sind im ersten Teil des Morgengebets durch ihren Rahmen in eine theologische Spannung eingebunden, die auf der Ebene der Liturgie nicht mehr gelöst wird.17 In Frage steht die Haltung des Beters zur Beziehung zwischen der Liturgie des Tempels und der Synagoge. Soll er seinen Blick auf die Zukunft richten und um die Restitution eines Zustands der Vergangenheit oder um die Anerkennung der Liturgie der Gegenwart als vollwertigen Ersatz für die Tempelliturgie beten? Bevor dieser Frage weiter nachgegangen wird, soll zunächst der Blick kurz auf die ‛Amida (das Achtzehngebet) gerichtet werden, um in einem Text höherer Dignität und Öffentlichkeit nach denselben Spuren der Auseinandersetzung mit der Tempelliturgie zu suchen. Der darauf folgende Abschnitt soll die Frage auf Texte der rabbinischen Literatur anwenden. Zum Thema „Tempel“ in der ‛Amida Im liturgischen Vorspann des Morgengebets wird die sakramententheologische Position, dass das Studium der biblischen Gesetze über die Opfer deren Nachfolge angetreten hat, durch die Lesung impliziert und durch das folgende Gebet explizit zum Ausdruck gebracht. In der ‛Amida (Achtzehngebet oder einfach „Das Gebet – Ha-Tfilla “ schlechthin)18 kommt dagegen das oben zitierte Prinzip: „Die Gebete richteten sie entsprechend der Tamidopfer ein“ zum Tragen. Nicht nur das Schriftstudium, sondern 15 16 17 11 12 13 14 Nach der Traditionsliste sind die drei Säulen der Welt bei Shim‛on Ben Gamliel „Recht, Wahrheit und Friede“ – die Ethik kommt ohne Liturgie aus (wenn auch mAv 1,18 im Kontext von 1,2 gelesen werden muss). Genauso tröstet Gott David darüber hinweg, dass er den Tempel nicht bauen wird, indem er Davids „Recht und Gerechtigkeit“ über die wohlgefälligen Opfer Salomos stellt (yBer 2,1 4b und seine Paralleltexte). Der Text thematisiert die Frage, wie Israel vor der Errichtung des Tempels Opfer darbrachte, nicht. Vgl. Elbogen (1993, 79 § 12, 6). Siddur Bet Ja‛akov, fol. 35r/v mit einer Rubrik, die den Gebrauch freistellt, bzw. auf Shabbate und Festtage beschränkt – ohne Rubrik in modernen Siddurim. Die Einheitsübersetzung folgt der Septuaginta in diesem Versteil und verfehlt daher den Sinn des überlieferten hebräischen Texts. Vgl. Fine (1998, 86) und PesK 24,19. 45 Tempel und Synagoge 18 46 Siddur Bet Ja‛akov, fol. 38r. Die beiden Gebete gehören zu den jüngsten Schichten des Gebetbuchs und finden sich z.B. noch nicht bei Amram Gaon. Sie drücken allerdings nur in den Worten des Gebets aus, was durch viele andere Quellen ebenfalls belegt ist. Die sündenvergebende Wirkung des Tamid vor der Zerstörung des Tempels geht nicht aus den biblischen Gesetzen zum Tamid hervor, ist aber durch Neh 10,34 für die Zeit des zweiten Tempels belegbar. Vgl. PesK 6,4. In diesem Kontext ist die Frage zu stellen, ob eine Dichotomie zwischen der eschatologischen Erwartung der vollen Restitution des Kults und dem Bewusstsein, dass er bereits ersetzt ist, immer als solche empfunden wurde. Je nach der eigenen wissenschaftlichen Position zu Zweck und Bedeutung der Synagogen vor 70 wird man mehr oder weniger Fine (1998, 25) zustimmen können, dass Juden zur Zeit des zweiten Tempels gleichzeitig loyal zum Tempel sein und doch gemeinschaftliche religiöse Erfahrung in der Synagoge finden konnten. Die Ausgangstexte dieses Essays stammen aus späteren Epochen und verbieten einen leichtfertigen Brückenschlag in die Zeit vor 70. Dennoch ist mit aller Vorsicht vor ungerechtfertigten Vergleichen davon auszugehen, dass vor 70 ein Widerspruch zwischen dem Tempel und anderen Räumen religiöser Erfahrung nicht notwendigerweise (bzw. nicht überall) gesehen werden musste. Vgl. das Kapitel „Second Temple Period“ bei Fine (1998) und Schreiner (1999, 374f). Die Textvarianten der ‛Amida können im Kontext dieses Aufsatzes nicht besprochen werden. Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge auch die verpflichtende Gebetsliturgie wird in den rabbinischen Quellen als Entsprechung zur Tempelliturgie verstanden. Nachdem die ‛Amida neben dem Shma‛ Jisrael und den dieses rahmenden Benediktionen das wichtigste Gebet der jüdischen Tagzeitenliturgie ist, trägt sie viele Assoziationen und Konnotationen in ihren Textvarianten und in ihren Deutungstraditionen, die nicht mit dem Thema „Tempelliturgie“ zusammenhängen. Dennoch spielt es eine wichtige Rolle in ihr. Seit der Antike (bBer 4b, 9b; yBer 4,4 8a) wird der ‛Amida (zuweilen neben anderen Versen) Ps 51,17 „Herr, öffne meine Lippen und mein Mund wird dein Lob erzählen.“ vorangestellt. Die Anwesenheit des Verses kann im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Vers gesehen werden, wo der Beter analog zu V. 17 um die Rettung durch Gott bittet, was ihm ermöglichen wird, Gottes Gerechtigkeit zu jubeln. In diesem Sinn wäre Ps 51,17 eine Fortsetzung des Abschlusses der Benediktion nach dem Schma‛ (Emet we-jatsiv): „Gepriesen bist du, GOTT, der Israel erlöst hat“.19 Die andere Möglichkeit, den Vers im Licht der ihm folgenden Zeilen zu lesen, wurde ebenfalls erwogen.20 In diesem Sinn bittet der Beter Gott, dass er ihm die Lippen zum Gebet in der Zuversicht, dass Gott an Schlachtopfern keine Freude hat und eigentlich „die Schlachtopfer Gottes ein zerbrochener Geist“ ist, öffnen möge. Wie die Gebete um die Schriftrezitation im Morgengebet drückt auch das Ende des Ps 51 die Hoffnung aus, dass das Gebet das eigentlich von Gott gewünschte Opfer ist. Er erwähnt Gott in der dritten Person. Wenn sich der Beter in den letzten beiden Versen wieder an Gott wendet, ist der Inhalt seines Gebets die Bitte um Wiederaufbau der Stadt Jerusalems und der an Gott gerichtete Ausdruck der Gewissheit, dass der in aller Ordnung eingerichtete Gottesdienst „gerechte Schlachtopfer“,21 die Gott sehr wohl gefallen werden, enthält. Die Bitte um Wiedererrichtung des Gottesdienstes in der Zukunft und die Gewissheit, dass er in der Gegenwart durch die Liturgie des Wortes ersetzt ist, kann sich auf denselben biblischen Text berufen. Die Struktur der fünften und siebzehnten Benediktion der ‛Amida transportiert ebenfalls den Gedanken der Substitution der Tempelliturgie durch das Gebet. In freier Assoziation der Prinzipien, die auch in mAv 1,222 enthalten sind, stellt die fünfte Benediktion Tora, Umkehr und Gottesdienst einander gegenüber.23 Dabei bleibt nach dem isoliert betrachteten Text der Benediktion noch unbestimmt, ob es sich bei der Bitte, Gott möge 19 20 21 22 23 Kimelman (1997, 126f Anm. 209), der das Thema „Befreiung“ in der ‛Amida untersucht, gibt eine Liste von Interpreten der ‛Amida, die den Vers in dieser Weise deuten. Kimelman (1997, 217 Anm. 211) zitiert Abudarham (verf. 1340), der sich seinerseits auf bBer 26b beruft. In Dtn 33,19 sind es die „Völker“, die diese Schlachtopfer auf dem „Berg“ darbringen. Die „Völker“ sind nach Raschis Pentateuchkommentar die „Völker der Stämme Israels.“ Er will offenbar eine Verbindung mit Mal 1,11 vermeiden. „Shim‛on der Gerechte … pflegte zu sagen: ‚Die Welt steht auf drei Dingen: auf der Tora, auf dem Gottesdienst und auf Werken der Barmherzigkeit.’“ Vgl. dazu Schreiner (1999) und die von ihm zitierten Belege, die im folgenden vorausgesetzt werden. mAv ist ein junger Text und die ihm vorgeschaltete Liste ihm gegenüber sekundär, vgl. Stemberger (1996). Er ist kaum als Quelle liturgischer Texte anzunehmen, wenn diese vor der Endredaktion der Talmudim entstanden sein soll. Das Logion kann der Liturgie aber aus anderen rabbinischen Quellen bekannt sein (yTaan 4,2 68a). Diese Analyse folgt Kimelman (1997, 188–190). 47 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge die Beter seinem „Gottesdienst näher bringen“, um eine erwünschte Restitution des Tempels oder die Bitte um Annahme der Gebetsliturgie anstelle der Opfer handelt. Ältere Versionen der ‛Amida erbitten von Gott in der siebzehnten Benediktion noch explizit die Restitution der Liturgie am Tempel.24 In diese Bitte ist in ihrer später üblichen Form zum Gottesdienst im Tempel der Hinweis auf das Gebet (der ‛Amida) interpoliert: „Möge dir, GOTT, unser Gott, dein Volk Israel und ihr Gebet gefallen. Restituiere den Gottesdienst zum Heiligtum deines Tempels. Nimm die Feueropfer Israels und ihr Gebet mit Gefallen an. Der Gottesdienst Israels, deines Volkes, möge immer25 zu deinem Gefallen sein. (Einschub: ja‛ale wejavo) Mögen unsere Augen deine Rückkehr nach Zion in Erbarmen sehen. Gepriesen bist du GOTT, der seine Shechina nach Zion zurückkehren lässt.“ Damit zeigt sich (synchron) in der ‛Amida dieselbe Dichotomie, die bei den Gebeten im Kontext der Lektüre der Opfergesetze zu sehen ist. Die Bitte um die Restitution der Tempelliturgie bleibt nicht isoliert, sondern wird durch das Bewusstsein um die faktische Ersetzbarkeit derselben erweitert. Dazu ist nachzufragen, wie diese Vorstellungen in den geistesgeschichtlichen Kontext des rabbinischen Judentums passen, bzw. ob sie sich selbst in einen historischen Rahmen dort einfügen lassen. Anmerkungen zu rabbinischen Quellen Die Bewegung der Rabbinen gewann erst nach und nach an Bedeutung innerhalb des Judentums26 und hat dabei auch Haltungen anderer (z. B. priesterlicher) Kreise übernommen. Die Rabbinen spielten zu Beginn der Zeit nach 70 in der Entwicklung der Synagoge und ihrer Liturgie nicht die wichtigste Rolle. So verbietet eine Baraita27 neben der Imitation (bzw. Rekonstruktion) von Tempelarchitektur in der Synagoge vor allem den Einsatz eines siebenarmigen Leuchters. Archäologische Daten (vor allem nach der Zeit der Tannaiten) und die Texte, die siebenarmige Leuchter verbieten, beweisen, dass sie sehr wohl üblich waren. Während die zur Aufbewahrung der Tora gehörigen Elemente der Architektur schon hinreichend an der Heiligkeit der Tora partizipierten, lag es für den Rest des Gebäudes (wie auch der Leuchter) nahe, in anderer Hinsicht Annäherungen an den Tempel zu versuchen.28 Die von der Tora abgeleitete Heiligkeit der Synagoge stand außer Frage. Die Meinungen zwischen den Rabbinen und anderen 24 25 26 27 28 48 Kimelman (1997, 190). Vgl. auch die ‛Amida aus der Geniza (seit 1898 mehrmals gedruckt, z. B. bei Elbogen 1993, 396 einfach zugänglich): „16. Möge es dir, GOTT, unser Gott, gefallen, dass du in Zion wohnen mögest und deine Diener dich in Jerusalem bedienen mögen. Gepriesen bist du GOTT, den wir dich in Furcht bedienen wollen“. Das Wort „bedienen“ (la‛avod) bezieht sich auf den (Gottes-) Dienst, ‛avoda. Kimelman übersetzt (1997, 190): „May the Tamid offering of the ‛avodah of Israel, Your people, be acceptable to You …“. Das Verb tehi stimmt grammatikalisch eher mit ‛avodat Jisrael als mit tamid überein. Damit wäre tamid als Adverb „immer“ und nicht als Substantiv „Tamidopfer“ zu übersetzen. Vgl. Elbogen (1993, 50). Vgl. Stemberger (1999). bRHSh 24af. Vgl. Fine (1998, 48f) für weitere Belege und eine Diskussion derselben. Fine (1998, 49). Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge geistigen Strömungen des Judentums gingen nur darin auseinander, ob und wie weit der Tempel als konkretes Vorbild für die Synagogen verstanden werden sollte. Die Tannaiten erklärten wenige und marginale Elemente der Liturgie durch deren (tatsächliche oder rückdatierte) Vorläufer im Tempel. Der Wunsch, dass der Tempel „rasch in unseren Tagen“ wiedererrichtet werde, findet sich selten und mitunter an Positionen im Text, die sie als spätere Zusätze erscheinen lassen.29 Mit SivDev 41 wird das Gebot von Dtn 11,13, Gott zu „dienen“, auf Torastudium und Gebetsgottesdienst (zitiert u. a. Ps 141,2) gedeutet. Ob die 17. Bitte der ‛Amida um Wiedererrichtung Jerusalems und Restitution der Liturgie des Tempels tatsächlich die Grundhaltung der tannaitischen Zeit ausdrückt, müsste daher detaillierter bewiesen werden.30 Die Sehnsucht nach der Wiedererrichtung des Tempels hielt sich in Grenzen und die Liturgie des Gebets wurde sorgfältig von zu viel Nostalgie dem Tempel gegenüber freigehalten. Die älteren rabbinischen Lehrer positionierten sich in großer Distanz gegenüber der Tempelliturgie. De facto konnte damit auch der höchste Respekt vor dem Jerusalemer Tempel aufrecht erhalten werden. Nach der Zeit der Tannaiten wurde das Verhältnis von Tempelliturgie und Gebet/Torastudium häufiger expliziert.31 Spätere Autoritäten erbitten daher im Gebet die Wiedererrichtung des Tempels (yBer 4,2 7d: Rabbi Jannai – bBer 44a: Rabbi Dimi). Gleichzeitig (Rabbi Pinchas als Tradent der Lehre von Rabbi Hoshaja) und im selben Traktat gilt der, der „im Bethaus das Gebet verrichtet als ob er ein reines Opfer (mincha) dargebracht hätte“ (yBer 5,1 8d).32 Ähnlich wie in der späteren Liturgie des Morgengebets und in den unterschiedlichen amoräischen Quellen verarbeitet PesK 6 aus der Tradition geerbte theologische Probleme und Desiderata im Kontext der Zerstörung des Tempels.33 Das Predigtkapitel geht von Num 28,2, dem Abschnitt über die Tamidopfer aus. Damit ist die Brücke zur Rezitation dieser Texte im Morgengebet geschlagen. Der Prediger weist zuerst entschieden und mit vielen Belegen den Gedanken, dass Gott Speise und Trank benötigt, zurück. Abschnitt 3 29 30 31 32 33 mTam 7,3: ein sekundärer Zusatz am Ende des vorletzten Abschnitts des Traktats? Analog dazu ist der Wunsch als letzter Satz von mTaan (4,8) belegt. Am Ende von Kap. 2 (9) von tRHSh ist der Gedanke im Namen von R. Jochanan ben Zakkai mitgeteilt. Vgl. Stemberger (2001, Kap. 1.1) und die Diskussion von mPes 10,6 dort. Die folgende Geschichte steht im Kontext des Verbots, am Shabbat in der Nacht Tora zu lesen. In tShab 1,13 ist nach dem [nicht vorsätzlichen] Neigen einer Lampe am Shabbat auf die Tafel des Tannaiten Jishma‛el Ben Elisha‛ geschrieben: „Er hat das Licht am Shabbat geneigt [damit ausreichend Öl an den Docht kommt]. Sobald der Tempel wiedererrichtet ist, wird er ein Sündopfer darbringen.“ Der Gedanke ist wohl im Irrealis des Eschatons gehalten (vgl. auch mMSh 5,2, bRHSh 30a und Paralleltexte). „Als ob der Tempel in seinen Tagen gebaut worden wäre,“ ist nach Rabbi Elazar der Zustand eines Menschen, der „Einsicht/Weisheit“ erworben hat (bBer 33a, bSan 92a). Vgl. Fine (1998, 50ff). Fine (1998, 52f). Die Diskussion um ein mögliches Echo der Politik Kaiser Julians in der rabbinischen Literatur bleibt hier unberücksichtigt (s. Stemberger 2001 im Druck, Kap. 2.5 und Schreiner 1999). Immerhin kann dadurch die Frage nach Restitution und/oder Substitution des Tempels näher zum Zentrum des theologischen und exegetischen Interesses gerückt worden sein. Vgl. Fine (1998, 86). Vgl. zu dieser Thematik in PesK Stemberger (2001 im Druck, Kap. 2.3). 49 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge beginnt damit, die doppelte Anordnung der Tamidopfer (Ex und Num) zu thematisieren. Die ersten beiden Erklärungen ordnen die Gebote verschiedenen Epochen der Geschichte Israels zu – der Text aus Num schärft danach jeweils ein, dass die in Ex gebotene Praxis des Tamid nicht aufgegeben werden soll. Über den Tempel wird dabei noch nichts gesagt – auch nicht über eine Zeit nach seiner Zerstörung. Sind die Tamidopfer also „für alle Generationen (ledorot)“ angeordnet? Ein Zitat der Mehrheitsmeinung leitet zur Spiritualisierung der Opfer über: „Die Rabbinen sagen: ‚Das eine für das Studium und das andere zur tatsächlichen Ausführung’“.34 Der Auftrag, die Opfergesetze zu studieren, ist danach keine Erfindung der Rabbinen nach 70, sondern von Gott selbst in der Tora positiv für alle Zeiten vorgesehen.35 Alternativ dazu sagt Rabbi Acha im Namen von Rabbi Chanina Bar Pappa: „Damit die Israeliten nicht sagen mögen: ‚Früher haben wir Opfer dargebracht und uns damit beschäftigt. Jetzt aber, da wir keine Opfer darbringen, wieso sollten wir uns mit ihnen beschäftigen?’, sagte der Heilige, gepriesen sei er: ‚Sobald ihr euch mit ihnen beschäftigt, ist es so wie wenn ihr sie darbringt.’“ Auf derselben Linie liegt auch die folgende Interpretation von Mal 1,11. Die Erwähnung des „reinen Opfers“ (das außerhalb Jerusalems technisch undenkbar ist) durch den Propheten beweist, dass das Studium der Opfergesetze als Ersatz für die Opfer im Sinn der heiligen Schrift ist. Das sechste Kapitel schließt (nicht in allen Textzeugen) mit einer Diskussion zwischen Mose und Gott, die in mehreren Schritten darauf hinausläuft, dass die vorgeschriebenen Opfer (vor allem das Tamid) mit ihrem tatsächlichen Wert weit unter der theoretisch vor Gott bestehenden Schuld liegen. Die Versöhnung mit Gott, die er an die Opfer gebunden hat, ist und bleibt daher sein Geschenk. PesK bricht damit den Gedanken einer mechanischen Verhältnismäßigkeit36 und damit einer sachlichen Notwendigkeit der Opferliturgie. Das Kapitel endet aber nicht mit den Aussagen über den Ersatz der Opfer, sondern – indem es in die Zeit des Mose zurückblickt – mit der positiven Feststellung der von Gott eingesetzten, bzw. gewährten, Bedeutung und Wirkung der Opfer. Die Rezitation der Opfertexte zu Beginn des Morgengebets und die später eingefügten Bitten um Restitution der Tempelliturgie und Annahme des Schriftstudiums anstelle 34 35 36 50 Mandelbaum (1962, 117f) erklärt in der Anmerkung den Unterschied aus der Formulierung der beiden Texte: Ex 29,38: „Das ist, was du auf dem Altar tun wirst (bzw. tun sollst)…“; Num 28,1: „Befiehl den Kindern Israels und sage zu ihnen…“. Num 28 enthält die explizite Aufforderung; Ex 29 einen Hinweis darauf, was in der Zukunft sein wird. Was nach 70 noch erhalten ist, wird in dieser Strategie (Suche nach Elementen der tatsächlichen Kontinuität) auch als das eigentlich wirksame Prinzip vor 70 gesehen. Den Versöhnungstag betreffend wird dieses Prinzip in tYom 4,16f, yYom 8,7 45c, ySan 10,1 27d, yShevu 1,6 33c ausgeführt: „Es gelten den Bock betreffende Bestimmungen, die nicht für den Versöhnungstag gelten und den Versöhnungstag betreffende, die nicht für den Bock gelten, wobei der Versöhnungstag ohne den Bock sühnt, aber der Bock nicht ohne den Versöhnungstag. Es gilt die den Bock betreffende Bestimmung, dass der Bock sofort sühnt; der Versöhnungstag aber erst, sobald es dunkel wird.“ Jenseits des Festtags selbst ist nach 70 nichts geblieben. Der Tag wird daher zum Wirkungsgrund vor 70 und der Bock zu einem vergleichsweise unbedeutenden Faktor, der die Versöhnung um ein paar Stunden nach vor verlegt. Vgl. Schreiner (1999, 385) und Stemberger (2001 im Druck, Kap. 4) darüber, dass das Torastudium als weit wirksamer als die Opfer erachtet wurde. Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge derselben sind durch Aussagen der rabbinischen Literatur gedeckt. Dasselbe gilt für die Gleichzeitigkeit dieser Aussagen. Ältere Autoritäten tendieren dazu, die Frage nicht zu explizieren. In amoräischer Zeit stehen beide Alternativen nebeneinander, ohne dass ein Widerspruch zum Thema der Erörterung gemacht würde. Dieser Umstand kann in unterschiedlichen Traditionsströmen liegen. Wahrscheinlich wurde die Widersprüchlichkeit nicht in der Schärfe gesehen, wie sie heute erscheinen mag. Das Morgengebet und die zitierten rabbinischen Texte zeigen, dass Restitution und Substitution viel näher beieinander liegen, als das auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Hoffnung auf die Restitution sichert die Notwendigkeit der Substitution und das Bewusstsein, dass die Liturgie angerechnet wird „als ob…“, garantiert gleichzeitig die Weiterwirkung der Liturgie in der Gegenwart und verhindert das selbstzufriedene Versinken im Provisorium. Zusammenfassung Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels bleibt in der jüdischen Liturgie ein Thema, das nicht mehr umgangen werden kann. Die unterschiedliche Deutung der Wichtigkeit der Tempelliturgie könnte historisch dadurch geklärt werden, dass der Wunsch nach Restitution der Tempelliturgie und die Gewissheit, dass sie in der Synagogenliturgie und im Schriftstudium längst ersetzt ist, verschiedenen Epochen oder Trägergruppen zugeordnet werden. Sie können aber in dasselbe theologische System integriert werden, indem durch die Bitte um Restitution der Tempelliturgie deren Unverzichtbarkeit und Unersetzbarkeit ausgedrückt wird. Diese Aussagen verhindern eine billige Nachahmung oder Kontinuität im Kleinen. An den Rändern der rabbinischen Literatur werden derartige Tendenzen sichtbar (und abgelehnt, wie zum Beispiel der Brauch, weiterhin Pesachtiere zu verzehren). Eine reguläre Wiederaufnahme der Opferliturgie wurde nie versucht und war immer unerwünscht. Die Hoffnung auf den eschatologischen Tempel verhindert de facto seine Wiedererrichtung. Gleichzeitig werden liturgische Institutionen der jeweiligen Gegenwart als Ersatz der Tempelliturgie oder sogar als dieser überlegen dargestellt und verstanden. Vorläufer der Institutionen der liturgischen Gegenwart wurden darum in der Zeit vor 70 gesucht oder dahin zurückdatiert, weil sie so selbstverständlich geworden waren, dass sogar die Liturgie des Tempels ohne sie als defizient erscheinen hätte können. Die Theorie des Ersatzes der Tempelliturgie bedarf der Korrektur durch diese eschatologische Perspektive. Wenn sich die gegenwärtige Liturgie als aus sich selbst wirkmächtige Erbin der Tempelliturgie versteht, verliert sie schließlich selbst an Dignität durch die implizite Herabminderung ihres Vorbilds und ihrer Vorgängerin. Aus diesem Grund bleibt die Betonung der prinzipiellen Unersetzbarkeit (durch die Bitte um Restitution) und der faktischen Ersetzung (durch die Bitte um Gewährung der Wirkungen der Tempelliturgie) auch weiterhin in einer Spannung bestehen, die nicht aufgelöst werden soll. Grundkurs Judentum Elbogen, I. 1993. Jewish Liturgy. A Comprehensive History. By Ismar Elbogen. Philadelphia – Jerusalem – New York. [Translated by R. P. Scheindlin. Based on the original 1913 German edition and the 1972 Hebrew edition edited by Joseph Heinemann, et al.] Falk. D. K. 2000. „Qumran Prayer Texts and the Temple“ In: D. K. Falk, F. G. Martínez, E. M. Shuller (Hgg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran. Proceedings of the Third Meeting of the International Organization for Qumran Studies. Oslo 1998. Published in Memory of Maurice Baillet. Leiden – Boston – Köln (StTDJ 35), 106–126. Fine, S. 1998. This Holy Place. On the Sanctity of the Synagogue during the Greco-Roman Period. 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Der Begriff synagogé freilich dürfte sich zuerst auf die Versammlung der Gläubigen und erst in zweiter Linie auf ein dazugehöriges Gebäude bezogen haben. Voll entwickeln konnte sich die Einrichtung der Synagoge erst nach der Zerstörung des Tempels (70 n.) in Jerusalem. Er war vor allem in der Zeit des Herodes Zentrum der jüdischen Glaubenswelt und - dies ist in dem hier untersuchten Zusammenhang von Bedeutung - ökonomisches Herz des Landes. 1. Der Tempel unter Herodes als ökonomische Größe und die Entwicklung bis zur Tempelzerstörung Unter Herodes dem Großen wurde nicht nur römische Kunst und Architektur aus dem Westen importiert. Auch seine Ökonomie richtete sich an Rom aus. Schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn war Herodes gezwungen, Antonius gewaltige Summen als `Geschenke' zur Erhaltung seiner Freundschaft zu überweisen. Beträchtliches Familienerbe sowie vor allem die Pacht der Balsampflanzungen bei Jericho und die der kyprischen Kupferbergwerke ermöglichte es dem Idumäer allerdings, diese Zahlungen mehr als zu kompensieren. Außer den Leistungen an römische Edelleute und an Familienmitglieder gab Herodes Unsummen für seine Prachtbauten aus, für das Herodium, den Hafen in Caesarea, die Zitadellen und die Paläste in Jerusalem und Masada, den Palastkomplex in Jericho, für Städtebauten, Wassersysteme und vor allem für den Bau des vielleicht imposantesten Gebäudekomplexes der damaligen Zeit, den Tempel in Jerusalem. Die Finanzierung solcher Bauten war nur unter der Auflage zahlreicher Steuern möglich.2 So betrug die Ertragssteuer für Agrarprodukte 1/5 bis 1/3 bzw. bei Früchten die Hälfte des Ertrags, dazu kam eine Bodensteuer, eine Kopfsteuer, Handels- und Gewerbesteuern und Zwangs`geschenke' zu bestimmten Anlässen. Eine der bedeutendsten Einnahmequellen war die Halbscheqelsteuer für das Heiligtum in Jerusalem. Sie war seit der Hasmonäerzeit zu einer jährlichen Abgabe gemacht worden, die von jedem Mann über 13 Jahren zu entrichten war. Der Scheqel zur Zeit des Herodes hatte den Wert einer Tetradrachme, die vier römischen Denaren entsprach. Die zwei Denare waren in tyrischem Standard zu entrichten. Als Tyrus 19 v. aufhörte, seine Münzen zu prägen, übernahm der Tempel in Jerusalem diese Aufgabe. Alle tyrischen Scheqel wurden fortan dort geprägt. Bei einer minimalen Schätzung der jüdischen Bevölkerung auf zwei Millionen ergäbe sich ein jährliches Einkommen von einer Million Denaren für den Tempel allein aus der Halbscheqelsteuer. Dies hätte nach der Schätzung 53 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge von Broshi3 etwa 10-15% der Einkommen des Herodes ausgemacht. Entsprechend der ideologisch unverdächtigen - Aussage von Scheqalim IV,2 konnte das Geld für Belange des Tempels aber auch für die Stadt im allgemeinen verwendet werden, für Aquädukte, Mauer- und Turmbauten u.v.m. Dazu kam, dass die große Zahl von Pilgern, die jährlich vor allem zu den Hauptfesten an den Tempel kam, Priesterabgaben, Geschenke und (Geld für) Opfertiere mitbrachte, die zum Reichtum des Tempels und dem der herodianischen Familie entschieden beitrugen. Neben der sozialen Dominanz des Tempels ergab sich ein weiterer konfliktträchtiger Spannungsbereich in dem Umstand, dass die herrschende `Klasse'4 in Judäa dem hellenistischen und römischen Kulturbereich nacheiferte. Davon zeugt bis heute, um nur ein Beispiel zu nennen, die erhaltene Einrichtung des sog. `Verbrannten Hauses' im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Bereits in der Hasmonäerzeit hatte sich Widerstand gegen deren Religionspolitik nicht nur aus Kreisen der Qumran-Bewegung geregt. Der Tempel und die Tempelverwaltung lagen in der Hand von Menschen, die für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung nicht legitimiert dazu waren. Diese Kritik kam zum einen aus der konservativen Ecke, wo man sich ein reines, unverfälschtes Priestertum an einem kultisch intakten Tempel erträumte, zum anderen aber auch aus jener Gruppe von engagierten Laiengelehrten, die eine Zukunft des Judentums weniger im statischen Vollzug des Opfergottesdienstes erblickte, sondern in der weiterführenden Beschäftigung und Auslegung der Tora. Weiters gab es in ihr sozialkritische Kreise, die sich nicht nur gegen die Ausbeutung durch Rom, sondern auch gegen die soziale und politische Vorherrschaft der Mächtigen in Jerusalem richtete.5 Es wäre vereinfachend, darunter jene Leute zu verstehen, die landläufig als `Pharisäer' in der wissenschaftlichen Literatur einen festen Platz haben, da eine Näherbestimmung bislang umstritten und eine eindeutige Zuordnung unmöglich ist.6 Sicherlich waren im Sanhedrin Pharisäer und Sadduzäer vertreten. Auch die Größe dieser Gruppe ist umstritten, ebenso ihre Einstellung zu Rom, die nicht einheitlich gewesen sein dürfte. Die rabbinische Bewegung nun war eine Sammelbewegung, die nach der Zerstörung des Tempels auch priesterliches Material aufnahm, das im Laufe der Zeit wieder stärker in den Hintergrund trat. Die Rabbinen einfach als Fortsetzung der Pharisäer zu bezeichnen, ist jedenfalls einseitig und nicht haltbar. Dies alles wirkte auf die Entstehung der Synagoge mit ein. Der Tempel als ökonomisches und kultpolitisches Zentrum des Landes hatte seine Bedeutung verloren. Die Opfertheologie wurde aufgehoben in der Auseinandersetzung mit den religiösen Schriften und Traditionen, die Macht der herrschenden Klasse am Tempel hatte schlagartig aufgehört. An Stelle des einen Zentrums Tempel entstanden viele kleinere Versammlungszentren oder wurden, falls sie schon bestanden, aufgewertet. Die Halbscheqelsteuer war nun nicht mehr an das Heiligtum, sondern direkt an den Kaiser zu entrichten. Neue Einflussbereiche taten sich auf. Für das einfache Volk ergab die Ablösung des Tempels durch den Synagogengottesdienst bedeutende Änderungen allein schon dadurch, dass es ab nun nicht mehr allein Sache einer besonderen Priesterklasse war, im Zentrum des Kultes zu wirken, während die Menschen in verschiedenen Vorhöfen in `gebührlicher' Distanz zu den Vorgängen im Heiligtum gehalten wurden. 54 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Die gesamte Versammlung der Gläubigen war nun an einem Ort konzentriert, nicht mehr geschieden in Priester und Laien, zumeist auch nicht mehr geschieden zwischen Männern und Frauen. Wie Brooten7 im 6. Kapitel ihrer Arbeit überzeugend nachweist, findet man in den wenigsten antiken Synagogen Hinweise auf eine Frauenempore oder eigene Abteilungen für Frauen. Die Synagoge demokratisierte Israel, sie entmachtete den Klerus und gab Verantwortung an Laienkräfte ab. Bevor ich über die Verantwortlichen handle, will ich jedoch noch einmal auf den Ursprung und die Bedeutung der Synagoge zurückkommen. 2. Die Diasporasynagogen und ihre Bedeutung Das älteste archäologisch belegte Gebetshaus8 befand sich nicht in Israel, sondern in der Diaspora. Es ist das von Delos auf den kleinen Zykladen, wo sich einst ein berühmtes Apolloheiligtum befand. Seine Entstehungszeit reicht in das 2. vorchr. Jh.9 Der Grundriss zeigt einen großen rechteckigen Saal, der mit Steinbänken umsäumt war. Im Süden befand sich ein Hof, vor dem Eingang ein Peristyl. Dieser Bau wurde im 1. Jh. v. verändert, indem man den Betsaal durch eine Mauer abteilte und an der Westwand einen Sitz - wohl für den Leiter des Gottesdienstes - errichtete. Es war ein typischer Profanbau im Stil eines Versammlungssaals. Es fehlen Hinweise auf eine besonders reichhaltige Ausstattung oder kultisch hervorgehobene Räume. Neben Gebetsräumen dürften diese Bauten auch Versammlungsplätze gewesen sein. Möglicherweise spielten sie auch eine Rolle als Gebäude für den Unterricht, waren aber kaum Ersatz für den Tempel in Jerusalem. In Jericho wurde erst vor kurzem die älteste Synagoge im sog. Hl. Land ausgegraben, die um etwa 75-50v. gebaut wurde. Viele, auch galiläische Synagogen sind im antiken Basilikastil erbaut, ebenso der Glanz der hellenistischen Diaspora, die Synagoge von Alexandrien, die 116 n., knapp 80 Jahre nach ihrer Erbauung, zerstört worden war. Von ihr heißt es in TSukka IV,6 (L 273)10: „Es sprach R. Jehuda: Jeder, der nicht gesehen hat die Doppelgalerie von Alexandrien in Ägypten hat nicht gesehen den Glanz Israels in seinem Leben. Sie war von der Art einer großen Basilika, eine Galerie innerhalb einer anderen. Manchmal gab es darin doppelt soviele (Menschen) als die, welche aus Ägypten auszogen, und 71 Throne aus Gold waren dort entsprechend den 71 Ältesten, jeder einzelne 25 Myriaden wert und eine hölzerne Bima in der Mitte. Der Chazzan der Gemeinde steht auf ihr, und Tücher11 sind in seiner Hand. (Irgend)Einer beginnt zu lesen, und dieser (der Chazzan) winkt mit den Tüchern, und sie antworten: Amen! auf jeden einzelnen Segensspruch; dann winkte jener mit den Tüchern und sie antworteten: Amen! Und sie saßen nicht durcheinander, sondern die Goldschmiede bei ihresgleichen, die Silberschmiede bei ihresgleichen und die Weber12 bei ihresgleichen, die Bergleute13 bei ihresgleichen und die Schmiede bei ihresgleichen. All das warum? Sodass, wenn ein Bedürftiger kam und seine Berufskollegen fand, er von dort einen Unterhalt bekam.“ Neben der religiösen Funktion, die aus diesem Text deutlich hervorgeht, kamen den Synagogen demnach auch soziale Aufgaben zu. Die in Zünfte gegliederte Bevölkerung saß entsprechend ihrer 55 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Berufsgruppe in je eigenen Abteilungen des Gebäudes, sodass ein vorbeiziehender arbeitssuchender Handwerker leicht während des Gottesdienstes Kontakte knüpfen und Arbeitsmöglichkeiten erkunden konnte. Eine weitere Funktion der Synagogen geht aus einer Inschrift, die in Kairo gefunden wurde, hervor, wonach der König Euergetes und seine Frau in der Proseuche Asyl gewährten (CPJ III 1449). Die Abfassungszeit der Inschrift ist umstritten, auch die Frage, um welchen Euergetes es sich handelt. Jedenfalls ist bislang schon die Bedeutung der Synagoge als soziale Einrichtung deutlich geworden. Die Beziehung zur heidnischen Umwelt war zumeist gut. Dies geht nicht nur aus den Ehrendekreten für Machthaber und Vornehme hervor, die man in den Synagogen aufstellte. Ehrenzeichen wie Kronen oder Kränze wurden an verdienstvolle Gönner oder den Kaiser verliehen. Kraabel betont die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in den Gemeinden wie Dura, Sardis, Ostia oder Delos und schreibt: „all four are relatively open communities, accustomed to new faces- -traders, travellers, soldiers, government officials--and to changes within their population.“14 3. Die Aufgabe der Synagoge Die Institution der Synagoge besaß neben den schon erwähnten weitere Aufgaben, die aufgrund des Materials zu eruieren sind.15 Dazu gehören: a) Funktionen als Bethaus b) Funktionen als Versammlungshaus c) Funktionen als Lehrhaus16 d) Die Einrichtung eines Gerichtshofes (Makk III,12 u.a.). Die Aufgaben dieses Gerichtshofes waren mannigfach und bezogen sich auch auf soziale Belange wie z.B. die Schätzung von Gütern, die einer geschiedenen Frau als Ketubba zustehen (Ketubbot XI u.ö.). e) Dort befand sich die Armenkasse17, wie aus einigen rabbinischen Quellen hervorgeht (TSchabbat XVI,22 L 79; TTerumot I,10 L 109; TBaba Batra VIII,14 Z 409 u.a.). Die Gemeinde unterstützte Arme und Waisen ebenso wie arme Bräute oder Frauen, deren Männer nicht in der Lage waren, für eine (standesgemäße) Versorgung zu sorgen. Auch die Bestattungskosten und die Auslösung von Gefangenen18 wurden im Bedarfsfall übernommen. Verantwortlich für die Armenversorgung waren eigens dafür vorgesehene Einheber und Verteiler (Pea VIII,7; Demai III,1 u.ö.). Verpflichtet zur Armenabgabe wurden alle Männer. Frauen, Waisen und Arme blieben ausgenommen. f) Man sammelte in ihr für den Tempel und g) konnte sie als Herberge verwenden, wie vor allem auch die Theodotus-Inschrift in Jerusalem bezeugt. Letzteres problematisiert ein Abschnitt des pT: Es wird gelehrt: Synagogen und Lehrhäuser, in ihnen soll man sich nicht unehrerbietig benehmen. Man soll in ihnen weder essen noch trinken; man soll in ihnen nicht herumlaufen; man soll in ihnen nicht schlafen. An Sonnentagen soll man sich nicht wegen der Sonne und an Regentagen nicht wegen des Regens betreten. Aber man darf in ihnen lernen und forschende Lehre betreiben. Rabbi Yehoshua`-ben-Lewi sagte: 56 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Synagogen und Lehrhäuser gehören den Gelehrten und ihren Schülern. Rabbi Hiyya (und) Rabbi Yassa empfingen in der Synagoge Besuch [oder: schlugen ihr Quartier in der Synagoge auf]. Rabbi Immi trug den Kinderlehrern auf: Wenn jemand zu euch kommt, der sich auch nur ein wenig in der Lehre auskennt, so sollt ihr ihn bei euch aufnehmen, ihn und seinen Esel und sein Gepäck (jMeg III,4(3)74a nach Hüttenmeister19 121). Immerhin geht auch aus diesem Text hervor, dass die Synagoge auch als Quartier für Durchreisende diente. Belege für den Aufenthalt in der Synagoge, für die Armenverpflegung dort und ihre Rolle als Unterstand für Obdachlose gibt es auch an anderen Stellen.20 Qidd 73b bezeugt, dass auch ausgesetzte Kinder in Synagogen aufgelesen wurden. 4. Stiftung von Synagogen Ein entscheidender Punkt bei der sozialgeschichtlichen Wertung des Synagogenbaus ist der Umstand, dass eine ganze Reihe von Gebäudeteilen, Mosaiken oder Inventar, gelegentlich sogar ganze Synagogen21 durch private Stiftungen22 ermöglicht wurden. Der älteste Beleg dafür stammt aus 37 v. und betrifft die Stiftung einer Synagoge in Alexandrien durch einen gewissen Alypos (CII 1432). Ich brauche hier nicht mehr im einzelnen auf die Texte einzugehen, da sie bereits mehrmals herausgegeben und behandelt wurden, so vor allem von Lifschitz23 und Chiat24. Ich beschränke mich daher auf einige wenige Beispiele: In der Inschrift der Synagoge von Stobi findet sich der Name des Stifters als „Klaudios Tiberios Polycharmos der auch Achyrios genannt wird“. Er behält sich vor, über alle Räume des Obergeschoßes für sich und seine Erben zu verfügen. Wollte jemand etwas daran ändern, müsste er an den Patriarchen 1/4 Million Denare zahlen. Mit dem Patriarchen tritt die höchste Autorität innerhalb des Judentums auf. Die Inschrift ist nach Hengel25 in das 3.Jh. zu datieren. Darauf verweist auch die Verpflichtung, eine so hohe Summe als Strafgeld bei Anfechtung des Besitzrechtes zu zahlen. Solche Zahlungen bewegten sich üblicherweise im Rahmen von 500-10.000 Denaren. Der Betrag von 250.000 Denaren könnte ein Hinweis auf die rapide Inflation am Ende des 3. bzw. am Anfang des 4.Jhs. sein. Erst Diokletian stabilisierte den Geldwert durch Einführung des Aureus und des Silberdenars. Anders als in den galiläischen Synagogen und in Alexandrien, Sardis oder Kapharnaum handelt es sich in Stobi nicht um eine Basilika, sondern um ein umgebautes Privathaus, wie dies auch für Delos und Dura Europos nachzuweisen ist. Auch die Synagogen von Priene und Ägina entstanden aus Privathäusern. Sie gingen durch Schenkung oder Kauf in den Gemeindebesitz über. Davon wie vom umgekehrten Fall, dass eine Privatperson eine öffentliche Synagoge erwirbt, berichtet auch jMeg III,1,73d. Zweifellos setzte die Stiftung einer Synagoge hohes gesellschaftliches Ansehen und beträchtliche Mittel voraus, sie bewirkte aber auch ihrerseits Anerkennung durch die Gemeinde. So erhielt die Stifterin der Synagoge von Phocaea in Ionien, Tation, einen goldenen Kranz und einen Ehrenplatz (CII 2, 738). Solche Ehrerweisung kam normalerweise römischen Statthaltern oder - wie in Alexandrien - gar dem Kaiser zu. Mit dem Ehrenplatz dürfte ein spezieller Sitz gemeint 57 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge sein, wie er auch in den Synagogen von Delos, En Gedi und Chorazim auftaucht. Auf Teos wird ein Synagogenvorsteher Proutioses und seine Frau Bisinnia Demo erwähnt, welche eine Synagoge aus eigenen Mitteln stifteten (CII II, 744). Im phrygischen Akmonia wurde die Synagoge von Julia Severa, einer wohl nichtjüdischen Gönnerin, in Auftrag gegeben (CII II, 766). Heidnische StifterInnen lassen sich nebenbei auch aus dem rabbinischen Schrifttum belegen, so etwa aus TMeg III,16 (L 352). In Berenike in der Cyrenaica werden einmal 55 n. 18 StifterInnen (Lifshitz 100) erwähnt. Die Stifterin Theopempte in Myndos wird in einer Inschrift aus dem 4. oder 5. Jh. (CII II, 756) als `Synagogenvorsteherin' postuliert, was mit Sicherheit mehr als einen Ehrentitel bezeichnet. Brooten26 widmet der Frage nach der inhaltlichen Füllung dieses Begriffes ein ganzes Kapitel. Darauf ist im folgenden Abschnitt über die Ämter daher nicht mehr näher einzugehen. 5. Ämter27: a) Der Pariarch28 Die Stellung des Patriarchen als größte weltliche Instanz innerhalb des Judentums ist umstritten und zeitbedingt unterschiedlich. Aus der schon genannten Inschrift von Stobi geht seine Bedeutung als Rechtsinstanz hervor. Aus einem Brief des Kaisers Julian (Stern II 486a) lässt sich entnehmen, dass der Patriarch zumindest zeitweise eine in der Folge der Halbscheqelsteuer auf dem Judentum lastende Abgabe kassierte. Das lässt sich auch aus dem Codex Theodosianus erheben (16.8.14,17,29). Unter Julian oder Theodosius I. stieg der palästinische Patriarch in den Rang eines Senators auf. Er trug von da an den Ehrentitel eines der `viri clarissimi et illustres'. Die Ausweitung der Befugnisse, die dem Patriarchen im Laufe des 4. Jh. zukamen, bezeugt ein Brief des Libanius (Stern II 504) aus dem Jahr 364 sowie vor allem einer des Epiphanius, der von der Autorität des Patriarchen über Synagogenvorsteher, Priester, Älteste und Chazzanim spricht (GCS 25.346). Weitere Zeugnisse brauchen hier nicht erwähnt zu werden. Cohen29 listet sie auf und kommt zu dem Schluss, äthat the patriarch did not have theoretical power over the synagogues of the Diaspora until sometime in the fourth century, probably the latter part of the century.”30 Stemberger urteilt, „dass der Patriarch im 4. Jahrhundert zur höchsten Gesellschaft gehörte; rangmäßig war er der bedeutendste Mann schlechthin in Palästina.“31 Palladius schreibt in seinem Dialogus de vita S. Joannis Chrysostomi 15 (PG 47,51) über die Unsitte des Patriarchen, jedes Jahr oder jedes zweite Jahr die Synagogenvorsteher zu wechseln, um Geld einzuheben. Diese polemische Aussage kann als Indiz für eine Autorität des Patriarchen über die nächstwichtige Gruppe der im Rahmen der synagogalen Verwaltung interessierenden Amtsträger(Innen) genommen werden. b) Die SynagnogenvorsteherInnen Zweifellos handelte es sich bei den SynagogenvorsteherInnen um InhaberInnen einer sozialen Position, die mit zahlreichen administrativen Belangen zu tun hatten, erschöpfte sich aber nicht darin. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass diese Aufgabe auch 58 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge spirituelle und intellektuelle Fähigkeiten voraussetzte, wie dies sogar polemisch Justin der Märtyrer in seinem Dialog mit Tryphon (137) unterstreicht, wenn er vor den verderblichen Lehren der Synagogenvorsteher warnt. Eine Gemeinde konnte mehrere solche Vorsteher(Innen) besitzen. Einerseits gibt es Belege über die Erblichkeit dieses Amtes (CII II, 584, 587, 1404), andererseits ist in manchen Regionen auch eine Wahl als wahrscheinlich anzunehmen. Als Aufgaben stellen sich nach CII 1404 die Verantwortung für den Lehrbetrieb und die Lesung der Tora. Nach Pes 49b handelt es sich bei den SynagogenvorsteherInnen selbst um Gebildete. Lehre und spirituelle Betreuung setzt auch Lk 13,10-17 voraus. Zusammen mit den Gemeindevorstehern sammelten sie Geld von der Gemeinde, welches - wie oben erwähnt - dem Patriarchen übersandt wurde (Codex Theodosianus 16.8.14,17). Aufgrund der Inschriften lässt sich die besondere Rolle der SynagogenvorsteherInnen bei der Stiftung von Synagogen hervorheben, was darauf schließen lässt, dass es sich um Mitglieder wohlhabender Familien handelte. Innerhalb der Hierarchie der Synagogenbediensteten dürften die SynagogenvorsteherInnen an der Spitze gestanden haben. Sie werden in den Inschriften als erste erwähnt (CII II, 766, 803). c) Die Ältesten Die Funktion der Ältesten der Synagoge, der Presbyteroi, differierte ebenfalls je nach Zeit und Ort. Sie können einzeln oder mehrfach in einer Gemeinde belegt sein. Neben Gemeindeaufgaben in der Verwaltung wie etwa der Mithilfe am Requirieren von Geld für den Patriarchen kamen ihnen auch religiöse Aufgaben zu. Qidd 32b definiert sie als Gelehrte. Taanit II,2 beschreibt den Ältesten als einen Mann, `der Kinder hat und dessen Haus leer ist'. Damit war zweifellos physische Armut gemeint. Bereits der pT verändert dies insofern, als er jetzt in jTaanit II,2,65b Haus und Feld besitzen soll, und in einer Baraita des bT (Taanit 16a) interpretiert man das leere Haus u.a. auf tadellosen Lebenswandel oder Sündenlosigkeit des Besitzers. Damit fällt der sozialgeschichtlich bedeutsame Hinweis auf die Armut der Ältesten. Doch auch der bT hat an derselben Stelle in einer Aussage des R. Jehuda den Hinweis auf die Armut des Ältesten bewahrt, wenn er ihn sagen lässt, dass der Alte sich auf dem Felde abmüht. Er beschreibt ihn als demütig und beim Volk beliebt aber auch als gelehrt in der Bibelauslegung und im Studium der Tradition wie der kultischen Segnungen. Aus dem Codex Iustinianus I.9.15 von 418 geht hervor, dass die Ältesten richterliche Aufgaben wahrnahmen. Sechs griechische Inschriften bezeugen weibliche `Älteste'.32 Der Patriarch, die SynagogenvorsteherInnen und die Ältesten waren aber nicht die einzigen wichtigen und auch kaiserlich privilegierten AmtsträgerInnen, denen etwa die römische Gesetzgebung die zeit- und geldaufwendige Teilnahme an den öffentlichen Ämtern, den munera corporalia, erließ. Entsprechend dem Codex Theodosianus 16.8.4 wurden auch Priester und `Väter der Synagogen' sowie weitere nicht näher genannte Synagogenbedienstete davon befreit. Priester(Innen) und `Väter' sowie `Mütter der Synagoge' treten auch in den Inschriften häufig auf. Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge d) Die PriesterInnen Die Priesterwürde bedingte auch nach der Zerstörung des Tempels noch eine Sonderstellung im Gottesdienst und Vorrechte, aber auch besondere Pflichten. Drei Inschriften belegen Frauen als PriesterInnen33, ohne dass die exakte Bedeutung klar wäre. Möglicherweise handelt es sich hier um Töchter oder Frauen von Priestern. e) `Väter' und `Mütter der Synagoge' Eine genaue Funktionsbeschreibung ist auch hier nicht möglich. Vielleicht handelte es sich nur um Ehrentitel. Es könnte sich der Terminus in seiner Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte verändert haben, sodass er später, wie dies auch der Codex Theodosianus nahe legt, eine bestimmte Stellung in der Synagoge umschrieb. Nach CII 533 aus CastelPorziano bei Ostia wird Livius Dionisius als `Vater' bezeichnet, der zusammen mit dem Gerousiarchen und einem sog. Antonius die Synagogengemeinde leitete. Er teilte dem Gerousiarchen Land für ein Familiengrab zu, was bedeutet, dass er Einfluss auf die Verteilung der Synagogengelder hatte. Auch hier bezeugen wieder sechs Inschriften aus Italien, die von `Müttern der Synagoge'34 sprechen, dass auch Frauen diese Ehrenstellung oder Funktion innehaben konnten. Neben den genannten Titeln spielten in der Synagoge noch andere Personen eine Rolle, die ich hier nur noch erwähne, ohne näher auf sie einzugehen. Da sind die Schriftgelehrten und Schreiber ebenso zu nennen wie der Chazzan, der neben kultischen auch richterliche Funktionen übernehmen konnte und dessen Stellung von Zeit zu Zeit variierte. Daneben existierten Synagogendiener und Schulklopfer, die zum Gottesdienst riefen. Synagogale Ämter müssen durch politisch-öffentliche Ämter ergänzt werden, ohne dass der Trennungsstrich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft immer exakt zu ziehen wäre. Genannt werden in der Diaspora die Archontes neben den Archisynagogoi. Diese Archontes bildeten die Gerousia einer Stadt. Ihre Zahl variierte je nach Größe des Gemeinwesens. Ein erhaltenes Dekret aus Berenike aus dem Jahr 55 n. (Lifshitz 100) sieht vor, dass die Namen derer, die an der Restaurierung der Synagoge beteiligt waren, in Stein gemeißelt werden sollen. Neun werden als Archontes bezeichnet, einer als Priester. In Berenike gab es offenbar neun Archonten, in Rom je einen pro Kongregation. Aufgabe der Archonten war u.a. auch die Getreideversorgung und die Regelung des Marktwesens. Nach jBer II,8,5c sitzt der Archon über einen Räuber zu Gericht. Demnach hat er hier die Funktion eines Ortsrichters inne. In Rom bildete die jüdische Gemeinschaft eine Vielzahl von Kongregationen, die nicht wie in Alexandrien in einer Verwaltung vereinigt waren. Nach Pseudo-Aristeas standen bereits an der Spitze der Alexandriner Politeuma des 3. Jhs. v. Presbyteroi und Hegoumenoi. Zur Zeit Strabos führte die Juden ein Ethnarch, der für die politische Führung, die Gerichtsbarkeit und die geordnete Beziehung zum heidnischen Staat verantwortlich war. Seine Rolle entsprach der des Archon einer unabhängigen Stadt. 6. Die soziale Position der Synagogenbediensteten und das Gelehrtenideal 59 60 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Aus den obigen Ausführungen geht eindeutig hervor, dass die verschiedenen Funktionen innerhalb der Synagoge zunehmend Personen innehatten, die erheblichen sozialen und politischen Einfluss genossen. Sie werden eindeutig zur Oberschicht gezählt haben. Dies geht aus den Weihinschriften oder den Bestimmungen des Codex Theodosianus ebenso hervor wie aus Bemerkungen der jüdischen Traditionsliteratur. Dennoch bezeugt gerade die rabbinische Literatur auch ein Ideal von Gelehrsamkeit, das sich mit redlicher schwerer Arbeit verbindet. So heißt es noch in Qohelet Rabba IX.9.1 (vgl. Qidd 30b), dass man Jose b. Meschullam und Simeon b. Menasia zur `heiligen Bruderschaft' rechnete, weil sie den Tag in Tora, Gebet und Arbeit gliederten bzw. nach anderer Ansicht im Winter Tora studierten, im Sommer aber Feldarbeit verrichteten. Dass Torastudium und `weltliche Beschäftigung' sich ergänzen sollten, war auch aus Abot II,2 bereits als Ideal bekannt. „Es gibt kaum ein Handwerk, das nicht von den Gelehrten ausgeübt wurde: Sie arbeiteten als Tagelöhner, Zisternengräber, Feldmesser, Siegelstecher, Schuster, Schneider, Bäcker, Schmied, Gerber, Müller, Zimmermann u.s.w.“35 Daneben berichtet die rabbinische Literatur jedoch auch von der Unterstützung der Gelehrten durch die Gemeinde, um diesen das Torastudium zu finanzieren. Die bekannte Stelle Ketubbot 62b/63a erzählt von der Frau des R. Aqiba, die diesem 24 Jahre lang das Studium ermöglichte. Als er als gelehrter Mann zurückkam, schenkte ihm ihr Vater, einer der reichsten Männer der Zeit, die Hälfte seines Vermögens. Die wirtschaftliche Not, der vermehrte Steuerdruck und die Missernten des 3. und 4. Jhs. stellten die Gemeinden auf eine harte Probe. Dieser Umstand ist unumstritten. Unterschiedlich allerdings wurde die Frage beantwortet, inwieweit die christliche Gesetzgebung des 4.Jhs. die freie Entwicklung der Synagoge beeinflusst und das soziale Umfeld verändert hat. Dieser Punkt sei hier abschließend noch kurz behandelt. 7. Die Baugeschichte als soziales Indiz für ein Miteinander von Juden und Christen Grundkurs Judentum man dies nach der Kirchenväterliteratur annehmen würde. Die kaiserliche Gesetzgebung hat ebenfalls kaum Spuren hinterlassen. Anders ist das Bild in der Diaspora. Johannes Chrysostomus sei als unrühmliches Beispiel des antijüdischen Ausfalles der Kirchenväter genannt. Nach seinem Tod enteignet der Patriarch Kyrill die Synagogen Antiochiens, vertreibt die Juden aus der Stadt und lässt die Plünderung ihres Eigentums zu. Abkürzungen: CII=Corpus Inscriptorum Iudaicarum. Recueil des iscriptions juives qui vont du IIIe siecle avant Jesus-Christ au VIIe siecle de notre ere par R.P. Jean-Baptiste Frey C.S.Sp. II: Asie-Afrique (Sussidi allo Studio delle Antichit… Cristiane III), Rom 1952. SEG = Supplementum Epigraphicum Graecum Stern= M. Stern (Hg.), Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, Jerusalem 1976 (I) 1980 (II). Anmerkungen: 1 2 3 4 5 6 7 Neuere Studien haben gezeigt, dass die `christliche Wende' unter Konstantin für das Judentum in Palästina keinen sozialen Einbruch bedeutete. Gerade das 4.Jh. zeichnet sich durch Bautätigkeit aus. „Die Baugeschichte deutet kaum eine Verschlechterung in der Lage der Juden an; vielfach folgen einander an derselben Stelle drei jedesmal größere und immer wieder umgebaute Synagogen. Die Gründe für das Verlassen von Meiron und die zeitweilige Räumung von Chorazin sind unbekannt. In Bet Schearim dürfte der Wegzug des Patriarchen daran schuld gewesen sein, dass man sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts an keinen Neubau mehr machte. Das Festhalten an einem einmal für eine Synagoge bestimmten Platz ist typisch. Es ist halakhisch bedingt, wurde aber auch durch die Umstände ermöglicht. Im Lauf der Zeit sind die Synagogen jedoch nicht nur vergrößert, sondern meist auch reicher ausgestattet worden. Es gibt keinen einzigen Beleg für die Umwandlung einer Synagoge in eine Kirche. Eine Ausnahme ... ist Gerasa, wo 530 über einer Synagoge aus dem 4. oder 5. Jahrhundert eine Kirche errichtet wurde. Vereinzelt wurden Synagogen später als Moscheen verwendet.“36 Das jüdisch-christliche Zusammenleben dürfte im Heiligen Land daher keineswegs so belastet gewesen sein, wie 61 Tempel und Synagoge 8 9 10 11 12 13 14 15 16 62 Vgl. K. Hruby, Die Synagoge. Geschichtliche Entwicklung einer Institution (Schriften zur Judentumskunde 3), Zürich 1971; J. Gutmann, The Origin of the Synagogue: The Current State of Research, in: The Synagogue: Studies in Origins, Archaeology and Architecture (The Library of Biblical Studies), New York 1975, 72-76; ders., Synagogue Origins: Theories and Facts, in: Gutmann J. (Hg.), Ancient Synagogues. The State of Research (Brown Judaic Studies 22), Chico 1981, 1-6; L. Levine, The Synagogue in Late Antiquity, New York 1987. Vgl. dazu A. Schalit, König Herodes. Der Mann und sein Werk (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums IV), Berlin 1969, 262-298. M. Broshi, The Role of the Temple in the Herodian Economy: JJS 38 (1987) 31-37. Vgl. zur herrschenden Klasse M. Goodman, The Ruling Class of Judaea. The Origins of the Jewish Revolt Against Rome A.D. 66-70, Cambridge u.a. 1987. Vgl. hierzu TMen XIII,21 Zuckermandel 533 über die Häuser der Hohepriester, die ihre Macht missbrauen, „weil sie Hohepriester sind und ihre Söhne Schatzmeister und ihre Schwiegersöhne Aufseher und ihre Knechte herauskommen und uns mit Stöcken schlagen.“ Vgl. dazu G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991. B.J. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues (Brown Judaic Studies 36), Chico 1982, . Allerdings ist hier nicht von einer Synagoge, sondern von einer Proseuché die Rede. Laut Gutmann (Anm. 1) hätten diese „different goals and functions that may be at variance with those of the synagogue...Whatever the proseuche was cannot be definitely ascertained. That it was not a synagogue, however, appears evident” (3). Inschriftlich kann man die Entwicklung der Synagoge allerdings noch weiter verfolgen (CII 1440; 1532A). Vgl. die leichten Varianten in jSukka V,1,55a; Sukka 51b. rdwS vom gr. Sudarion, lat. sudarium, was ein Schweißtuch bezeichnet. Eine Synagoge der Weber oder Tarsier erwähnen auch jScheq II,7(5)47a und Jeb 96b. ysrj kann sowohl den Bergmann oder den Kupferarbeiter bezeichnen. A. Th. Kraabel, Social Systems of Six Diaspora Synagogues, in: Gutmann J. (Hg.), Ancient Synagogues. The State of Research (Brown Judaic Studies 22), Chico 1981, 79-91, 86. Zu den rabbinischen Texten im Zusammenhang mit den Synagogen und Lehrhäusern in Israel vgl. die umfassende Zusammenstellung bei F. Hüttenmeister; G. Reeg, Die antiken Synagogen in Israel. Teil 1: Die jüdischen Synagogen, Lehrhäuser und Gerichtshöfe (Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. Reihe B [Geisteswissenschaften] Nr. 12/1), Wiesbaden 1977. So schreibt z.B. A. Th. Kraabel [The Diaspora Synagogue: Archaeological and Epigraphical Evidence since Sukenik, in: Haase W. (Hg.), Principat. Religion (Judentum: Allgemeines; Grundkurs Judentum 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Tempel und Synagoge Palästinisches Judentum) (ANRW II.19.1), Berlin-New York 1979, 477-510] über Sardis: „The building had three uses: religious services, education and community meetings” (487). Zur Armenversorgung schon S. Krauss, Talmudische Archäologie III (Schriften herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums), Leipzig 1912, 63-74; A. BenDavid, Talmudische Ökonomie I. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud, Hildesheim/New York 1974, 306ff. Vgl. dazu M. Hengel, Proseuche und Synagoge: Jüdische Gemeinde, Gotteshaus und Gottesdienst in der Diaspora und in Palästina, in: The Synagogue: Studies in Origins, Archaeology and Architecture (The Library of Biblical Studies), New York 1975, 27-54, 43f. F.G. Hüttenmeister, Megilla-Schriftrolle (Übersetzung des Talmuds Yerushalmi II/10), Tübingen 1987. Vgl. dazu u.a. S. Krauss, Synagogale Altertümer, Wien 1922 (repr. Nachdruck Hildesheim 1966), 192ff. Dies vor allem außerhalb Israels. In Israel selbst ist natürlich Theodotos zu erwähnen, der in Jerusalem eine Synagoge stiftete. Im 5. Jh. ließen Eustochios, Hesychios und Euagrios die Synagoge von Hulda bei Rehovot erbauen; möglicherweise wurden auch andere Synagogen durch Einzelpersonen gestiftet, so in Chorazin (Judan b. Ischmael), Kfar Bar'am (Eleazar bar Judan), Ammudim in der Nähe von Tiberias (Joezer und Simeon). In einer Reihe von Fällen zahlten mehrere Personen anteilig für den Bau einer Synagoge. In Eschtemoa, 15 km südlich von Hebron, stifteten der Priester Eleazar und seine drei Söhne einen Tremissis (1/3 Golddenar), also eine relativ kleine Summe. B. Lifshitz, Donateurs et fondateurs dans les synagogues juives. R‚pertoire des d‚dicaces grecques relatives … la construction et … la r‚flection des synagogues (Cahiers de la Revue Biblique 7), Paris 1967. M. J. S. Chiat, Handbook of Synagogue Architecture (Brown Judaic Studies 29), Chico 1982. M. Hengel, Die Synagogeninschrift von Stobi, in: The Synagogue: Studies in Origins, Archaeology and Architecture (The Library of Biblical Studies), New York 1975, 110-148. (Anm. 7). Vgl. Brooten (Anm. 7) 5-99; E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.- A.D. 135). A New English Version Revised and Edited by G. Vermes; F. Millar; M. Goodman, III.1, Edinburgh 1986, 87-107; Krauss (Anm.17) 102-198. Vgl. G. Stemberger, Juden und Christen im Heiligen Land. Palästina unter Konstantin und Theodosius, München 1987, Kap. IX. S.J.D. Cohen, Pagan and Christian Evidence on the Ancient Synagogue, in: L.E. Levine (Hg.), The Synagogue in Late Antiquity, New York 1987, 159-181, 170ff. Ebd. 174. Stemberger (Anm. 28), 194. CII 731c (Kreta); CII 692 (Thrakien); CII 581, CII 590 und CII 597 (Apulien); CII 400 aus Rom sowie SEG 27 (1977) 1201 aus der Tripolitania. CII 1514 (Tell el-Jahudije); CII 315 (Rom); CII 1007 (Bet Schearim). CII 166; CII 496; CII 523; CII 606; CII 619d; CII 639. Ben-David (Anm. 17) 316. G. Stemberger (Anm. 28), 130. Michael F. Mach „Etwas Tempel“ WuUdB (Der Tempel) 38-40 Viele betrachten das moderne Judentum als eine Neuschöpfung der rabbinischen Theologie infolge der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. Praktizierende Juden allerdings betonen eine andere Perspektive: Für sie ist das heutige Judentum keine 63 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge „Notlösung“ des tempellosen Volkes Israel, sondern gewachsener Teil einer 4000jährigen Geschichte. Trotz des historischen Abstandes hängen die früheren Zeiten Israels mit dem heutigen Judentum zusammen. Die Religion Abrahams und seiner Nachfahren, die erweiterte Offenbarung am Sinai unter Mose und die darauf folgende israelitische Geschichte sind so gesehen ältere Stadien jener Religion, die dann durch die Rabbinen fortgeführt wurde. In der Auseinandersetzung mit der rabbinischen Lehre wird dieses letzte Stadium bis heute aufrecht erhalten. So ergibt sich ein historischer Ablauf vom Urahn bis zur letzten Generation. Zwischen Wandel und Tradition Leider ist die konstruierte geschichtliche Kontinuität nicht in der Lage, wesentliche Elemente des gelebten Judentums zu erklären. Eine Reihe von liturgischen und geistesgeschichtlichen Elementen bleiben unverständlich, solange die Neuorientierung des seines Tempels beraubten Judentums nicht in ihrer vollen Bedeutung ernst genommen wird. Denn diese aufgezwungene Umstrukturierung greift wesentlich auf (früher) Vorhandenes zurück. Von daher geht es hier nicht darum, das völlig Neue im tempellosen Israel zu bestimmen, sondern das Gleichgewicht zwischen Tradition und Neuschöpfung auszuloten. Zunächst wird man sich zu vergegenwärtigen haben, daß die antike jüdische Tempelreligion nicht nur eine unter anderen Religionen war, die einen Tempelgottesdienst mit Opferkult voraussetzen: Das mag für die Epoche des ersten Tempels gegolten haben; aber mit der Rückkehr aus Babylon hat sich die jüdische Situation grundlegend verändert. Der zweite Tempel erhält innerjüdisch einen Rang von Einmaligkeit und Ausschließlichkeit, der sonst in der Antike nicht mehr zu finden ist. Ein ganzes Volk, schon damals über die bekannte Welt verteilt (nicht wenige Juden waren in Babylon geblieben und die hellenistische Diaspora entwickelte sich schnell über die bekannte Mittelmeerwelt hinaus) fand den Ausdruck seiner religiösen Definition in diesem Jerusalemer Tempel. Die problematische nationale Identität eines in der Zerstreuung lebenden Volkes wurde gestützt durch die religiöse, und beide hatten ihren Brennpunkt im Tempel. Mit der rigorosen Zentralisierung des Kultes hängt auch die Verschärfung monotheistischer Vorstellungen zusammen. Die Masse der jüdischen Bevölkerung jener Zeit verband den einen Gott mit dem einen Tempel und bezog aus beiden ihre Selbstdefinition. Zwar entstand im 2. Jh v. Chr. der Tempel Onias' IV. in Heliopolis sozusagen in Konkurrenz zum Jerusalemer, aber von den alexandrinischen Juden wird er nirgends erwähnt, was doch wohl als ein Indiz für die Ausschließlichkeit des Jerusalemer Tempels auch in den Augen der Diasporajuden zu werten ist. Erst wenn die Bedeutung des Tempels als sichtbare Ort für die Gegenwart des einen jüdischen Gottes in ihrer Tragweite für jüdisch Selbstbestimmung überhaupt erkannt worden ist, wird auch die Tragik der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. unter dem späteren römischen Kaiser Titus verständlich Der sog. 4. Esra, ein nicht-kanonisches Werk, das innerjüdisch verloren gegangen ist, aber von der Kirche wenigstens in Übersetzung bewahrt wurde, drückt die anfängliche Verzweiflung aus. Selbst dann bestand noch die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Verlorenen. Auch die Juden in der Zerstreuung 64 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge scheinen solche Hoffnungen gehegt zu haben. Die Aufständischen des Bar-Kochba (132135 n. Chr.) prägten Münzen, die nach den Jahren der Befreiung gezählt wurden. Es war offensichtlich eine Zeit der Hochspannung und der Erwartung eine erneuerten Tempels. Doch die Römer setzten derartigen Hoffnungen ein blutiges Ende. Die rabbinische Neuformulierung des Judentums In diesen bewegten Jahren hat das Judentum etliche Veränderungen durchgemacht, die bis heute prägend geblieben sind. Einige davon sind offensichtlich und d weithin bekannt, andere dagegen eher versteckt. Direkt nach der Zerstörung des zweiten Tempels gründete der berühmte Gelehrte Rabban Jochanan ben Sakkai in Jabne (Jamnia) ein rabbinisches Lehrhaus, das in den folgenden Jahrhunderten zur Grundlage für die rabbinische Akademie des Landes werden sollte. Wie zu erwarten, konnte sich die neue, rabbinische Führungsschicht nicht sofort durchsetzen - das zeigt schon der Bar-KochbaAufstand - aber hier wurde die Neuformulierung des Judentums wenigstens bewußt in Angriff genommen. Das Lehrhaus des Rabban Jochanan mußte seinen Standort mehrmals wechseln und gelangte schließlich nach Tiberias. Dort kodifizierte gegen Ende des 2. Jhs. ein späterer Lehrhaus-Vorsitzender, Rabbi Jehuda der Fürst, die mündliche Lehre: So entstand die Mischna. Dieses Stadium ist deshalb so entscheidend, weil sowohl die folgenden Generationen der rabbinischen Lehrer im Lande Israel als auch ihre Kollegen in Babylon diesen Kodex übernommen und weiter ausgelegt haben (die Auslegung ist in den beiden Talmuden zu finden). Spätere rabbinische Diskussion wird sich an dieser Auslegung orientieren. Die Mischna ist somit die erste rabbinische Sammlung der Neuformulierung des Judentums und zugleich die gemeinsame Ausgangsbasis für alle künftigen Generationen. Schon hier wird bewußt versucht, einige Bräuche des Tempelgottesdienstes in den tempellosen Alltag zu übernehmen. Rabban Jochanan ben Sakkai werden im Zusammenhang mit dem Neujahrsfest einige solcher liturgischer Änderungen zugeschrieben, die alle darauf hinauslaufen, Bräuche, die eigentlich Privilegien des Tempels waren, nun auch außerhalb desselben und z. T. sogar außerhalb Jerusalems zu begehen. Die neue Rolle der Synagogen Aus der Synagoge wird eine Art Tempelersatz, in den Worten der Rabbinen: „etwas Tempel“. Die Gebetszeiten entsprechen nun denen der festen Opfer, was sich beim Abendgebet (für das es kein paralleles Opfer gab) noch darin äußert, daß der Vorbeter hier das Kerngebet nicht Wort für Wort wiederholt; die Hallelpsalmen (113-118), die eigentlich in den Opfergottesdienst gehören, sind fester Bestandteil der Liturgie an Wallfahrtsfesten und Neumondstagen. Schon seit den letzten Jahrzehnten des bestehenden Tempels richten Juden ihr Gebet nach Jerusalem aus; der Toraschrank befindet sich an der nach Jerusalem weisenden Wand, und nicht wenige sehen in dem Pult, worauf die Torarollen zur Lesung gelegt werden, eine Art Altarersatz. Daraus könnte man schließen, der fehlende Tempelgottesdienst habe in der synagogalen Liturgie ein Äquivalent gefunden. Und doch bleibt die Liturgie der Synagoge kein Ersatz für den Tempelgottesdienst: Die Bitte um Wiederherstellung des Tempels ist Teil des dreimal 65 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge täglich zu rezitierenden Kerngebets; an den Tagen, für die die Bibel Zusatzopfer vor schreibt und an denen Juden entsprechend ein Zusatzgebet sprechen, wird die Bitte um Restitution des Tempelgottesdienstes ausführlicher formuliert (verbunden mit dem Wunsch, daran teilnehmen zu dürfen). Schon hier deutet sich also eine wesentlich tiefer greifende Folge der Tempelzerstörung an; sie führte zu einer gewissen Ambivalenz im Gesamtgefüge jüdischer Theologie: Einerseits wird ersetzt und übernommen, was immer ersetzbar und übertragbar schien, andererseits wird der Verlust weiter empfunden und beklagt. Zur letzteren Einstellung gehört wohl die Vorschrift, daß bestimmte Gegenstände, die eigentlich zum Tempel gehörten (wie die Menora oder der siebenarmige Leuchter), nicht nachgeahmt werden dürfen. Das Bedürfnis, den verlorenen Tempel im jüdischen Alltag zu bewahren, scheint aber noch weitere Folgen gehabt zu haben. Ein Beispiel: Am Anfang der Mischna steht die Frage, von welcher an Stunde das Abendgebet gesprochen werden darf. Die Antwort lautet dort: „Von der Stunde an, da die Priester eintreten, um von ihrer Hebe zu essen“. Der Bezug zum Tempelkult ist offensichtlich: Es geht um Priester, die kultisch unrein geworden waren und daraufhin ein Tauchbad nehmen müssen. Deren Reinheit folgt aber nicht direkt auf das Bad, sondern erst mit Eintreten des Abends mit dem Aufleuchten der ersten drei Sterne. Somit ist in der Regelung für den Tempel auch die Definition für den frühesten Zeitpunkt des Abendgebets enthalten. Die Schwierigkeit mittelalterlicher und neuzeitlicher Kommentatoren besteht in der Frage, warum die Mischna das so umständlich ausdrückte. Anscheinend liegt die Antwort nicht einfach in dem Wunsch, en passant noch eine weitere Vorschrift zu lehren, sondern vielmehr in der Absicht, auch das Abendgebet (für das es, wie gesagt, kein paralleles Standardopfer gab) in einen Zusammenhang mit der kultischen Praxis am Tempel zu bringen. Solche Zusammenhänge lassen sich an verschiedenen Stellen beobachten. Eine besondere Nuance erhält diese Suche nach Tempel-Analogien im jüdischen Alltag nach 70 besonders dort, wo die Mischna die Eheschließung als 'Heiligung' der Frau bezeichnet und die anschließende talmudische Diskussion die Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten dieses Akts gegenüber anderen 'Heiligungen' erörtert. Dabei handelt es sich etwa um Spendenversprechungen an den Tempel, wodurch der versprochene Gegenstand nun „geheiligt“, also dem Profangebrauch entzogen war. Diese Auseinandersetzung ähnelt auf den ersten Blick eher einer modernen philologischen Abhandlung über die Bedeutung des Terminus 'Heiligung'; aber im tieferen Sinne geht es hier darum, etwas von jener Heiligkeit des Tempels ins jüdische Familienleben zu übertragen und so das alltägliche Leben von dieser Heiligkeit regulieren zu lassen. Die Obsessivität, mit der die Rabbinen kultische Reinheitsvorschriften pflegen und diskutieren, hängt mit unserer Frage direkt zusammen, insofern ein Teil dieser Vorschriften ja ursprünglich dem Schutz des Tempels vor Profanisierung galt. Hier tritt wieder jene Ambivalenz zutage: Neben detaillierten Diskussionen über Vorschriften, die speziell den Tempel betrafen, werden auch solche behandelt, die unabhängig vom Opfergottesdienst im Alltagsleben geübt werden sollen. Die ausschließlich tempel-bezogenen Vorschriften werden studiert, damit man die Feinheiten nicht vergißt -in der Hoffnung, sie in Bälde im neu-errichteten Tempel wieder rite einhalten zu können. Auf dieser Basis versteht sich nicht nur die sechste Ordnung der 66 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Mischna (und daher der Talmude), sondern auch die Ordnung über Opfer-Vorschriften und der verhältnismäßig große Anteil, den die jeweiligen Opfergebote bei der Diskussion der Einzelgesetze jedes Feiertags einnehmen. Bis heute erinnert die Tora-Lesung einzwei Wochen vor dem Pessach-Fest den Juden daran, daß er sich kultisch zu reinigen hat in Vorbereitung auf die Darbringung des Opferlamms im Tempelvorhof. Für den ganzen Ritus der kultischen Reinigung fehlt nur ein wesentlicher Bestandteil: der Tempel! Man kann das bisher Gesagte vielleicht so zusammenfassen: Zum einen übernimmt die Erinnerung an den Tempel und die mit ihm zusammenhängenden Vorschriften weitgehend die Aufgabe des Tempels, Identität zu stiften, zum anderen bleibt gerade hier die Lücke besonders spürbar. Über derartige innere Spannungen hinweg stellt die Mischna nun aber auch eine bewußte Korrektur am jüdischen Geistesleben dar; nicht alle haben deren Grundlinien nachher geteilt. Es entsteht ein dialektisches Judentum, für das einige Grunddokumente bestimmte Ansichten vorschreiben, andere ausklammern; wo hingegen andere Strömungen sich diesen Vorschriften nicht unbedingt anschließen, um dann entweder auf dem Wege der Auslegung wieder in die offizielle Diskussion zu gelangen - oder aber für viele Generationen eine Rand-Existenz zu führen. Die Ambivalenz zwischen offizieller Theologie und unterschwelligen Strömungen bestimmt weite Teile des späteren Judentums und führt zu seiner Aufspaltung in die verschiedensten Gruppen. Polarisierungen der Hoffnung Ein markantes Beispiel hierfür ist die Erwartung des Messias. Wer die jüdische Literatur aus der Epoche des zweiten Tempels kennt, weiß um das stetige Ansteigen messianischer Erwartungen. Allerdings gab es auch die gegenläufige Tendenz. Die Führungsschicht sah messianische Erwartungen nicht nur deshalb mit Skepsis, weil diese ihre eigene Stellung gefährden könnten, sondern in erster Linie aus Sorge um den Bestand des Volkes. Es blieb die Spannung zwischen einem eher messianischen und einem messianisch reservierten, wenn nicht gar skeptischen Judentum. Für die messianisch Ausgerichteten wurde es bald zu einem Topos, daß der Messias unter anderem den Tempel wieder aufrichten werde. Erlösung ist hier die Wiederherstellung der natürlichen Einheit des Einen Gottes mit seinem Volk, versinnbildlicht im Gottesdienst des einen Jerusalemer Tempels. Diese zwiefache Einschätzung des Glaubens an den Messias erschöpft das Ausmaß an Mehrdimensionalität aber noch nicht: Die apokalyptische Literatur des Judentums aus der Zeit vor der Tempelzerstörung enthält u.a. Erzählungen vom Aufstieg des apokalyptischen Sehers in den himmlischen Tempel. Für die Apokalyptiker war damit sicher auch ein gewisses Maß an Kritik dem Jerusalemer Tempel gegenüber impliziert. Aber nach dessen Zerstörung verändern sich die wenigen erhaltenen Erzählungen vom Aufstieg der Visionäre zunächst dahingehend, daß aus den zwei Hallen des himmlischen Tempels sieben himmlische Sphären werden. Wenige Jahrzehnte danach setzt offenbar jene jüdisch-mystische Literatur ein, deren hebräischer Name (Hechalot) am besten mit „Palast-Mystik“ wiederzugeben ist: Die Mystiker betreten nun die sieben himmlischen Paläste. Und das hebräische Wort für „Palast“ (Hechal) ist biblisch zugleich eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen für den Tempel! Aus der Kritik am bestehenden Tempel ist eine mystische Sehnsucht geworden, die dem 67 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Gläubigen anbietet, Gott in seiner himmlischen Wohnstatt aufzusuchen. Das geschieht unter Rezitation mystischer Gesänge, die teilweise Eingang in die allgemein übliche Liturgie gefunden haben oder diese doch wenigstens an mehreren Punkten beeinflußten. An einer Stelle geht die Übernahme so weit, daß auch die christlichen Kirchen sich dem Gesang nicht haben entziehen können: Im „Sanctus“. Ursprünglich war das der himmlische Gesang der Seraphim und (in der liturgisch erweiterten Form, die wir heute kennen) auch der Cherubim. Die Apokalytiker maßten sich an, im Verlauf ihrer Himmelsreise auch dem dortigen Gottesdienst beigewohnt zu haben; dabei hätten sie sich am Gesang der Engel beteiligt. Häufig berichten diese Seher, daß die Engel den Gesang angestimmt hätten, nachdem Gott das Endgericht angesetzt habe. Noch heute findet sich das Sanctus daher in der jüdischen Liturgie direkt hinter dem Lob Gottes für die Auferweckung der Toten. So nimmt die Gemeinde am himmlischen Geschehen teil und erlebt il Vorwegnahme die endzeitliche Erlösung. Indem sie in der Synagoge jenen Seraphengesang rezitiert, den einst der Prophet Jesajah im Jerusalemer Tempel vernahm, macht sie aus dem Bethaus noch einmal „etwas Tempel“ und hofft, dereinst im wiedererrichteten Gotteshaus dasselbe Lob anstimmen zu dürfen. Synagoge im MA aus: Helmut Eschwege, Die Synagoge in der deutschen Geschichte, Dresden 1980, 17ff. ...Doch im Mittelalter wurde erneut im Judentum das uralte jüdische Verbot besonders der Darstellung von menschlichen Gestalten wirksam. War das Verbot im Altertum die Reaktion auf die Darstellung von »Götzen«, so im Mittelalter die auf das Christentum mit seinen vielfältigen Ikonen- und Heiligenbildern. In Deutschland waren aber noch im 12. Jahrhundert die Synagogen üppig ausgemalt: die alte Regensburger mit Tiergestalten, die in Meißen mit Bäumen und Vögeln, die Glasmalereien der von Köln zeigten Löwen und Schlangen. In dieser Periode zeigt sich die jüdische Kunst besonders in der Schrift, meist in Initialen, wie wir es von den alten Pergamentrollen kennen, aber auch in der Kalligraphie. Nach der Einführung des Buchdruckes wurde diese Kunst noch verstärkt. Besondere Mühe gab man sich bei der Gestaltung der ersten Seiten, bei dem Beginn einzelner Abschnitte und auch bei der Einbandgestaltung. Hierfür gab es besondere Handwerker. In den Ghettos des Mittelalters, in denen Buchdruckerwerkstätten bestanden, treffen wir bald Holzschneider, Kupferstecher und Radierer an, die illustrative Elemente wie Phantasieblumen und -pflanzen, Leuchter, Krüge oder Ornamente den jüdischen Schriften als Flechtwerk hinzufügen. Am üppigsten wurden die Pessach- Hagadah und das Buch Esther (Megillah) illustriert. Zur selben Zeit trifft man auch schon auf Kupferstiche mit dem Porträt Moses, die Zehn Gebote haltend. Wahrscheinlich eine Anlehnung an die schnell unter den Juden populär gewordene Moses-Skulptur von Michelangelo in der römischen Kirche S. Pietro in Vincoli. 68 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Dies alles hatte großen Einfluß auf die späteren Malereien in den aus Holz gebauten Synagogen des 17. und 18. Jahrhunderts in Polen, Litauen und Weißrußland, die sich dann in den Synagogen wiederfinden, die aus dem Osten zurückkehrende Juden in Deutschland errichteten. So finden wir Gerätschaften des ehemaligen Tempels dargestellt wie auch Papageien, Schlangen, Kamele und andere exotische Tiere aus dem alten Israel. Häufig ist auch die Darstellung von Zweigen des Lebensbaumes. Sie wurden in Phantasie-Ornamente verwandelt, die sich um einzelne markante Sätze aus den Gebeten und Segenssprüchen ranken. Verwendet wurden hierbei meist die Farben Ocker, Zinnober, Hellblau und Lila. Dieser Volkskunst widmeten sich im Osten nach Öffnung der Ghettos durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution einige Künstler und Grafiker, die Weltruhm erlangten, so Chagall, Lissitzky, Ribak, Nathan, Aronson, Kaplan und viele andere. Im mittelalterlichen Deutschland hatte man in der Synagoge zunächst einen gemeinsamen Betraum und errichtete erst später durch Ein- oder auch Anbau eine besondere Frauensynagoge. Ihr wurde nicht derselbe Grad der Heiligkeit zugesprochen wie der »Männerschul«. An vielen Orten besaßen die Frauen eine Vorbeterin, die durch ein kleines Fenster den Vorbeter der Männersynagoge beobachtete und so den Gottesdienst der Frauen leitete. Die Frauenschule war nicht Synagoge im eigentlichen Sinne. Sie hatte weder Bima, das erhöhte Pult, auf dem aus der Thora vorgelesen wurde, noch Aron, die Lade, in die diese hineingestellt wurde. Die Frauensynagoge war nicht selbständig, in ihr vollzog sich keine geschlossene religiöse Handlung; sie war im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Anhängsel der Synagoge. Die rituelle Handlung spielte sich in der Männersynagoge ab; der Gottesdienst der Frauen bildete eine unnötige und nicht wahrgenommene Begleitung. Als Raum war die Frauensynagoge völlig in sich abgeschlossen. Das Gestühl war hier gleich dem der Männersynagoge nach innen zentriert. Die Verbindung mit der Männersynagoge war also bewußt zerrissen. Befand sich der Betraum für die Frauen in der Synagoge der Männer, so wurde der den Frauen zugewiesene Teil durch immer dichter werdende Gitter oder gar Tücher künstlich abgeteilt. Die großen spitzbogigen Öffnungen der Männersynagoge in Worms, wie wir sie aus den Abbildungen der letzten Jahrhunderte kennen, sind ein Werk der Neuzeit. Zu jeder Synagoge gehörte ein Vorraum zur Vorbereitung bestimmter religiöser Handlungen. Hier befanden sich ein Becken zum Händewaschen, eine Lade zur Aufbewahrung zerschlissener Gebetbücher und dergleichen, ein Stuhl und ein Tisch zur Vorbereitung für die Beschneidung eines Säuglings. In den ältesten romanischen Synagogen Deutschlands waren die Thorarollen noch in Mauernischen untergebracht. Da die Thorarollen unter der Feuchtigkeit der Mauer litten, führte man hölzerne Laden ein, und schon um 1200 wurden Steinnischen nicht mehr gebraucht. Die Lade stand gewöhnlich an der Ostwand. Von früher Zeit an wurde auf die Gestaltung dieser Lade allergrößte Sorgfalt verwendet. Später wurde sie an der Ostwand so angebracht oder aufgestellt, dass man einige Stufen zu ihr emporsteigen musste. Vor der Lade hatte der Vorbeter seinen Platz. Inmitten der Synagoge, oft auch vor der Lade, stand erhöht das Pult (Bima oder auch Almemor), von dem aus die jeweiligen Abschnitte der Thora verlesen wurden. Die Bima war oft ein Meisterstück des 69 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Kunsthandwerkes, vielfach war sie aus kostbaren Hölzern oder aus Marmor hergestellt. Nachdem im 19.Jahrhundert der Raumersparnis wegen die Bima häufig beseitigt worden war, kam sie im 20.Jahrhundert wiederum zur Geltung. Die Bima war Mittelpunkt des Synagogenraumes. Die Vorgänge auf ihr und um sie sollten von allen Plätzen aus aufmerksam verfolgt werden können, entsprechend war das Gestühl um die Bima gruppiert. Sitzgelegenheiten gab es in der Synagoge des Mittelalters sicher ähnliche wie die uns aus den Abbildungen des 17.Jahrhunderts bekannten. Das sitzen auf dem Boden, wie es auf Miniaturen dargestellt ist, war eine orientalische Gewohnheit. Anfangs genügten Sitzbänke, mit der Verbreitung der Gebetbücher wurden auch Pulte notwendig. In allen neueren Synagogen war zumeist festes Gestühl angebracht. Es wurde allmählich entsprechend der langen Dauer mancher Gottesdienste -bequem gehalten. Die einzelnen Plätze im Gestühl waren oft durch Armlehnen getrennt. Unter dem Klappsitz oder unter dem schrägen Pult befand sich ein Kasten zur Aufbewahrung für das Gebetbuch und den Gebetmantel. Zu den notwendigen Einrichtungsgegenständen der Synagoge gehörten Lampen und Leuchter, da man trotz des natürlichen Lichtes aus Gründen der Feierlichkeit auch am Tage Beleuchtung für notwendig hielt; dem Herkommen entsprechend, brennen noch heute zwei Kerzen vor dem Vorbeterpult. In allen noch erhaltenen mittelalterlichen Synagogen und auch noch in der Neuzeit lief ringsum in etwa zwei Meter Höhe ein mit Stacheln versehenes Gesims zur Aufstellung der Lichter. Jüdische Rückwanderer aus Polen verpflanzten im 17. Jahrhundert Holzsynagogen mit ihren in Polen üblichen reichen Wand- und Deckenmalereien und zum Teil auch den Vierpfeilertypus nach Deutschland. In diesen Synagogen allein kam eine eigenständige jüdische Folklore zum Ausdruck. Die christlichen Gemeinden gestatteten den Juden Jahrhunderte lang keine monumentalen Synagogenbauten. Da der Talmud aber an einer Stelle vorschrieb, dass die Synagoge höher als die umliegenden Häuser gebaut sein müsse, forderten die Rabbiner die jüdischen Besitzer der umliegenden Häuser auf, ihre höheren Bauten abzutragen. Diese setzten sich jedoch mit dem Argument zur Wehr, dass im nördlichen und mittleren Europa die Dächer nicht wie im Orient flach seien, also kein Einblick in die Synagoge möglich wäre und somit der Gottesdienst nicht gestört werden könne. Um 1650 wurde es in Polen üblich, um den Vorschriften des Talmuds Genüge zu tun, am Dache der Synagoge eine Stange anzubringen. Diese Sitte hat in Deutschland, allerdings in künstlerischer Ausführung, Eingang gefunden. Aus dieser Zeit stammen die vorher nicht üblichen Dachverzierungen. Man sollte eigentlich annehmen, dass sich der Bautypus der Synagogen von jener ältesten Zeit bis auf unsere Tage historisch entwickelt habe, etwa analog den Gotteshäusern anderer Religionen. Eine fortschreitende Entwicklung des eigentlichen Synagogentypus ist indessen trotz einschneidender kultureller Veränderungen Jahrhunderte lang nicht wahrzunehmen. Erst mit der Emanzipation der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen sich gewisse Ansätze, die jedoch eher als Rückschritt denn als Weiterentwicklung der bis dahin typischen Anlagen der Synagogen zu bezeichnen sind. Für die stetige Entwicklung des Synagogenbauwesens fehlte aber auch die Zentrale, welche, analog der römischen Kirche, zu allen Zeiten Vorschriften erlassen konnte. Die 70 Grundkurs Judentum Tempel und Synagoge Zerstreuung der Juden, ihre wirtschaftliche Unsicherheit, der Mangel an dauernden wechselseitigen Beziehungen stellten sich einer stetigen Entwicklung störend entgegen. So konnte die synagogale Baukunst stets nur dann einsetzen, wenn ein mächtiger Patron das Bauen überhaupt gestattete. Da aber bereits der Nachfolger solcher Schutzherren oft eine den Juden feindliche Gesinnung zeigte, war eine Weiterentwicklung sodann vielfach ausgeschlossen. Erst nach der Emanzipation und nachdem alle einschränkenden Baugesetze für Synagogen weggefallen waren, setzte allgemein ein lebhafter monumentaler Synagogenbau ein. Zur gleichen Zeit baute man alte Synagogen aus, wobei durch Entfernen des Almemors viel Althergebrachtes zerstört wurde. Ein eigener Synagogenstil hat sich aber auch dann nicht entwickelt. Mit Beginn des 19.Jahrhunderts übernahm man allmählich den Grundriß christlicher Kirchen für den Synagogenbau. Was den Juden im Ghetto ihre Synagoge bedeutete, beschreibt Adolph Kohut in seiner »Geschichte der deutschen Juden«. »Von Gassen und Häusern umgeben, bildete die Synagoge auch für die gesamten Angelegenheiten der Gemeinde einen gemeinsamen Sammel- und Brennpunkt. Die Synagoge war das Zentrum des ganzen Denkens und Empfindens, aller Bestrebungen der deutschen Juden, dorthin zogen auch alle die zeitlichen Einflüsse und die sich immer erneuernden Eindrücke. Je nach den festlichen oder traurigen Ereignissen wurde der Gottesdienst und der Gebetsablauf verändert. Für Hochzeiten gab es besondere Gedichte und Gebete, die zu ihren Ehren eingeschaltet wurden. Wurde ein Gemeindemitglied ernstlich krank, so beteten alle für dessen Genesung. Leidtragende wurden von der Gemeinde ins Gotteshaus geleitet.« Den Juden des Mittelalters und der Neuzeit war ihre Synagoge nicht bloß der Ort des Gebetes, sondern, dem ursprünglichen Begriff der Synagoge entsprechend, Stätte des gesamten Gemeindelebens. Entsprechender Nebenraum war oft vorhanden. Hier amtierte die Gemeindeverwaltung, hielten die Rabbiner Gericht ab, erfolgten auf Verlangen der Regierungsbehörden Ankündigungen aller Art, auch die sie diskriminierenden Eide mussten hier von den Juden abgelegt werden. Ein Jude, der glaubte, dass ihm Unrecht geschehen wäre, und kein Mittel sah, zu seinem Recht zu gelangen, durfte den Gottesdienst unterbrechen, bis ihm Gerechtigkeit widerfahren war. Strenge Maßregeln waren getroffen, um hier Missbrauch vorzubeugen. Häufig bot die Synagoge auch der Schule Unterkunft, sie diente auch der Abhaltung politischer Versammlungen, Leichenfeiern und als Herberge für durchreisende Glaubensbrüder. Auch Kirchen waren nicht immer ausschließlich (dem Gottesdienst vorbehalten. Bis zum Konzil von Lyon 1274 wurden sie zuweilen auch als Verkaufshallen für Handelsmessen, für eine Königswahl und zuweilen auch für eine Gerichtssitzung genutzt. Aber das waren nur Ausnahmen. Die Synagoge hingegen betrachtete all ihre Funktionen als gleichberechtigt. »Vor der jüdischen Schul«, »vor dem jüdischen Gericht« und »in der jüdischen Schul« steht in den (Urkunden gleichwertig nebeneinander als auswechselbares Synonym. Selbst Ausweisungsedikte wurden, wie 1448 in Konstanz und 1498 in Nürnberg, den Juden in ihrer Synagoge kundgetan. 71 Grundkurs Judentum Talmud Talmud Wörtlich heißt Talmud soviel wie „Lehre“, eine Nominalisierung eines hebräischen Verbs mit der Wurzel lamad (Qal) = lernen bzw. limmed (Piel) = lehren. Er enthält die Mischna, die um 200 redigierte erste Sammlung jüdischen Wissens nach der Bibel, und die Gemara, den dazu gehörigen Kommentar. Gemara bedeutet ebenfalls „Lehre“, ist vor allem aber aufgrund der Sprachwurzel „gamar“ als Vervollständigung und Vervollkommnung der Mischna zu verstehen. Dabei ist wohl weniger gemeint, dass die Gemara die Mischnakommentierung abschließt, weil im Judentum Kommentar immer wieder neuen Kommentar nach sich zieht, sondern eher der Umstand angesprochen, dass erst die Kommentierung eine Aussage, eine Schrift, eine Lehrmeinung, vollständig und vollkommen macht, also in ihrem Sinngehalt ausschöpft. Der Talmud ist daher von seinem Ansatz her nicht eine abgeschlossene und in sich ruhende endgültige Lehräußerung, er ist vielmehr die beständig neu zu interpretierende und auf den jeweiligen Sachverhalt hin auszulegende Basis. Mischna + Gemara = Talmud. Der sog. Palästinische Talmud oder Jeruschalmi (aufgrund seiner in Jerusalem angesetzten Abfassung) kommentiert nur etwa 39 von insgesamt 63 Traktaten. Er ist insgesamt die wesentlich kürzere und auch unbedeutendere Version des Talmud, weshalb man üblicherweise beim Begriff Talmud an den babylonischen denkt, den man kurz Bavli nennt. Der babylonische Talmud wiederum kommentiert auch nicht alle Mischnatraktate, nur 36,5. Wesentliche Teile fehlen also auch hier, was unterschiedliche Gründe hat. Der babylonische Talmud entsteht im heutigen Irak in einer sehr langen Zeitspanne. Das genaue Datum des Abschlusses des Talmud ist unklar, aber wir können mit einer Zeitspanne der Talmudwerdung vom 3. Jh. bis ins 8. Jh. (Ibn Daud, Saboräer bis 689) rechnen, wobei Drucker und Abschreiber den Text noch bis ins 19. Jh. hinein korrigierten und veränderten, sodass wir eine endgültige Form des Textes erst vor knapp 200-150 Jahren annehmen müssen. Fast 6000 Seiten Folio sind entstanden. Sie enthalten alles den Rabbinen in Babylonien wichtige Material und beschränken sich keineswegs nur auf die Kommentierung der Mischna. Insgesamt kann man mit Günter Stemberger eher von einer Enzyklopädie sprechen. Neben ausführlichem Material zu den jüdischen Gesetzen finden sich darin Legenden, Anekdoten, Wissensstoff aus allen wichtigen Disziplinen wie der Mathematik, Biologie, Medizin und vieles mehr, ein Traumbuch (Ber 55a-57b), ein Traktat über Wunder und Visionen (bBB 73a-75b), historische Erinnerungen etc. Dabei wurde viel Material aus dem sog. Westen, also aus Palästina, übernommen und verwertet, sodass sie im babylonischen Talmud auch eine Fülle rabbinischer Aussagen zu Palästina/Israel finden. Natürlich reflektiert man auch über die Beziehung der Juden zu Rom, dem großen Weltreich, das mit den Persern über Jahrhunderte in einem meist sehr gespannten Verhältnis stand. Der Talmud selbst bietet oft eine lange und komplexe Argumentationslinie, die es eigentlich verbietet, einzelne kurze Abschnitt aus dem Kontext zu reißen. In jedem Fall wird die Aussage verkürzt und der Gesamtzusammenhang gerät aus dem Blick. Es 72 Grundkurs Judentum Talmud Grundkurs Judentum empfiehlt sich in jedem Fall, immer den gesamten Abschnitt, die sog. Sugia, zu lesen und die darin enthaltenen Aussagen auf ihre Bedeutung im Kontext zu prüfen. Dann werden auch die vielen Missverständnisse und Irritationen weniger werden. Allerdings bedarf es dazu eines gewissen Vorwissens und eines Einlassenkönnens auf die rationale und komplexe Denkwelt mit ihren vielen Assoziationen zu Bibeltext, Praxis, Hintergrundwissen und beständiger Verweistechnik auf andere Stellen im Gesamtwerk. Nicht umsonst lautet einer der großen Grundsätze der rabbinischen Schriftauslegung, dass es kein Vorher und Nachher in der Tora gebe (bPesachim 6b und öfter). Alle Texte sind Teil eines großen Gewebes und können aufeinander bezogen, miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die zeitliche Abfolge ihrer Abfassung ist dabei nebensächlich, wenngleich sie nicht immer vernachlässigt wird. Im Mittelpunkt aber steht für den Talmud der Text als Sinngefüge, das im Hier und Heute Geltung und Bedeutung gewinnen muss. Einige wichtige Grundlagen des talmudischen Denkens: 1. Es handelt sich um die Sammlung von Wissen zu allen Lebensbereichen, um Juden eine jüdische Weltsicht zu ermöglichen und zu jeder Frage aus jüdischer Sicht diskutieren zu können. 2. Die Peripherie, die „Minderheit“, rückt ins Zentrum, betrachtet die Welt mit ihren Augen, wodurch die „Mehrheit“ zur „Um“-Welt wird. Auf diese Weise wird Geschichte der beherrschenden Kulturen mit einer Gegengeschichte interpretiert und relativiert. 3. Jüdische Identität wird durch Abgrenzung von den anderen Kulturen und noch stärker durch inhaltliche Beschreibund des „richtigen“ Judentums und Sinngebung definiert. Diese besteht in erster Linie a) im Studium der Tora b) in der Heiligung des Alltags Bruchlinien verlaufen hier auch gegenüber innerjüdischen Gruppen. 4. Juden wird eine Existenz in der Diaspora ermöglicht. Israel rückt als souveräner Staat in die Ferne. Erst der Messias wird Israel wieder in jüdische Hand geben. Die nur in Israel durchführbaren Gebote (landbezogene Gebote wie Eckenlass, Zehnten etc.) werden durch das Studium der dafür vorgesehenen Perikopen ersetzt. 5. Der Talmud rückt die rabbinische Existenz in den Mittelpunkt. Nicht mehr König, Krieger, Prophet, sondern der Toragelehrte beherrscht die gesellschaftliche Realität. Wissen ist Macht, die aber nicht missbraucht, sondern segenbringend eingesetzt werden soll. 6. Mit den herrschenden Mächten und Kulturen ist friedvoll umzugehen. Vor Aufständen wird gewarnt. Die Tora ist das portative Vaterland des Judentums und seine Stütze über die Zeit. Alfred Bodenheimer Das erste Gebot Eine exegetische Annäherung an das jüdische Verständnis des Monotheismus: in: Johannes Schaber (Hg.), Gemeinsame Wurzeln. Der Gottesglaube im Judentum, Christentum und Islam (Schriftenreihe der Ottobeurer Studienwoche 3), Leutesdorf 2002, 13-29. „Anochi Haschem Elokecha ascher hozeticha me’erez mizrajim mibeit avadim.“ „Ich, J-h-w-h bin dein Gott, als welcher ich dich aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, aus dem Hause von Knechten.“ So lautet, im hebräischen Urtext bzw. in der Übersetzung des namhaften Bibelforschers Benno Jacob in seinem Exodus-Kommentar, der Vers 2.B.M. 20,2. Dieser Vers ist nach der jüdischen Überlieferung für sich allein genommen das erste der Zehn Gebote. Daß sich die jüdische Lesart damit von den (unter sich wiederum unterschiedlichen) Lesarten der christlichen Konfessionen unterscheidet, ist offensichtlich und wird gegen Ende dieses Beitrags noch eingehender zur Sprache kommen. Zunächst einmal aber läßt sich festhalten, daß dieser jüdischen Lesart zufolge das erste Gebot gar kein Gebot ist oder zumindest nicht so aussieht. Es besitzt weder einen positiv noch einen negativ formulierten Imperativ. Es ist eine Aussage. Aber was für eine Aussage? Steht irgend etwas darin, was wir nicht von der Toralektüre schon wüßten oder was zum Verständnis der folgenden neun Gebote (oder Aussagen) beiträgt? Diese Grundfrage nach dem Neuen, Notwendigen, Nicht-Redundanten eines Verses, eines Worts oder auch eines Buchstabens in der Tora ist die Urfrage der jüdischen Exegese, welche die Heiligkeit des Textes letztlich an seiner durchgehenden Befragbarkeit festmacht. Der Talmud erklärt, nur das erste und das zweite Gebot, in welchen Gott in der ersten Person spricht, habe das Volk von Gott direkt vernommen, den Rest habe Moses ihm übermittelt. Gershom Scholem überliefert dazu den Gedanken des chassidischen Rabbis Menachem Mendel von Rymanow, Gott habe überhaupt nur das unvokalisierte Alef von Anochi gesprochen, also einen stummen Kehllaut, der für sich allein gar kein Laut ist.1 Der in Jerusalem lehrende Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès meint dazu in einem Aufsatz, die göttliche Stimme offenbare sich nach dieser chassidischen Version „comme une pure promesse de sens“, wie ein reines Sinnversprechen. Die Offenbarung in sich, so Stéphane Mosès, sei eine Leere, die sich nur über die Interpretation erschließen läßt.2 Die Kontraktion des selbst ausgesprochenen „Ich“ Gottes auf das Alef verdeutlicht ebenfalls, daß hier das Volk Israel mit etwa konfrontiert wird, das ursprünglicher noch ist als die Schöpfung. Der Schöpfungsbericht beginnt mit dem hebräischen Wort „bereschit“ (im Anfang) und damit mit dem zweiten Buchstaben des hebräischen Alphabets, Bet, während die Offenbarung mit dem ersten, Alef, beginnt. Was sich am Sinai offenbart, 1 2 73 Das erste und zweite Gebot 74 Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, 47f. Stéphane Mosès: L’éros et la loi. Lectures bibliques, Paris 1999, 82f. Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot war vor der Schöpfung da, und die Gebote, die folgen werden, die Eltern zu ehren, nicht falsch zu schwören, sich nicht an seinem Nächsten zu vergehen, sind nicht gesellschaftliche Konventionen zwischen Mensch und Mensch oder mythisch verbrämte Rituale zwischen Mensch und Gott, sondern der Dekalog ist der Schöpfung inbegriffen, bzw. ihr vorausgesetzt. Wer die Gebote verletzt, handelt gegen den Sinn der Schöpfung selbst, ja, gegen den Sinn, der der Schöpfung vorausging.3 Doch bevor wir uns weiter, und ausführlicher, mit diesem ersten Wort der Zehn Gebote beschäftigen, soll der Satz als ganzer in seinen Elementen betrachtet werden, und zwar von hinten nach vorne. Denn es scheint, daß so das Gewicht, das auf dem göttlichen „Ich“, dem hebräischen „anochi“, liegt, noch deutlicher gemacht werden kann. In der zitierten Übersetzung Benno Jacobs wird „mibeit awadim“ übersetzt mit „aus dem Haus von Knechten“. Wie bei jeder Übersetzung unvermeidlich, ist dies eine Entscheidung für eine Sinnoption. Dass es in diesem Falle zwei solcher Sinnoptionen gibt, darauf hat bereits Raschi (Akronym für Rabbi Schlomo ben Jitzchak, 1040-1105), der bis heute im jüdischen Bibelstudium wichtigste Kommentator, aufmerksam gemacht: Entweder: Aus dem Knechthause, also jenem Haus, in welchem du geknechtet warst, oder eben, wie Jacob übersetzt: Aus dem Haus von Knechten, wo du selbst Knechten dientest. Die beiden Aussagen sind grundverschieden, aber nicht unvereinbar: Nach der ersten Aussage wird die Befreiungstat des Exodus ins Zentrum der göttlichen Offenbarung gestellt. Israel würde nicht dort stehen, wo es zum Zeitpunkt der Offenbarung steht, es würde über kurz oder lang gar nicht mehr existieren, wenn es aus der Knechtschaft nicht befreit worden wäre. In diesem Fall ist „mibeit awadim“ untrennbar von „als der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten“. Es soll Israel in Erinnerung rufen, daß es eben nicht die Fleischtöpfe und das Gemüse waren, die im Zentrum des Aufenthalts von Ägypten standen, sondern schwere Fronarbeit, gepaart mit systematischem Mord an (männlichen) Kindern, wie ihn Moses durch die List seiner Mutter und der Vorsehung im berühmten pechbestrichenen Weidenkörbchen auf dem Nil überlebt hat. Aus diesem Schicksal herausgeführt zu sein, bedeutet auch, für Gottes Stimme und seine Offenbarung empfänglich zu sein. Die andere Interpretation, „aus dem Haus von Knechten“, deutet darauf hin, daß, wie der zionistische Publizist Achad Haam (Pseudonym für Ascher Ginsberg) sich einmal ausgedrückt hat, auch die Geistlichen, die Galilei Galileo davon abbrachten, seine These zu verkünden, sich dennoch zur selben Zeit ebenfalls auf der Erde um die Sonne bewegten. Auch Ägypten, das nicht an Gott glaubt, besteht demzufolge aus Knechten Gottes. Aus der Perspektive unserer Zeit, die anthropologische und psychohistorische Forschungen über das Entstehen von Religion und die Konstruktion von Gottesbildern anstellt, mag im Anspruch Gottes, über andersgläubige Völker ebenso zu herrschen wie über das von ihm auserwählte, der indirekte Weltherrschaftsanspruch eines de facto nie sehr mächtigen Volkes stecken. Sigmund Freud hat im jüdischen 3 Im Babylonischen Talmud, Traktat Pessachim 54a wird die Tora als erstes von sieben Dingen genannt, die vor der Schöpfung geschaffen wurden (was heissen soll: ohne welche die Schöpfung a priori keinen Bestand hätte). 75 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Auserwähltheitsgedanken Überreste eines solchen Anspruchs zu entdecken vermeint. Doch so ist diese Auslegung kaum gemeint. Vielmehr wird die Welt hier einer einheitlichen Ordnung unterworfen, die an und für sich mit den Ansprüchen des Volkes, zu dem Er hier gerade spricht, nichts zu tun hat. Ägypten steht für alle Länder, sie alle sind „Häuser von Knechten“ Gottes, mit oder ohne ihr Wissen. Diener Gottes ist, so lautet die Quintessenz dieser Deutung, nicht nur, wer Ihm dient. Gehen wir im Wortlaut des ersten Gebots einen Schritt weiter zurück, stossen wir auf die Singularisierung des Angesprochenen, die die ganzen Zehn Gebote hindurch vorherrscht: „Dein Gott, als der Ich dich hinausgeführt habe“. Zum Kern der Liturgie am Sederabend, dem ersten Abend des Pessachfestes, wo die Erinnerung an den Exodus im Zentrum steht, gehört die Forderung, jeder einzelne in jeder Generation habe sich zu betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen. Dasselbe liesse sich hier vorbringen: Jeder einzelne, in jeder Generation hat als aus Ägypten Geführter auch die Offenbarung erlebt. Die berühmte rabbinische Meinung, wonach alle Seelen des Volkes Israel, auch die Seelen der noch nicht Geborenen, bei der Offenbarung anwesend waren, stützt diese Idee. Doch auch das Gegenteil wird hier ausgedrückt: Gott spricht zu einer Generation, die den Auszug erlebt hat, die sich nicht in einem auf alle Zeiten erstreckten Kollektiv wiederfinden muss, sondern das konkrete, erst einige Wochen zurückliegende Ereignis des Exodus nun mit dem verknüpfen soll, was kommt: Dem Gesetz. Die späteren Generationen, die das lesen, finden sich in der doppelten Rolle wieder, späte Zeugen eines historischen Akts und selbst in diesem Akt Angesprochene zu sein, und der einzelne Nachgeborene empfindet diese Doppelheit sehr viel stärker, als wenn er sich symbolisch einem „ihr“ subsumieren kann oder soll. Doch das tiefste Geheimnis des Du in den Zehn Geboten liegt wohl wiederum im göttlichen Ich, zu dem wir uns nun weiter rückwärts durchkämpfen. Wieso, fragt es sich deshalb weiter, identifiziert sich Gott gerade als jener, der uns aus Ägypten geführt hat? Aus der Sicht des am Sinai angesprochenen Zeitgenossen ist dies verständlich. Gott verweist auf eine Erfahrung, die der Angesprochene mit diesem Moment verbinden kann. Er verweist auf die Einlösung des Bundes mit Abraham, dem er die Knechtschaft seiner Nachkommen vorausgesagt und ihre Befreiung versprochen hat. Der am Sinai Angesprochene weiß also, mit wem er es zu tun hat – oder eben nicht. Wiederum ist es Raschi, der darauf verweist, daß Gott dem Volk seine unterschiedlichen Erscheinungsweisen klar machen muss. Der ‚gewaltige‘ Sturm- und Naturgott, der wenige Wochen zuvor das Meer geteilt hat, ist identisch mit dem ‚weisen‘ Gott der Lehre und des Gesetzes, der jetzt spricht. Die Unmöglichkeit, Gott finale Eigenschaften zuzuschreiben, wie das bei jeder funktionsbestimmten Gottheit der polytheistischen Kultur notwendigerweise geschieht, erfährt hier ihre Grundlage. Die Selbstdefinition Gottes durch seine Taten bestimmt sein Bild auf dreierlei Weise: Erstens setzt sie natürlich ein Gottesverständnis voraus, nach welchem Gott ein tätiger Gott ist. Der geschichtsmächtige Gott kann nicht ein Gott sein, der um seiner selbst willen existiert. Er interferiert mit den Ereignissen auf dieser Welt. Zweitens reduziert dies Gott im menschlichen Verständnis zugleich auch auf die Summe seiner Taten,.so daß das menschliche Nachdenken und Sprechen über Gott immer im Bewußtsein von dessen 76 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Unfaßbarkeit geschieht. Maimonides hat in seiner philosophischen Hauptschrift „Führer der Unschlüssigen“ schon dargelegt, daß das Zumessen von Eigenschaften an Gott immer nur bildlich, am menschlichen Fassungs- und Vorstellungsvermögen entlang gesprochen ist, aber über Gottes Wesen keinerlei Aussage enthält. Das Sprechen über Gottes Taten hingegen, etwa über das Herausführen aus Ägypten, ist (Punkt eins, also den geschichtsmächtigen Gott vorausgesetzt) eine objektive Aussage. Gott sagt von sich selbst nicht, er sei barmherzig, gross oder stark, er spricht nur davon, daß er das Volk mit starker Hand befreien werde, bzw. hier, daß Er es hinausgeführt hat. Drittens schließlich: Ist Gott durch eine Tat identifiziert, die in das Leben des Menschen eingreift und dem Menschen neue Möglichkeiten eröffnet, so entscheidet über den Sinn der göttlichen Tat letztlich der Mensch. Dies gilt in besonders auffälliger Weise für den Zusammenhang zwischen Exodus und Sinai: Wir können nicht genau sagen, weshalb Gott das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei errettete, bis nicht Israel das Gesetz erfüllt und damit Gottes Handlung ihren Sinn zurückverleiht. Gottes Vorstellungsformel ist also nicht nur eine Identifizierungshilfe, sondern enthält in sich die Vorgabe, die geleistet worden ist, etwas salopp ausgedrückt, die göttliche Investition in das Volk Israel. Es ist nicht nur so, daß Gott nun, da er das Volk befreit hat, dafür als Preis die Annahme seines Gesetzes verlangt. Gott ist in gewissem Sinne geradezu darauf angewiesen, dass Israel seinen Befreiungsakt mit Sinn füllt. Betrachten wir das Gesetz als der Schöpfung inhärent mitgegebenes Werk, als Alef vor dem Bet, so erahnen wir, welche Erlösung für Gott es bedeutet, sein Gesetz bei einem Volk zu deponieren, es durch dieses Volk in die Welt zu bringen. Am Dornbusch hat Gott Moses noch gesagt, er habe sich mit seinem Namen „Jh-w-h“ den Stammvätern nicht offenbart, was von manchen Erklärern so verstanden wird, dass er den Vätern Versprechen zwar gegeben, sie aber noch nicht eingelöst habe. Mit dem Auszug aus Ägypten hat der Einlösungsprozeß begonnen, er wird die Referenz Gottes bleiben, seine Legitimation, sich weiter „J-h-w-h“ zu nennen. Was aber bedeuten, um schließlich bei dieser rückwärts laufenden Satzdeutung an den Anfang des Satzes zu gehen, dessen erste Worte: „Ich, J-h-w-h bin dein Gott“? Die beiden Gottesnamen, das sogenannte Tetragramm J-h-w-h und der vielfach verwendbare Begriff Elohim als nebeneinander bestehende Bezeichnungen des einen Gottes haben seit jeher Erklärungsbedarf geweckt. Daß sie seit den Tagen der textkritischen Bibellektüre zu ganzen Umschichtungen der Tora unter anderem in eine Jahwisten- und eine Elohistenschrift geführt haben, muß hier nicht weiter erläutert werden, denn es führt am Wesen meines Deutungsversuchs vorbei. Auf jüdischer Seite hat schon Rabbi Jehuda Halevy im Mittelalter eine qualitative Trennung der beiden Begriffe unternommen, die wir in etwas modifizierter Weise im 20. Jahrhundert bei Benno Jacob wiedertreffen. Jacob versteht den Begriff „Elohim“ als Bezeichnung für die Gottheit überhaupt. An Gott als einzigen „Elohim“ können auch die Völker glauben, es ist der Grundbegriff des Monotheismus (wobei der Begriff auch im Zusammenhang mit „Elohim acherim“, die verbotenen „anderen Götter“ gebraucht wird). „Elohim“ ist deshalb wie im Hebräischen jedes Substantiv mit einem Suffix versehbar, also mit einer Endung, die ein Possessivpronomen ausdrückt: Elohai, Elohecha, Elohenu etc. Das Tetragramm hingegen ist der göttliche Namen, mit dem sich Gott ganz spezifisch gegenüber Israel offenbart 77 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot und mit welchem Gott von Israel angerufen wird. Das Tetragramm läßt sich allenfalls mit einer vorgestellten Präposition wie „me“ (von) , „ba“ (in) oder „la“ (an) verbinden, aber nicht flektieren. Benno Jacob benützt deshalb weder das gebräuchliche „Ich bin Gott , dein Herr“ oder „Ich bin der Ewige, dein Gott“ noch das Buber-Rosenzweigsche in Großbuchstaben geschriebene „ICH“ für das Tetragramm, sondern er setzt J-h-w-h als Eigennamen ein. Gott stellt sich im ersten Gebot Israel vor und verleiht Israel im selben Moment mit der Offenbarung seines Namens eine eigene, unverwechselbare Statur unter den Völkern. Bis hierher folgen wir einer akkurat jüdischen Deutung der ersten Gebots, das, wie ich zu Beginn dieses Vortrags schon gesagt habe, beinahe alles enthält, außer einem Gebot. Es scheint aber, wenn wir uns auf das allererste Wort dieses ersten Gebots zurückziehen, jenes anochi, das wir bisher allein seines Anfangsbuchstabens wegen betrachtet haben, im göttlichen Ich vielleicht nicht ein Gebot, aber doch ein Ruf verborgen zu sein. Das „Ich“ eines allumfassenden, allgegenwärtigen Gottes ist doch eigentlich ein skandalon. Um zu erörtern, ein wie großes skandalon es ist, müssen wir zuerst die Gegengröße des menschlichen Ich betrachten. Das Ich bedeutet den Rückzug des Individuums auf eine irreduzible Größe, vorausgesetzt, das Individuum kann diese Irreduzibilität intellektuell erfassen. Wir wissen vom Menschen, daß er dies erst zu einem bestimmten Zeitpunkt im Kleinkindalter kann. Das Baby erfährt sich zunächst noch nicht als von der Mutter getrenntes Wesen, ein Gefühl für das eigene Ich ist Ergebnis eines geistigen Entwicklungsprozesses. Und dieses Bewußtsein des eigenen Ich ist auch nicht gesichert, es kann durch psychische Erkrankung oder äußere Manipulation schwer beschädigt werden. Wenn ein Mensch „Ich“ sagt, ist dies folglich immer auch eine Erfolgsmeldung seines fortbestehenden Irreduzibilitätsbewußtseins. Er kann nicht weniger werden als er ist und er ist auch nicht nur als Teil von mehrereren seiend. „Ich“ ist also immer ein Kampfbegriff, ein Widerstehen gegen die Anfechtungen der Ichvergessenheit. Gerade die Form „anochi“, in welcher Gott im ersten Gebot als „Ich“ auftritt, erscheint in der Tora erstmals in einer Situation, da das Ich-sagen als Akt des Widerstands, als Selbstvergewisserung erscheint. Es ist Kains Antwort auf Gottes Frage nach dem Verbleib seines Bruders Abel: „Lo jadati, Haschomer achi anochi?“ – „Ich wußte nicht, bin ich meines Bruders Hüter?“ Kain, der soeben seinen Bruder, gewissermaßen den anderen Teil seines Kosmos (der Midrasch verstärkt diese Wirkung noch durch die Behauptung, sie seien Zwillinge), erschlagen hat, der zugleich im Schatten dieses Bruders stand, dessen Opfer Gott, im Gegensatz zu seinem eigenen, angenommen hatte, dieser Kain findet sich nun selbst vor Gott: „Haschomer achi anochi?“ Indem er Gott diese rhetorische Frage stellt, vergewissert er sich vor allem einer Sache: Ich bin noch da. Daß dieses Ich eher ein Defizit als ein Gewinn ist nach dem Mord an dem anderen Ich, das begreift Kain erst nach Gottes schwerem Tadel. Am Anfang des Dekalogs nun ist es Gott, der „anochi“ sagt. Gott muß sich seiner nicht vergewissern. Und Gott ist zwar einer, aber nicht im Sinne einer irreduziblen Individualität, sondern im Sinne einer allumfassenden Entität. Wie kann das Wort „Ich“ hier irgendetwas Wesenhaftes repräsentieren, das sich der Mensch als sprechendes Subjekt vorstellen kann? 78 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Am Anfang des schon erwähnten „Führers der Unschlüssigen“ des Maimonides steht die Frage, ob es eine göttliche Gestalt gibt und wie sie beschaffen sei. Das Problem wird von Maimonides angegangen, indem er auf den Bau des Menschen „nach dem Bild Gottes“ verweist. Da der Mensch eine physische Gestalt besitzt, muß nicht auch der, nach dessen Bild er geschaffen wurde, zwangsläufig eine physische Gestalt besitzen? Maimonides verneint natürlich und bezieht die Ähnlichkeit des Menschen zu Gott, das, was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, auf die Vernunft, auf das Vermögen zu denken.4 Diese Antwort mag einem mehr oder weniger durchtrainierten Monotheisten auf den ersten Blick banal erscheinen, aber sie ist es durchaus nicht. Maimonides nämlich schafft es, das zentrale Problem, die physische Gestalt Gottes, gerade durch den physischen „Bild“-Begriff so umzudeuten, daß daraus die Fähigkeit zur Abstraktion wird. Im Bilde Gottes geschaffen zu sein bedeutet demnach gerade die Fähigkeit des Menschen, sich vom Bild Gottes zu lösen, Gott nichtbildlich zu denken. Das Verständnis des Maimonides kann uns helfen, die Bedeutung des göttlichen „Ich“ zu begreifen. Der Mensch, der sich im Ebenbild Gottes sieht, erkennt, daß er auch beim „Ich“-Sagen oder im wesentlichen beim „Ich“-Sagen einen Akt vollbringt, der nicht nur die eigene Individualität bestätigt, sondern auch als Akt und Manifestation menschlicher Gottesebenbildlichkeit geschieht. Das Verständnis des „Ich“ wird ein anderes, wenn aus diesem „Ich“ zugleich das „anochi“ des ersten Gebots mithallt. „Ich“ sagen zu können, ist also nach der Tora nicht nur eine anthropologisch zu wertende entwicklungspsychologische Errungenschaft des Menschen, es deutet auch darauf hin, daß er sich dem Akt der Offenbarung anschließt. Gottes „Ich“ verleiht dem menschlichen „Ich“ einen ungeheuren Hintergrund und eine ungeheure innere Macht. Wer „Ich“ sagt, steht nicht nur für sich als physische, als empirisch faßbare, messende, bestimmende, gestaltende Person ein, wie sie Descartes entworfen und der Idealismus des 19. Jahrhunderts in verhängnisvoller Weise weiterentwickelt hat, sondern er beruft sich implizit auch für seine gottgegebene Fähigkeit und Legitimation, „Ich“ zu sagen. Sein „Ich“ ist Selbstbild und Ebenbild in einem, es ist ein authentisches und ein dem göttlichen Potential des Ichsagens entliehenes „Ich“, eine „transzendentales Ich“, um einen Begriff von Emmanuel Lévinas zu gebrauchen. Es gibt deshalb vielleicht keinen annähernd so göttlichen Akt für den Menschen wie das Aussprechen des Wortes „Ich“. Rabbiner Joseph Carlebach, ein begnadeter spiritueller Führer, der in den zwanziger und dreißiger Jahren Rabbiner in Altona und Hamburg war, mit den Verbliebenen seiner Gemeinde deportiert wurde und 1942 in Riga in den Tod ging, schrieb einmal über das göttliche „Ich“: „Dieses Ich, das den Menschen anredet, hinter dem keine Polizei, keine Gewalt steht, das nur den Menschen anredet und ihn in seinem Angesprochensein sich selbst überläßt, ob er auf diese Stimme reagieren wird, dieses Ich Gottes soll ihm begegnen. Wir sollen aus jedem Wort im gegebenen Moment unseres inneren Erlebens die Stimme eines Höheren vernehmen, die Stimme der Offenbarung.“ 4 Mose ben Maimon: Führer der Unschlüssigen, ins Deutsche übertragen und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Adolf Weiss, Leipzig 1923, Erstes Buch, 27-37 (Kapitel 1-3). 79 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Offenbarung, nicht als gewaltiges Naturereignis und nicht als von einem in der Wüstensonne taumelnden Volk erlebte Massensuggestion, sondern als vom Menschen erbrachte Leistung, das Göttliche in sich und auch außerhalb seiner selbst, als innere wie als äußere Rede, schwingen zu lassen, liegt in jenem „Ich“, jenem ersten Gebot überhaupt verborgen. Die Offenbarung als menschliche Leistung hervorzuheben, ist auch ein Anliegen Leo Adlers gewesen, des 1978 verstorbenen Basler Rabbiners, den ich noch meinen Lehrer nennen darf. Als ich mich mit seinem Nachlaß zu beschäftigen begann und eine seiner Schawuot-Predigten las, da glaubte ich mich erinnern zu können, die wesentliche These dieser Predigt schon einmal aus seinem Mund selbst gehört zu haben, nicht im Gottesdienst, sondern im Unterricht als Schüler in der inzwischen nach ihm benannten Jüdischen Primarschule in Basel. Die Zehn Gebote nämlich, so erklärte er, auch dem hebräischen Ausdruck „asseret hadibrot“ folgend, sind nicht eigentlich Gebote, sondern Worte, Aussagen. Alle Verbote, die innerhalb dieser Zehn Geboten formuliert sind, werden eigentlich korrekt nicht als Imperative übersetzt, im Gegensatz zu den positiv formulierten Geboten, die eine klare Imperativ-Form aufweisen. Ein Verbot zu morden müßte heißen „al tirzach“, mit der verneinenden Negativformel „al“ eingeleitet werden. Es heißt aber „lo tirzach“, und „lo“ ist ein neutrales Verneinungswort, womit das Wort „tirzach“, eine Futurumform, die man auch imperativ übersetzen kann, wieder zum Futur neutralisiert wird: „Du wirst nicht morden.“ Das Erlebnis göttlicher Präsenz in der eigenen Existenz und das Anerkennen der Rolle und Funktion des eigenen Ich führen nicht primär zu einer Befolgung von Gebot und Verbot, sondern zu einem Selbst- und Weltverständnis, in welchem gewisse Handlungen keinen Raum mehr besitzen. An diesem Punkt möchte ich meine methodische Meditation beenden und noch ein paar Sätze zur Wirkungsgeschichte dieses prominenten Satzes in der jüdischen Geschichte sagen. Ich meine nämlich, daß dieser Satz , nicht allein, aber im Gefüge der Tora, in welcher er steht, durchaus eine spezifisch jüdische Wirkungsgeschichte hat. Um dies zu erfassen, ist es vielleicht angezeigt, die jüdische Einteilung der Gebote mit den christlichen Einteilungen zu vergleichen, die davon durchaus differieren. Das katholische Verständnis der Zehn Gebote versteht diesen Satz gemeinsam mit dem nach der jüdischen Überlieferung folgenden zweiten Gebot, keine Götter neben Gott zu haben, als ein einziges Gebot. Gottes im ersten Satz manifestierte Präsenz wird danach gewissermassen im Verbot, keine anderen Götter zu haben, bestätigt. Das findet in der jüdischen Überlieferung insofern einen gewissen Widerhall, als, wie ich vorher erwähnt habe, der Talmud diese beiden ersten Gebote als die einzigen am Sinai von Gott selbst und nicht von Moses ausgesprochenen betrachtet. Die protestantische Version sieht diesen ersten Satz überhaupt nicht als Teil eines Gebots an, sondern als Präambel der Zehn Gebote als Ganzes, die für die Protestanten erst mit dem für die Juden zweiten Gebot überhaupt beginnen. Auch diese Vorstellung ist dem jüdischen Standpunkt aus auch nicht ganz fremd, unter Berücksichtigung der erwähnten jüdischen Deutung, daß das Verstehen des göttlichen „Ich“ auf die anderen Sätze ausstrahlt. Trotzdem ist die jüdische Konzeption eine fundamental andere als die der beiden christlichen Konfessionen, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen bedeutet das Erheben eines gänzlich unimperativen Satzes zum eigenen Gebot eine Relativierung des 80 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Gebotscharakters überhaupt aller Gebote. Die Gebote sind eine Quintessenz menschlicher Existenz nach Maßgabe der Tora. Sie stehen im Judentum nicht isoliert als für jedermann verbindliche Gesetze in einer die jüdische „Gesetzesreligion“ prinzipiell ablehnenden Theologie, sondern sie spiegeln summarisch ein Leben wieder, das im Sinne der Tora geführt wird. Zweitens denke ich, daß die Erwähnung des Auszugs aus Ägypten in diesem Satz eine jüdische Saite angerührt hat, die in der christlichen Rezeption niemals dieselbe Resonanz besitzen kann. Indem Gott zum Individuum von seinem Auszug aus Ägypten spricht, appelliert er an ein persönliches Beziehungsgefühl, das diesen Auszug nicht symbolisch, sondern existentiell versteht. Dieses Wort von Ägypten ist für den Juden nicht einfach umfassend als göttliche Daseinsbestätigung zu verstehn, es ist auch spezifisch, in seinem Anruf nicht einfach in ein Allgemeines integrierbar, die Aufforderung, das menschliche Ich dem göttlichen Ich folgen zu lassen. Die Diasporaexistenz der Juden, besonders im christlichen Abendland, ist geprägt von zwei dichotomisch auseinandergehenden Deutungen des jüdischen Exils. Für die Juden blieb das Überleben im bedrängten Exil immer die versteckte Bestätigung einer besonderen Beziehung zu Gott, die auf dem Auszug aus Ägypten und dem darin inhärenten Versprechen einer neuerlichen Befreiung beruhte. Für die Christen war es im wesentlichen die Bestrafung der Juden, wenn nicht für ihren Christusmord, dann zumindest für ihre Starrköpfigkeit, mit welcher sie sich der offensichtlich siegreichen christlichen Religion verschlossen. So hat das Christentum das „ascher hozeticha mimizraim“, den Bezug zum Auszug aus Ägypten, viel eher einem allgemeinen Gottesbegriff unterordnen können als das Judentum, das hier ein konstitutives Element göttlicher Tat vernahm, das auch im halachischen (vom jüdischen Gesetz bestimmten) Alltag durch die Mizwa etwa der Zizit (Schaufäden), des Schmahgebets (in dem der Auszug aus Ägypten eine wichtige Stellung einnimmt) oder der Pessacherzählung über den Exodus explizit bestätigt werden mußte. So ist das erste Gebot, in der Form, wie es hier besprochen worden ist, das einzige Gebot, das nur für die Juden eines ist. Und gerade für die Juden ist es, wie sich aus diesem Text hoffentlich hat entnehmen lassen, im Grunde möglicherweise ohnehin keines. Grundkurs Judentum Gerhard Bodendorfer „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ – das zweite Gebot in der jüdischen Zählung: in: Johannes Schaber (Hg.), Gemeinsame Wurzeln. Der Gottesglaube im Judentum, Christentum und Islam (Schriftenreihe der Ottobeurer Studienwoche 3), Leutesdorf 2002, 31-58 Alfred Bodenheimer hat ausgeführt, dass die jüdische Zählung mit guten Gründen und einer herausragenden Rezeption das „Anokhi JHWH“ in V. 1 als erstes Gebot zählt. Diesem schießt sich unmittelbar das in mehrere Detailinterpretationen aufgefächerte Verbot anderer Götter an. Die Bedeutung für das Judentum ist nicht hoch genug einzuschätzen. Es würde bei weitem den Rahmen eines Vortrags sprengen, auch nur annähernd alle Nuancen der Bedeutung des Fremdgötterverbots im Judentum zu beschreiben. Darum will ich mich auf einige wenige wichtige Bereiche beschränken und vor allem die sog. rabbinische Literatur als Grundlage des Judentums in den Blick nehmen.5 1. „Jehudi“ ist „Jechidi“: Wenn wir von Juden reden, so müssen wir zuallererst fragen, was denn damit überhaupt sprachlich gemeint ist. Viel zu schnell wird der Schluss gezogen, der hebräische Begriff „Jehudi(t)“ bezeichne einen „Juden“/eine „Jüdin“, „Jehudim“ „Juden“ im Sinne einer ethnischen Gruppe bzw. noch stärker im Sinne einer religiösen Gemeinschaft, wobei wird Religion als eigenständig separierbarer Lebensbereich aufgefasst wird. Doch diese Zuordnung übersieht, dass in der Antike Religion als separierbarer Lebensbereich nicht existiert. Was wir heute darunter verstehen, dafür kennen die alten Griechen und Hebräer kein eigenes Wort. Vielmehr ist das Gemeinte in die beiden wichtigsten Lebensbereiche, das Gemeinwesen (politeia) und die Familie eingebettet. Herodot (Historien 8, 144) konnte etwa das Griechentum (to hellenikon) durch folgende Aussagen umschreiben: gemeinsames „Blut“ und Sprache; gemeinsame Einrichtungen und Opfer für die Götter sowie gemeinsame Lebensweise. Dies trifft nun genauso für das antike Judentum zu. In seiner hervorragenden Studie “The Beginnings of Jewishness“ erhellt Shaye J. D. Cohen überzeugend, dass „Die Juden (Judäer) der Antike ... ein ethnos, eine ethnische Gruppe [bildeten]. Sie waren eine mit einem Namen, der mit einem spezifischen Territorium verbunden war, bezeichnete Gruppe. Ihre Mitglieder teilten ein Gefühl gemeinsamer Ursprünge, erhoben Anspruch auf eine gemeinsame und besondere Geschichte bzw. Schicksal, besaßen ein oder mehrere besondere Charakteristika und ein Gefühl kollektiver Einzigkeit und Solidarität. Die Summe dieser besonderen Charakteristika wurde mit dem griechischen Wort Ioudaismos bezeichnet. Und wir werden sehen: Die eigentümlichste Besonderheit der Juden war die Art, in der 5 81 Das erste und zweite Gebot 82 Vgl. auch Günter Stemberger, Der Dekalog im frühen Judentum, JBTh 4 (1989) 91-103. Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot sie ihren Gott verehrten, was wir heute ihre Religion nennen würden. Aber der Begriff Ioudaismos, der Vorläufer des englischen Wortes judaism, bedeutet mehr als nur Religion. Für die antiken Griechen und heutige Sozialwissenschaftler ist >Religion< nur eine von vielen Einzelheiten, die eine Kultur oder eine Gruppe unterscheidbar machen. Deshalb sollten wir vielleicht Ioudaismos nicht mit >Judaism<, sondern mit >Jewishness< übersetzen.“ 6 Der Ausdruck „Jehudi“ ist einmal geografisch zuzuordnen. Der Begriff tritt erst in nachexilischer Zeit auf und bezeichnet in den Büchern Esra, Nehemia, Daniel und vor allem Ester nichts anderes als die Bewohner der Provinz Judäa. Diese Bedeutung behält er auch in seleukidischer und römischer Zeit. Wie Ägypter, Kappadozier, Thraker, Phrygier sind „Jehudim“ Mitglieder einer ethnisch abgrenzbaren und geografisch zuordenbaren Gemeinschaft, und zwar in Judäa oder in der Diaspora. Nicht jeder in Judäa lebende Mensch ist daher Judäer. Flavius Josephus unterscheidet deutlich zwischen Syrern, Griechen und Judäern, wenn er ethnische Konflikte in Judäa beschreibt (BJ 2.266f). Andererseits ist in vielen griechischen und römischen Texten von Judäern außerhalb Judäas die Rede. Die Rabbinen überliefern schließlich im Midrasch Ester Rabba 6.2 eine spannende Definition des Namens „Jehudi“ = „Jude/Judäer“ im Zusammenhang mit Ester 2,5: EIN MANN; EIN JUDÄER; WAR IN SUSA; DER FESTUNG; UND SEIN NAME WAR MORDECHAI, SOHN JAIRS; SOHN SCHIMIS; SOHN KISCHS; EIN MANN; EIN JEMINI: EIN JUDÄER. Warum wird er Judäer genannt, war er doch nicht ein Benjaminit? Weil er den Gottesnamen gegenüber der ganzen Menschheit „einte“, wie geschrieben steht: Mordechai aber fiel nicht nieder und huldigte ihm nicht (Ester 3,2). Suchte Mordechai denn Streit oder Ungehorsam gegenüber dem Befehl des Königs? Tatsache ist, dass Ahasverosch anordnete, dass alle vor Haman niederfallen sollten. Dieser hatte ein Götzenbild an seiner Brust befestigt, damit alle dem Götzenbild huldigen sollten. Als Haman sah, dass Mordechai ihm nicht huldigte, wurde er mit Zorn erfüllt. Mordechai sagte zu ihm: Es gibt einen Herrn, der über allen Erhabenen erhaben ist, wie kann ich ihn erniedrigen und einem Götzenbild huldigen? Weil er den Namen des Heiligen, gepriesen sei Er, „einte“ (jiched), wird er Judäer (Jehudi) genannt um auszudrücken, dass Judäer „Einsmacher“ (Jechidi) heißt. Und es gibt welche, die sagen, dass er Abraham in seiner Generation aufwog. So wie Abraham unser Vater sich selbst in den Feuerofen werfen ließ und die Geschöpfe bekehrte und die Größe des Heiligen, gepriesen sei Er, erkennen ließ, wie es heißt: Und die Seelen, die sie in Haran schufen (Gen 12,5), so erkannten auch in den Tagen des Mordechai die Menschen die Größe des Heiligen, gepriesen sei Er , wie es heißt: Und viele aus der Bevölkerung des Landes wurden Judäer/Juden und „einten“ den Namen des Heiligen gepriesen sei Er und heiligten ihn. Dementsprechend wird er Judäer genannt, wie geschrieben steht: Ein Mann aus Judäa. Lies nicht: Jehudi, sonder Jechidi („Einsmacher“). Dieser Text zeigt den dramatischen Zusammenhang zwischen ethnisch geografischer Zugehörigkeit und einer kulturell-religiösen Definition auf. Seit den Tagen der Hasmonäer, also dem 2. Jh. v. war es in größerem Stile möglich geworden, sich dem Judentum anzuschließen, ohne selbst „Judäer“ zu sein. Dies geschah etwa bei der Eingliederung der Idumäer während der Herrschaft des Johannes Hyrkan. Beschneidung und Übernahme der Gebräuche der Judäer machte sie zu einem Mitglied der judäischen Politeia. Was versteht man nun unter Politeia? Der Begriff kennzeichnet sowohl eine 6 Shaye J. D. Cohen, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties (Hellenistic Culture and Society 31), Berkeley/London 1999. Übersetzung von Rolf Rendtorff und Edna Brocke in KuI 2 (2001) 106f., im Original 7. 83 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Bürgerschaft wie auch eine Lebensweise. Liegt der Schwerpunkt auf der Lebensweise, auf dem „way of life“, wird die Integration fremder Ethnien erleichtert. Wenn wir zum Text des Midrasch zurückkehren, wird unzweifelhaft deutlich, dass hier die rabbinischen Autoren die Frage, was im Zentrum der judäischen Kultur steht, eindeutig beantworten wollen. Es geht um nichts weniger als die Bereitschaft, den einen Gott zu bekennen und die anderen Götter als nichtige Götzen zu verwerfen. Mordechai wird damit zum Vorbild judäischer Kultur schlechthin. Sein Verhalten erinnert an Abraham, der nach jüdischer Tradition bereits als kleines Kind in Haran seinem Vater die Götzen zerschlägt und dafür in einen glühenden Ofen geworfen wird.7 Als erster großer Märtyrer überlebt er dies jedoch unbeschadet. Das Wunder beeindruckt viele, das weitere Leben und der Einsatz des Abraham lassen eine Reihe von Menschen Abschied vom Götzendienst nehmen. Sie werden in der rabbinischen Diktion zu Proselyten (gerim). Darunter sind jene Menschen zu verstehen, die das Judentum freiwillig und ohne Hintergedanken annehmen. Wiederum macht Ester Rabba dazu deutlich, dass es vor allem das 2. Gebot ist, an dem sich die volle Eingliederung in die Schaffung einer gemeinsamen kulturellen Identität von Proselyten und Judäern auszeichnet. Die babylonische Version des Midraschtextes in Talmud bMegilla 13a bringt zusätzlich Nuancen ein: Und warum nennt man ihn „Jehudi“? Weil er den Götzendienst ableugnete, denn jeder, der den Götzendienst ableugnet, wird „Jehudi“ genannt. Dies wird neben Mordechai an einem weiteren Beispiel erläutert. Die Tochter des Pharao, die Mose wie ihr eigenes Kind aufzieht, wird „Jehudit“ genannt, weil sie zum Nil hinabstieg, um sich vom Götzendienst zu reinigen. Es steht außer Zweifel, dass die Ablehnung des Götzendienstes zu den bedeutendsten Wegmarken des Judentums gehört. Nicht nur an dieser Stelle, auch in bNedarim 25a oder jNedarim 3,4,38a wird die Ablehnung des Götzendienstes mit der Annahme der gesamten Tora gleichgesetzt. Bedeutsam ist der Midraschtext Sifre Num § 111zu Num 15,22, auf den ich gleich noch weiter eingehen werde. 2. Drei Hauptgebote Das Judentum hat im Laufe der Geschichte immer wieder die Frage nach einem Kern der Tora gestellt und diese unterschiedlich beantwortet. Da ist einerseits davon die Rede, dass jedes Gebot gleich zu werten sei, andererseits aber auch deutlich gemacht, dass es innerhalb des Kanons einen Schwerpunkt gibt. Drei Gebote, genauer gesagt Verbote, werden dabei besonders hervorgehoben, das Verbot des Götzendienstes, der sexuellen Verfehlung und des Mordes. Sie formulieren nicht nur jüdische Grundgebote, sondern gelten vielmehr als Pfeiler einer Menschheitsethik schlechthin: Aber treibt eure Sinne in eurer Brust an: Flieht vor ungesetzlichem Götzendienst! Dient nur dem lebenden (Gott)! Meide Ehebruch und das rechtlose Bett mit einem Mann! Den eigenen Nachwuchs von Kindern ziehe auf! Und morde nicht! Denn darüber zürnt der Unsterbliche, wer so sündigt 7 84 Etwa schon Jubiläen 12; Apokalypse Abrahams 1-8; Testament Ijob 2-5 etc. Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot heißt es schon im 3. Buch der Sibylle (762-766), einem Text, der um die Zeitenwende entstanden ist. In der rabbinischen Tradition erhalten sie besonderes Gewicht. Sie gelten als drei große Unreinheiten (bSchebuot 7b) und man diskutiert, ob diese drei Kapitalverbrechen vom Ritus des Versöhnungstages gesühnt werden. Für die Rabbinen sind gerade diese drei Sünden mit der Gegenwart Gottes unvereinbar.8 Jeder Mensch wird ihretwegen zur Rechenschaft gezogen: Wegen drei Geboten wird ein Noachide hingerichtet: (...) wegen Unzucht und wegen Blutvergießens und wegen Verfluchung des Namens (Gottes)9 heißt es in bSanhedrin 57a. Nur auf die Übertretung dieser drei der sieben noachidischen Gebote steht die Todesstrafe. a. Die noachidischen Gebote Die noachidischen Gebote wiederum sind der Kern der Tradition der vorsinaitischen Gebote, die bei den Rabbinen wie beim größten mittelalterlichen Gelehrten des Judentums, Maimonides, ausgefaltet werden. Die zentrale Belegstelle für die rabbinische Fassung der sieben noachidischen Gebote findet sich im babylonischen Talmud, Traktat bSanhedrin 56a/b (vgl. Tosefta Aboda Zara 8.4): Auf sieben Gebote sind die Söhne Noachs verpflichtet: (auf das Gebot der) Rechtssprechung und (auf das Verbot der) Verfluchung (wörtl.: Segnung) des Namens, des Götzendienstes und der Unzucht und des Blutvergießens und des Raubes und des (Essens von einem) Stück von einem Lebewesen. Maimonides schreibt schließlich: Auf sechs Dinge wurde der erste Mensch verpflichtet: - auf (das Verbot des) Götzendienst, - auf (das Verbot der) Verfluchung des Namens (Gottes), - auf (das Verbot des) Blutvergießens, - auf (das Verbot der) Unzucht, auf (das Verbot des) Raubes - und auf (das Gebot der) Errichtung von Gerichtsstätten. Obwohl alle diese (Gebote und Verbote) in unsere Hand Tradition von Mose, unserem Meister, sind und sich auch der Verstand zu ihnen hin neigt, ist aus dem Gesamtsinn der Worte der Tora ersichtlich, dass er (Adam) auf sie verpflichtet wurde. Er (Gott) fügte für Noach (das Verbot des Essens eines Stücks von einem Lebewesen hinzu, wie gesagt ist: (..., Gen 9,4). Es finden sich (so) sieben Gebote. Und so verhielt sich die Sache in der ganzen Welt bis Abraham. Abraham kam und er wurde auch auf die Beschneidung verpflichtet und er betete das Morgengebet. Isaak sonderte den Zehnten ab und fügte ein weiteres Gebet hinzu zum Mittag. Jakob fügte (das Verbot des Essens des) Hüftnerves hinzu und betete das Abendgebet. In Ägypten wurde Amram verpflichtet auf weitere Gebote, bis Mose, unser Meister, kam und die Tora auf seiner Hand vollendet wurde. (Sefer Schoftim, Hilkhot Melachim 9,1)10 b. Götzendienst in Sonderstellung 8 9 10 Deutlich in Sifre Deuteronomium § 254 zu Dtn 23,10. Rut Rabba Peticha 1 (1a) sieht die Übertretung dieser drei Gebote als Grund für die Anklage Israels und der Völker mit dem Tod. Vgl. zu den noachidischen Geboten Klaus Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15), Berlin 21998; Matthias Millard, Die Genesis als Eröffnung der Tora. Kompositions- und auslegungsgeschichtliche Annäherungen an das erste Buch Mose (WMANT 90), Neukirchen-Vluyn 2001. 85 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Die drei „Kardinalsünden“ sind nun wiederum „Herzstück“ dieses noachidischen Rechts. Dass die Verfluchung des Gottesnamens anstelle des Verbotes des Götzendienstes in der Reihe der drei Kardinalsünden stehen kann, ist insofern nicht außergewöhnlich, als beide Verbote inhaltlich verwandt sind und in der rabbinischen Literatur gemeinsam vorkommen.11 Innerhalb der drei Kardinalsünden nimmt das Verbot des Götzendienstes wiederum eine Sonderstellung ein. In bSanhedrin 74a wird unter dem Namen von R. Jischmael überliefert, dass ein Mensch Götzendienst üben darf, um sein Leben zu retten (mit Lev 18,5). Er bleibt mit dieser Ansicht in der Minderheit. Gotteslästerung und Götzendienst gehören eng zusammen und werden dennoch rechtlich unterschieden. Nach mancher Ansicht ist nur die Gotteslästerung mit dem Tod zu bestrafen (Levitikus Rabba 22.6 zu Lev 17,3), nach anderer Meinung wird zwischen öffentlicher und privater Entweihung des Namens unterschieden. c. Die Verbindung von Unzucht und Götzendienst, Mord und 1. Gebot Bereits eine Reihe biblischer Texte, vor allem die Propheten, haben Unzucht und Götzendienst verbunden. Die Rabbinen nehmen diese Verbindung häufig auf. So werden in der Mekhilta de Rabbi Jischmael Bachodesch VIII (L II 262f.) zu Ex 20,12-14 die Zehn Gebote in zwei Tafeln überliefert, die aufeinander bezogen sind. Fünf Weisungen auf der einen Tafel entsprechen fünf der zweiten. Die Gebote 1 und 2, die beide mit dem Alleinverehrungsanspruch Gottes zu tun haben, werden mit Mord und Ehebruch parallelisiert. Götzendienst steht in direkter Beziehung zum Verbot des Ehebruchs, in Form eines Gleichnisses aber auch in Beziehung zu Mord: Auf welche Weise wurden die Zehn Gebote gegeben? Fünf auf einer Tafel und fünf auf der anderen Tafel. Es steht geschrieben: „Ich bin YHWH, dein Gott“; und gegenüber steht geschrieben: „Du sollst nicht morden“. Die Schrift weist darauf hin, dass es jedem, der Blut vergießt, angerechnet wird, als hätte er (Gottes) Ebenbild geschmälert. Ein Gleichnis über einen König aus Fleisch und Blut. Er betrat ein Land, und sie stellten ihm Standbilder auf und machten ihm Bildnisse und prägten ihm Münzen. Nach einiger Zeit stürzten sie seine Standbilder um, zerstörten seine Bildnisse und entwerteten seine Münzen und schmälerten (so) das Ebenbild des Königs. So wird jedem, der Blut vergießt, angerechnet, als hätte er (Gottes) Ebenbild geschmälert, wie es heißt: „Der das Blut eines Menschen vergießt usw. denn im Bild Gottes machte er den Menschen“ (Gen 9,6). Es steht geschrieben: „Du sollst [keine anderen Götter haben]“; und gegenüber steht geschrieben: „Du sollst nicht ehebrechen“. Die Schrift weist darauf hin, dass es jedem, der Götzendienst begeht, angerechnet wird, als habe er die Ehe gebrochen vom ORT weg, wie es heißt: „Die Frau, die Ehebruch begeht unter ihrem Gemahl, nimmt Fremde“ (Ez 16,32); und es steht geschrieben: „Und es sprach YHWH zu mir: Liebe eine Frau, die von einem anderen geliebt wird und die Ehe bricht [so, wie der Herr die Kinder Israels liebt, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden und Opferkuchen aus Rosinen lieben]“ (Hos 3,1). Die einzelnen Bestimmungen des Dekalogs ergänzen und erläutern sich. Dadurch erklärt sich die Abfassung in zwei Tafeln. Daraus entsteht die Einteilung in sog. Sakralrecht (V. 2-12) gegenüber Profanrecht (V. 13-17).12 Nach der Auffassung der Mekhilta de Rabbi Jischmael ist beides aufeinander bezogen. Das Gleichnis fungiert als Schlüssel zum 11 12 86 Vgl. jSanhedrin 7,11, 25b. Vgl. hier als Beispiel G. Beer, Exodus (HAT 3), Tübingen 1939, 99-103. Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Verständnis des Textes und stellt eine untrennbare Verbindung zwischen 1. und 2. Gebot her. Der König wird durch Bildnisse geehrt. Werden sie vernichtet, geht auch sein Einfluss, seine Macht und sein Prestige verloren, man vernichtet ihn selbst, weil er sich in den Bildern repräsentiert. Gott aber ist kein König aus Fleisch und Blut. Er will entsprechend dem 2. Gebot keine Bildnisse als Ebenbilder. Der Mensch allein stellt das irdisches Ebenbild Gottes dar. Tötet man einen Menschen, so tötet man Gottes Bildnis. Ez 16,32 und Hos 3,1 belegen schließlich den metaphorischen Gebrauch des Ehebruchsmotivs. Bei Hosea wird der Bezug zwischen Ehebruch und Götzendienst im zitierten Vers explizit ausgesprochen. Dieser Text zeigt exemplarisch, dass mit dem Verbot des Götzendienstes letztlich die gesamte Tora auf dem Spiel steht. Ziel und Inbegriff des Verbots, andere Götter zu verehren oder sich Bildnisse von Göttern zu machen ist mehr als der Anspruch Gottes auf Alleinverehrung. In diesem Verbot steckt der eigentliche Ursprung des Humanismus. Wenn Gott allein im Menschen ein ihm ebenbürtiges Gegenüber findet, dann kann letztlich auf Erden nur der gerechte und soziale Umgang mit dem Mitmenschen wahrer Gottesdienst sein. Ihm steht der Dienst an der toten Materie, am Götzen, gegenüber, welche Form sie auch immer haben mag. Das Bilderverbot des 2. Gebotes bezieht sich zwar unmissverständlich auf Götterbilder, hat in seiner rigorosen Ablehnung jeglicher bildlichen Darstellung aber natürlich Auswirkungen auf die Kunst über die Zeit gehabt. Ich kann diesen Aspekt hier nicht betrachten und auf die vielen Aspekte hinweisen, die sich daraus für eine Kunstgeschichte des Judentums ergeben. Praxis und Theorie gehen auch mitunter weit auseinander und es finden sich Beispiele für eine reiche Bebilderung - die wahrscheinlich auch vor einer zumindest impliziten Gottesdarstellung wie in der Synagoge von Bet Alpha nicht Halt machen13 - und gleichzeitig für den Respekt vor dem Gebot wie in der berühmten Vogelkopfhaggada aus Deutschland um 1300. Die berühmte amerikanischjüdische Autorin Cynthia Ozick hat in ihren zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen immer wieder die Verbindung zwischen dem 2. Gebot als Inbegriff des Humanismus und dem Götzendienst gezogen, der zum Menschenopfer führt, so wie sie nicht müde wird, Paganismus und Judentum als unversöhnliche Gegensätze einander gegenüber zu stellen. Das Judentum repräsentiert die Werte des Humanismus, die im Götzendienst nicht zum Vorschein kommen können. Menschliches Mitgefühl werde durch die Abkehr von Gott ausgeschlossen. Dabei geht sie etwa in dem Essay „Literature as Idol: Harold Bloom“ im Sammelband Art and Ardor, der 1983 als Reprint des Commentary von 1979 in New York erschien, soweit, zu behaupten, dass selbst die Kunst zum Götzen werden könne, wenn sie u.a. sagt: „Man muss nur das Spiel von Mozart an den Toren von Auschwitz in Erinnerung rufen, um zu sehen, wie die Musen dem Moloch dienen können“. Ozick ist eine wichtige Zeugin des untrennbaren Zusammenhangs zwischen jüdischer Identität, Humanität und 2. Gebot, das sich hier unzweifelhaft als Hauptgebot herausstellt. d. Götzendienst als Hauptgebot 13 R. Chija ben Abba sagte: R. Jochanan hat gesagt: Jedem, der den Sabbat gemäß seiner Regel hält, selbst wenn er wie (die Generation von) Enosch Götzendienst treibt: ihm wird verziehen. Vgl. Günter Stemberger, Biblische Darstellungen auf Mosaikfußböden spätantiker Synagogen, JBTh 13 (1998) 145-170. 87 Dies wird besonders im schon erwähnten Midrasch Sifre Num § 111zu Num 15,22 ausgeführt. Die Rabbinen beziehen Num 15,22 („Wenn ihr aus Versehen irgendeines dieser Gebote, die der Herr zu Mose gesagt hat, nicht haltet...“) auf das besondere Vergehen des Götzendiensts, der als das Hauptgebot gilt. Ich kann hier nicht auf alle wichtigen Details und Aussagen des Textes eingehen und auch nicht seine exegetische Beweisführung nachzeichnen. Wichtig ist dabei der Begriff dabar/dibber („Wort“, „sprechen“), der an den Dekalog, das Zehn-Wort erinnert. Die Verwendung von „alle jene Worte“ (Pl.) und „sprach“ in Ex 20,1 wird im Vergleich mit Ps 62,12 („eines sprach Gott“) und Jer 23,29 („mein Wort“ Sg.) so ausgelegt, dass die Mehrzahl der Gebote des Dekalogs sich im einen Gebot des Götzendienstes bündeln. Nach rabbinischer Ansicht sprach er den Dekalog wie ein Wort, auf einmal (vgl. auch Numeri Rabba 11.7). Zwei wichtige Teile möchte ich zitieren: Alle Gebote wollen über dieses eine lehren: Wie der, der alle Gebote übertritt, das Joch (der Tora) abwirft und den Bund übertritt und sich gegen die Tora auflehnt, so wirft auch der, der dieses eine Gebot übertritt, das Joch (der Tora) ab, übertritt den Bund und lehnt sich gegen die Tora auf. Und was ist das? Götzendienst, denn es heißt: „Um seinen Bund zu übertreten“ (Dtn 17,2). Im weiteren Verlauf des Abschnittes wird davon gesprochen, dass ein Götzendiener sich weder an die Tora des Mose noch an die Propheten noch an die Gebote hält, die bereits den sog. Vätern gegeben wurden. Damit wird an die vorsinaitischen Weisungen angespielt. Es heißt dann: Die Schrift sagt damit: Jeder, der sich zum Götzendienst bekennt, leugnet die Zehn Gebote ab, das, was Mose geboten hat, das, was den Propheten geboten wurde und das, was den Vätern geboten wurde. Jeder aber, der den Götzendienst ableugnet, bekennt sich zur gesamten Tora. Der Text macht zweierlei deutlich. Er illustriert zum einen, dass die Tora in all ihren Facetten und Nuancen letztlich nur eine Ausdeutung und Näherbeschreibung des einen wichtigen Verbots des Götzendienstes ist, und er macht mit seiner Schlussbemerkung klar, dass jemand, der sich aus ganzer Überzeugung gegen den Götzendienst stellt, im Endeffekt alles diese Facetten und Nuancen zu übernehmen bereit ist. Dies war im rabbinischen Umfeld in Auseinandersetzung mit jenen zahlenmäßig nicht zu unterschätzenden Menschen wichtig, die sich vom Judentum angezogen fühlten und auch bereit waren, den jüdischen Gott als einzigen anzuerkennen, jedoch weiterhin in ihren eigenen Sitten und Gebräuchen festhielten und keineswegs alle rabbinischen Gebote zu übernehmen gewillt waren. Natürlich können hier auch Juden gemeint sein, die sich von der rabbinischen Bewegung und ihrer Gesetzesauslegung nicht zur Gänze einverstanden erklärten oder sich im Alltag nicht daran hielten. Wichtig ist bis heute natürlich in diesem Zusammenhang die Frage des Dialogs mit anderen monotheistischen Religionen, auf die ich am Ende noch kurz eingehen werde. In jedem Fall gilt Götzendienst als das zentrale Verbot, an dem sich letztlich entscheidet, ob man im rabbinischen Sinne an der Tora festhält oder nicht, und die Tora bestimmt nun einmal die Identität des Judentums. Auch der Talmud-Abschnitt bSchabbat 118b redet vom Götzendienst als dem Sinnbild für die Übertretung der Gebote. Hier heißt es: 88 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Während der Sabbat hier eine gewaltige versöhnende Wirkung bekommt, wird mit Enosch der Götzendienst als Sünde schlechthin in die Urzeit zurückversetzt. Ausgangsstelle ist Gen 4,26: „Auch dem Set wurde ein Sohn geboren, und er nannte ihn Enosch. Damals begann (hochel) man den Namen des Herrn anzurufen.“ Dieser außerhalb der rabbinischen Literatur positiv ausgelegte Text wird von den Rabbinen aufgrund des Begriffes hochel, den sie von chalal („entweihen“) ableiten, negativ interpretiert. Schon in der Mekhilta Bachodesch 6 heißt es: Rabbi Jose sagt: „‘Andere Götter.’ Warum wird dies gesagt? Um den Völkern der Welt keinen Entschuldigungsgrund zu geben zu sagen: ‘Wenn sie (d.h. die Götter) mit seinem (d.h. Gottes) Namen gerufen worden wären, hätten sie längst Bedeutung gehabt, sieh, sie wurden mit seinem Namen genannt, und sie haben (trotzdem) keine Bedeutung gehabt. Seit wann wurden sie (d.h. die anderen Götter) mit seinem Namen gerufen? Seit den Tagen Enoschs, des Sohnes Sets, wie es heißt: ‘Damals begann man, den Namen JHWHs anzurufen’ (Gen 4,26b). In derselben Stunde stieg der Ozean empor und überflutete ein Drittel der Welt. GOTT (wörtlich: DER ORT) sagte zu ihnen: ‘Ihr habt etwas Neues gemacht und euch selbst Gottheiten genannt. Auch ich werde etwas Neues machen und mich selbst JHWH nennen.’ Und deshalb sagt er: ‘Der die Wasser des Meeres ruft und sie auf dem Antlitz der Erde ausgießt - JHWH ist sein Name’“ (Am 5,8). Diese Auslegung ist eine von sieben des Götzenverbotes in der Interpretation des Dekaloges in der Mekhilta Rabbi Jischmael. Sie setzt voraus, dass schon in der Enoschgeneration die Götter anstelle des wahren Gottes angerufen werden und Gott deshalb zu seiner unterscheidenden Bezeichnung seinen Namen wählt. Am 5,8 illustriert einen Aspekt, der für sie über das Motiv der Flutgeschichte mit Gen 4,26 als Text vor der Fluterzählung der Genesis verbunden ist. Targum Pseudo Jonathan und Targum Onkelos zu Gen 4,26 machen ebenfalls deutlich, dass bereits die Generation des Enosch Götzenbilder anfertigte, mit dem Gottesnamen benannte und den wahren Gottesdienst damit durch Götzendienst ersetzte. Mit Gen 4,26 beginnt kein rechter Gottesdienst. Nach dem vorgehenden Mord an Abel (Gen 4,8) und dem folgenden sexuellen Vergehen (Gen 6,2) wird der Götzendienst so zum dritten Element der Ursünde, die die Sintflut nach sich zieht. In der rabbinischen Tradition wird also bereits die Generation der Enkel Adams an den drei Kardinalsünden gemessen. 3. Das Judentum deutet die Geschichte als Konflikt zwischen Götzendienst und Gottesdienst Die rabbinische Tradition hat die Geschichte als dramatischen Konflikt zwischen Götzendienst/Götzendienern und wahren Gottesglauben/Gottesgläubigen dargestellt. Nach bSanhedrin 38b habe selbst Adam bereits Gott geleugnet. Enosch wurde schon genannt, dessen Generation durch ihren Götzendienst die Sintflut mitbewirkt. Die Männer des Turmbaus von Babel haben Götzendienst getrieben (bSanhedrin 109a). Von Abrahams beherztem Kampf war ebenfalls schon die Rede, ihm stehen vor allem die Leute aus Sodom gegenüber, die (nach Genesis Rabba 40/ 41.7 zu Gen 13,13; bSanhedrin 109a) Götzendiener, Mörder und ausschweifend in ihrer Sexualität sind. Ismael, Abrahams Sohn, übertritt alle drei Gebote (Genesis Rabba 53.7 zu Gen 21,3), ebenso sein Enkel Esau, der in der rabbinischen Tradition zum Sinnbild Roms wird (u.a. Genesis Rabba 63.12 zu Gen 25,29f.). bBaba Batra 16b (Parallele Tanchuma Schemot 1 und Pesiqta Rabbati 12) lastet Esau am Todestag seines Vaters fünf Übertretung an: 89 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Rabbi Jochanan sagte: Fünf Übertretungen, er (Esau) übertrat sie am selben Tag (am Todestag seines Vaters): Er ging zu einer verlobten Jungfrau (d.h.: er vergewaltigte sie), - und er tötete jemanden, - und er verleugnete den Grund (d.h. Gott), - und er verleugnete die Auferstehung der Toten, - und er verachtete die Erstgeburt. Nach Pesiqta Rabbati 12.7 (176) bedingt die Heirat mit einer Götzendienerin Esaus Götzendienst, womit das Element der (verbotenen) Mischehe auftritt, das in der biblischen und rabbinischen Tradition zum Standardrepertoire gehört. Für die Israeliten wird der Götzendienst in Ägypten vor allem durch den Pharao repräsentiert, der sich selbst zu Gott macht. Demgegenüber stellt die Gabe der Tora am Sinai das größte Geschenk dar, das der eine Gott einem Volk geben kann. Die rabbinische Tradition macht deutlich, dass alle Völker am Sinai das Angebot bekommen hätten, die Tora anzunehmen, dass sie aber mit Ausnahme Israels ablehnen. In der jüdischen Tradition hat sich nie eine Theorie einer Erbsünde entwickelt, dennoch haben einzelne Texte von einer bleibenden Konsequenz des Fehlverhaltens des Urpaares gesprochen. Besonders zu nennen sind bSchabbat 146a und bJebamot 103b, wo davon gesprochen wird, dass die Schlange Eva Lust injizierte, die Israel durch die Annahme des Dekalogs am Sinai verlor, während die Weltvölker – hier als Götzendiener bezeichnet sie nicht verloren. Der Sinai hält mit den 10 Geboten das Heilmittel für den bösen Trieb bereit. Israel sprach dort, es wolle „tun und hören“ und wurde daraufhin von Gott mit Geschenken überschüttet. Massenweise Dienstengel verwöhnten die Israeliten, wie es beispielhaft in TanchumaB Tetsawwe 7 (50ab) heißt: „Und das ist die Sache, die du ihnen tun sollst [um sie zu weihen]“ (Ex 29,1). Das ist, was die Schrift sagt: „Die Weisen werden die Ehre erben“ (Spr 3,35) - das ist Israel. „Und die Toren tragen Schande davon“ (ebd.) - das sind die Weltvölker. Und wann erbten die Israeliten die Ehre? Als sie die Tora am Sinai empfingen. Es sprach R. Johanan: 600.000 Dienstengel stiegen mit dem Heiligen, gepriesen sei Er, herab zum Sinai, und sie setzten Kronen auf das Haupt eines jeden einzelnen aus Israel. Es sprach R. Abba b. Kahana: Als Israel am Berg Sinai stand und sie sprachen: „Wir wollen tun und hören“ (Ex 24,7), verliebte der Heilige, gepriesen sei Er, sich sofort in sie. Und Er gab einem jeden einzelnen von ihnen zwei Engel, und der eine gürtete sie mit Waffen, und der andere setzte ihm eine Krone auf sein Haupt. Es sprach R. Simeon: Mit Purpur bekleidete Er sie, wie es heißt: „Und Ich kleidete dich bunt“ (Ez 16,10). R. Simeon b. Johai sagt: Waffengerät gab Er ihnen, und der Gottesname war darauf eingraviert. Das ist: „Die Weisen werden die Ehre erben“ (Spr 3,35) - das ist Israel, welches die Tora empfing. „Und die Toren tragen Schande davon“ (ebd.) - das sind die Weltvölker; der Heilige, gepriesen sei er, machte sie zur Schande. Israel verliert jedoch schnell alle seine Vorzüge durch eine schicksalhafte Entscheidung, nämlich das Goldene Kalb herzustellen. Wenn überhaupt von einer Art Ursünde im Judentum geredet werden kann, so ist es dieser in Ex 32 überlieferte Götzendienst mit dem Goldenen Kalb. jTaanit 4,8,68b formuliert es so: Rabbi Judan im Namen von R. Jassa: Es gibt überhaupt keine Generation, in der es nicht eine Unze von der Sünde des Kalbes gibt. Schlag auf Schlag wird jetzt das Volk seine Privilegien verlustig und kann nur durch den intensiven Einsatz des Mose bei Gott vor dem Tod bewahrt werden. Götzendienst überschattet also nicht nur das Schicksal der Nichtjuden, es ist auch die beständige Bedrohung der Existenz Israels. Götzendienst bewirkt konsequenterweise das Verderben. Weil Israel keinen natürlichen Anspruch auf das Land hat, das im übrigen nur deshalb von Israel erobert werden konnte, weil die Völker dort Götzendienst trieben (Dtn 8 u.ö.), führt die Abkehr vom einen Gott auch konsequenterweise in das Exil. 90 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Die Konsequenz des Götzendienstes ist so weitreichend, dass nach rabbinischer Ansicht selbst der Erzkontrahent des antiken Judentums, Rom, nicht existieren würde, wenn Israel nicht vom Glauben an den einen Gott abgewichen wäre. So heißt es in bSchabbat 56b über die Ehe Salomos mit der ägyptischen Prinzessin, die ihn zum Götzendienst verführte: Rab Juda sagte im Namen des Samuel: Als Salomo die Tochter des Pharao heiratete, stieg Gabriel herab und pflanzte ein Schilfrohr in das Meer, und es wuchs darauf eine Sandbank, auf der die große Stadt Rom gebaut wurde. In einer Baraita wurde gelehrt: Am Tag, als Jerobeam die beiden goldenen Kälber brachte, das eine nach Betel, das andere nach Dan, wurde eine Hütte errichtet und sie entwickelte sich zum griechischen Italien. Die negativen Eckpfeiler der Geschichte sind Folge des Götzendienstes, so die Zerstörung des Heiligtums, die Auslieferung an den König Nebukadnezzar, einem König, der sich wie schon Pharao zum Gott erklärte (Jes 14,14). Aber auch er kann zurecht die Israeliten anklagen, wie es etwa in Levitikus Rabba 33.6 heißt: R. Johanan sagte etwas anderes: Er (Nebukadnezzar) sagte ihnen: Als ihr in eurem Land wart, schicktet ihr zu uns und kauftet Klauen, Haare und Knochen von Götzendienst, ihr habt darauf eingeritzt, um zu bestätigen, was geschrieben steht: „Bildnisse der Chaldäer, eingeritzt mit roter Paste“ (Ez 23,14). Und da seid ihr gekommen, meinen Götzendienst zu zerstören! R. Jehuda b. R. Simeon sagte zweifaches: Er (Nebukadnezzar) sagte ihnen: Als ihr in euerem Land weiltet, habt ihr verschiedene Abteilungen für die Götzen geschaffen, wie es heißt: „Und du hast deine Beine gespreizt für jeden, der vorüberging“ (Ez 16,25). Und da seid ihr gekommen, meinen Götzendienst zu zerstören! In dieser Begegnung mit Nebukadnezzar spielen die drei Jünglinge Hananja, Mischael und Asarja eine Rolle, die der des Abraham nahe kommt. Sie bekennen den einen Gott und werden dafür von Nebukadnezzar in den glühenden Ofen geworfen, aus dem sie unbeschadet wieder heraussteigen. Sie lassen Gott erneut seines Bundes gedenken, sie rufen sein Erbarmen hervor. Mit der Gestalt der drei Jünglinge zieht die Midrasch-Literatur die historisch-theologische Linie von Abraham bis zum Exil weiter aus. Dies zeigt sich beispielhaft in Sifre Deuteronomium § 306, wo von drei großen Perioden der Geschichte erzählt wird, in denen Gott seinen Namen verherrlichte, nämlich 1) in Ägypten, 2) am Schilfmeer, Jordan und Arnon und 3) an Daniel und den drei Jünglingen. Ihre deutliche Parallelisierung mit Abraham (und umgekehrt: Stichwort „Feuerofen“) lässt die Geschichte mit Gott neu anfangen. Weitere berühmte Götzendiener sind der aus dem Esterbuch bekannte Haman und dann natürlich der Frevler Titus, der den Tempel in Schutt und Asche legen ließ. Im Laufe der Zeit sind weitere Gestalten hinzugekommen. Die Zukunft wird aus der Vergangenheit und aus dem Heute schöpfen. Sie wird mitgestaltet durch das Verhalten der Israeliten und ist zugleich gnädige Zuwendung Gottes. Jerusalem wird in neuem Glanz erstrahlen und die Völker bei sich beherbergen. Israel wird sein Verhalten überdenken und in neuer Unmittelbarkeit mit Gott leben. Am Ende der Zeit werden auch die Völker freiwillig ihre Götter aufgeben. Wie bei Abraham oder am Schilfmeer, als die Ägypter sich reihenweise von ihren Göttern abwandten, da sie die Größe Gottes sahen (vgl. Mekhilta Beschallach 8 zu Ex 15,11), werden sie versuchen, ihren Götzendienst abzulegen. Den götzendienerischen Völkern aber bleibt das Gericht nicht aus (vgl. beispielhaft den MTeh zu den Psalmen 97-99). Sie werden 91 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot erkennen, dass Gott sich in Israel verliebt hat, weil es seinen Willen tut. Sie werden sich daher bemühen, selber die Tora für sich in Anspruch zu nehmen. Nach Tanchuma Schoftim 9 bzw. TanchumaB Schoftim 8.10 (16ab) werden die Götzendiener auf der Welt beschämt werden. Gott wird seine Heiligkeit öffentlich zeigen. Er wird seinen Thron an die Stelle des Sonnenaufganges setzt und lässt dann alle die Herrlichkeit schauen. Er ist Sonne und Schild, der vor dem Gericht rettet, wo Gott die Gesetzestafeln befragen wird, ob die Völker sich um sie gekümmert haben. Sie werden antworten, dass nur Israel sich um die Gesetze angenommen hat, während die Völker sich gegenseitig Ehre erwiesen und dabei Götzendienst betrieben (Ps 97,7). Dann werden sie beschämt sein, ihre (als Götzen dienenden) Tauben sind geschlachtet, ihre Steine zerbrochen und ihre Fische auf dem Markt verkauft. Die Völker treten nun einzeln vor Gott und verteidigen ihre Werke als Dienst an Israel. Doch Gott entlarvt sie als eigennützig. Nun drängen sie sich auf, die Tora erfüllen zu wollen. Sie stellen eine Laubhütte auf, verlassen sie jedoch sofort wieder, als die Sonne auf sie scheint und es ihnen zu heiß wird. Sie verwerfen ihre Bereitschaft, mit Israel die Tora anzunehmen, worauf Gott sie auslacht (Ps 2,3.4). Dann richtet Gott die Götzen gemeinsam mit den Völkern (Jes 66,16). Die Götzen werden von den Völkern aufgefordert, sich vor Gott zu beugen (Psalm 97,7), doch er schickt sie wie die Völker ins Feuer. Die zwei Teile des Landes, von denen Sach 13,8 gesprochen hat, sind die Völker. Der dritte Teil ist das gerettete Israel, das aus den drei Grundlagen der Welt, aus den Erzvätern, kommt. Die Höllenstrafe scheint unausweichlich. Besonders tragisch erlebt sie Nebukadnezzar in MTeh 5: „Jerusalem, preise den Herrn, lobsinge, Zion, deinem Gott!“ (Ps 147,12) und abschließend: „Halleluja!“ (Ps 147,20). Der Frevler (Nebukadnezzar) sagte: „Ich, Nebukadnezzar, lobe, preise und rühme nun den König des Himmels“ (Dan 4,34). David sagte: „Denn der Herr ist gerecht, er liebt gerechte Taten“ (Ps 11,7). Der Frevler (Nebukadnezzar) aber sagte: „Denn alle seine Taten sind Wahrheit“ (Dan 4,34). Und Hanna sagte: „Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt, und er erhöht“ (1 Sam 2,6f.). Der Frevler (Nebukadnezzar) aber sagte: „Die Menschen, die in stolzer Höhe dahinschreiten, kann er erniedrigen“ (Dan 4,34). So sagte der Heilige, gepriesen sei er, zu Nebukadnezzar: Gestern erst sagtest du (zu Chananja, Mischael und Asarja): „Welcher Gott kann euch dann aus meiner Gewalt erretten?“ (Dan 3,15), jetzt aber bringst du Worte des Lobpreises und der Verehrung. Ich möchte keinen Anteil an dir noch an deinem Lobpreis. Wer ist allein würdig, mich zu preisen? Israel, wie es heißt: „Das Volk, das ich mir erschaffen habe, wird meinen Ruhm verkünden“ (Jes 43,21). Der Lobpreis nützt Nebukadnezzar nichts. Er wird ihm auch nicht als späte Reue oder Einsicht angerechnet. Sein Verhalten disqualifiziert ihn, sein Werk entlarvt ihn. Diese Passage ist auch eine Mahnung an Christen im Umgang mit dem Gott, den sie durch das Judentum kennen gelernt haben und im Umgang mit oft zu laut geäußertem Philosemitismus. Denn einst wird danach gefragt werden, welches Verhalten man an den Tag gelegt hat. In bAboda Zara 10b beispielsweise diskutiert der Vertreter der feindlichen Besatzungsmacht, der römische Kaiser Antoninus mit Jehuda ha-Nasi, der üblicherweise einfach Rabbi genannt wird. Antoninus fragt den Rabbi: „Werde ich die kommende Welt betreten? Ja, antwortet dieser. Aber, meint der im übrigen natürlich bibelfeste Antoninus, es heißt doch beim Propheten Obadja (1,18): „Und vom Haus Esau wird keiner entkommen“. Das, antwortet Rabbi, bezieht sich nur auf jene, deren üble 92 Grundkurs Judentum Das erste und zweite Gebot Taten denen Esaus gleichen. Aber weiter hat man gelernt: „Und vom Haus Esau wird keiner entkommen“ – daher könnte man meinen, keiner! Darum sagt die Schrift (dagegen): „vom Haus Esau“, um es nur auf die anzuwenden, die so handeln wie Esau. Aber, sagte Antoninus, es steht geschrieben: „Dort (in der Hölle) liegt Edom, mit seinen Königen und all seinen Fürsten“ (Ez 32,29). Hier, so meint Rabbi, (heißt es) „seinen Königen“, es heißt nicht „all seinen Königen“, „all seine Fürsten“, aber nicht „all seine Oberen“.“ Es gilt also der Grundsatz: Nur wer das Werk Esaus unterstützt - und damit sind Götzendienst, Ausschweifung und Mord in den verschiedensten Facetten als Werk der römischen Regierung gemeint -, wird keinen Anteil an der kommenden Welt haben. Das bringt mich zum letzten Punkt. 4. Die Völker und Israel Ohne im Detail hier die Zeit zu haben, die nuancierte Einstellung des Judentums gegenüber den Nichtjuden aufzuzeigen, will ich doch im Zusammenhang mit dem 2. Gebot deutlich machen, dass ein doppelter Prozess der Selbstbestimmung abläuft. Zum einen werden die Nichtjuden, wie wir bereits sehen konnten, als Götzendiener typisiert. Oft ist in der rabbinischen Literatur nicht von Völkern, sondern von „Sternendienern“ oder „Götzendienern“ die Rede. Götzendienst ist der wohl häufigste Vorwurf an die Nichtjuden. Daher steht nach rabbinischer Ansicht die Unterstützung von Nichtjuden immer unter dem Verdacht, ihnen beim Götzendienst zu helfen. Dadurch sind auch viele Gegenstände von Nichtjuden nicht zum Erwerb erlaubt und der Handel eingeschränkt. Man darf keine Tiere verkaufen, keine Häuser vermieten usw., weil sie für Götzendienst genützt werden könnten. Nichtjüdischer Wein ist verdächtig, weil er für eine Libation verwendet werden könnte (mAboda Zara 4). Auch die Teilnahme an Veranstaltungen von Nichtjuden (Hochzeiten, Bankette, Theater oder Zirkus) gilt wegen der Gefahr des Götzendienstes als verboten. Besonderen Stellenwert erhält natürlich die Mischehe, vor der bereits in der Bibel ausgiebig gewarnt wurde und die man in nachexilischer Zeit gänzlich ablehnt. Zwei Wege gibt es nach jüdischer Ansicht, dem Verdikt des Götzendienstes zu entkommen. Sie bestehen in der Annahme der sieben noachidischen Geboten und in der Konversion als Proselyt, hebräisch ger. Sifra Behar 8 (110a) belegt bereits die Unterscheidung zwischen dem ger tsedeq und dem ger toschav, der weiterhin nicht koscheres Fleisch isst. Klaus Müller arbeitet die Unterscheidung heraus und meint: „Der ger toschav ist der Beisasse aus den außerjüdischen Völkern, der die sieben noachidischen Gebote für sich als verbindlich anerkannt hat“.14 Maimonides kann schließlich zum ger toschav formulieren: „Ohne Beschneidung und Tauchbad ist er zu akzeptieren und gilt als ein Frommer der Weltvölker“.15 Die noachidischen Gebote sind dabei nicht einklagbares und kontrolliertes Recht, sondern „Ausdruck des theologischethischen Horizonts, in dem sich die geistig-religiöse Nachbarschaft zum außerjüdischen 14 15 Grundkurs Judentum Mitmenschen vollziehen kann“.16 Der ger tsedeq ist schließlich der Proselyt, der die jüdischen Gebote zur Gänze zu übernehmen bereit ist. In der bekannten Diskussion in tSanhedrin 13.2 und bSanhedrin 105a wird klar, dass jene Nichtjuden, die Gott nicht vergessen, Anteil an der kommenden Welt haben. Diese Option steht allen Menschen ohne Unterschied offen. Sie steht aber als warnendes Vorzeichen auch immer vor Israel. Denn Israel wird seine Existenz und seine Identität nur bewahren, wenn es an Gott festhält. In den Versuchen der Rabbinen, eine Definition zu finden, wer in den Bereich „Israel“ gehört und wer nicht, spielt die Kategorie des Götzendienstes eine herausragende Rolle. An Anerkennung oder Ablehnung Gottes entscheidet sich, ob man zu Israel oder zu den götzendienerischen Völkern gezählt wird. Immer wieder spürt man die Gefahr des Götzendienstes als Angst vor dem Verlust der jüdischen Identität. So ist davon die Rede, dass Konvertiten noch der "Geruch" von Götzendienst anhafte (bQidduschin 75a; bSanhedrin 94a). Die sog. Minim, also die Häretiker, die man oft als Christen identifizieren wollte, aber breiter und umfassender einfach jüdische Menschen bezeichnen, die sich vom Judentum – rabbinischer Kategorie – abzulösen beginnen, gelten als Götzendiener. Von ihnen heißt es, sie lehnten die kommende Welt und die Auferstehung der Toten ab (tChullin 1.1; mBerakhot 9.5; bSanhedrin 90b u.ö.). Sie schmoren wie auch die Apostaten in der Gehenna (tSanhedrin 13.4-5), wo nach Exodus Rabba 19.4 ihre Beschneidung rückgängig gemacht wird. Wegen ihres Abfalls von Gott gelten sie als in mancher Hinsicht schlechter als Nichtjuden (tSchabbat 13.5; tChullin 1.1 u.ö.). Diese kurzen Bemerkungen genügen, um zu zeigen, dass das Verbot des Götzendienstes im traditionellen Judentum die entscheidendste und wichtigste Kategorie der Zuordnung oder Ausgrenzung darstellt. Dieser Umstand hat wichtige Auswirkungen auf die Begegnung mit Christentum und Islam. Während in der Geschichte der Islam im jüdischen Bewusstsein als monotheistisch galt und daher eine relativ hohe Wertschätzung erzielte, wurde das Christentum häufig wegen der Trinität aber auch wegen der Verehrung von Heiligen als götzendienerisch abgelehnt. Aber auch hier gab es bemerkenswerte Ausnahmen wie etwa Maimonides, der dem Christentum eine positive Funktion in der Vermittlung des Gottesglaubens zubilligte. Heute ist der Dialogprozess mit den zwei monotheistischen Religionen recht weit gediehen und vielerorts kommt es zu ehrlichen und offenen Begegnungen auch zwischen traditionellen Juden und Christen sowie Moslems. Eine befriedigende und umfassende Annäherung zwischen Christen und orthodoxen Juden lässt aber noch auf sich warten. Diese wird nicht zuletzt auch davon abhängen, wie sehr Christen in der Praxis zeigen, dass sie das „Werk Esaus“ nicht tun. 16 Müller, Tora 75. Maimonides, Hilkhot issure bi´a 14,7. 93 Das erste und zweite Gebot 94 Müller, Tora 79. Grundkurs Judentum Menschenrechte Grundkurs Judentum Gerhard Bodendorfer Menschenrechte und Menschenwürde in der rabbinischen Literatur, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000), 67-92. Wer die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UNO) von 1948 aufmerksam liest, wird immer wieder aufs Neue überrascht sein, wie einleuchtend sie uns zum einen erscheinen und wie sehr wir dennoch feststellen müssen, dass manche davon selbst in zivilisierten Ländern nicht umgesetzt werden. So heißt es etwa im Artikel 23: „(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit. (2) Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. (3) Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.“ Ganz zu schweigen von den zahlreichen Verletzungen fast aller Artikel in der großen Mehrzahl der Staaten, was uns direkt vor unseren Augen auf dem Balkan erst jüngst wieder auf erschreckende Weise nahegebracht wurde. Sucht man als Bibliker nach Grundlagen für die Menschenrechte, so ist unschwer zu den verschiedenen Artikeln ein biblischer Ansatz zu finden, der den Weg in deren Richtung weist. Die jüdische Tradition hat die Ansätze weiterentwickelt. Eine detaillierte Betrachtung der Entwicklung der Menschenrechte auf der Basis der Menschenrechtsdeklaration wäre lohnend, ist jedoch hier in diesem beschränkten Rahmen nicht zu leisten und zum Teil bereits geleistet worden. Ich verweise dazu auf das wichtige Buch von Haim Cohn, Human Rights in Jewish Law.1 Diese Arbeit vorausgesetzt, will ich hier einen biblischen Teilbereich herausgreifen, der in der theologischen Betrachtung immer wieder eine wichtige Rolle spielt, nämlich das Urteil der Psalmen über den Menschen. Verschiedene Psalmtexte sagen Grundsätzliches über den Menschen, seine Verfasstheit, Stellenwert und Würde aus. Von solchen Texten ausgehend, möchte ich einen Blick in die rabbinische Rezeption werfen und in diesem Umfeld nach verwandten und weiterführenden Aussagen fragen, ohne alle Bereiche auch nur annähernd abdecken zu können. I. Der Mensch neben Gott und vor den Engeln 1. »Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« (Ps 8,5) Blick auf seine mehr und deutlicher erfahrene Winzigkeit im Kosmos. Der Psalm stellt die Frage in seinem Zeitkolorit im Wissen um Gottes gewaltige Schöpfermacht. Welche Rolle sollte in ihr der Mensch spielen? Warum denkt Gott an ihn, warum hat er ihn selbst fast wie einen Gott geschaffen? Den Rabbinen war der Vers vor allem die erste Betrachtung wert. Was ist der Mensch, der doch voller Vergehen und Verbrechen ist? Nach Ansicht der frühjüdischen Gelehrten sind es daher auch die kritischen Dienstengel, welche den Ps 8,5 bei der Schöpfung (Gen 1,26) als Anfrage an Gott stellen. Sie sind es, die Gottes Entscheidung, den Menschen zu schaffen, mit äußerster Skepsis begegnen. Ihnen muss Gott den Menschen geradezu „verkaufen“. So argumentiert Gott in NumR 19.3//KohR 7.33 zu 7,23; Tan Chuqqat 6//TanB Chuqqat 12 (55b); PRK 4.3; PesR 14.9 mit der Weisheit des Menschen. Diese Weisheit übersteigt die der Engel. Als Beweis dient die Benennung der Tiere durch den Menschen. Die Engel kennen die Namen der Tiere nicht, der Mensch vermag sie zu benennen. Stier, Löwe, Pfau, Pferd, Kamel und Adler erhalten vom Menschen die richtigen Namen. Der Mensch benennt sich selbst ADAM, weil er von der Ackererde abstammt und auch Gott wird vom Menschen mit seinem richtigen Namen, nämlich JHWH, versehen (Zitat Jes 42,8: »Ich bin JHWH, das ist mein Name«). Die Texte zeigen gerade aufgrund der Benennung Gottes überzeugend, dass die Namengebung durch den Menschen, wie sie in Gen 2,19f. erfolgt, keine Herrschaftsposition (etwa des Menschen über die Tiere) ausdrückt, sondern die Weisheit des Menschen beschreibt, die richtigen Namen zuweisen zu können.2 Der Mensch, so läßt sich aus dieser Tradition ableiten, ist also weise, und zwar weiser als die Engel. Der Kontext könnte darauf schließen lassen, dass die Engel die Gleichwertigkeit des Menschen nicht anerkennen wollen.3 Immer wieder begegnen in der rabbinischen Literatur Beispiele, wie sehr die Engel den Menschen in seiner Position abzuwerten versuchen. Eifersucht, Neid und Mißgunst finden sich hier gepaart mit der keineswegs falschen Erkenntnis der Sündhaftigkeit und Labilität des Menschen. Die genannte Tradition besagt noch nichts über das Verhalten des Menschen, sie zeigt nur, dass er das bevorzugte Geschöpf Gottes ist, das seine Schöpfung zu erkennen - weil zu benennen - in der Lage ist. Anders ist dies in der folgenden Tradition. In Tan Bechuqqotai 4//TanB Bechuqqotai 6 (56b), PesR 25.3 offenbart Gott seinen Wunsch, die Tora durch den Menschen aufrichten zu lassen. Die Tora, das ist der innerste Bauplan der Welt, das Zentrum der Schöpfung, der Kraftstoff, der die Maschine Welt in Gang hält. Fehlt die Tora, versinkt die Welt wieder in Tohu und Bohu. Der Mensch nun ist es, der diese Tora aufrecht erhält, die Engel sind dazu nicht imstande. Sie haben gar nicht die Voraussetzung für die Tora. Sie essen nicht (Speisegebote), sie gebären nicht (Regeln über die Geburt), sie sterben nicht usw. (Regeln über den Umgang mit Toten), weshalb sie eine ganze Reihe von Wer hat sich noch nie diese Frage gestellt? Wir stellen sie einerseits angesichts von Massenvernichtung oder Brutalitätsorgien des Menschen ebenso wie andererseits im 2 1 3 New York 1984. Vgl. auch das Heft 2 des Bandes 26 der Zeitschrift Concilium (1990), das sich dem „Ethos der Weltreligionen und Menschenrechte“ widmet. 95 Menschenrechte 96 Vgl. dazu den Artikel von G. Büsing, Adam und die Tiere - Beobachtungen zum Verständnis der erzählten Namengebung in Gen 2,19f., in: G. Bodendorfer/M. Millard (Hgg.), Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft (FAT 22), Tübingen 1998, 191208. Vgl. die Auslegung bei P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung (StJud 8), Berlin-New York 1975, 89. Grundkurs Judentum Menschenrechte Grundkurs Judentum Torarichtlinien überhaupt nicht einhalten können. Nur der Mensch bereitet Gott ein Brandopfer, einen Tisch am Sabbat und bringt sich selbst im Gelübde dar. In bSchabbat 88b (vgl. PesR 20.4 und ARN 2) erwächst dem Menschen aus der Annahme der Tora geradezu eine lebensbedrohende Gefahr durch die Engel. „Diesen geheimen Schatz, der von dir 974 Generationen vor der Weltschöpfung verborgen wurde, möchtest du Fleisch und Blut anvertrauen? »Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« (Ps 8,5) »Herr, unser Herrscher, / wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde; über den Himmel breitest du deine Hoheit aus« (Ps 8,2).” Gott muss Mose schließlich vor den Engeln beschützen. Noch eine andere Wendung erfährt die Darlegung, wenn die Engel von Gott aufgrund historischer Erfahrung überzeugt werden. Dies hebt vor allem auf das positive Beispiel der Väter ab. In Tan Wa-jera 18 zeigt Gott die Ehre Abrahams, Sara und die Opferung des Isaak. Abraham, Sara und Isaak werden so zu vorbildlichen Menschen, zu MenschenBildern, die zeigen, wie Gott sich den Menschen vorstellt, dessen er gedenken will. Nach TanB Wa-jera 4 (43a) lädt Gott die Engel zu einem Besuch des frischbeschnittenen Abraham ein und sagt als Antwort auf die Frage der Engel, was denn der Mensch sei, dass er sich - angesichts von Blut und Gestank - seiner annehme, dass ihm der Geruch des Haufens voller Vorhäute nach der Beschneidung Abrahams und seiner Sippe lieber als Myrrhe und Weihrauch sei. Nach tSota 6,5 überzeugt das Schilfmeerlied als Ausdruck der Anerkennung Gottes die Engel vom positiven Effekt der Menschenschöpfung, nach Meinung des R. Simeon b. Eleazar ist es allerdings wieder die Opferung Isaaks. In GenR 8.6 lassen sich die Engel von Gott schon dadurch bereits zu einem Lobpreis hinreißen, dass er ihnen erklärt, dass die Schaffung von Fischen und Landtieren nutzlos gewesen wäre ohne den Menschen, der sie essen soll. Wesentlich gewalttätiger als in diesem eher pragmatischen Beispiel löst Gott das Problem nach bSanhedrin 38b (und PesR 20.4). Demnach tötet/verbrennt er gleich zwei Klassen von Engel, die sich gegen die Menschenschöpfung auflehnen, sodass die dritte resigniert hinnimmt, was Gott tut. Als bei der Sintflut die Schlechtigkeit des Menschen offenbar wird, erinnen die Engel Gott daran, dass die vernichteten Engelklassen doch nicht Unrecht gehabt hätten. Doch Gott hält auch in dieser schwierigen Belastung (mit Zitat Jes 46,4) zu den Menschen (vgl. SER 31). In GenR 31.12 stimmt Gott an dieser Stelle den Engeln in ihrer Skepsis zu, schließt zugleich aber einen Bund mit den Menschen in der Arche, damit diese überleben können. Die Menschenschöpfung war also mit ziemlichen Schwierigkeiten verbunden. Gott musste sein ganzes Gewicht einsetzen, um dem Widerspruch der Engel gegen diese Entscheidung etwas entgegenzusetzen. Über die Menschenwürde erfahren wir aus dieser Psalmenrezeption vor allem, dass der Mensch von Anfang an den Schutz und das Wohlwollens Gottes braucht und dass er dazu ausersehen ist, die Tora auf Erden zu erfüllen. Von Anfang an steht also der Mensch im Fokus der Tora, der ethischen Weisung. Aufgrund seiner ihm inhärenten Weisheit kann der Mensch sie auch befolgen. Wahres Menschsein wird von den Erzeltern Israels exemplarisch aufgezeigt. Der Einsatz der Engel gegen den Menschen zeigt die Problematik der Menschenschöpfung an sich auf. Der Mensch ist nicht einfach gut, er hat die potentielle Fähigkeit zu Gutem wie Bösem. Schäfer sieht zurecht, dass „die Kritik der Engel... also keine Verurteilung einzelner Vergehen und Sünden des Menschen (ist), sondern sie richtet sich gegen die Existenz des Menschen überhaupt... Einige Midraschim halten deswegen auch den Engeln entgegen, daß Gott von Anfang an um die Sündhaftigkeit des Menschen gewußt und diese akzeptiert hat. Die Barmherzigkeit Gottes und die Buße des Menschen ermöglichten die Existenz des Menschen.“4 Die Engel sind die Anwälte der Gerechtigkeit, und sie beabsichtigen, auch Gott auf das Attribut der Gerechtigkeit einzuschwören und damit einen Anspruch durchzusetzen, dem der Mensch nicht entsprechen kann, wodurch die himmlische Sphäre sozusagen unter sich bliebe. Gott aber will den Menschen mit gutem und bösem Trieb, mit der Fähigkeit zu sündigen und der Fähigkeit umzukehren, ebenso wie mit Möglichkeit, das Gute und Richtige zu tun. Gott schafft den Menschen in diesem Wissen und in dieser inneren Spannung, er verdrängt den Gedanken an die Gerechtigkeit und lässt den Gedanken an seine Barmherzigkeit sich durchsetzen (vgl. GenR 8.4f.). 2. »Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoß nicht für immer!« (Ps 44,24) Der Mensch definiert sich aus seiner bleibenden Gottesbeziehung. Bricht der Kontakt zu Gott ab, wendet Gott sein Gesicht ab, oder scheint er gar zu schlafen, zerfällt die Welt in Chaos und Gewalt. Gerade deshalb ist die dauernde Kontaktaufnahme mit Gott von immenser lebenserhaltender Bedeutung. Sie geschieht durch Gebet, Bitte und Klage, aber auch durch den kritischen Dialog. So haben nach Ansicht von tSota 13,9; ySota 9,11,24a; bSota 48a die Leviten täglich den Psalmvers 44,24 gebetet, um Gott aufzurütteln, da Israel in Not ist, während die Völker, die es unterdrücken, in Wohlstand und Glück lebten. Vor allem die Erzeltern, Mose und David bieten Vorbilder für eine dialogische Rede mit Gott, in der er in seinem Denken und Verhalten bewegt und verändert werden kann. Immer wieder begegnen im rabbinischen Schrifttum Belege für einen Disput, bei dem die menschlichen Gesprächspartner als Sieger hervorgehen. Nur ein Beispiel sei hier genannt, nämlich bSchabbat 89a. Hier wird Isaaks Gespräch mit Gott beschrieben. Gott hat gegenüber Abraham und Jakob festgestellt, dass Israel sich verfehlt hat. Beide Erzväter stimmen der Bestrafung durch den Märtyrertod zu. Doch will sich Gott damit nicht zufrieden geben. Erst Isaak lehnt sich auf. Er weist Gott darauf hin, dass es sich hier um seine eigenen Kinder handelt, die er nicht einfach nur dann gut behandeln kann, wenn sie sich gut verhalten: „Und wie viel haben sie überhaupt gesündigt? 70 Jahre beträgt das Leben des Menschen (Ps 90,10); zieh davon 20 ab, für die du sie nicht strafst, bleiben 50; zieh davon wieder 25 für die Nächte ab, so verbleiben 25; zieh davon wieder 12½ für Beten, Essen und Austreten ab, so verbleiben 12½. Willst du alle auf dich nehmen, ist es gut, wenn nicht, nehme ich die Hälfte auf mich, und du die andere Hälfte auf dich. Willst 4 97 Menschenrechte 98 Schäfer, Rivalität 221. Grundkurs Judentum Menschenrechte Grundkurs Judentum du aber, dass ich alles auf mich nehme, so habe ich mich ja vor dir opfern lassen!“ Isaaks Opferung in Gen 22 bewirkt an dieser Stelle stellvertretend die Sühne des Volkes.5 Gott wird an seine Vaterschaft gemahnt und insgesamt seine mögliche Sündhaftigkeit auf ein Minimum zu reduzieren gesucht. Aus dem Text wird nicht zuletzt deutlich, dass die Menschheit immer wieder große Einzelpersönlichkeiten braucht, die für sie eintreten und ihr Recht zu wahren trachten. Die rabbinische Tradition lässt keinen Zweifel daran, dass sie die eigentliche Würde des Menschen an die Gotteskindschaft bindet und seine besonderen Rechte aus seinem Verhalten und seiner Bereitschaft ableitet, den Willen Gottes zu erfüllen. Die Erfüllung der Weisung Gottes unterscheidet die Menschen voneinander, nicht Hautfarbe oder gesellschaftlicher Rang. Die Annahme der Tora am Sinai hätte daher Israel selbst in himmlische Höhen erhoben und von Not und Tod befreit. 3. »Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie jeder der Fürsten« (Ps 82,6f.) Mit der Ausnahme Tan Bereschit 7, wo die Verse auf den Menschen (Adam) und seinen bösen Trieb bezogen werden, sind sich die Rabbinen darüber einig, dass in Ps 82,6f. Israel gemeint ist. Israel allein habe durch die Gabe der Tora am Sinai die Chance erhalten, den Engeln zu gleichen, denen der Tod nicht droht. Doch schon mit der Sünde mit dem Goldenen Kalb – die zur eigentlichen Ursünde Israels wird – habe Israel diesen Status verspielt: »Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie jeder der Fürsten« (V 7) (Mek Bachodesch 9 L II 272; bAboda Zara 5a; KohR 3.19; 8.3; TanB Chuqqat 18 58a; PRK 4.4; PesR 10.4 und KohR 8.3 sowie die folgenden Belege). ExR 32.1 geht darüber hinaus. Nicht nur der Tod wäre erspart geblieben, auch das Exil.6 Nach LevR 11.3 hätten die Israeliten nach der Übernahme der Tora sogar fliegen können (Anklang an Ex 19,4). LevR 18.2, eine Auslegung von Hab 1,7 im Kontext der Exegese von Lev 15,1f., nennt Lepra als Strafe für Israels Treuebruch. Auch in NumR 7.4 wird diese Meinung vertreten. Nach diesem Text hätte Israel in der Wüste nicht einmal austreten müssen. In NumR 16.24 zu Num 14,11 steht der Psalmvers im Rahmen einer langen Aufzählung von Gottes Wohltaten an Israel und Israels Starrsinn, beginnend in Ägypten. Schon am Schilfmeer hatte das Volk Gott getrotzt (Ps 106,7). Am Sinai war Gott mit Tausenden von Engeln herabgestiegen und hatte Israel mit Kronen geschmückt und mit Waffen behängt bzw. mit herrlichem Gewand bekleidet. Weder der Todesengel noch irgendein Übel hatte Macht über sie, weil der unaussprechliche Gottesname auf den Waffen geschrieben stand. Doch sie stellten das Goldene Kalb auf, und sofort mussten sie alles wieder ablegen. 5 6 Vgl. GenR 56.10; HldR 1.14; LevR 29.9; Targum zu Gen 22. Das Pessachlamm erinnert schließlich Gott an dieses Opfer, und jedes Jahr soll das Osterfest durch Pessachblut und Pessachlamm an jenes Ereignis erinnern. Für alle Zeiten bleibt Isaaks Tat wirksam und jedes Opfer ist nur vergegenwärtigender, erinnernder Nachvollzug des Verdienstes Isaaks. In Sifre Dtn Ha´azinu §320 ist das Exil nicht direkte Folge der Sünde mit dem Goldenen Kalb, wohl aber Folge der Auflehnung gegen David in 2 Sam 20,1. 99 Menschenrechte Als Israel die Tora bekam, sagte Gott dem Todesengel, dass er über alle Menschen außer über Israel Macht hat. Jose ha-Gelili habe festgestellt, dass der Engel sich bei Gott beschwerte, dass er nutzlos auf der Welt sei. Gott antwortete ihm, er sei als Vernichter der Götzendiener geschaffen worden, doch Israel dürfe er nicht anrühren. Israel sollte nach dem Willen Gottes ewig leben7 (Dtn 4,4). Um dies sicherzustellen, hatte Gott die Tafeln dem Mose übergeben. In Ex 32,16 findet sich das entscheidende Stichwort „charut“ (eingegraben), das als „cherut“ (Freiheit) zu lesen ist. Gemeint ist: Freiheit von den Fremdvölkern (Jehuda), Freiheit vom Tod (Nehemja) oder Freiheit von Leid (Rabbi). All dies war durch Israels Verehrung des Goldenen Kalbs zunichte gemacht worden.8 Es folgt eine fast verzweifelte Rede Gottes: „Ich dachte, ihr würdet euch nicht verfehlen und Leben haben und für immer Bestand, so wie ich, so wie ich Leben und Bestand habe für immer und ewig. Ich sagte: »Ihr seid göttliche Wesen, ihr alle seid Söhne des Höchsten« (Ps 82,6) wie die Dienstengel, welche unsterblich sind. Doch, nach all dieser Größe, wolltet ihr sterben! »Doch nun sollt ihr sterben wie Adam« (Ps 82,7). Das bedeutet, wie Adam, dem ich ein Gebot auferlegte, das er befolgen sollte und leben und bestehen für immer, wie es heißt: »Seht, Mensch war wie einer von uns«9 (Gen 3,22), sowie: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild« (Gen 1,27). (Das bedeutet,) dass er leben sollte und bestehen wie er. Er aber richtete sein Werk zugrunde, und ich machte meinen Beschluss nichtig, denn er aß von dem Baum, und ich sagte zu ihm: »Denn Staub bist du, (zum Staub musst du zurück)« (Gen 3,19). Auch euch habe ich gesagt: »Ihr seid göttliche Wesen« (Ps 82,6). Ihr habt euch selbst zugrunde gerichtet wie Adam, deshalb: »Doch nun sollt ihr sterben wie Adam« (Ps 82,7).“10 Diese Unheilsgeschichte setzt sich in der Wüste fort. Das Manna war so wundersam gewesen, dass es sich in schmackhaftes Fleisch verwandelte (Ps 68,25) und die Israeliten nicht austreten mussten. Doch murrten sie auch gegen das Manna. Und selbst die Kundschafter hatte Gott geschützt, indem er die feindlichen Mächte ablenkte. Doch auch sie murrten. Diese Geschichte soll aufzeigen, dass der Mensch allgemein und Israel im speziellen immer wieder Gottes Zuwendung ins Gegenteil verkehrt hat. Es hat es sich so selbst zuzuschreiben, nicht göttlich, sondern sterblich zu sein, nicht unbesiegbar und ins Exil geworfen. Versöhnlicher klingt DtnR 7.12. Ausgehend von Dtn 29,4 wird ausgesagt, dass Gott mehr als ein menschlicher Vater sein Volk behütete und es in höchste Höhe erhob (Ps 82,6 als Erklärung zu Dtn 1,31). So wird er sich ihm auch im Alter zuwenden und auch in der zukünftigen Welt Israel erhöhen (Jer 31,20). Sifre Dtn Ha´azinu § 306 überliefert eine Lehre des R. Simaj, wonach der Mensch eigentlich ein Mittelwesen sei, seine Seele stamme vom Himmel, sein Körper von der Erde, doch: „Wenn der Mensch die Tora erfüllt und den Willen seines Vaters im Himmel 7 8 9 10 100 Vgl. auch ExR 32.7. Ps 82,7 bedeutet in dieser Tradition, dass Israel den Völkern gleichgestellt wird. Diese haben einen Schutzengel, so auch Israel. Parallele zu diesem Abschnitt Tan Tissa 16 und Eqeb 8; TanB Wa-era 9 (13a). Hier positiv als Zustand vor dem Sündenfall zu lesen. Vgl. zum letzten Abschnitt auch TanB Schelach 2 (39a). Grundkurs Judentum Menschenrechte tut, siehe, dann ist er wie die oberen Geschöpfe, wie es heißt: »Ihr seid göttliche Wesen, ihr alle seid Söhne des Höchsten« (Ps 82,6). Erfüllt er aber die Tora nicht und tut nicht den Willen seines Vaters im Himmel, siehe, dann ist er wie die unteren Geschöpfe, wie es heißt: »Doch nun sollt ihr sterben wie Adam« (V 7). R. Simaj schließt eine Reflexion über die Auferstehung an, wo Himmel und Erde den Menschen richten (Ps 50,4). In einer Reflexion über die Tora in HldR 1.2 §5 sind Israel die „Fürsten Gottes“ nach 1 Chr 24,5, wenn sie in Reinheit leben. Dann können sie sowohl den oberen wie den unteren Lebewesen ihren Willen aufdrücken. Auch GenR 8.11 erläutert zu Gen 1,27, dass der Mensch als Mittelwesen vier Eigenschaften mit der himmlischen Sphäre und vier Eigenschaften mit den Tieren gemein hat. Mit den Engeln verbindet ihn der aufrechte Gang, das Sprechen, Verstehen und (die Art des) Sehen(s). Mit den Tieren verbindet ihn Essen und Trinken, Fortpflanzung, Ausscheidung und Tod.11 Das Sterben des Menschen gehört nach dieser Tradition aber zum natürlichen Bestandteil seiner Existenz, wobei ihm wieder das ewige Leben winkt, wenn er Gottes Geboten entsprechend lebt. Die Beschreibung beinhaltet auch keine Wertung. Ihr folgt allerdings ein Auftrag: „»Und herrscht über die Fische des Meeres« (Gen 1,28). R. Chanina sagte: Wenn er es verdient (heißt es): «uredu» (»herrscht«); wenn er es nicht verdient: «yerdu» (»laßt ihn untergehen«). R. Jakob aus Kfar Chanan sagte: Von dem, der in unserem Bild und Abbild bleibt: «uredu»; aber von dem, der nicht in unserem Bild und Abbild bleibt: «yerdu».“ Hier klingt die Abbildfunktion des Menschen an, die ihm als Auftrag bei der Schöpfung mitgegeben wird. Wo der Mensch also Anteil an der himmlischen Sphäre bekommen hat, muss er sich als Gottes Abbild bewähren. 4. „Wie bei Zwillingen ist es: Wenn einer Kopfschmerzen hat, spürt es der andere. Wenn man so sagen darf, sagte der Heilige, gepriesen sei er, zu seinem Volk: »Ich bin bei ihm in der Not« (Ps 91,5)“ (PesK 5.6) Gott und Mensch sind Zwillinge. Für Gott heißt daher seine enge Verwandtschaft auch Mit-Leid und Solidarität mit dem in der Not Befindlichen, wie das Gleichnis in PesK 5.6 sagt. Was aber meint das Abbild-Sein für den Menschen? Wohl nicht in erster Linie äußere Ähnlichkeit, wenngleich manche Texte auch dies nahelegen. Meint es die Stellvertretung Gottes auf Erden als Herrscher und Verwalter? Oder meint es die Nachahmung Gottes als Vorbild im Miteinander? Die Rabbinen zielen in erster Linie auf letzteres ab und beschreiben die Abbildfunktion als ethische Kategorie. Dazu dienen vor allem - paradoxerweise - die Kontrastgleichnisse, in denen Gott als der ganz andere geschildert wird, der gerade nicht so zu handeln pflegt, wie es Menschen üblicherweise tun. In diesen Kontrastgleichnissen spiegeln sich die idealen Erwartungen an den Menschen. Gott wird als bescheiden und großzügig dargestellt, als barmherzig und langmütig, als Person, der als Überlegener niedrige Dienste tut und damit die sozialen Grundkurs Judentum Normen umkehrt.12 Gott bleibt vor allem in seinen Fähigkeiten unübertrefflich, aber zugleich dem Menschen aufs Nächste verwandt. Aus dieser Verwandtschaft resultieren wichtige Bestimmungen in bezug auf die Menschenwürde. Das allen Menschen gleichermaßen auferlegte Tötungsverbot etwa begründet Mek Bachodesch 8 (Lauterbach II 262f.) zu Ex 20,12-14 folgendermaßen: „Auf welche Weise wurden die Zehn Gebote gegeben? Fünf auf einer Tafel und fünf auf der anderen Tafel. Es steht geschrieben: »Ich bin YHWH, dein Gott«; und gegenüber steht geschrieben: »Du sollst nicht morden«. Die Schrift weist darauf hin, dass es jedem, der Blut vergießt, angerechnet wird, als hätte er (Gottes) Ebenbild geschmälert. Ein Gleichnis über einen König aus Fleisch und Blut. Er betrat ein Land, und sie stellten ihm Standbilder auf und machten ihm Bildnisse und prägten ihm Münzen. Nach einiger Zeit stürzten sie seine Standbilder um, zerstörten seine Bildnisse und entwerteten seine Münzen und schmälerten (so) das Ebenbild des Königs. So wird jedem, der Blut vergießt, angerechnet, als hätte er (Gottes) Ebenbild geschmälert, wie es heißt: »Der das Blut eines Menschen vergießt usw. denn im Bild Gottes machte er den Menschen« (Gen 9,6). Es steht geschrieben: »Du sollst [keine anderen Götter haben]«; und gegenüber steht geschrieben: »Du sollst nicht ehebrechen«. Die Schrift weist darauf hin, dass es jedem, der Götzendienst begeht, angerechnet wird, als habe er die Ehe gebrochen vom ORT weg, wie es heißt: »Die Frau, die Ehebruch begeht unter ihrem Gemahl, nimmt Fremde« (Ez 16,32); und es steht geschrieben: »Und es sprach YHWH zu mir: Liebe eine Frau, die von einem anderen geliebt wird und die Ehe bricht [so, wie der Herr die Kinder Israels liebt, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden und Opferkuchen aus Rosinen lieben]« (Hos 3,1).“ Der König im Gleichnis wird geehrt, indem man ihm Bildnisse aufstellt. Werden sie vernichtet, so geht zugleich auch sein Einfluss verloren. Mehr noch, man vernichtet ihn selbst, insofern er sich in den Bildern repräsentiert. Gott ist kein König aus Fleisch und Blut. Er will auch keine Bildnisse als Ebenbilder. Vielmehr stellt der Mensch selbst ein irdisches Ebenbild dar. Tötet man einen Menschen, so tötet man Gottes Bildnis. Ähnlich verhält es sich mit Götzendienst und Ehebruch. In diesen drei Vergehen sind die klassischen „Hauptgebote“ des Judentums angesprochen. Alle drei haben ihre Erklärung in der Ebenbildlichkeit des Menschen. Die Auslegung von Dtn 21,23, wonach ein Gehängter nicht über Nacht auf dem Pfahl hängen bleiben darf, wird in tSanhedrin 9,7 und bSanhedrin 46b dazu verwendet, Gottes Mitgefühl mit dem Verbrecher auszudrücken und im Gleichnis klarzustellen, dass der hingerichtete Straßenräuber ein „Zwillingsbruder“ des Königs (Gottes) ist. Der Mensch ist also auch als Schwerverbrecher ein Bild Gottes, dem Wertschätzung und Ehre gebührt. Es ist in diesem Zusammenhang naheliegend, dass auch die Überlegungen zur Verhängung von Todesstrafe von solchen Einsichten getragen werden müssen. Zum einen ist unschuldig vergossenes Blut nicht ungesühnt zu lassen, zum anderen hat aber auch der Mörder als 12 11 Zur Würde des Menschen gegenüber dem Tier vgl. auch LevR 32.2; KohR zu 10,20. 101 Menschenrechte 102 Vgl. die Zusammenstellung bei T. Thorion-Vardi, Das Kontrastgleichnis in der rabbinischen Literatur (JudUm 16), Frankfurt a. Main u.a. 1986, z.B. 56ff. Grundkurs Judentum Menschenrechte Geschöpf Gottes fundamentales Menschenrecht. mMakkot 1,10 jedenfalls stellt fest, dass ein Gerichtshof, der einmal in 70 Jahren ein Todesurteil fällt, unheilbringend genannt wird. R. Tarfon und R. Aqiba, zwei überaus wichtige Mischnagelehrte, hätten überhaupt kein Todesurteil zugelassen.13 Weiters wurden die menschlichen Gerichtsautoritäten auch mit dem Umstand konfrontiert, dass Gott selbst straft (Ex 20,7, Dtn 5,11), wenn sein Name verunreinigt wurde. Die irdischen Autoritäten konnten daher einen Teil der Strafe Gott überlassen (bSchebuot 21a). Wie der Mensch Ebenbild Gottes ist, so werden auch Gott Attribute zugeordnet, die ihn aufs Engste mit dem Menschen verbinden. Gerade diese Verwandtschaft ermöglicht es schließlich Israel, Gottes Autorität auch in Fragen der Tora freiwillig zu akzeptieren. Denn Gott hat sich vorher - am Exodus und am Schilfmeer - in besonderer Weise als fürsorglicher Vater erwiesen. In einer in mehreren Varianten erzählten Geschichte wird Gott als hübscher Jüngling beschrieben, der die Kinder in Ägypten aufzieht. So heißt es in ExR 23.8: „R. Jehuda spricht: Wer sang dem Heiligen, gepriesen sei er, Lobpreis? Die Kinder. Jene nämlich, die der Pharao im Nil ertränken wollte, waren es, die den Heiligen, gepriesen sei er, erkannten. Auf welche Weise? Wenn immer Israel in Ägypten war und eine von den Töchtern Israels gebären sollte, ging sie aufs Feld und gebar dort. Als sie geboren hatte, verließ sie den Jungen und übergab ihn [der Obsorge des] Heiligen, gepriesen sei er, und sprach: Herr der Welt, ich habe das Meinige getan, tu du das Deinige! R. Johanan (A2) sagte: Sofort stieg der Heilige, gepriesen sei er, herab in seiner Herrlichkeit - wenn man so sagen darf - schnitt ihre Nabelschnur ab, wusch sie und salbte sie; und so sprach Ezechiel: »Und du wurdest auf freiem Feld ausgesetzt, aus Abscheu vor dir« (Ez 16,5); und es steht geschrieben: »Und deine Herkunft: Am Tag deiner Geburt wurde deine Nabelschnur nicht abgeschnitten« (Ez 16,4); und es steht geschrieben: »Ich kleidete dich in bunte Gewänder« (Ez 16,10); und es steht geschrieben: »Und ich wusch dich mit Wasser« (Ez 16,9).Er gab ihm zwei Steine in die Hand; einer fütterte es mit Öl und einer fütterte es mit Honig, wie es heißt: »Er ließ ihn Honig saugen aus dem Felsen« (Dtn 32,13). Und sie wuchsen heran auf dem Feld, wie es heißt: »Zahlreich wie das Gewächs des Feldes machte Ich dich« (Ez 16,7). Und sobald sie herangewachsen waren, gingen sie in ihre Häuser zu ihren Vätern. Als sie gefragt wurden: Wer hat auf euch geachtet?, antworteten sie: Ein netter, hübscher junger Mann stieg herab und hat sich um all unsere Belange gekümmert, wie es heißt: »Mein Geliebter ist glänzend und rot und vor Zehntausenden ausgezeichnet« (Hld 5,10). Und als die Israeliten zum Meer kamen, da waren die Kinder dort mit ihnen, und sie sahen den Heiligen, gepriesen sei er, im Meer, und sie begannen zu ihren Vätern zu sprechen: Dieser ist es, der all diese Dinge für uns getan hat, als wir in Ägypten waren, wie es heißt: »Er ist mein Gott; ihn will ich verehren« (Ex 15,2).“ 13 Zur Diskussion um das Strafmaß, die Beschränkung von Strafen und die Regelungen, welche eine doppelte Bestrafung für ein Delikt verbieten, vgl. bKetubbot 32b; bBaba Kamma 83b; bMakkot 4b.13b und die mittelalterlichen Kommentare zu mMakkot 3,1. 103 Grundkurs Judentum Menschenrechte Auf intensivste Weise wird hier Gottes „Menschlichkeit“ und Nähe zum Ausdruck gebracht, durch die er Israels Vertrauen und Anerkennung gewinnt. Denn Israel soll Gottes Tora anerkennen. II. Der Mensch vor dem Gesetz 1. „»Die Erde mit allen, die auf ihr wohnen, mag wanken« (Ps 75,4), bedeutet, dass die Welt schon lange zerflossen wäre, wenn Israel nicht am Sinai gestanden hätte“ (RutR Peticha 1) In RutR Peticha 1 heißt es: „»Zu der Zeit, als die Richter regierten« (Rut 1,1). R. Jochanan begann (seine Auslegung mit dem Vers): »Höre, mein Volk, ich rede. / Israel, ich klage dich an, ich, der ich dein Gott bin« (Ps 50,7). R. Jochanan sagte: Zeugnis gibt es nur beim Hören. R. Judan sagte im Namen von R. Simon: In der Vergangenheit hatte Israel einen Namen wie der Rest der Völker: »Sabta, Ragma und Sabtecha« (Gen 10,7), in weiterer Folge werden sie nur `mein Volk´ genannt: »Höre, mein Volk, ich rede«. Ab welchem Zeitpunkt an habt ihr es verdient, `mein Volk´ genannt zu werden? Von da, wo ihr am Sinai vor mir spracht und sagtet: »Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und hören« (Ex 24,7). R. Jochanan sagte: »Höre, mein Volk« - in dieser Welt; »ich rede« - in der kommenden Welt, wonach ich den Mund öffnen werde gegenüber den Fürsten der Welt, die in der Zukunft vor mir stehen werden und sagen: Herr der Welt! Diese haben Götzen gedient und wir haben Götzen gedient; diese haben sich der Unzucht schuldig gemacht und wir haben uns der Unzucht schuldig gemacht, diese haben Blut vergossen und wir haben Blut vergossen. Diese gehen in den Garten Eden, wir aber in die Hölle. In diesem Augenblick schweigt der Verteidiger Israels. Das bedeutet, was geschrieben steht: »In jener Zeit tritt Michael auf« (Dan 12,1)... Und der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu ihm: Bleibst du schweigend und hast keine Verteidigung für mein Volk anzubieten? Bei deinem Leben, ich will Gerechtigkeit sprechen und mein Volk retten! Mit welcher Gerechtigkeit? R. Eleazar und R. Jochanan: Einer sagte: Die Gerechtigkeit, mit der ihr für mein Wort eintratet und meine Tora annahmt. Denn hättet ihr meine Tora nicht angenommen, hätte ich die Welt wieder in Tohu und Bohu zurück verwandelt. R. Huna sagte im Namen des R. Acha: »Die Erde mit allen, die auf ihr wohnen, mag wanken« (Ps 75,4), bedeutet, dass die Welt schon lange zerflossen wäre, wenn Israel nicht am Sinai gestanden hätte. Wer hat dann die Welt auf festen Grund gestellt? »Ich selbst habe ihre Säulen auf festen Grund gestellt« (Ps 75,4). Durch das Verdienst des `Ich´. Ich habe ihre Säulen für immer auf festen Grund gestellt. Der andere sagte: Durch die Gerechtigkeit, welche ihr selbst über euch gebracht habt, indem ihr meine Tora angenommen habt; denn wäre es nicht so, hätte ich die Völker euch vernichten lassen.“ Die Begründung des Gerichts liegt hier in der Annahme der Tora durch Israel. Sie garantiert Gottes Zuwendung auch gegenüber den kritischen Anfragen der Völker. Die Grundentscheidung für die Tora hält die Welt am Dasein. Das Vorrecht Israels besteht demnach nicht darin, vorbildlicher als die Völker gelebt zu haben. Niemand leugnet oder 104 Grundkurs Judentum Menschenrechte verdrängt die Fehler und Vergehen Israels. Nur wer den Wert der Gabe der Tora zu verstehen weiß, kann allerdings erahnen, welche Gerechtigkeit in ihr liegt. Sie ist die Ordnung, auf der die Welt ruht. Sie in ihrer ganzen Kraft und Bedeutung anzunehmen, auch wenn man immer wieder an ihr scheitern mag, stellt einen gewaltigen Wert dar. Gott hat die Tora allen Völkern angeboten, und obgleich er wußte, dass sie sie ablehnen würden, überließ er ihnen die freie Entscheidung. Israel hat mit seiner Annahme der Tora die Welt vor dem Chaos gerettet. Darin liegt das besondere Verdienst Israels. In LevR 23.3 heißt es dementsprechend: R. Azarja sagte im Namen des R. Jehuda b. R. Simon. Der Vers (Hld 2,2: »Ein Lotus unter Dornen...«) gleicht einem König, der einen Garten besaß, in dem Reihen von Feigen, Trauben und Granatäpfeln und von Äpfeln gepflanzt waren. Er übergab ihn einem Pächter und zog weg. Nach Jahren kam der König zurück und schaute nach dem Garten, um zu wissen, was geschehen war. Er fand ihn voller Dornen und Disteln vor. Er ließ Schnitter kommen, um ihn zu schneiden. Er blickte auf die Dornen und sah darin einen Lotus wie eine Rose. Er nahm ihn und roch daran und seine Seele kam zur Ruhe darüber. Der König sprach: Wegen dieses Lotus soll der ganze Garten gerettet werden. So wird die ganze Welt nur wegen der Tora geschaffen. Nach den 26 Generationen schaute der Heilige, gepriesen sei er, auf seine Welt, um zu wissen, was mit ihr geschah, und er fand sie voll Wasser in Wasser. Die Generation des Enosch war Wasser in Wasser, die Generation der Flut war Wasser in Wasser, die Generation der Spaltung (= des Turmbaus) war Wasser in Wasser. Also ließ er Schnitter kommen um sie zu schneiden; wie es heißt: »Der Herr thronte über der Flut« (Ps 29,10). Er sah darin einen Lotus wie ein Rose - das sind die Israeliten, und er betrachtete ihn und er roch daran - in der Stunde, als er ihnen die Zehn Gebote gab; und seine Seele kam zur Ruhe darüber - in der Stunde, als sie sprachen: »Wir wollen tun und hören«. Es sprach der Heilige, gepriesen sei er: Wegen dieses Lotus soll der ganze Garten gerettet werden - wegen des Verdienstes der Tora und Israels soll die Welt gerettet werden.“ 2. »Du allein bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Macht den Völkern kundgetan« (Ps 77,15) Wenn die Welt um Israels und der Tora willen erhalten wird, welche Bedeutung haben dann überhaupt die Nichtjuden? Sind sie gerade noch geduldete Menschen zweiter Klasse? Wer die rabbinischen Stellen zu den Völkern anliest, wird auf den ersten Blick vielleicht diesen Eindruck sogar bestätigt bekommen. Immer wieder begegnet man Ausführungen über den Umstand, dass die Völker am Sinai die Tora abgelehnt haben. Über die Folgen dieses schwerwiegenden Fehlers gibt es unterschiedliche Ansichten. Tan Berakha 4, TanB Berakha 3 (28a) und PRK S1.15 zu Dtn 33,2 überliefern Traditionsbeweise, dass die Völker dafür von Gott mit der Höllenstrafe belegt werden. Micha gilt als Zeuge (Mi 5,14), dann David in Ps 77,15. Obwohl Gott wußte, dass die Völker die Tora nicht annehmen würden, bot er sie ihnen an, um ihnen die freie Entscheidung nicht zu nehmen. Nach anderer Ansicht bot er sie ihnen aus Rücksicht auf das Verdienst Abrahams und Isaaks an, die immerhin die Väter 105 Grundkurs Judentum Menschenrechte von Ismael und Esau sind, aus denen schließlich das auch hier wesentlich angezielte Rom entspringt. Gott ist eben nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut. Er ist einzigartig und unvergleichlich (Ps 86,8; Ex 15,11) Die Völker erscheinen des öfteren generell als verderbt, götzendienerisch, ehebrecherisch und arrogant, sind Israel feindlich gesinnt und wollen es ausrotten. Sieht man jedoch näher hin, bildet sich ein viel differenzierteres und nuancierteres Bild.14 So ist einmal zu unterscheiden „zwischen allen oder einzelnen Weltvölkern en bloc und Individuen oder Gruppen aus den Weltvölkern, die in eine positive Beziehung zu Israel oder zum Gott Israels getreten sind, treten oder treten werden. Dazu zählen hauptsächlich die Proselyten (gerîm), die Gottesfürchtigen (yir´ê schamayîm), die Noachiden (bne noach), die gerechten Nichtjuden (goyîm zaddîqîm) und manchmal die Fremden, die ihre eigenen Traditionen getreu wahren (nokrîm).“15 Eine besondere Bedeutung haben die Verpflichtungen der sieben sog. noachidischen Gebote erlangt, deren Einhaltung den Völkern auferlegt wird. Sie betreffen nach tAboda Zara 8.4 die Rechtspflege, Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub, ein Glied von einem lebenden Tier. Diese Aufzählung wird noch ergänzt durch Einzelmeinungen und findet sich mit leichten Umformulierungen und Umstellungen auch in bSanhedrin 56ab und GenR 34.8.16 Bei aller Differenz im einzelnen ist hier die Grundeinstellung festzuhalten, auch den Völkern eine in der biblischen Überlieferung verankerte Tora quasi als „Grundrechtskatalog“ zuzuweisen. Der Mensch ist daher nie im rechtsfreien Raum, er hat seine Grundrechte und -pflichten von Beginn seiner Existenz an.17 Letztlich kann man die sieben Gebote wiederum auf den Kern von drei Kardinalgeboten zurückführen, die gleichermaßen für Juden wie Nichtjuden von Bedeutung sind, nämlich Götzendienst, Unzucht und Mord. Dies läßt sich vor allem aus bSanhedrin 57a erheben, wonach ein Noachide nur wegen Vergehen gegen diese drei Gebote hingerichtet wird. In GenR 34.8 stehen sie bewusst am Beginn der noachidischen Reihe und weisen diese daher als Ausweitung der drei Kardinalvergehen aus. Ebensolches läßt sich für bYoma 67a sagen. „Gedanklich-konzeptionell hängen die drei Hauptgebote und die noachidische Siebenerreihe engstens zusammen: Der entwicklungsgeschichtliche Weg zu den Sieben ist als »Entfaltung eines Prinzips«, des Prinzips universaler Weisung zu verstehen, deren Herzstück die Warnung vor Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen ist.“18 Auch für Juden sind nur diese drei Gebote auch bei Lebensgefahr einzuhalten (bSanhedrin 74b). Ihretwegen zieht sich Gottes Gegenwart zurück (Sifre Dtn § 254). Sie sind die großen Verunreinigungen, die in bSchebuot 7b genannt werden. Müller weist auch für die christliche Rezeption in den Lasterkatalogen des Neuen Testaments (Gal 14 15 16 17 18 106 Vgl. den Artikel von J. Sievers, Heidentum II: TRE 14 (1985) 601-605. C. Thoma, Die Weltvölker im Urteil rabbinischer Gleichniserzähler, in: C. Thoma/G. Stemberger/J. Maier (Hgg.), Judentum - Ausblicke und Einsichten. Festgabe für Kurt Schubert zum siebzigsten Geburtstag (JudUm 43), Frankfurt am Main u.a. 1993, 115-133, 116 Zum gesamten Themenkomplex vgl. K. Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15), Berlin 1994. Weshalb schließlich in der Rezeption der Noachidischen Gebote bereits Adam als Empfänger von 6 Grundgeboten angenommen wird (GenR 16.6). Müller, Tora 59. Grundkurs Judentum Menschenrechte 5,19-21; 1 Kor 5,10f. und 1 Kor 69f.; 1 Tim 1,9f.; Tit 3,3; Apk 9,20f; 21,8) nach: „Die Trias der Kardinalsünden als das Kernstück der nachmaligen noachidischen Weisung ist für die junge Christenheit verbindliche ethische Orientierung... In der Aufnahme jener drei Hauptverbote schließt sich das frühchristliche Schrifttum faktisch einer jüdischen Summierung der Tora - hinsichtlich der sog. mitsvot des Nicht-Tuns - an.“19 Und er fährt fort: „Dem Widerstehen gegen die drei Hauptsünden des Götzendienstes, des Blutvergießens und der Unzucht korrespondiert »positiv« die mitsva des Tuns der Liebe. Ob in Gestalt des Wortes aus Lev 19,18 bzw. seines Äquivalentes, der Goldenen Regel, oder des Doppelgebotes: die Autoren des Neuen Testamentes von Paulus bis zu den Pastoralbriefen schöpfen das Gebot der avga,ph als Summe und Telos der Weisung an die christlichen Gemeinden aus der Tora Israels.“20 Die Einhaltung der drei Grundgebote bietet demnach eine mögliche Verbindung zwischen jüdischer und christlicher Einstellung zur Tora als Ausformung von Grundpflichten, die das Zusammenleben der Menschen und die gelungene Beziehung zu Gott ermöglichen. Oder wie es Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert: „(1) Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.“ Die Völker brauchen daher auch nicht die gesamte Sinai-Tora zu halten. Wer es dennoch tut, ist nach Ansicht R. Meirs einem Hohepriester gleich zu achten, während Jochanan im selben Kontext für ihn die Todesstrafe fordert (bSanhedrin 59a). In einer Zeit, wo Philosemitismus und rituelle Nachahmung jüdischer Bräuche in christlichen Kreisen gang und gebe sind, sollte uns das Wort R. Jochanans warnen. Viel zu oft ist Philosemitismus nur die Kehrseite des Antisemitismus, die jederzeit umschlagen kann. Anders als das geradezu naiv positive Diktum R. Meirs sieht Jochanan hier die Gefahr einer Übernahme von Bräuchen und Regeln einer anderen Kultur, ohne sich wirklich im letzten auf diese einzulassen, für diese Kultur selbst, die in ihrem Selbstwert und ihrer Identität bedroht ist. Das Judentum, das sich am Sinai entschloss, die Gebote Gottes anzunehmen, ringt in seinen Schriften seinerseits immer wieder um die Frage nach der Wichtigkeit einzelner Weisungen und dem Verhältnis der Gebote zueinander. Eine detailliertere Beschäftigung mit dieser Frage kann ich hier nicht leisten. Wichtig ist aber, darauf hinzuweisen, dass das rabbinische Judentum die Tora als Gottes Wort versteht, das nicht einfach als Naturrecht abzuleiten ist, wenngleich Gott die Tora bei der Schöpfung als Bauplan benützte. Die Tora ist in den biblischen Schriften als Offenbarungstext niedergelegt und Israel zur beständigen Interpretation übergeben. Mit ihrer Hilfe vermag Israel sein eigenes Leben und zugleich die gesamte Welt zu erhalten. 5. 19 20 „Mose nahm die Tora gefangen, wie es heißt: »Du zogst hinauf zur Höhe, führtest Gefangene mit« (Ps 68,13)“ (TanB Wa-jiqra 6 3a) Grundkurs Judentum TanB Wa-jiqra 6 (3a) betont, dass Gott um der Liebe zu Israel willen (Zitat Ps 84,3) die himmlischen Sphären verließ und bei Israel im Offenbarungszelt wohnte. Er berief („benannte“) in Lev 1,1 Mose, wie er das Licht in Gen 1,5 berief. Dieses Licht ist die Tora, das Mose von der Höhe holte und „gefangen nahm“. Er ist das Haupt in dieser Welt und der Anführer der Gerechten in der zukünftigen Welt. Es verwundert daher in diesem Zusammenhang nicht, dass die Rabbinen in Mose, ihrem Toramittler, den Gottnahen Menschen zu finden glaubten. So läßt man Mose gegenüber dem Pharao (Ex 7,1)21 als Gott erscheinen. In DtnR 11.4 und PRK S 1.9 definiert man genau, wann Mose Gott war und wann ein Mensch. Er war Mensch, als man ihn in den Nil warf, aber Gott, als er den Fluss in Blut verwandelte. Er war Mensch, als er vor dem Pharao floh, aber Gott, als er den Pharao ins Meer warf. Als er in den Himmel stieg, um die Tora zu empfangen, war er ein Mensch. Als er jedoch zurückkam, war er Gott. Nach anderer Ansicht war er auch beim Aufstieg Gott, weil er wie die Engel keine Nahrung zu sich nahm. Wiederum nach anderer Ansicht war sein oberer Teil göttlich, sein unterer aber menschlich. In bRosch ha-Schana 21b; bNedarim 38a; Tan Wa-jiqra 3//TanB Wa-jiqra 4 (3a) wird Mose mit Ps 8,6 identifiziert, wobei der Kontext gerade die Demut und Bescheidenheit Mose betont. Er hat ihn nur ein wenig geringer als Gott selbst gemacht, ihm Anteil gegeben an Gottes immenser Weisheit. Gerade die Verbindung von Weisheit und Bescheidenheit trägt hier zum Verständnis des Menschen bei. Wie Mose erweist er sich gerade in seiner Bescheidenheit in wahrer Größe. 6. »Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen« (Ps 51,19) Mek Bachodesch 9 (Lauterbach 273f.) beschreibt Mose in seiner Demut und schließt von ihm auf die Menschheit: „»Mose näherte sich der dunklen Wolke« (Ex 20,21). Was veranlasste seine Bescheidenheit? Wie es heißt: »Mose aber war ein sehr demütiger Mann« (Num 12,3). Die Schrift erklärt, dass jeder, der demütig ist, schließlich bewirken wird, dass die Schekhina mit den Menschen auf Erden wohnt, wie es heißt: »Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende, dessen Name «Der Heilige» ist: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten, (um den Geist der Bedrückten wieder aufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben)« (Jes 57,15); und es heißt: »Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe (und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung)« (Jes 61,1); und es heißt: »Denn all das hat meine Hand gemacht; (es gehört mir ja schon - Spruch des Herrn.) Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten« (Jes 66,2); und es heißt: »Das 21 Müller, Tora 194f. Müller, Tora 195f. 107 Menschenrechte 108 Vgl. RutR Peticha 1; ExR 82; LevR 26,7; NumR 9,47; 14.6; 15.13; in ExR 2,6 wird „Elohim“ in Ps 84,8 auf Mose gegenüber dem Pharao bezogen. Grundkurs Judentum Menschenrechte Grundkurs Judentum Menschenrechte Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen« (Ps 51,19).“ Bescheidenheit ist hier nicht identisch mit Duckmäusertum oder fehlender Zivilcourage. Vielmehr soll gerade die Solidarität mit den Armen betont, die Umkehr- und Versöhnungsbereitschaft des Menschen angesprochen und der Wert des einfachen Menschen vor Gott bestärkt werden. In bChullin 89a wird umfassend dargelegt, warum die Welt auf dem Fundament der Bescheidenheit ruht. Abraham und noch mehr Mose und Aaron sowie David (Ps 22,7) haben sich durch ihre Bescheidenheit ausgezeichnet. Ijob 26,7 bezeugt, dass Gott die Erde an ein „Nichts“ hängt, was bedeutet, dass er das „Nichtssein“ von Mose und Aaron zum Fundament dieser Welt erklärt und sie ihretwegen erhält. Aus Ps 58,2 geht nun weiters hervor, dass der Mensch schweigsam sein soll, sich also nicht prahlerisch hervortue. Doch bezieht sich dieses Schweigen nicht auf die Worte und das Studium der Tora, auf das Durchsetzen und Eintreten für Gerechtigkeit in der Welt. Im Gegenteil. Der Mensch soll, so heißt es ja im Psalm, Gerechtigkeit sprechen und die Menschen gerecht richten. Dieses „gerecht“ heißt im h. mešarîm. Es klingt wie mîšor, was soviel wie „niedrige Ebene“ bedeutet. Daraus kann man ableiten, dass der Mensch dort, wo er vehement für Gerechtigkeit eintritt, selber bescheiden bleiben soll. In Tan Schoftim 7 und TanB Schoftim 6 (15b) erwächst aus dem Psalmvers ein eher allgemeiner Aufruf an die Prozeßparteien, sich in Ehrfurcht zu benehmen und an die Richter, sich immer so zu verhalten, als sei die Schekhina in ihrer Mitte. Auch tSanhedrin I,9; ySanhedrin I,1,18b und bSanhedrin 6b funktionieren den Vers als Mahnung an die Richter um, die vor Gott Zeugnis geben und dereinst für ihre Prozesse Rechenschaft ablegen müssen. Tan Beschallach 11 zitiert den Psalmvers unter einer Reihe von Texten, die Gottes Güte, Barmherzigkeit und Wahrhaftigkeit seines Richteramts ausdrücken. Letztlich sollen sich die Richter wiederum an Gott orientieren. Menschenrechte und Menschenwürde sind also von den verantwortlichen Rechtspersönlichkeiten zu wahren und zu beschützen. Die Richter erhalten einen überdimensional hohen Status. RutR Pet 1 knüpft an die Auslegung von Ps 82,1 an, wenn es auf die Richter anspielt, die Gott selbst zu „Göttern“ erhöht habe (Ex 22,27). Wehe also dem Volk, das die Richter verachtet. Die Richter sind Repräsentanten des göttlichen Wortes in der Praxis. Sie haben die Menschenrechte einzuhalten und umzusetzen. Es verwundert daher nicht, dass eine der eindringlichsten Passagen zur Menschenwürde in mSanhedrin 4.5 in Überlegungen zur Gerichtsverhandlung eingebettet ist. 7. III. Der Mensch und seine Grenzen: Jeder Mensch ist einmalig und wertvoll »Gott steht auf in der Versammlung der Götter/Elohim, im Kreis der Götter/Elohim hält er Gericht« (Ps 82,1) Der Kontext ist Gerechtigkeit und Gericht, ein Kontext, der wieder an die Tora zurückbindet und zugleich immer im Begriff Gott als „Elohim“ mitschwingt. Denn der Begriff Elohim wurde von den Rabbinen als Synonym für das richterliche Handeln Gottes verstanden. Gerade der Richter hat darum Vorbild für den Menschen als unbestechlicher Anwalt der Tora zu sein. Der gerechte Richter ist Gottes Partner bei der Weltschöpfung (bSchabbat 10a), er lässt die Schekhina auf die Welt herabkommen (bSanhedrin 7a) und strahlt himmlische Licht aus (bBaba Batra 8a). Besonders Ps 82,1 gibt den Rabbinen Anlass, über den Wert des Richtens nachzudenken. So wird die Schekhina, die Anwesenheit Gottes im Volk, durch den Psalmvers vor allem in der betenden Gemeinde konkretisiert, und sie verlässt Israel, wenn sich die Menschen ihre eigenen Gesetze geben und von Gottes Geboten abweichen. Dies konkretisiert sich im Verhalten vor Gericht. Nicht mehr das Recht ohne Ansehen der Person, sondern Verleumdung und Parteinahme prägen das Bild, weshalb die Schekhina sich entfernt (bSota 47b; bSanhedrin 7a; Tan Mischpatim 4). Die „Götter“ im Psalmvers werden hier (exklusiv22) auf die Richter bezogen. Gottes Anwesenheit ist nur möglich, wenn gerechte Richter wirken, die ein „wahres“ Urteil ohne Ansehen der Person fällen.23 22 Vgl. eine Reihe anderer Texte, in denen unter Elohim die betende Gemeinde verstanden wird: In Mek Bachodesch 11 (L II 287); mAvot III,6; ARNB 18 und bBerakhot 6a beweist Ps 82,1, dass Gott in der Synagoge zu finden ist, wenn der Minjan (die Zehn) zusammenkommt. Aufgrund dieses Verses sollen auch nicht weniger als zehn Personen nach PRE 8 den Kalender bestimmt haben. In derselben Mek Bachodesch wird der Text aber auch auf das aus drei Personen bestehende 109 In mSanhedrin 4.5 heißt es: „Deshalb wurde der Mensch als einzelner in der Welt erschaffen, um zu lehren, dass man es auf jeden, der eine Person vernichtet, bringt, als ob er die ganze Welt vernichtet hätte. Und auf jeden, der eine Person erhält, bringt man es, als ob er die ganze Welt erhalten hätte. Und (dies) wegen des Friedens der Geschöpfe, damit nicht ein Mensch zu seinem Nächsten sage: Mein Vater ist angesehener als dein Vater! Und damit die Sektierer nicht sagen: Es gibt eine Menge Gewalten im Himmel!“ Alle Menschen stammen von einem Menschen ab. Dies ist die Grundlage der Gleichheit aller. Selbst in Extremsituationen ist die Würde der Gleichheit aller Menschen zu achten: Ist denn das Blut eines Menschen röter als das eines anderen? (bSanhedrin 74a; bPesachim 25b; bYoma 82b). Und dennoch sind alle Menschen unverwechselbare Individuen und wertvoll wie eine ganze Welt. Jeder Mensch kann, so heißt es im Text weiter, von sich behaupten: „Meinetwegen wurde die Welt erschaffen“, weil kein Mensch dem andere gleicht, sie aber doch alle aus dem ersten Menschen geprägt sind. 23 110 Richterkollegium bezogen (vgl. MRS 115). DtnR 7.2 lässt keinen Zweifel daran, dass Gott in der Synagoge direkt über dem Betenden steht. yBerakhot V,1,9a möchte näherhin mit dem Psalmvers und Jes 55,6 begründen, dass das Gebet in den Synagogen und Lehrhäusern erfolgen soll. Vgl. auch TanB Wa-jera 4 (43b) und AgBer 19. In NumR 11.2 und HldR 2.9 §2 erwähnt man besonders die Zitation des Schmac, bei der Gott über den Israeliten steht, während sie sitzen. Gott steht nicht nur, er steht „bereit, anzunehmen und das Gebet zu beantworten“ (PRK 5.8; PesR 15.9; vgl. GenR 48.7 und NumR 11.2). Vgl. dazu auch Soferim 4: »Gott steht auf in der Versammlung der Götter« meine eine himmlische Götterversammlung; »im Kreis der Götter hält er Gericht« beziehe sich aber auf menschliche Richter. Grundkurs Judentum 1. Menschenrechte »Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin« (Ps 90,10) Der Tod ist natürlicher Teil des Lebens.24 Gott läßt dabei den Menschen im Unklaren über seine konkrete Lebensspanne (Ps 39,5; vgl. bSchabbat 30a). Ps 90,10 nennt 70 bis 80 Jahre als natürliche Lebenszeit. Dies wird von den Rabbinen aufgenommen (bPesachim 94b). bMoed Qatan 28a unterscheidet verschiedene Todesarten und benennt sie. Der „schönste“ Tod wird Mose und Mirjam zuteil, weil sie durch den Kuß Gottes sterben. Ein fünftägiger Todeskampf erscheint normal, stirbt jemand schneller, kann man dies entweder als überstürzten Tod oder eben als Zeichen eines göttlichen Verweises sehen. Stirbt man mit fünfzig Jahren, so wird dies als Strafe Gottes für Vergehen erachtet. Wer mit 60 stirbt, hat die magische Grenze der Bestrafung durch Gott schon durchbrochen und kann auf einen natürlichen Tod hoffen. Man ist dann in seinem „vollen Mannesalter“ (nach Ijob 5,26). Mit 70 gilt man als „Grauhaar“, mit 80 kommt man ins „Kraftalter“ (geburot). Die verwendeten Begriffe drücken Wertschätzung für das Alter aus, was schwer ins Deutsche übersetzt werden kann, zumal die herkömmliche Übersetzung für „Grauhaar“ als „Greis“ wesentlich weniger die Anerkennung des Grauhaarigen als Weisen als vielmehr Gebrechlichkeit suggeriert. bMoed Qatan 28a bringt weiter einige Beispiele von Vorkommnissen, die belegen sollen, dass das Schicksal des Menschen keineswegs immer an seinem Verhalten hängt, dass Krankheit, Kindersegen und Wohlstand vom Glück und nicht von Gottes Strafe oder Belohnung abhängen (vgl. auch bChagiga 4b). In GenR 19.8 überlistet Gott die Engel schon wieder bei der Bestrafung Adams. Nachdem er ihm die Todesstrafe am selben Tag angedroht hatte, falls er vom Baum der Erkenntnis esse, lässt er ihm nicht einen Menschentag, sondern einen Gottestag zukommen, der 1000 Jahre beträgt. Von den 1000 Jahren sind wieder 930 für ihn persönlich bestimmt, und 70 sollen seine Kinder, also wir, abbekommen. Tod und Leiden sind Bestandteile des Lebens. Wie schon die biblischen Autoren versuchen auch die Rabbinen, das Leid des Menschen zu begreifen und in einen religiösethischen Kontext zu stellen. Man versucht, Leid im Zusammenhang mit Sünde zu erklären, bleibt in diesem Erklärungsversuch angesichts der Erfahrung des Leids Unschuldiger aber nicht stehen und entwickelt verschiedene Antworten.25 Wenn R. 24 25 Vgl. auch Ps 144,4 und dazu beispielhaft TanB Wa-jechi 2.(106b). Vgl. zur rabbinischen Tradition D. Kraemer, Responses to Suffering in Classical Rabbinic Literature, Oxford 1995; Y. Elman., The Suffering of the Righteous in Palestinian and Babylonian Sources, JQR 80 (1990) 315-339, z.B.: „The Babylonian Talmud ..., on the other hand, in a number of scattered but significant sugyot, propounds the view that suffering in its widest sense (including poverty, lack or loss of children, and the like) may be undeserved, and this for reasons having nothing to do with collective retribution or vicarious atonement. It may be ascribed to the effects of unfocused divine anger, the exigencies of historical necessity, the hazards of everyday life, astrological circumstance, original sin, and more“ (316); ders., Righteousness as its Own Reward. An Inquiry 111 Grundkurs Judentum Menschenrechte Alexandri in GenR 92.1 feststellt, dass überhaupt niemand existiert, der nicht leidet, spiegelt sich darin eine allgemeine Erkenntnis wider, zum andern aber auch das Schicksal eines Volkes in Fremdherrschaft. 2. »Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede!« (Ps 34,14) Ein todbringendes Vergehen ist Verleumdung bzw. Verrat. „Wenn ihr vor der Hölle gerettet werden wollt, haltet euch vor der Verleumdung fern, und ihr seid dieser und der kommenden Welt würdig“ (TanB Mesora 5 23b). Neben Ps 34,13f. wird vor allem auf Ps 12,5 verwiesen. Insgesamt erscheint das Buch der Psalmen als Buch des Lebens, weil es auf den Umstand aufmerksam macht, dass die Verleumdung dem Menschen Tod bringt.26 Der Kampf gegen Verrat und Verleumdung stellt nur sehr bedingt eine Einschränkung der freien Rede dar. Er spiegelt vielmehr die Angst und den notwendigen Selbstschutz vor politischer Verfolgung angesichts eines Lebens unter fremder Herrschaft und zugleich die hohe Achtung des Rufs eines Menschen wider. Besonders anschauliche Beispiele für die Wirkung des Verrats sind Doeg und Ahitofel, die David nach den Samuelbüchern verraten haben. Gott läßt sie beide mit knapp 30 wegen ihrer Verleumdung sterben (vgl. bSanhedrin 106b; DtnR 5.10; LevR 26.2 und PRK 4 (Mandelbaum 56f); NumR 19.2; Tan Chuqqat 4//TanB Chuqqat 7 53ab; Tan Mesora 2//TanB Mesora 4 22b/23a; MidrPss 7.7 34a sowie yPea I,1,16a). In Tan Mesora 2//TanB Mesora 4 (22b/23a) heißt es dazu beispielhaft, dass der Verrat sogar die drei großen Kapitalvergehen übersteigt: „Und Doëg wurde aus dem Leben dieser Welt entwurzelt und (auch) aus allen Leben der zukünftigen Welt, wie es heißt: »Darum wird Gott dich verderben für immer, (dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden)« (Ps 52,7) - aus dem Leben der zukünftigen Welt. Was ist schwerwiegender: wer mit dem Schwert tötet, oder wer mit dem Pfeil tötet? Sage: Wer mit dem Pfeil tötet. Denn wer mit dem Schwert tötet, kann sein Gegenüber nur töten, wenn er nahe bei ihm ist und ihn trifft. Wer mit dem Pfeil tötet, bei dem ist es nicht so, sondern er schießt den Pfeil ab und tötet ihn überall, wo er ihn sieht. Deswegen wird [der Verleumder] mit dem Pfeil verglichen, wie es heißt: »Ein tödlicher Pfeil ist ihre Zunge« (Jer 9,7). Und so sagt sie (die Schrift): »Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge« (Ps 57,5). Sieh, wie schwer die Verleumdung ist - dass sie schwerer (wiegt) als Blutvergießen und Unzucht und Götzendienst. Von der Unzucht steht geschrieben: »Wie sollte ich da ein so großes Unrecht begehen« (Gen 39,9).Vom Blutvergießen steht geschrieben: »Da sprach Kain zum Herrn: Meine Sünde ist größer, als dass ich sie tragen könnte« (Gen 4,13). Vom Götzendienst steht geschrieben: »Ach, dieses Volk hat gesündigt« usw. (Ex 32,31). Aber wenn er die Verleumdung erwähnt, sagt er weder `groß´ noch `große(s)´ (Sg.) sondern `große´ (Plural), wie es heißt: »Der 26 112 into the Theologies of the Stam, PAAJR 57 (1990f) 35-67. Vgl. Stellen wie Mek Pischa 11 (Lauterbach I 85); bBaba Qamma 60ab; bAboda Zara 4a; yHorajot III,3;47c; LevR 20.2; MidrPss 73; 90. Vgl. diesbezüglich die Erzählung vom Hausierer und R. Jannaj in Tan Mesora 2//TanB Mesora 5; WaR 16.2; MidrPss 52. Grundkurs Judentum Menschenrechte Herr vertilge alle falschen Zungen, jede Zunge, die Großes (Pl.) redet.« (Ps 12,4). Deshalb wird gesagt: »Tod und Leben steht in der Gewalt der Zunge« (Spr 18,21).“ Nach bSanhedrin 103a werden vier Menschengruppen nicht von Gott angenommen: die Spötter, Lügner (Zitat Ps 101,7), Heuchler und Verleumder (Zitat Ps 5,5). 3. »Die Schwachen werden unterdrückt, die Armen seufzen. / Darum spricht der Herr: Jetzt stehe ich auf, dem Verachteten bringe ich Heil« (Ps 12,6) Das Regelwerk des menschlichen Zusammenlebens ist geprägt von der Weisung der Tora, die einerseits überzeitlich gültig ist, andererseits immer wieder neu den veränderten Gegebenheiten angepaßt werden muss. Der Mensch ist Gott, seinem Mitmenschen und der gesamten Schöpfung gegenüber verantwortlich, er hat aktiv für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten. So sind auch jene Texte wie z.B. MidrPss 12.2 (u.ö.) zu verstehen, die festhalten, dass auch Gerechte, die angesichts des Unrechts in der Welt nicht protestieren, ja sogar die, welche zwar seufzen und klagen, aber nicht dagegen aktiv werden, von Gott gestraft werden. Gott, so meint MidrPss 12.3, wird im Gegensatz dazu angesichts der Unterdrückung der Armen zu besonderer Größe anwachsen, sein Attribut der Gerechtigkeit wird heiß werden und die Unterdrücker, vor allem die ungerechten Richter, strafen. Gottes Parteinahme für die Armen, das überreiche biblische Zeugnis einer sozialen und gerechten Gesellschaft haben das Judentum immer wieder angeregt, sich gerade der sozialen Frage mit großem Ernst und Energie zu stellen. Der hohe Wert der Arbeit und des Arbeiters wird in der rabbinischen Tradition ebenso betont (bBerakhot 8a; bKidduschin 33a u.ö.) wie der der notwendigen Freizeit, die sich an Gottes Willen orientiert. Es braucht hier keine Debatte über den Sabbat/Sonntag geführt zu werden. Die Vehemenz, mit der rabbinisches Schrifttum auch auf den sozialen Wert des Sabbat verweist, ist evident. Er ist für den Menschen geschaffen, nicht der Mensch für den Sabbat (bYoma 85b). War auch die Zeitspanne des Arbeitstages von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang (nach Ps 10422f. – bBaba Metsia 83b) in unseren Augen hoch bemessen, schloss sie dennoch die Nachtarbeit im Regelfall aus. Zudem wurde bereits für den Freitag eine angemessene Vorbereitungszeit auf den Sabbat eingeräumt (yBaba Metsia 7,1,11b). Eine Fülle von arbeitsrechtlichen Bestimmungen muten uns heute modern an und mahnen uns, im Zeichen des wirtschaftlichen Liberalismus nicht hinter die sozialen Standards der Antike zurückzufallen. Arbeitspausen für Essen und Erfrischung waren ebenso selbstverständlich (bBaba Metsia 86a) wie Zeit für das Gebet (bBerakhot 16a). Weil der Mensch nur Gott allein als Herren hat, ist er auch keinem menschlichen Dienstgeber ausgeliefert. Er kann von sich aus ein Arbeitsverhältnis jederzeit lösen (bBaba Metsia 10a). Lohnregelungen, Preisfestlegungen durch die Gemeinschaft und die Einrichtung gemeinsamer Versicherungsfonds für den Notfall (bBaba Batra 8b; tBaba Metsia 11,24ff.) sind Wegbereiter für ein Sozialsystem ebenso wie für Gewerkschaften. Die Kommentatoren des Mittelalters haben die Bestimmungen ausgebaut und erläutert. Grundkurs Judentum Der soziale Einsatz für die Schwachen wird von den Rabbinen grundlegend verankert. Dazu ist natürlich das Stichwort „Tsedaqa“ zu erwähnen. Es ist die private und öffentliche Wohlfahrt, die den Armen ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen hat. Deshalb wurden bereits in rabbinischer Zeit Fonds eingerichtet, die sich um die Wohlfahrt, die Auslösung von Gefangenen, die Begräbnisse Bedürftiger und die Unterstützung für die rituellen Bedürfnisse der Armen kümmerten. Ausstattung der Braut, der Witwen und Waisenkinder gehören ebenso hierher wie die Versorgung einer armen Familie (vgl. insgesamt bKetubbot 67b/68a). Der Traktat Ketubbot regelt beispielsweise vor allem Ansprüche von Frauen und Kindern in verschiedensten Lebenslagen. Diese Regelungen sind – zumindest auf dem Papier - sehr weitreichend und bestrebt, das Wohlergehen und den Lebensstandard von Frauen zu sichern. Rechte und Pflichten (vgl. mKetubbot 5,5) werden definiert. Frauen haben laut Tora Anspruch auf Nahrung, Kleidung und Geschlechtsverkehr, was ebenfalls in diversen Regelungen ausgefeilt wird.27 Die Spendenfreudigkeit einzelner sollte nach bKetubbot 50a ein Fünftel des Einkommens nicht übersteigen, da man sonst Gefahr läuft, selbst zu verarmen. Nach bSota 14a sind die Liebeswerke (zu denen Tsedaqa gehört) Anfang und Ende der Tora. Nach tPea 4,19, yPea 1,1,15b, bSukka 49b wiegen Gerechtigkeit und gute Taten alle Gebote der Tora auf. bMakkot 24a nennt als Beispiele die Ausstattung der Braut und das Hinausführen der Toten. Besonders beispielhaft sind dort auch die Unterstützung der Verwandten und das Zinsverbot genannt. Ich will an dieser Stelle schließen, im Bewusstsein, nur wenige Ausschnitte aus der Fülle der rabbinischen Betrachtungen zum Menschenrecht vorgestellt zu haben. Das Judentum hat uns mit seiner Bibel die Grundlage der Menschenrechte überhaupt hinterlassen. Als immer wieder verfolgte und im Überlebenskampf befindliche Minderheit war gerade die jüdische Identität über die Jahrhunderte hinweg gefährdet. Das Judentum musste einen Weg zwischen Anpassung und Selbstbehauptung hindurch finden, der es in seiner spezifischen Eigenheit am Leben erhielt. Gerade hier zeigte sich die Botschaft der Tora als überaus hilfreich. Den Rabbinen war das Zusammenleben auf der Basis der Tora die Grundlage der Existenz überhaupt. Nicht Reichtum, Macht oder Einfluß machen den Wert eines Menschen aus, sondern das „Streben nach religiösem Wissen und geistiger Bildung. Beständiges Lernen, Auslegen und Tradieren effizierten und sicherten dauerhaft die Durchdringung aller Lebensbereiche und -aspekte mit dem Geist des Göttlichen und schufen eine Eigengesetzlichkeit - eine Selbst-`Heiligung´/Absonderung durch Gebotserfüllung, die dem jüdischen Volk - auch über den Verlust von territorialer Souveränität und kultischem Zentrum hinweg, durch die Zeiten und die unterschiedlichsten kulturellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zufluchtsorte - die Bewahrung einer spezifischen religiösen Identität und somit das weiterer Fortbestehen als eine verwandtschaftliche, schicksalsmäßig verbundene und kontinuierliche Gruppe ermöglicht hat.“28 27 28 113 Menschenrechte 114 Vgl. meinen Artikel: Zum Vermögensrecht von Frauen in der Ehe am Beispiel des Mischna- und Tosefta-Traktates Ketubbot, Kairos 34/35 (1992/93) 27-63. Vgl. zum Bereich „Frauenrechte“ vor allem Rachel M. Herweg, Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1993. Herweg, Mutter 87f. Grundkurs Judentum Menschenrechte In modernen Gesellschaften haben die religiösen Werte Umformungen mitgemacht. So stellt Klaus Hödl in der amerikanischen Gesellschaft ein weitestgehendes Aufgehen der jüdischen Kultur in die amerkanische bei gleichzeitiger signifikanter ethischer Ausrichtung fest. „Über 80% der Judenschaft versagte letzterem (Bush) die Unterstützung und wählte statt dessen Bill Clinton. Dieses Wahlverhalten war keine Ausnahmeerscheinung auf der Liste der Manifestationen der politischen Orientierung der amerikanischen Juden. Franklin D. Roosevelt und sein New Deal stützten sich in einem besonderen Maße auf die sozial gesinnte amerikanische Judenschaft. John F. Kennedy konnte ebenfalls mit überwältigender Unterstützung durch die Juden rechnen. Juden waren in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in einem überproportionalen Maße aktiv, sprechen sich mehrheitlich für großzügigere Sozialausgaben, die mittels Steuererhöhungen finanziert werden sollen, aus und unterstützen auch andere soziale Belange in einer bemerkenswerten Weise. Juden weisen ein soziales Engagement auf, wie es von keiner anderen ethnischen Gruppe in Amerika an den Tag gelegt wird... Während andere weiße Gemeinschaften mit steigendem Wohlstand eine zunehmend konservative Einstellung an den Tag legen und die Republikaner unterstützen, zeigen Juden in ihrem liberal-sozialen Verhalten eine Beständigkeit, die traditionelle soziale Erklärungen für diese Eigenheit unwirksam werden läßt... Das soziale Engagement der Juden kann ebenfalls aus traditionellen Werten hergeleitet werden, beispielsweise aus der Bedeutung des Begriffes `tzedakah´, der Verpflichtung, Menschen in Schwierigkeiten zu helfen. Dieser Wert war eine Überlebensstrategie der Juden im Laufe der Geschichte und schlägt sich in einem politischen Verhalten nieder... Es hat die jüdischen Immigranten um die Jahrhundertwende ausgezeichnet, die verarmt in Amerika ankamen und ihr Leben als Hausierer fristen mussten, und charakterisiert auch die dritte Generation, die schon längst den Aufstieg in das wohlhabende Bürgertum geschafft hat.“29 29 Klaus Hödl, Die jüdische Integration in den USA – ein Problem des Erfolgs? Das Jüdische Echo 46 (1998) 208-213, 213. 115 Grundkurs Judentum Maimonides Heinrich und Marie Simon Moses ben Maimon Zu den bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters gehört Moses ben Maimon (1135-1204), auch als Maimonides oder Maimuni bekannt. Nach den Anfangsbuchstaben seines Namens, Rabbi Moses ben Maimon = RMBM, wird er auch als Rambam bezeichnet. Sein wissenschaftliches Werk hat nicht nur die Entwicklung des Judentums in außerordentlich starkem Maße beeinflußt, sondern auch auf die europäische Scholastik, namentlich auf Albertus Magnus und Thomas von Aquino eingewirkt. Maimonides sah es als seine Aufgabe an, aristotelische Philosophie und Offenbarungsreligion zu einer Synthese zu bringen, und zwar nicht auf dem Wege der weitgehenden Identifizierung, wie es Abraham ibn Daud letztlich erfolglos versucht hatte, sondern durch die Abgrenzung des wissenschaftlich Erweisbaren von demjenigen, das als Offenbarung hingenommen werden muß. [...] Über das Leben des Maimonides sind wir relativ gut informiert, besser als über das der anderen jüdischen Denker des Mittelalters. Er wurde in Cordova geboren und entstammte einer vornehmen und einflußreichen Gelehrtenfamilie. Sein Vater war Mitglied des Rabbinatskollegiums und hat sich durch eine Reihe wissenschaftlicher Werke einen Namen gemacht. Als im Jahre 1148 Cordova in die Hand der vor allem gegen Andersgläubige intoleranten Almohaden fiel, verließ die Familie die Stadt und hielt sich einige Jahre in verschiedenen Orten Spaniens auf. Gegen 1159 siedelte sie dann nach Fes in Nordafrika über. Da auch diese Stadt zum Herrschaftsbereich der Almohaden gehörte, ist es nicht klar, warum die Familie des Maimon sich gerade dorthin wandte, denn die Verhältnisse dürften in Fes im Prinzip kaum günstiger gewesen sein als in Spanien. Für die Ansicht, die Familie habe zum Schein den Islam angenommen, gibt es keine Beweise. [...] Die Familie des Maimon hat die Konsequenz gezogen, allerdings erst einige Zeit später: 1165 verließ sie Nordafrika und segelte nach Akko. Nach kurzem Aufenthalt in Palästina nahm sie dann in Fustat (Altkairo) ihren ständigen Wohnsitz. In Ägypten, das damals unter der Herrschaft der Fatimiden stand, war die Lage der Juden günstiger; die persönliche Situation des Maimonides jedoch wurde bald schwierig. Der Vater starb kurz nach der Ankunft in Ägypten, und nicht viel später kam der jüngere Bruder des Maimonides, der durch einen Juwelenhandel die Familie erhielt, auf einer Geschäftsreise nach Indien bei einem Schiffbruch ums Leben. Bis dahin hatte sich der Denker ausschließlich seinen Studien widmen können, nun mußte er danach trachten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So begann er, als Arzt tätig zu sein. Im Gegensatz zum christlichen Europa stand ja im arabischsprachigen Raum die Medizin im 116 Grundkurs Judentum Maimonides Grundkurs Judentum engen Verhältnis zur Philosophie, und der Erwerb medizinischer Kenntnisse gehörte zur philosophischen Ausbildung, so daß Maimonides entsprechende theoretische Kenntnisse besaß, die er nun praktisch anwenden konnte. Er war als Arzt sehr erfolgreich und brachte es schließlich bis zur Position eines Leibarztes am Hof der Ajjubiden, die das Fatimidenkalifat beseitigt hatten (1171) und Ägypten de facto souverän beherrschten. Auf Grund seines großen talmudischen Wissens nahm Maimonides außerdem eine führende Position innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Ägypten ein und wurde später auch offiziell das geistige und politische Oberhaupt der ägyptischen Juden, so daß er eine sehr große Arbeitslast zu bewältigen hatte. Er starb in Fustat (1204); seine Leiche wurde nach Tiberias in Palästina gebracht, wo sein Grab heute noch erhalten ist. Die Werke des Maimonides lassen sich grob in drei Hauptgruppen einteilen: seine Arbeiten auf talmudischem Gebiet, seine philosophischen Schriften und seine medizinischen Abhandlungen. Damit ist das Arbeitsgebiet des Maimonides nur sehr ungenau umrissen, wenn man nicht berücksichtigt, daß zur Philosophie im mittelalterlichen Sinne auch die gesamte Naturwissenschaft gehört und daß die Verzweigtheit des talmudischen Stoffes den auf diesem Gebiet Tätigen auf Themen aus allen Lebensbereichen führen kann. Uns mögen diese drei Hauptarbeitsgebiete des Maimonides als äußerst heterogen erscheinen; für Maimonides selbst jedoch besteht zwischen ihnen ein sehr enger Zusammenhang. Die Grundlage des Lebens der Menschen sind die Satzungen, die für die Juden ihre Kodifizierung im Talmud gefunden haben. Folglich befaßt sich die Arbeit des Maimonides auf talmudischen Gebiet im Grunde mit der Reglementierung des Lebens des einzelnen und der Gesellschaft, also mit letztlich ethischen Fragen. Die philosophischen Schriften des Maimonides beschäftigen sich mit dem Sinn und Zweck der Gesetze; sie geben die rationale theoretische Begründung für die Verbindlichkeit der rechtlichen Normen. Die Medizin erhält bei Maimonides eine ethische Fundierung und wird dadurch in seine philosophische Gesamtkonzeption einbezogen. Da das Übel in der Welt etwas Negatives ist und die gottgewollte Harmonie der Welt stört, hat der Mensch die Aufgabe, durch den Kampf gegen das Übel an der Verwirklichung der göttlichen Absicht mitzuwirken. Auf diese Weise wird der Kampf gegen die Krankheit, und vor allem auch die Erhaltung der Gesundheit, zur religiösen Pflicht. [...] Noch während seines Aufenthaltes in Spanien begann Maimonides, in arabischer Sprache einen Kommentar zur Mischna, der mündlichen Lehre, zu verfassen, den er im Jahre 1168 in Ägypten zum Abschluß brachte. Dieser Kommentar, dessen hebräische Übersetzung vielen Mischnaausgaben beigedruckt ist, zeichnet sich durch das Bemühen um eine Systematisierung des Stoffes aus. Maimonides liebt es, die allgemeinen Regeln und Grundsätze jeweils zusammenzufassen und geordnet darzustellen. Das geschieht besonders in den Einleitungen, die er dem ganzen Werk und der Behandlung einzelner Mischnatraktate voranstellt. Unter philosophischem Aspekt sind besonders die "Acht Kapitel" von Interesse, die Einleitung zum Traktat Awot, den "Sprüchen der Väter", einer 117 Maimonides Sammlung von Sentenzen jüdischer Schriftgelehrter. In dieser Einleitung bietet uns Maimonides einen Abriß seiner Ethik, deren Aufgabe es sei, die Eigenschaften des Menschen zu veredeln und seinen Charakter zu vervollkommnen. Er behandelt in diesem Zusammenhang auch die menschliche Seele und ihre Kräfte, die Frage der menschlichen Willensfreiheit, die Prophetie und die Gotteserkenntnis als Ziel des menschlichen Daseins. Auch das religionsgesetzliche Hauptwerk des Maimonides, der hebräisch geschriebene Mischne Tora, zeigt das Bemühen, Lehren der Religion mit dem Stand der Wissenschaft zu harmonisieren, und ist darum in philosophischer Hinsicht ebenfalls wichtig. Der im Jahre 1180 abgeschlossene Mischne Tora - der Titel ist dem Bibeltext entnommen, und die Septuaginta übersetzt die Worte mit "Deuteronomion" - ist ein Talmudkompendium, das den gesamten gesetzlichen Lehrstoff zusammenfaßt und systematisiert. Die literarische Anlage des Talmuds, in dem den Lehrsätzen der Mischna, der mündlichen Lehre, sich jeweils die Diskussionen der Gelehrten, die Gemara, anschließen, machen dieses Werk außerordentlich unübersichtlich, da sich die Diskussionen oft weit von den Problemen entfernen, von denen sie ausgehen. Daher erscheinen Rechtsentscheidungen der Gelehrten häufig in Zusammenhängen, wo sie nicht zu erwarten sind. Da jedoch der Talmud die Grundlage des gesamten Rechts bildete und der Richter aus ihm seine Entscheidungen abzuleiten hatte, waren äußerst subtile Kenntnisse erforderlich, die nicht immer ohne weiteres vorausgesetzt werden konnten. Maimonides begründet die Notwendigkeit seines Werkes mit dem Rückgang der rabbinischen Bildung und stellt darum die dem Talmud zu entnehmenden juristischen Entscheidungen nach sachlichen Gesichtspunkten und infolgedessen übersichtlich zusammen. Der Intention nach um faßt der Mischne Tora alle Vorschriften des Judentums. [...] Nicht nur durch die systematische Zusammenfassung des Zusammengehörigen unterscheidet sich der Kodex des Maimonides von der talmudischen Darstellungsweise, sondern auch dadurch, daß der Verfasser nur die Ergebnisse der talmudischen Diskussionen bietet und abweichende Ansichten der Gelehrten unberücksichtigt läßt. Da es indessen im Talmud nicht nur klare Entscheidungen gibt, sondern vielfach die Festlegungen verschiedene Auslegungsmöglichkeiten offenlassen, ist die Tatsache, daß Maimonides Entscheidungen fällt, ohne anzumerken, worauf sich diese stützen, bereits bei seinen Zeitgenossen auf Kritik gestoßen. Maimonides hat den Talmud nicht nur systematisiert, er hat ihn auch modernisiert, indem er alles das übergeht, was seiner Meinung nach vom Standpunkt der Wissenschaft nicht mehr haltbar ist. Dazu gehören Lehren und Schlußfolgerungen, die auf dem Glauben an Dämonen beruhen, und astrologische Anschauungen, die die Menschenschicksale von Gestirnkonstellationen abhängig machen. Ebenso ließ er solche Lehren aus, die den seit der talmudischen Zeit erheblich gewachsenen medizinischen Kenntnissen widersprachen. Statt dessen nutzt er die naturwissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit und baut sie in sein Werk ein. Daher ist der Mischne Tora nicht nur eine Zusammenfassung der bereits vorliegenden talmudischen Vorschriften, sondern das Werk steht auch gleichzeitig auf der Höhe der Wissenschaft der Zeit, indem es sich griechischer Wissenschaft und griechischer, und zwar aristotelischer Philosophie bedient. Das Vorgehen des 118 Grundkurs Judentum Maimonides Grundkurs Judentum Maimonides ist wie das Wirken jedes Reformers heftig angegriffen worden und hat auf der anderen Seite auch leidenschaftliche Befürworter gefunden. Der Autor selbst rechtfertigte sein Vorgehen einmal in einem Brief mit den Worten: "Die Augen sind vorne und nicht hinten." Seine Absicht, die rechtlichen Vorschriften des Talmuds mit dem neuesten Stand der Wissenschaft zu verbinden wird in seinem Religionskodex vor allem daran sichtbar, daß er das erste Buch dieses aus 14 Büchern bestehenden Werkes zunächst den Problemen der Physik und der Metaphysik widmet, das infolgedessen eine Art religionsphilosophisches Lehrbuch darstellt. Der Autor sammelt und systematisiert in diesem "Buch der Erkenntnis" genannten ersten Buch seines Religionskodex Mischne Tora nicht nur dasjenige, was sich an philosophischen Gehalten verstreut im Talmud findet, sondern bringt vieles, was im Talmud nicht nur nicht enthalten, sondern ihm auch nicht gemäß ist. Da das Judentum eine Gesetzesreligion ist, geht es bei einer Kodifizierung weniger um weltanschauliche Lehrmeinungen als um die Reglementierung des Handelns. Daher ist es zunächst nicht ohne weiteres ersichtlich, warum Physik und Metaphysik in diesen Rahmen gehören. Besonders betrifft das den Bereich der Physik, die ganz im Sinne der aristotelischen Philosophie von Maimonides behandelt wird. Er findet aber einen Weg, diese dem Judentum ursprünglich fremden Anschauungen als Voraussetzung für die Rechtsvorschriften sinnvoll einzubauen, indem er die Physik ethisiert. Maimonides knüpft sie an das Gebot der Gottesliebe und der Ehrfurcht vor Gott: Nur wenn wir das Weltall betrachten, können wir zur Liebe Gottes gelangen, denn aus der Ordnung der Welt, aus dem Verständnis ihres Aufbaus und ihres Funktionierens wird uns Gottes Weisheit bewußt, die uns dazu bringt, Gott zu lieben. Ebenso erwächst in uns, wenn wir unser kleines Ich dem großen All gegenüberstellen, ein Gefühl der Ehrfurcht Gott gegenüber. Die Behandlung der Metaphysik, besonders des Problems der Gotteserkenntnis, erklärt sich durch die rationalistische Einstellung des Maimonides, daß die Liebe zu Gott aus der Gotteserkenntnis resultiere. Auch Probleme der Ethik werden im ersten Buch des Mischne Tora behandelt. Obwohl die Grundlegung der Ethik auf der Religion beruht, hält sich Maimonides im einzelnen weitgehend an die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Er übernimmt die Aristotelische Einteilung der Tugenden in ethische und dianoetische und erkennt den letzteren wie Aristoteles den Vorrang zu. Die Aristotelische Definition der Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen findet Maimonides bereits in der Bibel, indem er den Satz "Richte gerade das Geleise deines Fußes" (Sprüche 4,26) im Sinne des Wägens versteht, bei dem die Wagschalen ins Gleichgewicht gebracht werden. Der Einbau philosophischer Lehren in ein religionsgesetzliches Werk machen den Mischne Tora zu etwas unerhört Neuartigem, so daß sich schon zu des Maimonides Lebzeiten der Kampf der Orthodoxie gerade gegen das erste Buch dieses Kodex richtete. Als das [...] bedeutsamste Werk des Denkers gilt sein "Führer der Unschlüssigen", der gegen 1190 vollendet wurde. Das in arabischer Sprache geschriebene Buch, dessen Originaltitel "Leitung der Ratlosen" lautet, wurde bereits zu Lebzeiten des Maimonides von Samuel ibn Tibbon, der in der Provence lebte, ins Hebräische übertragen. [...] Wenig später wurde durch den Dichter Jehuda Alcharisi eine zweite Übersetzung des "Führers" 119 Maimonides hergestellt, die sich von der des Samuel ibn Tibbon durch größere sprachliche Eleganz, aber geringere Genauigkeit unterscheidet. Sie ist insofern zu philosophiehistorischer Bedeutung gelangt, als sie, nicht aber die Übersetzung des Samuel ibn Tibbon, zur Grundlage der lateinischen Version wurde, aus der die europäische Scholastik ihre Kenntnis der Lehren des Maimonides bezogen hat. [...] Die Aufgabe, die sich Maimonides im "Führer der Unschlüssigen" stellt, ist die Leitung derer, die sich nicht entscheiden können, welchen Weg sic einschlagen sollen, die zwischen demjenigen schwanken, was die religiöse Überlieferung vorschreibt, und dem, was die Ratio, das philosophische Denken für wahr erkennt. Es geht dem Autor also um das für das Mittelalter zentrale Problem des Verhältnisses von Glauben und Wissen. Das ist eine durchaus philosophische Fragestellung, trotzdem aber ist es schwer, den "Führer" ein philosophisches Werk zu nennen. Die Absicht des Maimonides ist im Grunde theologisch: Das heißt aber nicht, daß er die Bedeutung der Philosophie bestritten hätte. Wenn sie auch nach seiner Meinung als Gesamtsystem zur Erklärung der Welt unzureichend sei und ihre Behauptungen nicht beweiskräftig seien, so akzeptiert er sie dort, wo ihre Beweise stichhaltig sind. Insoweit Aristoteles für die Erklärung bestimmter Probleme stringente Beweise geliefert hat, macht sich Maimonides diese zu eigen, und in diesem Sinne ist er als Aristoteliker zu bezeichnen, weil der Aristotelismus als Philosophie die richtige ist. [...] Der "Führer der Unschlüssigen" ist im Gegensatz zu den anderen Werken des Autors nicht für eine breite Öffentlichkeit bestimmt, sondern richtet sich an eine intellektuelle Elite, die durch die Kenntnis der Wissenschaften in Konflikt mit den biblischen Anschauungen gekommen ist. Maimonides geht es darum, diesen Personenkreis dazu zu befähigen, den Bibeltext nicht in seinem äußeren Wortsinn zu verstehen, sondern die Geheimnisse des Gesetzes, den eigentlichen Sinn und die richtige Interpretation der Offenbarungslehren zu erfassen. Unter Geheimnissen der Bibel sind im wesentlichen zwei Problemkomplexe zu verstehen, die Lehre vom Schöpfungswerk und die Lehre vom göttlichen Thronwagen, im Anschluß an die Vision des Propheten Ezechiel. Beide Themen wurden bereits in talmudischer Zeit diskutiert, doch stellten sie eine Geheimlehre dar und durften nicht vor einem breiteren Publikum behandelt werden. [...] Maimonides identifiziert die Thematik der Schöpfung mit dem Gegenstand der Physik, die theosophische Spekulation mit dem der Metaphysik, er behandelt also in seinem "Führer" Fragen der Metaphysik und Prinzipien der Physik, wobei er aber das beiseite läßt, was seiner Meinung nach der Aristotelismus bewiesen hat, und sich auf Probleme beschränkt, die darüber hinausgehen. Um das talmudische Verbot nicht zu verletzen, über Physik und Metaphysik in der Öffentlichkeit zu handeln, schickt Maimonides dem Werk einen Brief an seinen Schüler Josef ben Jehuda voraus, so daß die Fiktion aufrechterhalten wird, der "Führer" sei nur für eine Person bestimmt. Auch hält sich Maimonides an die Vorschrift, nur die Hauptpunkte mitzuteilen, und überläßt es dem entsprechend vorgebildeten Leser, aus Andeutungen den Sinn zu erfassen. Dadurch ist der "Führer" ein nicht leicht lesbares Buch [...] 120 Grundkurs Judentum Maimonides Grundkurs Judentum Das System, das Maimonides aufgebaut hat, um den Schwankenden den Weg zu zeigen, wie sie, ohne ihre Traditionen aufzugeben, im Sinne der Zeit wissenschaftlich gebildet sein konnten, ist seinem Wesen nach eine Synthese, die einen Ausgleich zwischen zwei im Grunde heterogenen Elementen zu schaffen sucht. Dieser Ausgleich ist dadurch möglich, daß Maimonides strikt die irdische Welt vom Bereich des Übersinnlichen scheidet und der Vernunft soweit Raum gibt, wie ihre Möglichkeiten gehen, unanfechtbare Beweise zu liefern. Der Autor ist bereit, jeden Gedanken und jede Meinung vorurteilslos zu prüfen und jedes traditionelle Denkschema aufzugeben, sofern beweiskräftige Gegengründe vorhanden sind. So modifiziert er von den Offenbarungslehren des Judentums her den Aristotelismus und schränkt seine Geltung ein, die Religion wird von ihm jedoch rational systematisiert und zu einer Art philosophischem System gemacht. Maimonides versteht das Judentum als ein rationales Gebäude, in dem sich Glauben und Wissen ergänzen. Er teilt nicht die Ansicht der arabischen Aristoteliker, daß die Philosophie und die Religion zwar dieselbe Wahrheit aussprechen, diese aber nur von der Philosophie klar formuliert werde, so daß der Glaube gegenüber dem Wissen abgewertet wird, das Wissen jedoch nur wenigen zugänglich ist. Auf der anderen Seite ist für Maimonides die Vernunft auch nicht eine bloße Vorstufe des Glaubens, sondern er sucht Glauben und Wissen in der Weise zu verbinden, daß das Geglaubte Aufgabe der Erkenntnis sein müsse, daß der unreflektierte Glaube Vorstufe der Erkenntnis sei. Dabei hat aber die Philosophie dort ihre Grenze, wo die Möglichkeit stringenter Beweise aufhört. Dem philosophischen Denken wird einerseits das Recht der Spekulation verwehrt, andererseits wird ihm der Bereich des Beweisbaren uneingeschränkt freigegeben. Auf diese Weise vermeidet Maimonides eine antithetische Gegenüberstellung von Glauben und Wissen und befreit die Philosophie insofern aus ihrer sektenhaften Rolle, die sie in der arabischen Gesellschaft spielte, als er die Allgemeinheit nicht prinzipiell von der richtigen Erkenntnis, von der philosophischen Interpretation der Offenbarungslehren ausschließt, sondern im Gegenteil es zur religiösen Pflicht aller macht, zu einer philosophisch geläuterten und rational verstandenen Religion zu gelangen. [...] So hat Maimonides nach beiden Seiten Konzessionen gemacht, indem er sowohl die Philosophie als auch die jüdische Religion umgestaltet und radikal umgebogen hat. Seine Synthese ist letztlich nur auf dem Wege des Kompromisses möglich, und in gewisser Weise gehört Maimonides selbst zu den Schwankenden, deren Führer sein Werk sein wollte. Als religiöser Reformer war er radikal: Ohne Sentimentalität, dabei aber durchaus des Wertes der Tradition eingedenk, stand er mit kritischem Verstand der historisch gewordenen Gestalt der Religion gegenüber. Auf die weitere Entwicklung des jüdischen Denkens hat sein Werk außerordentlich befruchtend gewirkt, weil in der Folgezeit niemand an dem von Maimonides aufgeworfenen Problem vorbeigehen konnte, wie man die gesicherten Ergebnisse der Wissenschaft akzeptieren kann, ohne die eigene Tradition preiszugeben. Der Denker hat mit sicherem Blick erkannt, daß der Kern der jüdische Religion, den es auf jeden Fall zu bewahren gilt, die Beziehung des Menschen zur Tora und die damit gegebene Ausrichtung auf Gott ist, und hat sich nicht gescheut, alle Bestandteile des Judentums, die dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht 121 Maimonides entsprechen, in einer Weise zu interpretieren, die auch vom Standpunkt der Wissenschaft unanfechtbar war. Das Vorgehen des Maimonides, der philosophisches Den ken zu einer religiösen Pflicht macht und der das Judentum als eine Vernunftreligion versteht und es entsprechend ausund umbaut, hat ebenso leidenschaftliche Zustimmung als auch Ablehnung gefunden. Die Vertreter der Orthodoxie bekämpften vor allem den "Führer" und das erste Buch seines Religionskodex Mischne Tora, weil ihnen die philosophische Fundierung der Offenbarung als gefährliche Neuerung erschien. Das rationale Element gewinnt im System des Maimonides ein so starkes Übergewicht, daß letztlich der Glaube dem Verstande unterworfen wird; zugleich aber werden dem Verstand Schranken gesetzt, die dem Bestand der Religion garantieren sollen. Die Auffassung, daß das Judentum eine Vernunftreligion sei, verbindet sich für die Folgezeit mit Wirkung und Autorität des Maimonides. [...] Die Bedeutung des Maimonides liegt vor allem in seiner systematisierenden Leistung. Er hat den Grundstein dafür gelegt, daß sich das Judentum in einer Weise verstehen ließ, die es ermöglichte, die jüdische Tradition dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem jeweiligen Erkenntnisstand unschwer zu akkommodieren. Nicht nur auf die weitere Entwicklung des Denkens im Judentum hat Maimonides einen wesentlichen Einfluß ausgeübt, sondern die Wirkung seiner geistigen Leistung ist auch im Bereich der christlichen europäischen Scholastik in starkem Maße spürbar. Als sich teils auf Grund der Übersetzungen aus dem Arabischen, teils auch durch direkt aus dem Griechischen stammende Übertragungen die Kenntnis der Philosophie des Aristoteles im christlichen Europa ausweitete, stand die Kirche vor der Aufgabe, sich mit dem Problem des Verhältnisses von Glauben und Wissen auf der Basis des neuen philosophischen Materials und seiner arabischen Interpretationen erneut auseinanderzusetzen. Auf die Einbeziehung des Aristotelismus in die religiösen Lehren des Abendlandes ist das Werk des Maimonides - auch dort, wo seine Lösungen nicht unbedingt akzeptiert wurden - von maßgeblichem Einfluß geworden. 122 Grundkurs Judentum Kabbala Vielerlei Möglichkeiten gibt es, ein Thema wie das Verhalten gegenüber Juden in der Geschichte zu betrachten. Eine Betrachtung der wirtschaftlichen Interessen liefert wichtige Einblicke in die Judenpolitik der Herzöge, eine politische Betrachtung wiederum fördert die komplexen Verflechtungen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Hussiten zutage, eine soziologische Betrachtung erhellt den Lebensstandard der Menschen und eine monetäre Betrachtung zeigt die Folgen der herrscherlichen Zinspolitik auf. Alle Komponenten zusammen erst aber ergeben ein Bild der schwierigen Situation des Judentums in Europa, einer Situation, die maßgeblich geprägt ist vom christlichen Erbe. Dieses christlich-religiöse Element der Betrachtung greift manchmal in den historischen Untersuchungen zu kurz, wohl, weil viele Historiker wenig mit Theologie zu tun haben (wollen). Die christlichen Theologen wiederum haben lange Zeit den Umgang mit dem Judentum entweder vernachlässigt oder das Thema marginalisiert. Die Kirchengeschichte konzentrierte sich auf eine Betrachtung der Papsthistorien oder einer Erörterung der Entwicklung kirchlicher Lehren und Dogmen. Zudem lag ihr die Auseinandersetzung mit innerchristlichen Spaltungen näher als die Beschäftigung mit dem Judentum. Mitunter haben sogar eher Nichttheologen wie der große Friedrich Heer wichtige Impulse hinterlassen, denen nur zaghaft nachgegangen wurde. Vor allem der überaus fleißigen Arbeit des Münsteraner Professors Heinrich Schreckenberg ist es zu verdanken, daß die christlichen Kirchenlehrer aller Jahrhunderte auf ihre Haltung gegenüber dem Judentum befragt wurden. Sein dreibändiges Werk über die christlichen Adversus Judaeostexte erhellt eine erschreckend konsequenten Linie des Antijudaismus. Sie findet eigentlich erst nach der Schoa Widerspruch, in der katholischen Kirche mit dem 2. Vatikanum und den Folgedokumenten. Ich will nicht auf die Frage eingehen, ob die Versuche ausreichen, wieweit der christliche Antijudaismus mit dem Antisemitismus der Nazis zusammenspielte und wie erst zögerlich auch in der breiten kirchlichen Öffentlichkeit eine andere Theologie gegenüber dem Judentum entwickelt wird. Ich will vielmehr versuchen, die Zeit stehen zu lassen um 1420/21 und zu zeigen, wie Juden in dieser Umwelt leben konnten, welche religiösen Überlegungen das Christentum bestimmten und wie diese die Tragödie des Wiener Judentums zur Folge hatten. Lassen Sie mich vorerst stichwortartig die politischen Ereignisse vor 1420 kurz darstellen: Die Lage der Juden vor 1420 Juden dieser Zeit unterstanden dem sog. Judenrecht. Das meint jene Satzungen, die Juden von Kaisern oder Landesherrn erteilt wurden. Ursprünglich hatten nur Kaiser oder Könige dieses Recht als unmittelbare Herrn über die Juden, Satzungen für sie zu erlassen. Doch nahmen es im Zuge erfolgreicher Zurückdrängung der Kaisermacht durch die Landesfürsten immer mehr auch die Herzöge für sich in Anspruch. Im Jahre 1244 erließ der österreichische Herzog Friedrich der Streitbare ein Privileg, in dem er die Judenpolitik für Österreich regelte. Aus ihm geht deutlich hervor, welche Rolle dem Judentum von einem christlichen Herrscher zugewiesen wurde: Juden sollten in erster Linie den Adel mit Darlehen versorgen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren also klar. Juden sollten dem Herzog Geld bringen. Er nahm sie aus der Zuständigkeit des kaiserlichen Kammergutes heraus und eignete sich als Landesfürst seine Juden an. Von den 30 Artikeln des Privilegs beziehen sich 22 auf pfandrechtliche und strafrechtliche Fragen, was ihre Wichtigkeit aufzeigt. Als Gegengeschäft für finanzielle Hilfe gewährte der Herzog Schutz von Leib und Gut, vor Zwangstaufe, Handelsrechte und die Einsetzung eines christlichen Judenrichters. Juden brachten also Darlehen für den Adel, zu Zinssätzen von etwa 10 Prozent auf längerfristige Anleihen, von 8 Pfennigen vom Pfund für die Woche auf kurzfristige. Da diese Kredite wie gesagt kurzfristig waren, kann man sie auch nicht aufs Jahr aufrechnen. Eine Berechnung von etwa 170% Jahreszinssatz verfälscht, zeigt aber dennoch auf, daß hier Konflikte vorprogrammiert waren, Konflikte, die die herzögliche Politik, nicht die Juden in ihrer unfreien abhängigen Stellung zu verschulden haben. 1338 senkte man in Wien den Zinssatz auf 60%, um Ausschreitungen im Zuge des Vorwurfs der Hostienschändung von Pulkau zu vermeiden. Die meisten Juden, die in jener Zeit in Wien lebten, so wissen wir aus den Quellen, stammten wohl aus Bayern, aus der Nähe von Regensburg, und sie wohnten, nachdem die herzogliche Burg an den Standort der jetzigen Hofburg übersiedelte, vornehmlich im Bereich der alten Burg Am Hof, wo man ihnen Häuser überließ. Bäder, Spital und Fleischhof gehörten ebenso zum Bestand der funktionierenden Gemeinde wie die Synagoge. Ab den sechziger Jahren des 13. Jh. wirkte in der Stadt ein gewisser Isaak ben Mose. Er war in Paris erzogen worden und galt als hervorragender Rechtsgelehrter. Seine Gutachten brachten ihm so reichen Ruhm, daß er den Namen eines seiner Werke erhielt, Or Zarua, zu Deutsch „die Saat des Lichts“. Dieser Name sollte nun auch das gewaltige Gotteshaus prägen, das auf dem heutigen Judenplatz 8 entstand. Der Bau wurde in drei 123 Grundkurs Judentum Kabbala Entwicklungsphasen vollendet, deren erste, ein Gebetsraum für Männer (Männerschul) und ein breiter Raum schon um 1294 bestand. Die dritte Stufe schließlich umfaßte eine immerhin über 450 stehenden Menschen Platz bietende Männerschul, eine Frauenschul, einen Eingangsraum, Toraschreine und eine sechseckige Bima (Pult zum Vortragen der Tora) mit einem Baldachin und einer steinernen Brüstung. Der Ausbau der Synagoge war nach starker Zuwanderung notwendig geworden. So gab es in den 60er Jahren des 14. Jhs. etwa 800-900 Juden in der Stadt, was einem Bevölkerungsanteil von rund 5% entspricht. Die Zuwanderung war durch den Herzog begünstigt worden, der Juden als Geldleiher brauchte, nachdem ihm die Vergabe von Bankprivilegien an Wiener Bürger durch den Kaiser verwehrt worden war. So waren es Juden, die Wien im 14. Jh. am wirtschaftlich-finanziellen Leben erhielten. Ein bekannter Name unter den jüdischen Großfinanziers ist David Steuss. Seine Schwiegersöhne Abraham Klausner und Meir-ha-Levi gehen als große Gelehrte in die Annalen ein. Sie und noch mehr ihre Frauen betrieben auch große Geldgeschäfte. Daneben betrieb man Pfandgeschäfte, Kleinhandel und Grundstücksgeschäfte. Doch zahlten die Wiener Juden auch umfassend ordentliche und außerordentliche Steuern, die gegen Ende des 14. Jhs. bald unerträglich wurden. Anläßlich eines dreitägigen Brandes in der Stadt kam es 1406 zu massiven Plünderungen mit einem Schaden von 100.000 Pfund. Die Geschäftseinnahmen sanken in dieser Zeit rapid, während der moralische und finanzielle Druck stieg. Zugleich mischten sich in die finanziellen Schwierigkeiten auch politische Anschuldigungen, den Feinden der katholischen Kirche, den böhmischen Hussiten freundlich gesinnt zu sein. Während die Hussiten ihrerseits angeblich Lieder jüdischer Rabbiner sangen und den Wert der Bibel hoch hielten, zeigten viele Juden offene Sympathie für diese Minderheit. Am 9. September 1419 wurde die theologische Fakultät mit den Anschuldigungen befaßt und kam zum Schluß, daß Juden mit Waldensern und Hussiten gemeinsame Sache machten und Waffen lieferten, warf den Juden aber zugleich vor, lästerliche Literatur zu besitzen, in Luxus zu leben und sich über Gebühr zahlenmäßig auszubreiten. Albrecht V. war 1411 für großjährig erklärt worden und hatte sich sogleich bemüht, neue Judensteuern einzutreiben. Er deckte damit nicht nur die Kosten des neuen Hofes sondern auch die Fertigstellung des Stephansturms. Juden waren den Herrschern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Zwar durften sie Geld verleihen, und – wie gesagt, zu einem ansehnlichen Zinsfuß – doch konnte der Herzog jederzeit sog. Tötbriefe ausstellen, mit denen er gegenüber Günstlingen Darlehen bei Juden für gestrichen erklärte. Ebenso sah das Recht vor, daß Frauen nicht für die Schulden ihrer verstorbenen Männer hafteten. Im Zuge der Hussitenkriege kamen viele Männer ums Leben, was zahlreiche Einbußen für die jüdischen Geldgeber brachte. Juden mußten Leute des Hofstaates auf ihre Kosten einquartieren und Betten, Bettzeug, Geschirr und Utensilien für das Gefolge bereitstellen, ja sie wurden sogar gezwungen, Geschenke an Bischöfe und geistliche Würdenträger zu Weihnachten und Neujahr zu schicken. Doch alle politischen Erklärungen, jeglicher Hinweis auf Interessen und Willkür der Herrschenden läßt letztlich das eigentliche Drama der Judenverfolgung unbeantwortet, deren Wurzel viel tiefer liegt, nämlich in der Ablehnung und Ausgrenzung des Judentums durch das Christentum. Diesem Umstand will ich in der Folge nachgehen und zu zeigen versuchen, warum der Tod der Juden in der Wiener Gesera letztlich Ergebnis der christlichen Theologie und Politik ist. Die Juden als geduldete Feinde und „Gottesmörder“ Von Beginn der Ausbreitung des Christentums an setzte sich in der Theologie tief die Enttäuschung fest, daß jenes Volk, aus dem Jesus von Nazaret stammte, in seiner großen Mehrheit nicht bereit war, ihn als Erlöser des Judentums und der Welt, zu betrachten. Und kaum ein Vorwurf war tiefgreifender und folgenschwerer als der, daß die Juden Verantwortung für den Tod des Messias trugen. Dieser Jesus Christus wird im Zuge der christlichen theologischen Reflexion zur zweiten göttlichen Person, was den Vorwurf noch verstärkt: Juden haben Jesus, sie haben damit Gott selbst getötet. Das Wort des Matthäus in 27,25, wonach die Juden vor Pilatus geschrien hätten, „sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ wurde als Selbstverfluchung gedeutet. Stellvertretend für die christliche Theologie kann ein Zitat des großen Kirchenlehrers Hieronymus gelten: Das Beispiel Hieronymus „Viele Verbrechen hast du, Jude, begangen. [...] Warum sieht sich der allzeit gütige Gott, der euch nie vergessen hat, nach so langer Zeit der Not nicht veranlaßt, eure Knechtschaft zu beenden oder, um mich richtiger auszudrücken, den von euch erwarteten Antichristus zu senden! Welchen Verbrechens, welch fluchwürdigen Vergehens wegen hat Gott seine Augen von euch abgewandt! Wißt ihr es nicht! Denkt an das 124 Grundkurs Judentum Kabbala Wort eurer Väter: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Kommt, laßt uns ihn töten, und unser wird das Erbe sein (Mk 12,7)! Wir haben keinen König außer dem Kaiser (Joh 19,15). Nun habt ihr, was ihr gewählt habt. Bis zum Ende der Welt werdet ihr dem Kaiser dienen, bis die Fülle der Heiden sich bekehrt. Dann kann auch ganz Israel gerettet werden (Röm 11,26-26), aber was einst Kopf war, wird jetzt zum Schwanz werden“ (Schreckenberg 203). In diesem Zitat verbirgt sich die Grundlage der Judenpolitik der Spätantike und vor allem des Mittelalters. Auch wenn die Evangelien eine klare Sprache sprechen und historische Untersuchungen eindeutig zeigen, daß die federführenden Kräfte der Verurteilung und Hinrichtung Jesu keine Juden, sondern Römer waren, blieb bis in unsere Jahrzehnte wohl kein Vorurteil so hartnäckig und so folgenschwer, wie jene Kollektivschuld, die auf dem Judentum zu liegen kam, nämlich Christi Blut vergossen zu haben. Juden hatten sich selbst – so folgerte man daraus - durch den Gottesmord zu Sklaven erniedrigt. Sie waren Knechte des Kaisers, eine Vorstellung, die sich in der realen Politik in Form der sog. Kammerknechtschaft niederschlug, die einstmals kaiserliches Privileg im Laufe der Zeit mehr und mehr in die Hände der Landesfürsten und Herzöge überging, die nun Besitzer „ihrer Juden“ wurden. Die Knechtschaft sollte erst enden, wenn die Botschaft von Jesus dem Christus über die Welt getragen und alle Nichtchristen bekehrt würden. Um dies zu erreichen, bedurfte es enormer Anstrengungen. Dazu brauchte es Missionare und Soldaten, Kämpfer und Prediger zugleich. Es mutete den Christen ungemein schmerzlich an, daß gerade jene Stätte, in der der Erlöser sein Blut hingab, sog. Ungläubige saßen, Muslime. Man erachtete es daher nur als recht und billig, daß man Jerusalem dem Christentum wiedererobern wollte und dabei auf die Juden im eigenen Land nicht vergaß. So schrieb ein Chronist im 12. Jh.: Die Kreuzfahrer „Als sie nun auf ihrem Zuge durch die Städte kamen, in denen Juden wohnten, riefen sie untereinander: `Sehet, wir ziehen den weiten Weg, um die Grabstätte aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen, und siehe, hier wohnen unter uns die Juden, deren Väter ihn unverschuldet umgebracht und gekreuzigt haben! So lasset zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen den Völkern, daß der Name Israel nicht mehr erwähnt werde; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen.´“ Mit diesem Spruch begann die Verfolgung der Juden in der Kreuzfahrerzeit, der Gemeinden wie Worms, Speyer, Mainz oder Köln (1096) zum Opfer fielen. Jenen Juden, die auch die Kreuzfahrerhorden überlebten, sich nicht taufen ließen und als Kammerknechte im christlichen Land aushielten, zeigte sich das Christentum offiziell immer unnachsichtiger. Wer jetzt Jude blieb, der sollte spüren, daß er ein Außenseiter war. Grundkurs Judentum Kabbala keinesfalls ausgehen und sich in der Öffentlichkeit sehen lassen; denn, wie wir vernommen haben, schämen sich einige von ihnen nicht, gerade an solchen Tagen (vielleicht wegen des etwa gleichzeitigen Passahfestes) im Festgewand einherzugehen, und die Christen, die im Gedenken an die allerheiligste Passion Zeichen der Trauer tragen, zu verspotten. Das aber verbieten wir aufs strengste, daß sie sich irgendwie dreist herauswagen, um den Erlöser zu beleidigen. Und da wir über die Schmähung dessen, der unsere Schandtaten tilgte, nicht einfach hinweggehen dürfen, schreiben wir vor, daß Missetäter dieser Art durch die weltlichen Herrscher mittels Zuerkennung einer angemessenen Strafe in ihre Schranken gewiesen werden, damit sie nicht den für uns Gekreuzigten irgendwie zu lästern wagen“ (Schreckenberg 423f.). Man schärfte weiter ein, daß Juden natürlich keine Amtsgewalt über Christen haben dürften. Auch wenn man immer wieder damit argumentiert, daß mit der Kennzeichnung der Juden durch die phrygische Mütze, den sog. Judenhut, nicht automatisch eine Diskriminierung erfolgen mußte und auch jüdische Darstellungen selbst solche Erkennungszeichen aufweisen konnten, ist unbestreitbar, daß der Judenhut mehr und mehr zum Faktor der Ausgrenzung wurde und die mittelalterliche Ikonographie vor allem nach 1215 Judenhüte als polemisch-denunziatorischen Hinweis auf die verachtete Judenheit gebrauchte. Zur Durchsetzung der kirchlichen Bestimmungen, die immer nur zaghaft auch im östlichen Europa umgesetzt wurden, sannte Clemens IV. Kardinal Guido aus, der mit Eifer für die Einhaltung der Judendiskriminierung kämpfte. Im Mai 1267 fand daher auch unter seinem Vorsitz das 22. Salzburger Provinzialkonzil in Wien statt, das sich diese Bestimmungen zu eigen machen sollte. Juden sollten nicht nur den gehörnten Hut tragen, man verbot ihnen den Besuch von Wirtshäusern und Bädern, das Halten christlicher Dienstboten und das gemeinsame Essen oder Trinken mit Christen. Diese durften unter Androhung von Exkommunikation nicht an Hochzeiten und Festen von Juden teilnehmen. Synagogen durften nicht neu errichtet, wohl aber repariert werden. Besonders makaber mutet der Passus an, wonach sie dem Pfarrer, in dessen Sprengel sie sich aufhielten, dafür zu entschädigen hatten, daß sie den Platz anderen Christen wegnahmen. Hinter allen Maßnahmen stand erneut die Überzeugung, daß das Judentum vom Christentum fernzuhalten und in Schranken und spürbaren Grenzen zu halten war. Seine bewußte Ablehnung des Christentums erweckte in der geschlossen christlichen Gesellschaft Mißtrauen, der nur allzu leicht in Haß umschlagen konnte. Die jahrhundertelang gelehrte Mär vom Gottesmord und die beharrliche Weigerung der Konversion machten den Juden im Mittelalter zum stereotypen Feind. Das System von Vorurteilen, das in den Kirchen gelehrt und vom Volk rezipiert wurde, erreichte bald eine Intensität, die gar keine leibhaftigen Juden brauchte, um zu funktionieren. Die Vorurteile blieben bestehen, wenn sie sich im Laufe der Zeit auch an ganz unterschiedliche Motive hafteten. Für das Verständnis des Geschehens in Wien 1420 ist vor allem das Motiv des Hostienfrevels von großer Bedeutung geworden. Der Hostienfrevel und die Transsubstantiationslehre Das 4. Laterankonzil Im Jahre 1215 versammelte sich die hohe Geistlichkeit im Lateran zu einem Konzil, das für das Judentum einschneidende Bestimmungen traf. Auf diesem sog. 4. Laterankonzil wurde der Klerus zu einem eigenen Stand erhoben, das Pflichtzölibat durchgesetzt und mit Privilegien ausgestattet. Er erhielt das alleinige Recht, die Sakramente zu erteilen, zu lehren und zu predigen und die Kommunion in beiderlei Gestalt zu empfangen. Den Laien wurde die Beichte befohlen (1x jährlich). Über die Juden heißt es im Kanon 68: In nonnullis. 4. Laterankonzil (11·11.-30.11.1215), Kanon 68 (Potthast, P. 438; Mansi 22, 1055-1056; Gregorii Decret. V, 6, 15 [Friedberg, col. 776-777]; Hefele-Leclercq V, 2, 1387-1388; Conciliorum oecumenicorum decreta, Bologna 1973, 266): „In einigen Kirchenprovinzen unterscheidet bereits die unterschiedliche Tracht (habitus diversitas) Juden und Muslime von den Christen; in gewissen (anderen) hat sich jedoch eine Art von Durcheinander so eingebürgert, daß sie durch keinen Unterschied auseinandergehalten werden können. Daher geschieht es manchmal, daß irrtümlich Christen mit jüdischen und muslimischen, Juden und Muslime mit christlichen Frauen Geschlechtsverkehr haben. Damit also nicht Sünden in Gestalt eines so verbrecherischen Verkehrs künftig unter dem Deckmantel des Irrtums eine Ausflucht dieser Art haben können, bestimmen wir, daß solche Leute (d.h. Juden und Muslime) beiderlei Geschlechts in jeder Kirchenprovinz und jederzeit durch eine besondere Tracht (qualitate habitus) öffentlich sich von der übrigen Bevölkerung unterscheiden sollen, zumal zu lesen ist, daß eben dies ihnen (d.h. den Juden) schon durch Moses auferlegt ist (vgl. etwa Lv 19, 19, Nm 15, 37-41; Dt 22, 5.11). An den Tagen der Trauer (d.h. von Donnerstag bis Samstag der Karwoche; zur Liturgie dieser drei Kartage gehören die Klagelieder des Propheten Jeremia) und der Passion des Herrn sollen sie (d.h. die Juden) 125 Im schon erwähnten 4. Laterankonzil wurde zum ersten Mal in der Kirchengeschichte die sog. Transsubstantiationslehre deutlich artikuliert. Diese Lehre bedeutete nicht mehr und nicht weniger als daß sich die Hostie durch die Wandlungsworte des Priesters in den wahren Leib Christi verwandle. Mit dieser Entscheidung wurde ein theologischer Diskurs über die Bedeutung der Wandlungsworte und der Vergegenwärtigung Jesu in Brot und Wein entschieden. Zur Entwicklung dieser Lehre: Auf der einen Seite standen die Vertreter eines spiriualistischen Symbolismus (wie Rathramus +868 oder Berengar), auf der anderen die Vertreter eines übersteigerten Sakramentenrealismus (Paschalius Radbertus # 859 und später Gregor VII.). Im Falle der Transsubstantiationslehre siegte der Realismus über den Symbolismus. Die Transsubstantiationslehre unterscheidet zwischen den unveränderlichen Akzidentien, also der Hostie, und der gewandelten Substanz, womit sie die Wirklichkeit des präsenten Christus meint. Worin besteht nun die große Problematik des Verständnisses? Sie liegt darin, daß nicht die Gegenwart des Handelns Christi im Handeln der Kirche vergegenwärtigt wird, sondern (nur) die Person Christi in den eucharistischen Gestalten. Dieses prinzipielle Verständnis war nur zu gut dafür geeignet, in der breiten Bevölkerung durch Volksglauben und Wundererzählungen angereichert zu werden. Die Folge dieser Entwicklung ist eine stark wachsende Hochschätzung des im Sakrament gegenwärtigen Herrn, tiefe Ehrfurcht und eine unvorstellbare Ängstlichkeit im Umgang mit den Hostien und Wein. Die theologische Reflexion und die Frömmigkeit konzentrierten sich auf das Daß und Wie der Gegenwart Christi, sie harrten gespannt auf den zeitlich fixierten Akt der Konsekration, durch den der Priester, der die Wandlungsworte spricht, die Gegenwart Christi bewirkt, an der die Gemeinde ehrfürchtig schauend und anbetend (Elevation) Anteil gewinnt. Diese Auffassung mischt sich mit dem aristotelischen materia-forma-Schema, nach dem die ,Materie' (hier sind es Brot und Wein) und 126 Grundkurs Judentum Kabbala die ,Form' - das sind die mit geradezu abergläubischer Scheu behandelten Konsekrationsworte (Meyer, Lutheri.214-237) als allein wesentlich erscheinen. Beides führt zu der für die Einschätzung der Meßliturgie folgenreichen Meinung, daß nur das konsekrierende Handeln des Priesters entscheidend sei: Der Priester zelebriert die Messe - das Volk wohnt ihr bei; die Wandlung ist allein wichtig - alles übrige nur zeremonielle Zutat; die Kirche, repräsentiert durch den Priester, nicht aber durch die feiernde Gemeinde, bringt den kraft der Konsekration gegenwärtigen Leib und das Blut Christi als ihr Opfer dem Vater dar. Diese Auffassung kommt einer „Wiederholung“ des Kreuzesopfers bedenklich nahe. Man vermißt dabei völlig das Verständnis der Messe als eine der Gemeinde aufgetragene Gedächtnisfeier. Mit der Konzentration auf die durch die Konsekration vom Priester bewirkte Realpräsenz und mit dem Verständnis der Messe als Opfer der Kirche hängt es zusammen, daß die mittelalterliche Meßtheologie und –frömmigkeit sich intensiv mit dem Wert der Messe (Iserloh) und mit der Frage nach den Meßfrüchten (Franz 3672) und deren Zuwendbarkeit beschäftigte. Die in Predigten und Erbauungsbüchern popularisierend vergröberte Auffassung vom (schon in actu primo) begrenzten Wert einer Messe einerseits und deren heilsamen Wirkungen andererseits verstärkte die Tendenz, möglichst viele Messen zu feiern oder wenigstens der Konsekration und Elevation (also der Erhebung der Hostie) als deren Herzstück beizuwohnen. Es verwundert nicht, daß in dieser Zeit die Hostie leibhaftig als Kind oder Knabe geschaut wurde, daß „verletzte“ Hostien „bluteten“ und die Wunderwirksamkeit der geweihten Hostie auch zu allerlei Mißbrauch verleiteten. Man schluckte die Hostie zuweilen nicht, sondern steckte sie heimlich ein, um sie aufzubewahren, handelte mit ihr und ihrer Wirkmacht. So konnte es nicht ausbleiben, daß dem Erzfeind schlechthin, dem Juden, vorgeworfen wurde, mit den Hostien in frevlerischer Absicht umzugehen. Ab dem 14. Jh. verbreitete sich zudem rasant die festliche Begehung von Fronleichnam, einem Fest, das auf die mystischen Visionen von Juliana von Liége im 13. Jh. zurückgeführt wird und durch den Bischof von Liége kräftig gefördert wurde. Papst Urban IV. schrieb das Fest bereits 1264 für die ganze Kirche vor, doch erst Papst Johannes XXII. konnte es 1317 mit einer Dekretalensammlung nachdrücklich einführen. Zentraler Inhalt der durch Prozessionen gesteigerten Festaktivität war die Verehrung der Eucharistie. Bis heute hat vor allem das an Fronleichnam nach wie vor gesungene Pange lingua antijudaistische Tendenzen behalten, sodaß der Koordinierungsausschuß für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1997 ein Memorandum zu Liedtexten des Fronleichnamsfestes veröffentlichte, in dem unter anderem auf folgende Strophe hingewiesen wurde: „Das Gesetz der Furcht muß weichen, da der neue Bund begann; Mahl der Liebe ohnegeleichen: nehmt im Glauben daran teil.“ Dieses Beispiel zeigt, daß die Nachwirkungen mittelalterlicher Judenfeindschaft immer noch anhalten. Das Gesetz der Furcht, mit dem die jüdische Tora abgekanzelt wird, ist für viele noch immer die Negativfolie des guten mit Christus gebrachten Liebesbundes. Doch lassen Sie mich zurückkehren zum Thema des Hostienfrevels, wie er im Zuge der mittelalterlichen Hostienverehrung mehr und mehr zum Repertoire der Agression gegen das Judentum wird. Frantisek Graus schreibt zurecht: „Man versuchte, sich auf verschiedenste Weise geweihte Hostien zu verschaffen - die einfachste Art war natürlich, bei der Kommunion die Hostie nicht zu schlucken, sondern sie aufzubewahren; aber auch Diebstahl, geradezu ein Handel mit Hostien (ähnlich wie zuweilen mit Reliquien der Heiligen) kam gelegentlich auf. Da nun »allgemein bekannt« war, daß die Juden »Feinde des Christengottes« seien, konnte es nicht ausbleiben, sie mit Hostien in Verbindung zu bringen. Ihre Feindschaft übertrug sich, diesen Vorstellungen nach, zwangsläufig auf den in den Hostien wirklich existenten Christus. Die Martern, die die Juden einst Christus zugefügt hatten, wurden magisch an der Hostie immer neu wiederholt. Allerdings hatte diese Übertragung gewisse Schwierigkeiten: Die Juden, die die Hostien »marterten«, mußten zwangsläufig Anhänger der Lehre von der Transsubstantiation sein, d.h. auch sie mußten glauben, daß der Christengott, den sie schmähen oder martern wollten, wirklich und körperlich in der Hostie anwesend sei. (Wenn echte Hostienschändungen durch Juden tatsächlich vorkamen, so haben in diesen Fällen die »verstockten Juden« Ansichten der Christen übernommen.) Die sonst so ungläubigen Juden wären in dieser Hinsicht rechtgläubiger gewesen als so manche Christen. Manche Kleriker waren sich dieser Schwierigkeiten bewußt, und sie halfen sich aus diesen Schwierigkeiten dadurch, daß sie Hostienwunder mit den Bekehrungen von Juden verbanden; die Wundermacht der Hostie überwand letztendlich den Starrsinn des verstocktesten Juden und verwandelte ihn flugs in einen gläubigen Christen. Oder man begnügte sich mit der Behauptung, die Juden hätten die Hostie nur verspottet, sie unehrerbietig behandelt. Das Gros der Erzählungen über die Hostienfrevel der Juden, wie sie seit dem 13. Jahrhundert im Schwange waren, wählte jedoch trotz Schwierigkeiten der Logik die Analogie zur Passionsgeschichte: diesen Berichten nach verhielten sich die Juden ihrer Zeit gegenüber der Hostie letztlich 127 Grundkurs Judentum Kabbala genauso, wie einst ihre Vorväter gegenüber Christus selber. Obwohl auch in Erzählungen über Hostienfrevel die Juden nicht allein vertreten waren (ihnen gesellten sich verschiedene Ketzer und später besonders Hexer und Hexen hinzu, die nicht nur die Hostien schmähten, sondern sie auch für ihre unreinen Praktiken verwendeten), so waren es dennoch vor allem die Juden, die als Gottesmörder« in ihrer altbewährten Rolle weiterwirkten. Auch dabei waren es geradezu standardisierte Erzählungen, die in den gängigen Exemplar- und Geschichtsbüchern reichlich vertreten waren, die jederzeit hervorgeholt, an lokale Bedingungen angepaßt, beliebig wiederholt werden konnten. Bezeichnenderweise wird in diesen Erzählungen meist eine Kollektivschuld der Juden vorausgesetzt: Hostienfrevel waren nicht das Werk von Einzelnen, sondern von ganzen Judengemeinden, bzw. sogar von weitreichenden Organisationen. Die Strafen sollten daher, ähnlich wie bei den Ritualmorden, nicht bloß einzelne Schuldige, sondern die Gesamtheit der »Gottesmörder« treffen. Durch die Schmähung und Verunglimpfung Gottes erhielt das »Verbrechen der Hostienschänder eine mythische Dimension, die geradezu zur psychologischen Analyse reizt; vor allem aber bedrohten diese Taten das Leben aller Mitmenschen, denn ein so ungeheuerliches Sakrileg drohte ein göttliches Strafgericht heraufzubeschwören, das alle treffen würde.“ (288f.) Im Jahre 1338 werden die Juden im nö. Pulkau beschuldigt, eine Hostie geschändet zu haben. Die von dort ausgehende Verfolgung erreichte fast ganz Niederösterreich. In Krems wurden die Häuser der jüdischen Gemeinde in Brand gesteckt. Die Juden verbrannten bei lebendigem Leib. Diese Ausschreitungen führten zum massiven Eingreifen des Herzogs, der seine Juden schützte, wohl nicht aus Liebe, sondern aus Angst um sein Geld. Albrecht II. sticht dennoch auf jeden Fall als judenfreundlich aus dem Kreis seiner Vor- und Nachfahren heraus. Die Rädelsführer der Aufstände ließ er hinrichten, die Städte hohe Bußzahlungen leisten. Das änderte nichts daran, daß die unselige Mischung als religiösem Fanatismus, Volksglauben und problematischer Theologie selbst die Exzesse gegenüber Juden auch in den nächsten Jahrzehnten nicht aufhören ließen. Zur Geschichte der Hostienfrevelbeschuldigung: Die Deggendorfer Gnad „Von den «Hostienfreveln», die in den folgenden Jahrzehnten «entdeckt» wurden, hat man die ganz überwiegende Mehrzahl Juden angelastet. Schon 1298 kam es in den deutschen Orten Röttingen, Iphofen, Lauda, Weikersheim, Möckmühl sowie in Mürzburg zu solchen Beschuldigungen, die den Anlaß doch zumindest den Vorwand für blutige Massaker an zahlreichen jüdischen Gemeinden im weiteren Umkreis gaben - und in Lauda und Iphofen erinnern heute noch Wallfahrtskirchen mit entsprechenden bildlichen Darstellungen an diese vorgeblichen Freveltaten der Juden. Auch die noch sehr viel weiträumigeren Massaker der 1336-1338, als das vor allem aus Bauern bestehende Heer des «König Armleder» die jüdischen Gemeinden hauptsächlich in Franken und Elsaß heimsuchte, aber auch in Hessen, an der Mosel, in Böhmen und Niederösterreich Judenverfolgungen zu verzeichnen waren, standen im Zusammenhang mit Hostienfrevel-Beschuldigungen. Im Oktober 1338 wurde das niederbayerische Deggendorf zum Ausgangspunkt einer weiteren Welle blutiger Judenverfolgungen. Von einem «Hostienfrevel» war hier offenbar zunächst nicht die Rede; vielmehr scheint diese Legende erst nachträglich zur Rechtfertigung des Massakers an den Deggendorfer Juden herangezogen worden zu sein. Dennoch wurde die 1360 geweihte Grabkirche zum Ziel einer wichtigen und bis heute bestehenden Wallfahrt, der weit über Niederbayern hinaus berühmten «Deggendorfer Gnad». Der Zusammenhang mit dem Gottesmord-Vorwurf erscheint in diesem bekanntesten deutschen Fall einer Hostienfrevel-Beschuldigung besonders deutlich greifbar. «Do bart Gotes Laichenam funden», schildert kurz und bündig die Bauinschrift der Grabeskirche den Fund der von den Juden gemarterten Hostien in einem Brunnen. In anderer Weise erscheint dieser Zusammenhang auf den Tafelbildern des Nerio Miller von 1725, die das grausige Geschehen bis vor wenigen Jahren in der Kirche veranschaulichten und auf denen unter anderem zu sehen war: «Die heiligen Hostien werden von den Juden bis auf das heilige Blut mit Dornen gekratzt und es erscheint unter solcher Marter ein kleines Kind.» Dem G1äubigen konnte nicht zweifelhaft sein, daß es sich bei diesem Kind um den Jesusknaben handelte, wie ihm auch in einem Andachtsbüchlein der Zeit um 1910 folgendes Gebet in der Grabkirche anempfohlen wurde: «O mildreichster Jesus! der du dich gewürdiget hast, denen jüdischen Feinden als ein liebreiches Kindlein zu erscheinen, da du doch vorgesehen, daß sie dich nicht erkennen, sondern lästern und in den Abgrund eines Brunnens werfen werden; würdige dich auch, über mich Sünder (Sünderin) durch dieses wunderbare Sakrament dein Gnadenlicht scheinen zu lassen.» Auch ein Bühnenspielen kam der «Hostienfrevel» zur Aufführung, so 1800 in Regen im bayerischen Wald, wo unter anderem der Satan als Deggendorfer Jude in Erscheinung trat; und auch in dieser derben Burleske wird 128 Grundkurs Judentum Kabbala deutlich, daß die Juden in der Hostie Jesus selbst martern: «Moses: wir wollen nemmen spitzige Schuehahlen, und wollen stechen den Messias, damit Er verliert den Kitzl. Satan: Ach! mit Dörnern wolln wir ihn kratzen, daß ihm vergeht die Frad [Freude; S. R.]. David: jo, jo, so wolln wir machen, daweil fallt mir auch ein gedancka, daß wir haben unsern längern spas, wir wollen gehn, und bitten unsere Nachbarn zu uns, sie sollen begucken den großen Messias, der erlöst hat die gantze Welt.» Durch illustrierte Gnadenbüchlein und dergleichen wurde die Geschichte von dem Deggendorfer «Hostienfrevel» bis in die jüngste Vergangenheit propagiert. In dem letzten derartigen, 1960 erschienenen Traktat aus der Feder eines Benediktinerpaters heißt es nach einer ausführlichen Würdigung der über die Jahrhunderte hinweg bewährten Frömmigkeit Deggendorfer Bürger und Wallfahrer: «Betrachtet man die vorgeführten Tatsachen, und wie ununterbrochen Groß und Klein, Hoch und Nieder, Geistlich und Weltlich aus der Nähe und Ferne dem in der Grabkirche aufbewahrten hl. Fronleichnam so mannigfach ihre Anbetung und Verehrung zollten, so ist der Wahnwitz derjenigen nicht leicht zu begreifen, welche in neuerer Zeit das hl. Mirakel als Unsinn und Schwindel verhöhnen, und die Andacht und Wallfahrt zu ihm als Verherrlichung des Judenmordes ausschreien.»“ (Rohrbacher/Schmidt 292-295). Und in einem Flugblatt, das im Sommer des Jahres 1998 (bitte hinhören, 1998) während des SalzburgAufenthaltes des Papstes verteilt wurde, heißt es noch immer über die Heiligkeit der Hostie: Ein Flugblatt der Eucharistischen Bewegung zur Verherrlichung Gottes Zwangstaufen, Kiddusch ha-Schem und das Ende der Gemeinde in Wien Was 1960 noch vehement verteidigt wird, und was 1998 noch deutlich spürbar bleibt, ist für die Juden des Mittelalters schlimmste Bedrohung an Leib und Leben. Der einfache Christ dachte: Diese Juden, die Gott getötet haben und sich beharrlich weigern, die Taufe zu nehmen, sie verfolgen und töten Christus aufs Neue in jeder geweihten Hostie, die ihnen in die Finger kommt. Was blieb zu tun: Zum einen konnte man erneut versuchen, sie der allein selig machenden Kirche einzugliedern. Und so wurden Ende des 14. Jhs. wieder viele Stimmen laut, die einer Zwangstaufe von Juden das Wort redeten. 1420 war es auch in Wien soweit. Am 23. Mai 1420 wurden sämtliche Juden in den herzoglichen Städten Österreichs gefangen genommen, ihr Vermögen zog man ein. Im Herbst wurde in der Dominikanerkirche den einst jüdischen Neuchristen gepredigt. Ja, die Taufbewegung muß einen gewissen Erfolg gehabt haben, obwohl die jüdischen Quellen darüber schweigen. Die sog. Wiener Geserah, das zum Lob der Märtyrer entstandene Schreiben, berichtet hingegen ausführlich über die Ablehnung der Taufe durch die Wiener Juden. Die Armen unter ihnen wies man schließlich aus Österreich aus und setzte sie in Zillen auf der Donau aus. Die Reichen behielt man hingegen als Geiseln und folterte sie, um eventuelle Verstecke der Schätze herauszulocken. Die Wiener Gezerah erzählt über die Gefangennahme und über den Raub an den Reichen, und sie berichtet über jene verzweifelt Entschlossenen, die sich in der Synagoge versammelten, um dort den Selbstmord als gottverherrlichende Antwort auf die christliche Repression zu wählen. Dort heißt es: „Als der Herzog sah, daß die Juden sein Essen und seinen Wein verschmähten, ließ er wieder den getauften Juden holen und fragte ihn, was er des weiteren tun solle. Dieser antwortete, man solle den Juden alle Kinder unter fünfzehn Jahren wegnehmen. Dies ließ der Herzog in aller Heimlichkeit von seinen Amtmännern ausführen. Eine Jüdin, die den Amtmann von Mödling kannte, erfuhr es von diesem. Darauf schrien alle Frauen mit flehentlich hoher Stimme: Weh über Weh, unsere heiligen und frommen Kinder sollen, Gott behüte, verunreinigt werden! Sie faßten den Beschluß, sich umzubringen und warfen das Los, wer es denn tun sollte. Das Los fiel auf einen Frommen, den Rabbi Jonah. Es war am Laubhüttenfest (im Jahr 1420), als sich der Rabbi vor dem Toraschrein aufstellte. Alle in der Gemeinde baten sich gegenseitig um Verzeihung, beteten das Sündenbekenntnis und nahmen sich in der Männerschul vor dem Toraschrein das Leben. Auch die Frauen nahmen sich in ihrer Schul das Leben. Eine Frau blieb über. Sie bat den Rabbi Jonah, er möge sie durch das Fenster der Frauenschul töten. Danach hatte der Rabbi Jonah nicht mehr die Kraft, Hand an sich zu legen. Er nahm also alle Betpulte der Schule, legte sie übereinander und goß das Öl darauf. Dann betete er zu Gott, daß er das, was er getan habe, um des Himmels Willen getan habe, setzte sich auf den Altar und zündete ihn von unten an. Als das Feuer aufflammte, nahm er sich das Leben. 129 Grundkurs Judentum Kabbala Als es Tag wurde, riefen die Wiener in die Judenschul hinein und da niemand antwortete, sagten sie: Vielleicht schlafen sie, wir wollen laut schreien. Wie sie keine Antwort erhielten, kletterten sie auf das Dach und sahen die Märtyrer (tot) unten liegen. Danach befahl der Herzog, man solle (die Leichen) vor die Stadt werfen, und so verscharrte man sie unweit von einem Weingarten.“ Seit der Zeit der Verfolgungen unter den Seleukiden im 2. vorchristlichen Jahrhundert hatte sich im Judentum immer mehr das Verständnis herausgebildet, daß die Heiligung des Namens Gottes unter bestimmten Umständen den Selbstmord einzelner oder der Gruppe nötig macht. Man wehrte sich jedoch streng gegen einen Mißbrauch dieser Vorstellung im Sinne eines leichtfertigen Aufs-Spiel-Setzen des eigenen Lebens. Das Leben galt immer als ungemein hohes Gut. Nur drei schwere Gebote konnten das Martyrium verlangen, nämlich die Ehre des Namens Gottes, der Kampf gegen den Mißbrauch der Sexualität und Mord. Vor allem die Ehre des Namens Gottes veranlaßte in Zeiten der Verfolgung Juden, eher zu sterben als sich taufen zu lassen. Dieses Vorgehen, das von den jüdischen Autoritäten immer wieder heftig diskutiert und bis in den Holocaust natürlich auch heftig kontrovers behandelt wird, soll Juden wie Nicht-Juden die Kraft der jüdischen Ehrfurcht vor Gott und Seiner Tora bezeugen. Die Welt sollte Respekt vor den hohen moralischen Forderungen der jüdischen Religion erhalten. So ist auch der Schritt der Gemeindemitglieder in Wien zu sehen. Hier demonstrierte eine Gruppe ihre entschlossene Überzeugung, den Bund des Volkes mit Gott zu halten, auch bis in den Tod. Ende März 1421 lebten nur mehr 300 Juden in Wien. Aus ihnen konnte man kein Geld mehr herauspressen. Sie waren nun ganz und gar der Willkür des Herzogs ausgesetzt. Waren die Taufe, die Plünderung und die Erpressung bislang Mittel gewesen, mit denen man das Judentum konfrontierte, und waren durch den Massenselbstmord endgültig wichtige Geldgeber und Steuerzahler dem Herzog entglitten, wollte man den Rest, mittellos geworden, mittels einer tiefgreifenden und allseits verständlich Beschuldigung loszuwerden trachten. Sie fand man – wen wundert´s jetzt noch – im Vorwurf der Hostienschändung. Eine Mesnerin von Enns hätte, so heißt es, eine Hostie entwendet und den Juden übergeben, welche sie gemartert und geschändet hätten. Am 12. März 1421 entschied der Herzog schließlich, sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Und so brannten 210 Juden auf einer Wiese bei Erdberg. Die Wiener Geserah schreibt dazu: „Wie nun die Juden zum Brandhaus geführt wurden, hoben sie an zu tanzen und zu springen, als ob es um eine Hochzeit ginge. Unter lauten Zurufen und Trostworten zueinander baten sie sich gegenseitig um Vergebung und erhofften sich ein glückliches Jenseits.“ In der Aschen suchten christliche Studenten nach Gold und Silber. Für die Juden war Österreich fortan zum „Blutland“ geworden und als solches in die Literatur eingegangen. Der als Märtyrer gestorbene Rabbi Isserlein meinte zurecht über die Menschen, die diese Schauspiel beiwohnten und es guthießen: „Sie haben ein Ekel vor uns und wir sind wie Dornen in ihren Augen“. Die Christen haben ihre Version nachdrücklich auf dem Haus zum Großen Jordan wiedergegeben. Dieses Haus am Judenplatz 2, gehörte vor 1421 einem Juden namens Hocz, später erhielt es Georg Jordan, der es 1497 erneuerte und mit einem Wappen versah, welches im Motiv an die Taufe am Jordan erinnert. Auf ihr heißt es nach wie vor: Die Tafel am Jordanhaus Flumina Jordani terguntur labe malisque corpora cum cedit, quod latet omne nefas. Sic flamma assurgens totam furibunda per urbem 1421 Hebraeum purgat crimina saeva canum. Deucalioneis mundus purgatur ab undis sicque iterum poenas igne furiente luit. Durch die Fluten des Jordan wurden die Leiber von Schmutz und Übel gereinigt. Alles weicht, was verborgen ist und sündhaft. So erhob sich (im Jahre) 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. Wie damals 130 Grundkurs Judentum Kabbala Grundkurs Judentum Kabbala die Welt durch die Deukalionischen Fluten (Sintflut) gereinigt wurde, so sind durch das Wüten des Feuers alle Strafen verbüßt. zum Judentum als Ergebnis einer antijudaistischen Theologie, die erst langsam und in mühsamer Kleinarbeit aufgearbeitet und verändert wird. Die wütende Flamme des Hasses, von der hier die Rede ist, zeichnete eine blutige Spur durch die Jahrhunderte. In der Nacht vom 9. zum 10. November des Jahres 1938 berichtet ein SD-Leiter: „Gegen acht Uhr begann die Aktion planmäßig abzurollen. Die jüdischen Geschäfte wurden geschlossen (hauptsächlich eine Arbeit der Pl), mit den Verhaftungen der Juden wurde begonnen und vor den jüdischen Tempeln und Bethäusern fuhren Rollkommandos der VT [SS-Verfügungstruppe] vor und begannen mit Handgranaten das Inventar für eine Inbrandsetzung vorzubereiten. Innerhalb von zwei bis drei Stunden waren sämtliche Tempel und Bethäuser Wiens in Brand gesetzt oder zerstört. Die Feuerwehr beschränkte sich einer höheren Weisung folgend, [nur] auf eine Lokalisierung der Brände. Im ganzen wurden in Wien gegen 3.000 Juden festgenommen, die in Sammelstellen abtransportiert wurden. Die Warenlager der geschlossenen jüdischen Geschäfte wurden vielfach abtransportiert und der NSV [NS-Volkswohlfahrt] zur Verfügung gestellt. Leider konnte[n] in einigen Fällen auch sinnlose Zerstörungen des Inventars und auch Plünderungen nicht verhindert werden. In den Vormittags-stunden erschienen ... in jüdischen Wohnungen Pl-, SS- oder SA-Leute und teilten den Juden mit, daß sie die Wohnungen binnen 24 Stunden zu räumen hätten... In Baden wurden die Juden aus ihren Wohnungen in Elendsquartiere umgesiedelt und die dort wohnenden Volksgenossen in die jüdischen Wohnungen eingewiesen...“ Kurzüberblick über die Kabbala und Mystik im Judentum: Der Nationalsozialismus, dessen furchtbare Greuel wir vor wenigen Tagen wieder erinnert haben, als wir des Novemberpogroms vor 60 Jahren gedachten, hat auf einer Basis aufbauen können, die lange vor dem nationalen und rassistischen Ideologisieren da war. Er konnte an ein christliches Vorbild anschließen, daß über 2 Jahrtausende Juden als Gottesmörder betrachtete und – wenn man es für nötig erachtete – dem „Feuer der Reinigung“ übergab. Es sollte bis ins Jahr 1997 dauern, ehe die katholische Kirchenleitung Wiens eine Tafel in Auftrag gab, die unter Federführung von Prof. Dr. Kurt Schubert ein neues Bild von den Vorgängen auf dem Judenplatz zeichnen sollte, ein Bild, das dokumentieren sollte, daß die Kirche endlich bereit war, das Judentum nicht als Masse von Gottesmördern zu sehen, als Feinde Christi und als von Gott verfluchte Kreaturen, deren Vernichtung – wenn schon nicht unterstützt- so doch auch nicht vehement bekämpft wurde. Erst 30 Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil, in der man endlich von der Lehre des Gottesmordes Abstand nahm, sollte eine Tafel an das Leid der Juden hier erinnern. Die Tafel wurde am 29. Oktober feierlich von Kardinal König enthüllt. In ihr heißt es: Die neue Tafel am Judenplatz: „Kiddusch HaSchem“ heißt „Heiligung Gottes“. Mit diesem Bewußtsein wählten Juden Wiens in der Synagoge hier am Judenplatz – dem Zentrum einer bedeutenden jüdischen Gemeinde- zur Zeit der Verfolgung 1420/21 den Freitod, um einer von ihnen befürchteten Zwangstaufe zu entgehen. Andere, etwa 200, wurden in Erdberg auf einem Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Christliche Prediger dieser Zeit verbreiteten abergläubische judenfeindliche Vorstellungen und hetzten somit gegen die Juden und ihren Glauben. So beeinflußt nahmen die Christen in Wien dies widerstandslos hin, billigten es und wurden zu Tätern. Somit war die Auflösung der Wiener Judenstadt 1421 schon ein drohendes Vorzeichen für das, was europaweit in unserem Jahrhundert während der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft geschah. Mittelalterliche Päpste wandten sich erfolglos gegen den judenfeindlichen Aberglauben, und einzelne Gläubige kämpften erfolglos gegen den Rassenhaß der Nationalsozialisten. Aber es waren viel zu wenige. Heute bereut die Christenheit ihrer Mitschuld an den Judenverfolgungen und erkennt ihr Versagen. „Heiligung Gottes“ kann heute für die Christen nur bedeuten: Bitte um Vergebung und Hoffnung auf Gottes Heil. Wie immer man zu dieser Tafel stehen mag, ob man sie als ausreichend oder als zu wenig deutlich erachtet, zeigt sich doch in ihr ein Ansatz zum Umdenken der Kirche. Der Zusammenhang von christlichem Antijudaismus und Nationalsozialismus wird deutlich ausgesprochen und die Mitschuld der ganzen Christenheit an den Judenverfolgungen betont. Was ich Ihnen meine Damen und Herren zeigen wollte war, daß die mittelalterlichen Verfolgungen und Diskriminierungen keineswegs Ausfälle einzelner Weniger oder finanziell und soziologisch allein erklärbar sind. Vielmehr offenbart sich in ihnen der Zugang des Christentums 131 MERKABA – MYSTIK: Mystik vom Thronwagen, nach Ez 1 und 10 Älteste Mystik ist Thronmystik, Schau der Erscheinung um Thron, präexistenter Thron Gottes. Älteste Bücher in talmudischer Zeit: Hekhalotbücher – Schilderungen der Hallen (Hekhalot) und Palästen: Kleine Hekhalot: alt, in ihnen tritt R. Aqiba auf. Große Hekhalot: Sammlung, Hauptredner R. Jischmael. Kaum Exegese, orginäre Beschreibung und Schau der Göttlichkeit. Schauende Versenkung in die “Herrlichkeit” (kabod). Merkaba hat Kammern und Paläste. Kleine Hekhalot sprechen vom Aufstieg zur Thronwelt, in den Großen Hekhalot allerdings redet man vom Abstieg zur Merkaba. Die Mystiker heißen dann auch Jorde Merkaba. Organisierte Gruppe von Mystikern. Palästina (?), Babylonien, Italien, Deutschland. Die Gruppe wollte das Geheimnis bewahren, unter sich bleiben. Nur Auserwählte, acht moralische Vorbedingungen, aber auch physiognomische und chiromantische Kritierien. Vielleicht vom Eindringen neuplatonischen Einflusses beeindruckt, deutet man auch Jes 3,9 als Hakkarat Panim, als Erkenntnis der Stirnlinien. Die Würdigen bemühten sich um Abstieg zur Merkaba wohl durch die sieben himmlischen Paläste. Gnostischer Einfluss: Aufstieg der Seele von der Erde durch die feindlichen Planetensphären bis zu ihrer göttlichen Heimat im Pleroma der Lichterwelt Gottes. Askese von 12 oder 40 Tagen. Tiefe Selbstversunkenheit, das Haupt zwischen den Knien gelegt, wird man der Schau teilhaftig. Im Talmud auch Haltung des tief versunkenen Beters. Große Hekhalot schildern die Wanderung durch die sieben oberen Paläste. Zu überwinden sind Scharen von Torwächtern, die durch spezielle Passworte besiegt werden. Pass ist ein magisches Siegel aus einem geheimen Namen. Alles Siegel stammen aus der Merkaba selber. Sind Angriffswaffen und Panzer der Seele. Es wird von Mal zu Mal schwieriger, die richtigen Passwörter zu finden, sodass sich seitenweise neue und längere magische Schlüsselworte entwickeln müssen. Die Gefahren sind enorm groß. Die Seele muss geläutert sein und das Wesen bereit. Engel und Archonten werden gefährlicher, versuchen den Himmelsstürmer zu bremsen. Aber auch sein eigenes loderndes Feuer kann ihn verbrennen. Henoch erzählt, wie der Patriarch R. Jischmael seine Metamorphose in den Engel Metatron erzählt, bei der sein Fleisch sich in eine lodernde Fackel verwandelt. Hände und Füße verbrennen nach mancher Ansicht, also muss er auch ohne sie stehen können. Sechstes und siebtes Tor ist besonders schwierig. Am sechsten Palast wachen Domiel und Kaspiel. Die Rede von den sieben Himmeln ist alt, Beispiel Himmelfahrt Jesaja. Visionen Ezechiels, sieben Himmel und sieben Merkabot. Vorstellung von den sieben Hekhalot verwandelt die Erfahrung vom Bau der Welt in eine Schau der Hierarchie des Hofstaats. Gott-König wichtig. In den Hekhalot ist Gott vor allem König, heiliger König. Gerade die Idee der Schekhina ist die andere Seite, sie spielt hier keine Rolle. Gott ist der fern Thronende, der auch in der Ekstase nicht in die Welt eindringt. Wer alle Strapazen überwunden hat, der schaut und hört, aber nicht mehr. Es geht stärker um Gottes Königtum als um sein Schöpfertum. Erscheinungsformen der Glorie sind Geheimnamen Gottes wie Achtariel, Adiriron, Soharariel, Tetrassija, Literaturgattung: Gebete und Hymnen: inspiriert, weil aus Engelsmund. R. Aqiba kann sie erlauschen. Beispiel: Hymne des Soharariel: “Sein Thron prunkt vor ihm und sein Palast ist voller Pracht. Die Majestät steht ihm wohl an, und seine Glorie ist ihm Zier. Seine Diener singen vor ihm und künden die Macht seiner Wunder, als König aller Könige und Herr aller Herren, der umkreist ist von Kronenreihen, umgeben von den Gliederungen der Fürsten des Glanzes. Mit einem Schimmer seines Strahls umhüllt er die Himmel, und seine Pracht erglänzt von den Höhen her. Abgründe entflackern seinem Mund, und seine Gestalt entsprühen Firmamente.” (Große Hekhalot 64). SHI´UR KOMA: 132 Grundkurs Judentum Kabbala Im Aram. bedeutet Koma „Körper“, weshalb nicht „Maß der Höhe“, sondern Maß des Körpers zu übersetzen ist. Die Spekulation über das Maß der Gottheit nimmt in der Merkaba-Mystik breiten Raum ein. Hier ist das Hohelied Vorbild: 5:10ff. „Mein Geliebter ist weiß und rot, ist ausgezeichnet vor Tausenden. 11 Sein Haupt ist reines Gold. Seine Locken sind Rispen, rabenschwarz. 12 Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen; (die Zähne), in Milch gebadet, sitzen fest. 13 Seine Wangen sind wie Balsambeete, darin Gewürzkräuter sprießen, seine Lippen wie Lilien; sie tropfen von flüssiger Myrrhe. 14 Seine Finger sind wie Stäbe aus Gold, mit Steinen aus Tarschisch besetzt. Sein Leib ist wie eine Platte aus Elfenbein, mit Saphiren bedeckt. 15 Seine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold. Seine Gestalt ist wie der Libanon, erlesen wie Zedern. 16 Sein Mund ist voll Süße; alles ist Wonne an ihm. Das ist mein Geliebter, ja, das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems.“ Kontext: Verständnis des Hld als Exodusmidrasch Weitere Beschreibung als Detailbeschr. von Gliedern Gottes. Buchstabenkombinationen Geheimnamen der Glieder. Vers: Ps 147,5: gadol elohenu werab koach. Die Größe unseres Herrn ist 236 Parasangen. Grundzahl. Parasange = 3 Meilen, Meile 10000 Ellen, Elle drei Spannen, und eine Spanne erfüllt Welt = Jes 40,12. Der Sefer Jezira Der Sefer Jezira ist eines der faszinierendsten Beispiele der jüdischen Auseinandersetzung mit der Schöpfung und den Geheimnissen der Buchstaben. Sein Name schon verrät, dass es sich um ein Buch über die Erschaffung handelt, wobei nicht klar ist, welche Erschaffung damit gemeint ist. Schon die rabbinische Literatur hat in einigen Beispielen Spekulationen über die Erschaffung von Dingen angestellt. So berichtet San 65b, dass Rabbi Hanina und Rabbi Hoshia sich jedesmal freitags vor dem Sabbat mit dem Sefer Jezira beschäftigten und sich dabei ein dreijähriges Kalb erschufen, dass sie daraufhin verspeisten. Diese Erzählung ist in mehreren Varianten weiterüberliefert und ausgelegt worden. Manche Ausleger schwächten die Tatsache einer solchen Schöpfung dadurch ab, dass sie behaupteten, es habe sich um eine meditative Schau gehandelt. Selbst der uns noch ausgiebig beschäftigende Abraham Abulafia hat im 13. Jh. behauptet, ihre Schöpfung sei mystisch, nicht physisch gewesen. Rabbi Shlomo ben Aderet wiederum fand es besonders aufschlussreich, dass der Tag, an dem die Schöpfung geschah, ein Freitag war, an dem ursprünglich die Säugetiere erschaffen wurden. In jedem Fall haben wir es mit dem vorliegenden rabbinischen Zeugnis mit einer wichtigen Quelle für die weitere Tradition zu tun. Ebensolches wird auch für die Erschaffung des Golem gelten, auf die ich später ausführlich eingehen werde. Eine Identifikation des Sefer Jezira im Talmud mit unserer mystischen Schrift ist nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich. Die Abfassungszeit des Sefer Jezira wird häufig tief angesetzt und schwankt zwischen dem 2. und 8. Jh. Mir scheint eine eher spätere Ansetzung plausibler. Sicherlich aber muss der Sefer Jezira vor Saadja Gaon angesetzt werden, der bereits eine Kommentar dazu schreibt. Der Text: Der Traktat ist kurz und hochkonzentriert. In seiner kurzen Version enthält er nur etwa 1300 Worte, die Langversion ist mit 2500 Worten immer noch kurz. Eines der frühest gefundenen Fragmente bringt das ganze Buch immerhin auf nur eine einzige Seite. Manche spekulierten, dass der Ursprung nur 240 Worte umfasst haben soll. Der gegenwärtige Text hat 6 Kapitel, was in manchen Überlieferungen als Pendant zur Mischna interpretiert wurde. Saadja Gaon, der früheste Kommentator, überliefert das Buch in 8 Kapiteln. Sicher ist, dass das Buch aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist, wahrscheinlich aus vier. Das erste Kapitel führt die Sefirot ein und behandelt sie ausführlich. In den nächsten Kapiteln ist davon keine Rede mehr. „In 32 mystische Wege der Weisheit Gravierte YAH Der Gott der Heerscharen, der Gott Israels, der lebendige Gott, König des Universums El Shaddaj, 133 Grundkurs Judentum Kabbala barmherzig und gnädig, hoch und erhaben, der da ewig wohnt, dessen Name heilig ist – er ist hoch und erhaben – und er schuf sein Universum mit drei Büchern (Sefarim) durch Text (Sefer) durch Zahl (sefar) und durch Mitteilung (Sippur).“ So heißen die ersten Worte des Buches. Diese 32 Wege der Weisheit sind die zehn Urzahlen und die 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets, von denen Kapitel zwei ganz allgemein handelt und die in Kapitel drei bis sechs speziell in ihrer Bedeutung als Elemente und Bausteine des Kosmos betrachtet werden. Die zehn Urzahlen sind die Sefirot, abgeleitet von sfr, was eigentlich „zählen“ heißt. Als Zähleinheiten verwendet man im hebr. üblicherweise den Begriff Mispar, was schon zeigt, dass hier nicht an normale Zahlen gedacht ist, sondern an metaphysische Weltprinzipien oder Schöpfungsstufen. Die Wortverbindung „Sefirot beli ma“ in 1:2 unterstreicht diese Anschauung. „Zehn Sefirot des Nichts (beli ma) und 22 grundlegende Buchstaben: drei Mütter, sieben Doppelte und zwölf Einfache.“ Was ist beli ma? Die einfache Übersetzung mit „Ohne was“ mag zwar Alpendeutsch sein, gibt aber auch wieder, was die Kabbalisten darunter verstanden haben mögen. Der Begriff kommt nur einmal in der Bibel vor, nämlich in Ijob 26,7. Hier interessanterweise im Kontext der Weltschöpfung. Sefirot des Nichts soll zeigen, dass die Sefirot rein geistige und ideale Konzepte darstellen. Sie sind begrifflich. Andere Quellen wieder meinen, dass belima aus der Wurzel balam abzuleiten sei, was „zügeln“ bedeute, so in Ps 32,9. Dies würde in 1:8 des Sefer Jezira einen Anklang finden, wo es heißt: „Zügle deinen Mund, von ihnen zu sprechen“. Demnach würden die Sefirot als „unaussprechlich“ gelten. Sie sind unbeschreibbar. In jedem Fall werden die Sefirot von den Buchstaben unterschieden. Isaak von Akko hat im 13. Jh. festgestellt, dass der Begriff belima und der Begriff Elohim für Gott nur einen einzigen Unterschied im Zahlenwert haben. Elohim ist 86, belima 87. Er deutet dies als Hinweis, dass belima gleich nach der reinen Existenz Gottes existiert. Jede der Urzahlen ist mit einer bestimmten Schöpfungskategorie verbunden. Die ersten vier Sefirot emanieren auseinander; die erste Sefira wird mit „ruach elohim hajim“, mit dem Pneuma des Lebendigen Gottes identifiziert. Aus ihr geht die zweite Sefira hervor, das Urelement der Luft, das in späteren Kapiteln mit dem Äther gleichgesetzt wird. Aus der Urluft emaniert das Wasser als dritte und aus dem Wasser das Feuer als vierte Sefira. Aus der Urluft schuf Gott auch die 22 Konsonanten, aus dem Urwasser das kosmische Chaos und aus dem Urfeuer den Thron der Herrlichkeit und die Ordnungen der Engel. Die anderen sechs Sefirot stellen die sechs Richtungen des Raumes dar. Sie emanieren nicht aus den vier Urelementen, bilden aber mit ihnen eine nicht näher bezeichnete Einheit. Das zweite Kapitel besteht aus einer Besprechung der Buchstaben des Alphabets. Die fünf phonetischen Familien und die 231 Tore werden vorgestellt. Darauf werde ich noch näher eingehen. Vorher aber noch allgemein: Kapitel drei bis fünf behandeln die drei Klassen der Buchstaben: Mütter, Doppelte und Einfache. Diese drei verbunden mit dem „Universum, der Seele und dem Jahr“ stellen ein ausführliches System dar. Kosmologie, Kosmogonie und Linguistik gehen in eins. Die 22 Konsonanten sind Grundelemente des Kreatürlichen. Sie werden eben in drei Gruppen gefasst. Die erste umfasst die drei Mütter, alef, mem und shin. Ihnen entsprechen die Elemente Luft, Wasser und Feuer. Auch die Jahreszeiten und Teile des menschlichen Körpers werden mit Ihnen in Verbindung gebracht. Die 134 Grundkurs Judentum Kabbala zweite Gruppe bilden die sieben Doppelkonsonanten (bfdkfrt). Die sieben Planeten, Himmel, Wochentage, Öffnungen des Körpers und fundamentale Gegensätze des menschlichen Lebens (Leben/Tod, Frieden/Unheil, Weisheit/Torheit/, Reichtum/Armut, Anmut/Hässlichkeit, Aussaat/Verwüstung, Herrschaft/Knechtschaft) werden ihnen zugeordnet sowie die sechs Himmelsrichtungen mit dem Tempel der Welt, der alles trägt. Die zwölf einfachen Konsonanten der dritten Gruppe entsprechen den 12 Tierkreiszeichen, Monaten, Haupttätigkeiten und Hauptorganen des Menschen. Die Kombinationen all dieser Elemente enthalten die Wurzel aller Dinge, und je nach Anordnung der Elemente entsteht Gut oder Böse, Nutzen oder Schaden. Besonders bedeutsam ist schon hier, dass es eine ganz enge Verbindung zwischen der astronomischen Welt und dem Körperbau des Menschen gibt. Lassen Sie mich etwas genauer auf das Buch eingehen. Was ist sein Grundansatz? Die Bibel sagt uns, Gott habe die Welt durch Sprechen erschaffen. Aber wie kann Gott sprechen, wenn er doch der transzendente Gott ist? Wie kann immaterielle Rede eine materielle Welt schaffen? Der Sefer Jezira gibt eine Antwort darauf. Gott sprach nicht im Sinne einer menschlichen Rede, sondern vielmehr eine Manipulation der Buchstaben des hebräischen Alphabets. Buchstaben sind nicht einfach linguistische Zeichen, sie haben reale Existenz jenseits des menschlichen Verstandes. Sie bestehen aus einer eigenen geistigen Substanz und können von Gott geformt, gewogen, geordnet werden. Schöpfung ist dann die spezielle Ordnung der Buchstaben, die Wirklichkeit schafft. Mehrere Ansätze dazu finden sich im Buch selbst. So heißt es in Kapitel 2, Mischna 2ff: Zweiundzwanzig grundlegende Buchstaben: Er gravierte sie. Er meißelte sie, Er permutierte sie. Er wog sie, Er transformierte sie, Und mit ihnen bildete Er alles, was geschaffen war, und alles, was geschaffen wird. Grundkurs Judentum Kabbala und alles, was gesprochen war, aus einem Namen hervorging. David Blumenthal, der große Wissenschaftler aus der Atlanta Emory University, hat den sehr verdienstvollen Versuch unternommen, per Computer den Sefer Jezira zu entschlüsseln. Ich versuche, Ihnen seine Ergebnisse zusammenzufassen: Man kann sich bemühen, die grundlegende Sequenz der Buchstaben zu rekonstruieren. Nach 5 ist jeder Buchstabe mit allen anderen Buchstaben zu kombinieren, nicht aber mit sich selbst. Das bringt 462 Buchstabenpaare (22 Buchstaben x 21 Buchstaben). Wenn man die Spiegelbilder weg lässt (also AB BA), bekommt man 231 Basispaare. Im Deutschen würde man folgende Sequenz erhalten: AB, AC, AD...BC, BD, BE... CD, CE, CF... YZ. Der Text sagt, dass diese Paare auf zweiwegig zu gestalten sind – vorwärts und rückwärts (Alef mit ihnen allen, und sie alle mit Alef). So ergeben sich 2 Reihen von 231 Basispaaren. Die Basissequenz sind 2 Reihen von Basispaaren. Im Deutschen: AB, AC, AD...BC, BD, BE... CD, CE, CF... YZ, umgekehrt: ZA, YA, XA... ZB, YB, XB... ZC, YC, XC... ZX. Wie kommt man nun zu den zwei vorgeschlagenen Formen, nämlich dem Kreis und der Mauer. Das Wort Mauer lässt an eine Tafel oder ähnliches denken. Dem entspricht Figure 1. Kreis oder auch Rad, in manchen Ausgaben auch im Plural, lässt an ein Rad mit Speichen oder einen Stern denken. Man kann die Basissequenz in der Form von zwei solchen Sternen darstellen. Figure 2, 3 und 4 sowie 5. Eleazar von Worms hatte eine andere Methode, um zu den 231 Paaren zu kommen. Jeder Buchstabe wird mit dem unmittelbar folgenden kombiniert, dann mit dem nächstfolgenden, dann mit dem Buchstaben, der 3 weiter ist, bis nur mehr der 1. und letzte Buchstabe kombiniert werden können. Im Deutschen: AB, BC, CD, DE... AC, BD, CE... AD, BE, CF... AZ. Saadj und Pseudo-Abraham Ibn Daud verstanden das Hebr. Galgal (Rad, Kreis) als „Sphäre“, als himmlische Sphäre. Die 231 Basispaare wurden auf die Oberfläche der Himmelssphäre mit seiner dauernden Rotation gestellt. Zweiundzwanzig grundlegende Buchstaben: Er gravierte sie mit Stimme Er meißelte sie mit Geist Er setzte sie in den Mund An fünf Orte Alef Chet He Ajin in die Kehle Gimel Jod Kav Quf in den Gaumen Dalet Tet Lamed Nun Tav in die Zunge Sajin Samech Shin Resh Zade in die Zähne Bet Vav Mem Pe in die Lippen. Wenn man nun die Basissequenz entziffert hat, bleibt die Frage. Was waren die „Tore“ und wie funktionierten sie? Saadja verstand jedes Buchstabenpaar der Basissequenz als „Tor“. Eleazar von Worms meinte, die Tore seien eine Reihe von Buchstaben, angeordnet nach seinem magischen Alphabet. Er meinte, dass man diese alphabetischen Reihen in ihrer bestimmten Folge aufsagen muss, um einen Golem zu erzeugen. Wollte man den Golem wieder zerstören, musste man die umgekehrte Reihenfolge einhalten. Aber diese Vorschläge sind alle nur Beispiele. David Blumenthal macht es wahrscheinlich, dass die 231 Basispaare der Rückwärtssequenz über die 231 Paare der Vorwärtssequenz zu setzen sind, sodass der zweite Buchstabe der oberen Linie der Paare mit dem ersten Buchstaben der unteren Linie übereinstimmt. Figure 1. Jeder dieser Gruppierungen formt dann ein Tor, sodass 231 Tore entstehen. Das nächste Problem ist, welche Gruppen von Toren die Tafel der magischen Buchstaben konstituieren, mit denen Gott das Universum erschuf. Die Lösung liegt in 4: Ein Zeichen dafür ist: Es gibt im Guten nichts über Freude (´Oneg) Es gibt im Bösen nichts unter Plage (Nega´) Die Kommentatoren hatten dieses Zeichen moralistisch gedeutet, in dem Sinne, dass man mit der richtigen Einstellung die Buchstaben kombinieren müsse. Die moralistische Sicht in einem magisch-spekulativen Text ist unbefriedigend. Eher ist anzunehmen, dass die Formel als mechanisch-magischer Schlüssel fungiert, durch den die korrekte Anordnung der Tore ausfindig gemacht werden kann. Die Zitation beinhaltet vier Schlüsselbegriffe: tova (Gutes), ra´a (das Böse), oneg (Freude), nega (Böses, Lepra). Drei der Schlüsselwärter haben drei Buchstaben. Möglicherweise sollte auch tova mit nur drei Buchstaben gelesen werden, also tvh defektiv oder tov. Mathematischer Theorie zufolge kann jede Vierereinheit in eine Dreiereinheit verwandelt werden, wenn sie die Form AB-BC enthält, also der mittlere Teil der beiden Einheiten gleich ist. So kann man folgende Tore eröffnen: tv-vb (oder tb-bh), ON-NG, RO-OH, NG-GO. Um dies zu erreichen, muss man die Tafel so Zweiundzwanzig grundlegende Buchstaben: Er ordnete sie in einem Kreis Wie eine Mauer mit 231 Toren. Der Kreis schwingt vor und zurück. Ein Zeichen dafür ist: Es gibt im Guten nichts über Freude (´Oneg) Es gibt im Bösen nichts unter Plage (Nega´) Wie? Er permutierte sie, wog sie, und transformierte sie, Alef mit ihnen allen, und sie alle mit Alef Bet mit ihnen allen, und sie alle mit Bet. Sie wiederholen sich in einem Kreis und existieren in 231 Toren. Es findet sich, dass alles, was geschaffen war, 135 136 Grundkurs Judentum Kabbala bearbeiten, dass eine oder mehrere dieser Tore erscheinen. Man kann die Buchstaben der unteren Linie der Figure 1 beibehalten und die Buchstaben der oberen Linie nach links bewegen. Man nennt dies Bewegung dann Rotation. Alle 11 obere Linien der Tafel werden gleichzeitig bewegt. Nach jeder Rotation gibt es eine neue Tafel. So entstehen 21 Tafeln, die alle 231 Tore enthalten, also insgesamt 4851 mögliche Tore. Da man nicht weiß, welche Tafel die Schlüsselworte enthält, muss eine zusätzliche Operation geschehen. Man kann jede untere Linie ein Feld nach oben schieben. Nach allen entsprechenden Vorgängen gibt es wieder 21 mögliche Rotationen für jeden dieser Zeilen. Da es 11 Zeilen gibt, die weitergeschoben werden können und 21 Rotationen, hat man 21 Tafeln. Jede Tafel hat 231 Tore, ergibt 53.361 Tore. Wenn man das ganze auch noch umdreht, also die untere und obere Zeile vertauscht und die selben Vorgänge vornimmt, ergibt dies 462 Tafeln mit 106.722 Toren. Um die richtigen Tore zu finden, welche den mechanischen Schlüssel oder das Zeichen bieten, musste man allerdings nur die untere Linie der ersten Operation festhalten und die obere Linie 17 Plätze nach links verschieben (Figure 6), wo die Tore NG-GO zweimal erscheinen (3.12 und 3.10). Eine andere korrekte Tafel wird durch Verschieben der oberen Linie um 12 Plätze nach links erreicht (Figure 7). Hier erscheint TB-BH zweimal (2.3 und 2.7). Das Zitat aus Mischna 4 funktioniert also an bestimmten Stellen. Wenn das bestimmte Schlüsselwort erreicht ist, funktioniert es wie ein Türöffner, der von der oberen in die untere Linie fällt und die Bewegung des Ganzen abschließt. Da die Stichworte sowohl richtig als auch verkehrt sperren, ist eine doppelte Verriegelung merkbar. Natürlich gibt es auch für das Rad oder den Stern eine richtige Anordnung (Figure 810). Die letzte Frage ist nun. Wie wurde diese Tafel oder die Tafeln angewendet? Sefer Jezira erzählt davon nichts. Auch andere Quellen geben davon kein Zeugnis... Was aber sollte überhaupt erschaffen werden? Im Buch heißt Schöpfung stets yezur. Yezur aber meint nicht zuletzt die Schöpfung von Menschen. So beschreibt die Pesiqta Rabbati, dass Adam, Jakob, Jes und Jer als yezurim erschaffen wurden. Im NishmatGebet heißt es auch, dass es Pflicht aller yezurim sei, Gott zu preisen. Gerade der intensive Zusammenhang von Buchstaben und Gliedern, der in Sefer Jezira eine große Rolle spielt, lässt den Schluss zu, dass nicht an irgend eine Schöpfung, sondern an die Schöpfung eines Menschen gedacht war. Nur der Mensch wird mit der Zahl 22 in Verbindung gebracht. Diese Verbindung begegnet auch in der Gnosis. Nach Irenäus Adversus Haereses I 14:1-3 habe Markos einen menschlichen Körper beschrieben, dessen Glieder dem göttlichen Namen korrespondieren. Auch jedes einzelne Glied entspricht den bei ihm – allerdings im Unterschied zum Sefer Jezira - zwei Buchstaben. In jedem Fall ist die Annahme durchaus sinnvoll, dass der Sefer Jezira die Schöpfung des Menschen im Sinn hatte. Noch ein wichtiger Aspekt taucht im Buch auf: Am Ende des Kapitels 6 heißt es: „Und als Abraham, unser Vater, - mag er in Frieden ruhen -, schaute, sah verstand und forschte, gravierte und meißelte War er erfolgreich beim Erschaffen, wie geschrieben steht: „Und die Seelen, die sie in Haran gemacht hatten (Gen 12,5). Unverzüglich war ihm der Herr von allem offenbar, mag sein Name auf immer geheiligt sein, Er setzte ihn in seinen Busen, küsste ihn auf sein Haupt und nannte ihn „Abraham mein Geliebter“ (Jes 41,8). Er schloss einen Bund mit ihm und mit den Kindern nach ihm auf ewig, wie es geschrieben steht: „Abraham glaubte Gott, und er rechnete es ihm als Rechtschaffenheit an“ (Gen 15,6). Er schloss einen Bund mit ihm zwischen den zehn Fingern seiner Hände – das ist der Bund der Zunge, 137 Grundkurs Judentum Kabbala und zwischen den zehn Zehen seiner Füße – das ist der Bund der Beschneidung, und er band die zweiundzwanzig Buchstaben der Tora an seine Zunge und enthüllte ihm seine Mysterien. Er zeichnete sie in Wasser, flammte sie mit Feuer, erregte sie mit Geist. Er brannte sie mit den sieben Planeten, leitete sie mit den zwölf Sternbildern.“ In 1:4 heißt es: „ Zehn Sefirot des Nichts: Zehn und nicht neun, zehn und nicht elf. Verstehe die Weisheit, und sei weise mit Verständnis. Prüfe mit ihnen und forsche aus ihnen, stelle jedes Ding auf seine Essenz, und lass den Schöpfer auf seinem Thron (makhon) sitzen.“ Was klingt hier an? Dass nämlich der Student der Sefirot zuerst deren Geheimnis verstehen und dann danach handeln soll. Das Handeln setzt einen aktiven Vorgang voraus. Es ist verbunden mit dem Handeln Gottes und hat, wie der Sprachgebrauch deutlich nahelegt, auch Einfluss auf Gott. Vor allem der verwendete Ausdruck Makhon ist von großer Bedeutung. In der Phrase „makhon shivto“ begegnet der Ausdruck deutlich als Hinweis auf Gottes Thronen. Hier schlägt sich die Brücke zu der Mystik der Merkaba, zu den Hekhalot, den himmlischen Thronhallen. Hier wird also nichts anderes ausgesagt, als dass ein unrichtiges, unwürdiges und unpassendes Verständnis des Geheimnisses dazu führen würde, dass Gott selbst auf seinem Thron gefährdet wäre. Das steht in engem Zusammenhang mit der noch näher zu besprechenden kabbalistischen Grunderkenntnis, dass Gott und Mensch in einer engen Verbindung stehen, ja der Mensch geradezu notwendig ist, um Gott Gott sein zu lassen. Abraham erscheint als jene biblische Figur, die es schafft, all die Zusammenhänge zu durchschauen. Er hat, so sagt Sefer Jezira, auch „Seelen in Haran“ geschaffen. Dies hat man im MA immer als Schöpfung von Menschen verstanden. Im Unterschied zu den Götzendienern in Haran, die nur tote Götzen aufzustellen vermochten, schafft es Abraham, Leben in den Menschen zu geben. Abraham steht auch in einer anderen Verbindung zu den Buchstaben. Er erhält schon in GenR den Buchstaben H, um seinen Namen von Abram auf Abraham zu ändern. Er erhält dadurch den Gottesnamen, der im H repräsentiert ist. Wird Abraham dadurch zu einem potentiellen Weltenschöpfer? GenR 63.19 redet davon, dass Gott Abraham als Weltenschöpfer akzeptierte, weil er den Menschen den Segen Gottes brachte, ihnen Gott näherbrachte. Abraham gilt ja als großer Proselytenmacher, vor allem im Kontext mit der Begegnung mit Melchizedeq in Gen 14. Hier hinein passt die Gleichsetzung von babraham mit bhibaram in der Erzählung von der Weltschöpfung in GenR 12:9. Demnach könne man lesen: „Mithilfe von Abraham wurden sie geschaffen“, was der Midrasch so versteht, als wären sie wegen des positiven Wirkens Abrahams geschaffen worden. Hier treten freilich die spirituellen Aspekte in den Vordergrund. Der Sprachgebrauch aber erlaubt, Abraham als ersten Erschaffer eines Menschen, eines Golem zu sehen. Gerade er zeichnet sich ja dadurch aus, dass er einen Geist bekommen muss, um nicht klobige Masse zu bleiben. Jedenfalls wollte der Autor des Sefer Jezira eine Verbindung schaffen zwischen der Kenntnis des Buches, einer bestimmten Operation damit und der Einheit Gottes. Gott ist der eine und einzige, der schaffen kann. Lediglich Abraham verstand es aufgrund seines Wissens, ihm nahe zu kommen. Jeder andere Mensch, so erkannten die Kabbalisten in ihren Büchern und Abhandlungen, braucht einen zweiten, einen Mitarbeiter. Allein kann er keine Schöpfung zustande bringen. Jehuda Barcelonis Kommentar drückte es ganz deutlich aus. „ein Schwert steht über den Gelehrten, die allein sitzen, jeder für sich selbst, und sich selbst mit der Tora befassen. Lass uns treffen und uns gemeinsam mit dem Sefer Jezira beschäftigen. Und so saßen sie und meditierten darüber über drei Jahre und verstanden es. Als sie so handelten, stand ein Kalb geschaffen bei ihnen und sie schlachteten es, um damit den Abschluss ihrer Abhandlung zu feiern.“ Hier ist die Brücke geschlagen zum Text von San. Das Buch Bahir Sefer ha-Bahir: „Midrasch R. Nechunja b. ha-Kana“ (weil ihm von Nachmanides zugeschrieben) bzw. „Bahir“ nach Ijob 37,21. Um 1180 entstanden 138 Grundkurs Judentum Kabbala In der jetzigen Form 12.000 Worte. Mischung aus hebr. und aram. Kennt die Midraschim (auch PRE, Otijjot de R. Akiba). Inhalt: Bibelverse werden interpretiert, kurze Diskussionen zwischen Rabbinen. Zahlreiche Gleichnisse. Mystische Bedeutung der Stellen an bestimmten Buchstaben orientiert, an Vokalen und liturgischen Zeichen, an heiligen Namen und Magie und an der Verwendung des Sefer Jezira. Esoterische Auslegung von Halakhot zu Zizit, Terumot, Tefillin, Lulav, Etrog etc. Sprunghaft, kein roter Faden. Dennoch Gliederung möglich: 1. Äußerungen, die auf dem Sefer Jezira basieren; 2. die zehn Sefirot, die hier zehn Ma´amarot (Äußerungen) heißen: auch „Logoi“, „Gefäße“, „Könige“, „Stimmen“ und „Kronen“ genannt. Sie bilden auch die Begründungen für die Mizvot. Neuplatonische Emanationssymbolik, Sexualsymbolik. Die himmlischen Mächte konstituieren den geheimen Baum, auf dem die Seelen wachsen. Sie sind die Summe der heiligen Formen, die zusammen in der Gestalt des Adam qadmon erscheinen. Alles Heilige in der unteren Welt hat Teil an der oberen Welt. Noch existiert der Name En Sof nicht, die erste Sefira („Keter eljon“) ist noch nicht genau definiert, ob sie der transzendente Gott oder eine erste Emanation ist. Das Buch erscheint Ende des 12. Jh. in Südfrankreich. Es übernahm den Sefer Raza Rabba, das vielfach ergänzt wurde. Stark gnostisch beeinflusst. Man nahm das Buch bald als alte autoritative Quelle aus talmudischer Zeit an. Kommentare dazu von Meir b. Solomon Abi-Sahula (1331: Or ha-Ganuz); David Havillo, Meir Poppers (Lurianer). Erstedition 1651 (durch einen Christen in Amsterdam). Die deutsche Mystik (die ersten sog. Chassidim) Zentrum Speyr, Worms und Mainz: Kalonymiden, aus Italien kommend Samuel he-Chassid Juda he-Chassid (+ 1217) Eleasar ben Juda (+ um 1232). Sefer Chassidim wichtigste Quelle Beeinflusst von Quellen aus der Merkaba-Mystik, von Saadja Gaon und Abraham ibn Esra und Abraham bar Chija (neuplatonisch), aber auch von okkultem Dämonenglauben. Die Frömmigkeit erhielt zwar eschatologische Elemente, war aber dem Messianismus gegenüber skeptisch: „Siehst du, dass jemand über den Messias weissagt, so wisse, dass er sich mit Zauberei oder Dämonenspuk abgibt. Oder aber er gehört zu denen, die mit dem Gottesnamen Beschwörungen vornehmen. Weil sie nun die Engel oder Geister für sich bemühen, sagen die zu ihm: Verkünde es nicht so, dass es aller Welt offenbar werde. Und am Ende wird er vor aller Welt zuschanden, weil er die Engel und Dämonen bemüht hat, und statt dessen tritt ein Unglück ein... Die Dämonen kommen und lehren ihn ihre Berechnungen und apokalyptischen Geheimnisse, um ihn und die ihm glauben zu beschämen, denn niemand weiß etwas über das Kommen des Messias“ (Sefer Chassidim § 212). Naturrechtliche Sozialtheorien Geschichtstheologie: Von den Tagen der Schöpfung her gibt es sog. Gegenkräfte, wie Unkraut. Dornen und Disteln in Gen 3,18. Profaner Geschichtsverlauf steht dem sakralen entgegen. Fall des ersten Menschen, Hinweis auf soziale Ungerechtigkeit, Menschen sollten bei der Landwirtschaft bleiben. Wichtig ist Menschentyp des Chassid 139 Grundkurs Judentum Kabbala Der Psalmensager wird zur chassidischen Legendenfigur: das Aufsagen von Psalmen verhindert die Vernichtung einer Gemeinde anlässlich der Pest (1348-1351) (so zumindest nach einer von Naftali Bacharach 17. Jh. in emek ha melech15a zitierten Psalmauslegung zu Ps 150 von Avigdor Kara 14. Jh.) Drei Charakteristika: asketische Abwendung von den Dingen, vollkommener seelischer Gleichmut, prinzipieller Altruismus. Abwendung von profanem Leben und bürgerlicher Lebenshaltung Soll Spott und Schande ertragen „Wenn der Psalmist sagt: Um deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag lang, so meint er damit diejenigen, die Schmach und Schande und Erniedrigungen bei der Ausübung der Gebote auf sich nehmen“ (Sefer Chassidim 976). „Die Seele ist voll der Liebe zu Gott und mit Stricken der Liebe gebunden, in Freude und frohen Herzens. Er – der Chassid -ist nicht wie einer, der seinem Herrn widerwillig dient, sondern selbst wenn man es ihm verwehren will, brennt in seinem Herzen die Liebe zu dienen, und er freut sich, den Willen seines Schöpfers auszuführen... Denn wenn die Seele tief über die Gottesfurcht nachsinnt, so flammt die Lohe der Herzensliebe in ihr auf, und der Jubel innerlicher Freude erquickt das Herz... Und der Liebende bedenkt nicht seinen Vorteil in dieser Welt, er sorgt ich nicht um die Ergötzung seiner Frau, noch um seine Söhne und Töchter, vielmehr ist ihm alles ein Nichts, außer diesem, dass er den Willen seines Schöpfers tue, an anderen Gutes tue, den Namen Gottes heilige... und alles Sinnen seiner Gedanken brennt im Feuer der Liebe zu ihm“ (Eleasar aus Worms) Juda he-Chassid hatte sich zwar gegen magische Praktiken gewandt, war aber in der Folge stark damit in Verbindung. gebracht worden. Chassid wird zum Herrn der magischen Gewalten, der alles erlangen kann. Ausbildung der Idee des Golem Wer sich in das Buch Jezira versenkte, konnte in einer Art ekstatischen Bewusstseinszustand einen Golem schaffen. Gebetsmystik und Gebetsmagie zentrale Bedeutung Erstaunliche Bußdisziplin: Vier Kategorien der Buße: Teschubat habaa: Gelegenheit zur gleichen Sünde werden verstreichen gelassen Teschubat hagader: Enthaltung von Dingen, die zu Sünde führen könnten Teschubat hamischkal: Maß der Askese bemisst sich am Genuss an der Sünde Teschubat hakatub: Schwerste Kasteiungen „Ein Chassid pflegte oft im Sommer auf der Erde zwischen Flöhen zu schlafen und im Winter die Füße in ein Gefäß mit Wasser zu tun, bis sie mit dem Eis zusammenfroren. Ein Schüler fragte ihn: Warum tust du das? Warum, wo doch der Mensch für sein eigenes Leben verantwortlich ist, setzt du dich sicherer Gefahr aus? Der Chassid antwortete: Gewiss habe ich keine Todsünde begangen, und wenn ich auch sicherlich leichtere Sünden auf mir habe, brauchte ich mir deswegen noch nicht solche Qualen aufzuerlegen. Aber es heißt im Midrasch, der Messias leide für unsere Sünden, wie es heißt: »er wurde wegen unserer Gesetztesübertretungen verwundet« (Jes 53,5), und auch die vollkommenen Gerechten nehmen für ihre Generation Leiden auf sich. Ich will aber nicht, dass irgend jemand außer mir selber für meine Sünden leidet“ (Sefer Chassidim § 1556). Gottesbild: absolute Geistigkeit und über alle Maßen hinausreichende Unendlichkeit. Gott ist Weltkraft und Weltgrund „Gott ist überall und sieht Gute und Schlechte. Sprichst du daher Gebete, so sammle deinen Sinn, denn es heißt: »Ich stelle Gott immer mir gegenüber«, und daher lautet der Anfang aller Benediktionen: Gelobt seist du, Gott – etwa wie ein Mensch, der zu seinem Freunde spricht“ (Eleazar aus Worms, Sefer Chassidim § 549). In den Gebetbüchern abgedruckter Einheitsgesang: „Alles ist in dir und du bist in allem; du umgibst das All und erfüllst das All; als das All entstand, warst du im All; bevor das All entstand, warst du das All.“ 140 Grundkurs Judentum Kabbala Mose Azriel: „Er ist einer im Weltenäther, denn er erfüllt den Äther und ist in jedem Ding in der Welt, und da ist nirgends eine Scheidewand vor ihm. Alles ist in ihm, und er sieht alles, denn er ist ganz und gar Sehen, ohne dass er doch Augen hätte, denn er hat die Kraft, in seinem eigenen Wesen das All zu sehen“ (MS British Museum 752 78b). Gott als „Seele der Seelen“ Dtn 7,21 übersetzt: „Denn der Herr, dein Gott, ist mitten in dir“. Interesse geht nicht auf Schöpfung, sondern auf Offenbarung: Wie kann Gott dem Geschöpf erscheinen? Lehre vom Kabod: Kabod ist erste Schöpfung, erschaffenes Licht (so nach Saadja). Ist identisch mit dem Heiligen Geist und der Schechina. Gott selbst verharrt im Schweigen Innere Glorie: Kabod penimi: Schechina, Gottes Willen Sichtbare Glorie: Maße Gottes, Merkaba Schau ist Belohnung für die Chassidim Heiliger Cherub: Ez 10,4; vielleicht ein verwandelter Logos Abraham bar Chija: Fünf geistige Welten: höchste ist Lichtwelt im Westen, die Heiligkeit. Dann Welt der Gottheit, des Intellekts, der Seele und der geistigen Natur. Wahre Intention des Gebets richtet sich auf die Heiligkeit, die in aller Kreatur verborgen ist. Schechina eigentliches Ziel des Gebets. Nur im eschaton, in der messianischen Zeit, wird sich das Gebet an Gott selbst richten. Alles hat sein Urbild, eingewebt in den Vorhang vor dem Thron der Glorie. Sphäre der gottesnahen, unkörperlichen Existenz. Die praktische oder prophetische Kabbala Abraham ben Samuel Abulafia geb. 1240 in Saragossa, Kindheit Tudela/Navarra. Mit 18 Vater verloren, verließ schon mit 20 Spanien, wollte den Fluss Sambation suchen, hinter dem die 10 verlorenen Stämme wohnen sollten. Ging von Akko nach Europa und blieb in Griechenland und Italien. Verehrte Maimonides, schrieb Kommentare zum More Nebuchim. 1270 kehrt er nach Spanien/Barcelona zurück und vertieft sich in das Sefer Jezira und 12 Kommentare dazu. Er ist von Baruch Togarmi beeinflusst, der einen „Schlüssel zur Kabbala“ zum Sefer Jezira schrieb. Prophetischer Geist überkommt ihn, die Erkenntnis des wahren Namens Gottes, Visionen. Wandte sich wieder nach Italien und Griechenland und beeinflusste Josef Gikatilla. Schreibt prophetische Schriften unter Raziel oder Zecharija. 1280 begibt er sich nach Rom, um im Namen des Judentums beim Papst vorzusprechen (messianische Sendung). In der Disputation mit Pablo Christiani verwendet Nachmanides 1263 die Vorstellung, dass der Messias am Ende zum Papst kommen und die Freiheit des Volkes verlangen werde. Papst Nikolaus III. stirbt aber, Abulafia wird nach 28 Tagen im Kollegium der Franziskaner freigelassen. Um 1291 ist er gestorben. Wichtigeste Schriften entstehen zwischen 1279-1288. Wichtigste Aussagen: Prophetische Erleuchtung und Erkenntnis des wahren Namens Gottes Stellt hohe sittliche Anforderungen Weg der Ekstase und prophetische Inspiration Es geht um Entsiegelung der Knoten der Seele, damit diese wieder zu ihrem Ursprung zurücklaufe, der ohne Zweiheit ist und die unendliche Vielfalt in sich fasst. Seele ist aus den Fesseln der Sinnlichkeit zu befreien. 141 Grundkurs Judentum Kabbala Versenkung braucht einen Gegenstand der Konzentration, der aber vom Ziel nicht ablenkt: er findet ihn im Alphabet. Chochmat ha-Zeruf: Wissenschaft von den Kombinationen der Buchstaben Wesen der Welt ist sprachlicher Natur Alles besteht nur aufgrund des Anteils, den es am heiligen Namen Gottes hat. Buchstaben der geistigen Sprache sind Elemente der Erkenntnis „Wisse, dass die Methode des Zeruf dem Gehör vergleichbar ist, denn das Ohr hört Töne, und die Töne verbinden sich je nach Art der Melodie und des Instrumentes. So verbinden sich etwa zwei verschiedene Instrumente, und wenn sich die Töne verbinden, wo wird das Ohr, das ihre Verschiedenheit wahrnimmt, auf schöne Weise gefesselt. Die Saiten, die die rechte oder linke Hand anschlägt, bewegen sich, und der Geschmack der Töne ist den Ohren süß. Und von den Ohren geht der Ton ins Herz und vom Herzen in die Milz, das Gefühlszentrum, und durch den Genuss an der Verschiedenheit der Melodien entsteht immer neue Freude. Es ist unmöglich, sie hervorzubringen, es sei denn durch die Kombination der Töne. Und genau so verhält es sich auch mit der Kombination der Buchstaben. Sie schlägt an die erste Saite an, die dem ersten Buchstaben verglichen wird, und geht von da zu einer, zwei, drei, vier oder fünf Saiten über, und die verschiedenen Anschläge verbinden sich. Aus ihrer Verbindung entstehen Motive und Melodien und gelangen zum Herz. Und die Geheimnisse, die sich in diesen Verbindungen aussprechen, erfreuen das Herz, das dadurch seinen Gott erkennt und sich mit immer neuer Freude erfüllt“ (Gan na´ul, Ms München 58 323b) Die Welt der Buchstaben ist die wahre Welt der Seligkeit. Dies gilt auch für andere Sprachen, nicht nur für das Hebräische. Allerdings sind alle Sprachen nur Ableitungen aus dem H. Werke: Buch vom ewigen Leben Das Licht des Intellektes Die Worte der Schönheit Das Buch der Kombinationen Schildert die Verfahren: Aussprechen (mibta) Kombination und Niederschreiben (michtab) und Überdenken des Geschriebenen (machschab) Versenken in die Verbindung der reinen Formen der Buchstaben, die sich als rein geistige Formen der Seele einprägen. Wichtige Rolle spielt Gematria Assoziationen als wichtiger Bereich der Konzeption: Dillug und kefiza (Springen und hüpfen) Bericht auf Seite 148f. Mystik Prophetie ist Begegnung zwischen menschlichem und göttlichem Intellekt. Einströmen des aktiven Intellekts aus der Welt der reinen Formen und Intelligenzen ist Erleuchtung. Ziel ist das Zusammentreffen von Gelehrsamkeit, Einsicht und Erkenntnis aus der Tiefe der Reflexion = Prophetie Wer die göttliche Berührung spürt, wird er Lehrer genannt. „Denn er ist nun nicht mehr getrennt von seinem Lehrer, und siehe, er ist sein Lehrer, und sein Lehrer ist er; denn er hängt mit ihm in einer so innigen Verbindung zusammen, dass er auf gar keine Weise von ihm getrennt werden kann, denn er ist er. Und so wie sein von aller Materie abgelöster Lehrer stets in einem Schel, Maskil und Muskal genannt wird, das heißt Intellekt, der Intellegierende und das Intelligierte, die alle drei in ihm eines sind, so wird auch dieser ausgezeichnete Mensch, der Meister des ausgezeichneten Namens, selbst Intellekt genannt, während er aktuell erkennt. Dann ist er auch das Intelligierte selbst wie sein Lehrer, und dann besteht kein Unterschied zwischen ihnen außer dem, dass sein Lehrer seinen höchsten Rang durch sich selber und nicht von anderen Kreaturen her hat, dieser aber seinen Rang durch das Instrument der Kreatur erlangt hat“ (Die Erkenntnis des Messias und die Wissenschaft vom Erlöser MS München 285 26b). Mensch und Tora werden hier eins. In der Ekstase findet eine Art Erlösung statt. Der Kabbalist fühlt sich mit Öl gesalbt, wird sozusagen ein eigener Messias. Messias ist also zuerst eine spirituelle Erfahrung, den der intellectus agens erreicht. Intellectus agens 142 Grundkurs Judentum Kabbala ist der nous poetikos der Griechen aus de anima des Aristoteles. Im jüdisch (isl.) ma. Denken ist es die Perfektion der Aktualisation des Potentials des Intellekts, das von Gott emaniert. Aufgabe ist es auch, die innere intellektuelle menschliche Seele von den körperlichen Einflüssen, den „Königen der Welt“ zu reinigen. Das ist der erste Schritt. Der zweite ist die Anerkennung als König über die Erde Mit 40, auf der Höhe seiner intellektuellen Kapazität, fühlt sich Abulafia selbst als Messias. Er nennt sich Raziel = 248 = Abraham. Jetzt ist der Messias geboren. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings die Begegnung mit dem Papst. Im Zohar könnte darauf angespielt sein: Einige dieser Dinge werden in der Zeit (Balaams) erfüllt, andere wiederum später, und wieder andere bleiben für die Zeit des Königs Messias... Wir haben gelernt, dass der Heilige, Gepriesen sei Er, Jerusalem wieder aufbauen wird und einen Fixstern offenbaren wird, der 70 bewegliche Sterne als Funken abschießen wird, und mit siebzig Funken, die von diesem Stern im Zentrum des Firmaments erleuchtet werden, und von ihm werden weitere 70 Sterne ihr Licht hell erstrahlen lassen für 70 Tage. Und am sechsten Tag des 25. Tages des sechsten Monats wird der Stern erscheinen und zum siebten Tag versammelt werden. Und nach 70 Tagen wird er bedeckt und nicht mehr zu sehen sein. Am ersten Tag wird er in der Stadt Rom zu sehen sein, und an diesem Tag werden drei hohe Stadtmauern Roms fallen, und der große Palast wird einstürzen und der Herrscher der Stadt wird sterben. In dieser Zeit wird der Stern sich ausbreiten und über der Welt sichtbar werden, dann werden große Kriege erscheinen in den vier Ecken der Welt und der Glaube wird verschwinden. Zohar 3 212b Nikolaus III starb am 22 August 1280, am 25. Elul, dem sechsten Monat. Es gibt eine interessante Parallele zwischen dem Messias und dem 6. Tag und Jesus: Kommentar zum Exodus: 6. und 7. Tag korrespondieren mit Jesus bzw. dem Messias ben Josef (nach anderen Quellen). Yom ha-schischi entspricht Yeschu ha-Notsri = 671 J 10 sch 300 w 6 h 5 n 50 ts 90 r 200 j 10 = 671 J m h sch sch j Jom ha schiv´i = melek ha-maschiach = 453 J 10 w 6 m 40 h 5 sch 300 b 2 j 10 ajin 70 j 10 = 453 Auch Tammuz und guf ha-satan. Verbindung zwischen Messias und seiner Gegenseite. Sein ganzes Leben nennt Idel eine „Messianic Timetable“ Er ist im jüd. Jahr 5000 geboren, also 1240. Das ist der Beginn des Milleniums der Prophetie. 1260 wollte er den Sambation überqueren, als die Mongolen in Israel einfielen. 1270 erhielt er seine erste Offenbarung in Barcelona. 1280 kam die versuchte Papstaudienz und 1290 sagte er die endgültig Befreiung an. Idel meint, er habe den Papst über die kabbalistische Bedeutung des Judentums aufklären wollen, denn das sei das wahre und einzig wirkliche Judentum. Bekehrung vielleicht, aber nebensächlich. Praktische Konsequenz also wichtig, nicht Theorie. Auch die Frage der Weltentstehung und ihrer Ewigkeit ist nebensächlich. Große Wirkung ausgeübt: auch auf praktische Magie und Thaumaturgik: Berit menucha; Werke des Josef ibn Sajjach Abraham ben Elieser haLewi in Jerusalem (+ um 1530) gibt den Märtyrern den Rat, sich in der Stunde der letzten Prüfung auf den Großen Namen Gottes zu konzentrieren, sich dessen leuchtende Buchstaben zwischen ihren Augen vorzustellen und ihre ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten. Grundkurs Judentum Kabbala Der Sefer ha-Zohar (Das Buch des Glanzes): wichtigstes Buch der Kabbala Eigentlich eine Homilie: Gliederung 1. 2. Hauptteil = Kommentare zum Wesen der Tora, Vorträge, Diskussionen. Sifra di-Zeniuta = Buch der Verborgenheit, Kommentar zu Stücken aus den ersten 6 Kapiteln der Genesis. Keine Ausführung, Stichworte, ohne Erklärungen (nur 6 Seiten). 3. Idra Rabba = Große Versammlung: Simon ben Jochai erklärt seinen Getreuen und enthüllt die verborgenen Geheimnisse. Alle tragen was vor, der Lehrer lobt sie. Alle geraten in Ekstase und in der Schlussapotheose sterben drei von ihnen. 4. Idra Zuta = kleine Versammlung: Schildert den Tod Simon ben Jochais, Zusammenfassung seiner Geheimnisse. 5. Idra di-be-Maschkana = gebaut wie Idra Rabba. Versammlung um einen Vortrag: Toraabschnitt über das Stiftszelt, Gebetsmystik. 6. Hekhalot = Schilderung der sieben Paläste, die die Seele nach dem Tod (in der Ekstase) durchwandert – Vision. 7. Rasa de-Rasin = Geheimnis der Geheimnisse. Zwei Stücke über Physiognomie und Chiromantik (erster Teil anonym, zweiter benutzt Erzählung im Schülerkreis). 8. Saba = Der Greis, über die Geheimnisse der Seele und der Seelenwanderung (Vortrag eines verheirateten Mannes = Eseltreiber). 9. Jenuka = Das Kind = Vortrag über die Mysterien der Tora (gehalten von einem Wunderkind). 10. Rab Metibta = Das Haupt der Akademie. Schilderung vor den Schülern, Wanderung durchs Paradies und Vortrag über die Schicksale der Seele (im Jenseits), über die Oberhäupter der himmlischen Akademien. 11. Sitre Tora = Geheimnisse der Tora (allegorische und mystische Deutungen der Toraabschnitte – Legendenform). 12. Matnitin = Nachahmung der Mischna und Tosefta, auf einer kabbalistischen Basis, pathetisch, mystische Mischna. 13. Zohar zum Schir-ha Schirim (Hoheslied). Kommentar zu den ersten Versen. 14. Kaw ha-Midda = Der mystische Maßstab. Deutung über den Sinn des Einheitsbekenntnisses der Tora (Dtn 6,4), das Schema Israel. 15. Sitre otiot = Geheimnisse der Buchstaben, die im Gottesnamen und in den Anfängen der Schöpfungsgeschichte vorkommen. 16. Kommentar über die Merkaba-Vision. 17. Midrasch ha-ne´elam = Mystischer Midrasch zur Tora. Simon bar Jochai und seine Schüler und viele Autoritäten (Talmud, Lehrer aus dem 2.-4. Jh.). Nach Scholem älteste Schicht. 18. Midrasch ha-ne´elam zum Buch Rut (teilw. H.). 19. Ra´ja mehemna = der treue Hirte. Kabbalistische Deutung der Gebote und Verbote der Tora. 20. Tikkune Zohar = Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Tora (70 Abschnitte). 21. Weitere Text und Ausführungen zum Tikkune Zohar (in diesem Stil) u.a. neuer Kommentar zur Merkaba. Ca. 2400 Seiten, zwei Gruppen 1-18 (aramäisch) und 19-21. Quellen: Midrasch Rabba, bT, Pesiqtot, PRE, die Targumim. Juda Halewi und Maimonides gekannt. Setzt den Ginnat Egos („Nussgarten“) von Josef Gikatilla voraus. Wahrscheinlicher Verfasser ist Mosche ben Schem Tob de Leon: Geb. 1240 in Leon in Kastilien, war beeinflusst von Maimonides, von der Geroneser Schule und den Gnostischen Zirkeln um Moses von Burgos und Todros Abulafia. 1270 näherte er sich Josef Gikatilla an. Lebte bis 1291 in Guadelajara/Kastilien. Um diese Zeit entstand der Zohar. Die letzten Jahre seines Lebens lebte er in Avila, hatte Kontakte zu Isaak ibn Sahula. Widmete Bücher an Josef b. Todros Abulafia in Toledo, starb in Arevalo 1305. Die letzten Jahre widmete er sich der Verbreitung des Zohar. 143 144 Grundkurs Judentum Kabbala Er soll 24 Werke geschrieben haben (nach Abraham B. Salomon von Torrutiel): darunter Schoschan Edut, Sefer ha Rimon (über die Tora aus kabb. Sicht), Or Zaru´a (über die Schöpfung), ha-Nefesch ha Hokhma, Scheqel ha-Qodesch, Mischkan ha-Edut (über das Schicksal der Seele nach dem Tod), Maskijot Kesef (zu den Gebeten), Sefer Pardes, Scha´are Tsedeq zu Kohelet; Maschal ha-kadmoni etc. Lehnt die Vorstellung von den verschiedenen Schmittot ab, wonach die Tora nicht in allen Weltzeitaltern gleich gültig sei. Ebenso lehnte er eine Vorstellung ab, wonach in dieser Weltzeit ein Buchstabe verschwunden sei, was natürlich das Verständnis der Tora verändere. Zohar ist Theosophie, mystische Lehre, die ein verborgenes Leben der wirkenden Gottheit ahnen und beschreiben zu können glaubt und sich darin versenkt. Josef ben Abraham Gikatilla 1248-1325 geb. in Medinaceli/Kastilien, lebte in Segovia. Studierte zw. 1272-74 bei Abulafia. 1274 den Ginnat Egoz geschrieben, über die Namen, die Vokale und das Alphabet (Gematria, notarikon, temura). Schrieb einen oder mehr Kommentare zum Hohelied, in denen die Zeitenfolgen eine Rolle spielen (Schemittot). Er befasste sich mit Halakha (Kelalei ha-Mitzwot) und schrieb Sprichwörter (Sefer ha-Meschalim). Einflussreichstes Werk ist Scha´are Ora: zu den Sefirot. Weiteres Werk dazu Sefer Scha´are Zedeq. Scha´ar haNiqud (zu den Vokalen), Perusch Haggada schel Pesach (kabb. Kommentar zur Pesachhaggada), Kommentar zur Merkaba etc. Die Safeder Kabbalisten Moses ben Jacob Cordovero 1522-1570, spanischer Herkunft. Schüler von Josef Caro und Somonon Alkabez, Lehrer von Luria. Mit 27 den Pardes Rimmonim geschrieben, 10 Jahre später Elima Rabbati sowie einen Kommentar zum Zohar. Synthese und Zusammenfassung der Kabbala. Basiert hauptsächlich auf Ra´aja Mehemna und Tikkune Zohar. Gott ist die Erstursache, von allem anderen Sein unterschieden. Kann nicht mit positiven Attributen beschrieben werden. Die Sefirot überbrücken das Gefälle zwischen Gott und Schöpfung. Es geht also in erster Linie um die Beziehung zwischen En Sof und den Sefirot. Die Sefirot sind Substanz und Kelim zugleich, emaniert und zugleich enthalten sie Gottes Substanz. Gottes Substanz gibt den Sefirot Leben. Es war Gottes Wille, sein unveränderliches Sein mit der Welt in Verbindung zu bringen und sein Licht zu offenbaren, das durch die Sefirot strahlt. Der aktive Gott ist der im Willen geeinte Gott. Durch Gottes Selbstbeschränkung werden die Sefirot möglich. Die erste Sefira ist bereits außerhalb von Gottes Substanz, darum ist Pantheismus ausgeschlossen. Dennoch erscheint bei ihm immer wieder eine Durchdringung von Gottes Gegenwart selbst in allen Ebenen. Für Cordovero ist die Gerechtigkeit (din) von entscheidender Bedeutung für das Leben der Kreatur. Ohne sie, also nur aufgrund von Barmherzigkeit, könnte sie nicht existieren. Isaak Luria 1534-1572, auch ha-Ari genannt (Ha Elohi Rabbi Jitzchaq). Vater Aschenazi, Mutter aus sefardischer Familie. Wuchs nach dem Tod des Vaters beim Onkel in Ägypten auf. Studierte bei David b. Solomon ibn Abi Zimra und Bezalel Aschkenazi. Bei Kairo zog er sich zu esoterischen Studien zurück, auf der seinem Onkel gehörenden Insel Jazirat al-Rawda. Studierte Zohar und frühe Kabbalisten sowie seinen Zeitgenossen Moses Cordovero. Ab 1570 siedelte er in Safed, um bei Cordovero zu studieren. Sammelte Schüler um sich. 30 seiner Anhänger sind bekannt. Man bezeichnete ihn als Mann, der den Heiligen Geist besitze und die Offenbarung des Elija. Lehrte das System der theoretischen Kabbala und Wege, mit den Seelen der Zaddiqim eins zu werden, vor allem durch Kawwana (Mediatation und Reflexion durch Gebet und rel. Handlungen). Schrieb wenig, allerdings einen Kommentar zu den ersten Seiten des Zohar. Berühmt auch seine Gedichte (Jefe Nof, vor allem zum Sabbat); zu den Festen und Gebeten auch Tikkune Teschuba und Sefer ha-Kawwanot. Er starb an einer Epedimie 1572 sehr früh und verstand sich auch zu Lebzeiten als Messias aus dem Haus Josef. 145 Grundkurs Judentum Kabbala Chajim Vital kommentiert ihn und schreibt über sein Leben. Schulchan Arukh schel R. Isaak Luria gibt Auskunft über ihn, ebenso die Orchot Zaddiqim. Legendenhaft sind die Sefer Haredim von Eliezer Azikr, der Sefer Reschit Hokhma von Elija de Vidas und die Bücher von Abraham Galante. Zwei Dokumente über das Leben des Ari erhielten besondere Berühmtheit. Eine Sammlung von drei Briefen von Solomon Dresnitz an seinen Freund in Krakau und die Toldot ha-Ari. Von den von den Schülern (in deren Färbung) dargelegten Traditionen Lurias sind zu nennen: a. Sefer Kanfe Jona von Moses Jona von Safed: keine Erwähnung des Zimzum, aber andere Lehren b. Derusch Hefzi-Ba von Josef ibn Tabul: Zimzum c. Schriften Chajim Vitals: Ez Chajim (in acht „Pforten“ gegliedert): d. Hierzu existieren mehrere Varianten. Nach Scholem: a) Lurias gesammeltes Material, b) Scha´ar ha Deruschim, c) Scha´ar ha-Pesukim (Bibelauslegung), d) Scha´ar ha-Gilgulim (Seelenwanderung), e) Scha´ar ha-Kawwanot, f) Scha´ar ha-Mizwot, g) Tikkune Avonot, h) Jichudim (über die mystische Vereinigung). Andere Einteilung: a) Lurias gesammeltes Material, b) Scha´ar ha Hakdamot (Weltschöpfung), c) Scha´ar Maamare Raschbi we-Razal (Zoharkommentar von Luria), d) Scha´ar ha-Pesukim (Bibelauslegung), e) Tikkune Avonot, f) Scha´ar ha-Kawwanot, g) Scha´ar ha-Mizwot, h) Scha´ar ha-Gilgulim. e. Israel Sarugs Schriften beinhalten eine eigene Deutung des Zimzum (Sefer Limmude Azilut). Die verschiedenen Versionen und Unstimmigkeiten beleben die „Exegeten“ in Nordafrika, Italien und der Türkei. Ausschnitt aus dem biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon V (1993) 447-440 von Bernd Kettern: LURIA, Isaak, auch: ARI = Ha-'Älohi Rabbi Jitzchaq (»der göttliche Rabbi Isaak«), aber auch einfach: I. Aschkenasi (»der Deutsche«), bedeutender Vertreter der nachspanischen Kabbala, entwarf das letzte kabbalistische System (lurianische Kabbala), * 1534 in Jerusalem, + 1572 in Safed (Galiläa). - Die Darstellung seines Lebens durch die Schüler ist bis ins Legendarische gesteigert (»Schibche ha-'Ari«, Lobpreisungen des ARI, hrsg. von Schlomel Dresnitz, Livorno 1790). Nach dem frühen Tod des Vaters wurde L. in Kairo von einem Onkel erzogen. Bereits als junger Mann war er für seine Kenntnis des Talmuds bekannt. Ab dem 22. Lebensjahr zog er sich jedoch in die Einsamkeit zurück und lebte 13 Jahre als Eremit. 1569 siedelte er nach Safed zu Moses Cordovero (1522-1570 in Safed) über. Erst in den drei folgenden Jahren entwickelte er seine Lehre. Es hat sich nur wenig authentisches Material in schriftlicher Form erhalten L. trug seine Lehre stets mündlich vor - lediglich drei aramäische Sabbatlieder sowie einige Gedichte können ihm eindeutig zugeordnet werden. Die »Kithbe ha-'Ari«, die »Schriften (= Lehren) des heiligen Löwen« lassen sich jedoch mit Hilfe der von den Schülern Chajim Vital Calabrese (1543-1620) und Joseph ibn Tabul überlieferten Nachrichten rekonstruieren. Besonders in Vitals »Ez Chajim« (»Baum des Lebens«, Warschau 1891) und seinen »Schemonah Sche'arim« (»Acht Pforten«, Jerusalem 1850-1898) finden sich alle für das lurianische System charakteristischen Lehren. L.s Mythos antwortet auf die Katastrophe der Vertreibung der Juden aus Spanien. Erneut stellte sich die Frage nach dem Sinn des Exils. Mit Hilfe einer in sich systematisch aufgebauten Kabbala versuchte L. eine Antwort auf diese Notsituation zu geben. Drei Elemente stehen dabei im Vordergrund: die Lehre vom Zimzum, die Vorstellung vom Bruch der Gefäße und die Lehre vom Tikkun, der harmonischen Restauration des entstandenen Makels. Die Lehre vom Zimzum, der Selbstbeschränkung Gottes, kehrt die gängige Vorstellung von der Erschaffung der Welt um: Gott tritt nicht am Anfang der Welt in einem Emanationsprozeß im Sinne einer schöpferischen Selbstmitteilung aus sich heraus, er zieht sich auf sich selbst zurück, er beschränkt sich in einer Art selbstgewähltem Exil und schafft damit einen pneumatischen Raum (»Tehiru«) für etwas, das nicht ganz und vollkommen Gott in seiner reinen Wesenheit darstellt. Zugleich konzentriert Gott jedoch richtende Gewalten auf diesen Raum, sie werden als Schöpfungskräfte von den sich aus dem Rest des göttlichen Lichts bildenden Gefäßen aufgenommen. Auch dem Bösen wird im Tehiru Raum gegeben. L. scheint das Böse als in Gott selbst mitgesetzt zu sehen, eine Auffassung, die sein Schüler Vital wegen ihrer theologischen Brisanz abzuschwächen versuchte. Der gesamte Schöpfungsprozeß ist gekennzeichnet von der Spannung zwischen dem Zimzum und der schöpferischen Emanation Gottes. Im Urraum bilden sich die Urbilder allen Seins. Gott schafft sie als Adam Kadmon, als Urmensch. Aus seinen Augen und Ohren, aus dem Mund und der Nase dringen die Lichter der Sepiroth in die Gefäße ein. Nun kam es aber zur entscheidenden Krise in der Schöpfung: ein Teil der Gefäße zerbrach bei dem Aufprall des Lichtes. Das Sein verkehrte sich in ein Chaos, die Grundsituation jedes Exils. Zur Begründung dieser Krise verweist L. 146 Grundkurs Judentum Kabbala lediglich auf einen Reinigungsakt Gottes, der die Ausscheidung des Bösen aus Gott selber zum Ziel hatte. Entscheidend ist für die l.ianische Konzeption die Annahme der Exilsituation in Gott selbst. Die Kritik an L., sein System entbehre der rationalen Nachvollziehbarkeit, scheiterte immer wieder an der emotionalen Kraft dieser Vorstellung. Das Chaos stellt nun aber nicht den Endpunkt dar. Aus der Stirn des Adam Kadmon erstrahlt ein heilendes Licht, um den Wiederaufbau der zerstörten Ordnung zu ermöglichen. Der erste Adam hatte die Aufgabe, die Exilsituation zu beenden, den Wiederherstellungsprozeß zu vollenden. Er ist, genau wie seine Nachkommen und unter ihnen besonders die Kinder Israels, gescheitert. Auf anthropologischer Ebene wiederholt sich der Bruch der Gefäße. Das Paradies verkehrt sich immer mehr ins Exil. Die Heilsgeschichte wird zum Beleg des ständigen Scheiterns des Gottesvolkes in Situationen naher Erlösung. Allein die Torah kann dann noch als Instrument des Tikkun dienen. L. betont in seiner ganzen Lehre, daß gerade das Exil zur Bewährung, ja sogar zur Mission werden kann, zur Chance, einen der Funken der Schechina (Gottesherrlichkeit) neu zu entzünden. Eng verbunden mit dieser Auffassung von Schöpfung und Heilsgeschichte ist die Lehre von der Seelenwanderung, die diesen Exilsprozeß auf die Seele überträgt. Der Mensch ist aufgefordert, an der Erlösung, d. h. am Tikkun, mitzuarbeiten. Er vermag durch Buße und Aszese, durch eine religiöse Lebensführung und durch andächtiges Beten - es kann bisweilen magische Züge annehmen - den Eintritt des Messias beschleunigen. Es wird aber durch die Betonung der menschlichen Mithilfe deutlich, wie sehr bei L. die Messiasvorstellung fast rein symbolischen Charakter gewinnt. Die Erlösung wird zur fast logischen Konsequenz der Geschichte. Sie ist nicht mehr jene Katastrophe, die alles Geschichtliche aufhebt und beendet. - L.s Kabbala wurde, im Gegensatz zur sonstigen Arkandisziplin, weit verbreitet. Infolge ihrer Deutung des Exils fand sie Zuspruch in weiten Teilen des Judentums. Zusammen mit dem ethischen Grundzug war der konkrete Messianismus wiederholt Grundlage zu weiteren Lehren (z. B. Chassidismus). Lit.: Schlomel Dresnitz, Schibche ha-'Ari, Livorno 1790; - Chajim Vital, Pri'Ez Schajim, Dubrowno 1804; Ders., Schemona sch'arim, 8 Tle., Jerusalem 1850-1898; - Ders., Sefer, ha-Gilgulim (vollst. Ausgabe), Przemysl 1875; - Ders., 'Ez Chajim, Warschau 1891; - Ders., Sefer Chesjonoth, hrsg. von A. S. Eschkoly, Jerusalem 1954; - Philipp Bloch, Die Kabbala auf dem Höhepunkte und ihre Meister, Preßburg 1905; Solomon Schechter, Safed in the sixteenth century, in: Ders., Studies in Judaism, II, Philadelphia 1908, 202306, 317-328; - Meir Wiener, Lyrik der Kabbala, Wien 1920, - Josef ibn Tabul, Chefzi-bah (am Anfang des Werkes Simchath Kohen von Mass-'ud Kohen, Jerusalem 1921, irrtümlich Vital als Autor angegeben); - S. A. Horodezky, Hundert Jahre asket. Bewegung im Judentum (hebr.), in: Ha-Tekufa 22 (1924), 290-323, 24 (1928), 389-415; - Chajim Bloch, Kabbalist. Sagen, Leipzig 1925; - Ders., Lebenserinnungen des Kabbalisten Vital, Leipzig 1927; - Gershom Scholem, Ein Dokument über eine Vereinigung der Schüler L.s (hebr.), in: Zion 5 (1940), 133-160; - Jesaja Tishby, Die Lehre vom Bösen und den »Schalen« in der lurianischen Kabbala (hebr.), Jerusalem 1942; - Gershom Scholem, Die authent. kabbalist. Schriften L.s (hebr.), in: Kirjath Sefer 19 (1943), 184-199; - S. A. Horodezky, Torath Ha-Kabbalah schel R. J. L. (Die kabbalist. Lehre des I. L.), Tel Aviv 1947; - Gershom Scholem, Die jüd. Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1957, 267-314, - Ders., Schöpfung aus Nichts und Selbstbeschränkung Gottes, in: Eranos 25 (1957), 87-119; - Ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt 1973, 147-158 (zuerst Zürich 1960); - Alexander Altmann, Von der ma. zur modernen Aufklärung. Studien zur jüd. Geistesgesch., unter Mitarb. von Bernd Kettern, Tübingen 1987, 172-205 (lurianische Kabbala bei Abraham Cohen Herrera); - EJud X, 1198-1212; - EncJud XI, 572-578; - JüdLex III, 1250 f.; - LThK 2VI, 1220 f.; - RGG 3IV, 479. Bernd Kettern Chajim ben Josef Vital 1542-1620, wahrscheinlich in Safed geb. Sein Vater war Josef Vital Calabrese, ein Schreiber in Safed. Schüler von Moses Alschekh. Studierte auch das System von Cordovero und Alchemie. Als Luria eintraf, studierte er bei ihm. Wollte sich nach seinem Tod als alleiniger Interpret Lurias durchsetzen, was nicht immer gelang. Dennoch unterzeichneten 1575 12 Schüler ein Vermächtnis, wonach sie nur von Vital lernen sowie die Geheimnisse von anderen fernhalten wollten. 1577-85 ging er nach Jerusalem und wurde dort Vorsitzender einer Jeschiwa. Kam nach Safed zurück und wurde 87 von schwerem Leiden heimgesucht. 1590 wurde er von Moses Alschekh als Rabbi ordiniert, ging wieder nach Jerusalem und soll von dort nach Damaskus weitergezogen sein. Er erblindete fast. 147 Grundkurs Judentum Kabbala Vital war dreimal verheiratet und gab sein Wissen an seinen Sohn Samuel weiter, schrieb in Damaskus auch eine mit zahlreichen Abhandlungen angereicherte Autobiografie, den Sefer ha-Hezjonot. Neben Talmudkommentaren und Responsen sind seine Hauptwerke in zwei großen Schriften erhalten: Ez ha-Chajim und Ez ha-Da´at (von letzterem nur Teile erhalten – Bibelauslegung und Homilien: Psalmkommentar als Sefer Tehillim 1926 publiziert). 1653 edierte Meir Poppers aus den verschiedenen Ausgaben eine Letztausgabe von Vitals Schriften. Wichtiges Thema der Kabbala: vor allem im Zohar Die Sefirot Sefira bedeutet „Zählung“ (an zehn Finger gedacht). Nicht vom gr. Sphaira. Zehn Wirkungskräfte der Gottheit. Dynamisch, wirken aufeinander ein. Früher benutzte man eher den Ausdruck „Midda“ (noch Gikatilla). Wichtig ist der emanatorische Vorgang von Oben nach Unten, von der Einheit zur Vielheit. Ständige Selbstoffenbarung des gleichzeitig verborgen bleibenden Gottes. Beliebt war die Rede von den „Worten“ (ma´amarot), Safirim, den „Strahlen“ (zachzachim), den „Lichtern“ (me´orot), „Emanationen“ (azilijot), „Kronen“ (ketarim), „Gewändern“ (lebuschim) oder „Stimmen“ (qolot). Sprach-, Buchstaben- und Zahlensymbolik gehen in eins. Auch ist die Rede vom Weltenbaum, der von oben nach unten wächst. Die Emanationsströme können überströmen (schäfa), weshalb die Rede ist von „Gefäßen“ (kelim), „Röhren“ (zinnorot), „Kanälen“. Was fließt da? Wenn es die Gottheit ist, wie konnte man den Pantheismus vermeiden? Man versuchte meist eine seinsmäßige Trennung anzunehmen zwischen der verborgenen Gottheit und den oberen emanierten Seinsstufen. Schäfa ist daher meist nicht „Überfluss“, sondern „Einfluss“ im Sinne von „Einwirkung“. Es geht um einen Wirkungszusammenhang, der auf das Denken oder den Willen Gottes als erste göttliche Manifestation zurückgeht. Das bildhafte Element verfloss allerdings oft mit dem Seinsmäßigen, weshalb magische, gnostische und theurgische Elemente nicht voneinander zu trennen sind. Es ging vor allem um die Hierarchie der einzelnen Sefirot, um ihr Zusammenspiel, die Wirkungskräfte, die Art der Zuordnung. Es gab nicht nur Beeinflussung von oben nach unten, sondern auch umgekehrt. Kabbalistische Theurgie hatte im Bemühen Erfolg, die Einheit des Wesens Gottes nicht nur in einem intellektuellen Erkenntnisakt herzustellen, sondern durch Einwirkung auf die Einigung der Wirkungskräfte mitzubestimmen. Das Gesamtschema Die Hierarchie der Sefirot: Sefira I steht am höchsten, ist der wesenhaften Einheit Gottes noch am nächsten. Sefira X ist Vermittlerin aller von oben nach unten strömenden Kräfte und aller Einwirkungen von unten nach oben. Erst die Spätkabbalisten und vor allem christliche Kabbalisten machten Zeichnungen und Schemata. Hier ein Versuch zur Verdeutlichung: Oberste drei Sefirot bilden Gruppe für sich an der Grenze zur absoluten Transzendenz. Sefira III abgrenzende und vermittelnde Funktion. Untere sieben ebenfalls Einheit für sich. „Drei Säulen“: linke Säule (III,V) mit der negativen Funktion der Strenge und des Gerichts rechte Säule (II,IV) mit der Sefira IV als extremer Güte mittlere Säule (I,VI,IX,XI). Sie hat ausgleichende und vermittelnde Funktion. Absolute Güte und absolute Strenge Gottes werden in VI geeint und ausgeglichen. Wird die Kraft von VI durch Einflüsse von unten oder außen beeinträchtigt, wirkt sich V extrem aus. Kraft der Welt des Körpers wurde auf VII-X ausgelegt, die Kraft der Welt der Seele auf IV-VI und die Kraft der Welt des Verstandes auf I-III. 148 Grundkurs Judentum Kabbala I-III: Welt der Emanation = azilut IV-VI: Welt der Schöpfung = beri`a VII-IX: Welt der Formung = jezira X: Welt der Durchführung = asija In der späteren Kabbala erhält jede Welt eine eigene Sefirotkonfiguration, die Zehnerreihen werden damit vermehrt. Anwendung der Nusssymbolik. Danach wird das En Sof als Nullpunkt im Inneren plaziert, X ist außen und damit am wenigsten verborgen. Gottesnamen sind mit den Sefirot verbunden: In der Überlieferung ist der von 24, 48 und 72 buchstabigen Gottesnamen die Rede. Die Sefira I trägt den Namen ehje. Erst VI trägt den Namen JHWH, was mit Sicherheit mit den oben angeführten Gründen zu tun hat. Sie repräsentiert auch Jakob. Aber aus JHWH werden eindeutig alle Namen abgeleitet. Die Tora besteht aus Gottesnamen. Sprachsymbolik und Namensglaube der antiken Traiditon vermengen sich zu einem spekulativen Ganzen, wobei der schriftlichen Tora eine besondere Bedeutung zukommt. Bezeichnung der Sefirot geht auf Texte wie 1 Chr 29,11 zurück: Dein, Herr, sind Größe und Kraft, Ruhm und Glanz und Hoheit; dein ist alles im Himmel und auf Erden. Herr, dein ist das Königtum. Du erhebst dich als Haupt über alles. Aussprechen eines Namens bewirkt auch Aktivierung der hinter ihm stehenden Potenz. Jeder Missbrauch, jeder Fehler, ist fatal. Grundkurs Judentum Sitzen und Reden und dergleichen, aber das ist alles übertragene Rede, wie auch (die Weisen) gesagt haben (bBerakot 31b): Die Tora spricht in der Sprache der Menschen; und überhaupt hat man über dieses Kapitel schon viel gesagt. Auf diese dritte Grundlehre weist hin, was da gesagt ist (Dtn 4,15): Aber keinerlei Bild habt ihr gesehen; das heißt: Ihr habt Ihn nicht als bildliche Erscheinung wahrgenommen, entsprechend dem, dass Er, wie wir gesagt haben, kein Körper ist und auch keine Kraft in einem Körper. Dieser Streit ging mit wechselnden Verbannungen einher. Erst die Kabbalisten haben den Streit auf geniale Weise gelöst. Die strenge Auffassung von einer absoluten Jenseitigkeit behielten sie bei. Sie ließen aber auch die wörtlichen Aussagen „anthropomorphistischer“ Art bestehen und bezogen sie allerdings nicht auf die verborgene Gottheit, sondern auf deren Manifestationen in den göttlichen Wirkungskräften, also auf die Sefirot. Das En Sof: Wörtlich „Nichtvorhandensein eines Endes“. Kommt nicht in der Bibel vor. Dieser Begriff kann vor allem im Einflussbereich des Sohar von der Sefira I abgehoben sein. Mitunter fällt er aber mit ihr in eins. „Erste Ursache“, „Wille“, „Gedanke“ und dergleichen sind dann Begriffe dafür. „In jenem En Sof gibt es kein Ende, keine Willensäußerungen, keine Lichter und keine Leuchten. Alle die Leuchten und Lichter hängen von Ihm ab, um zu existieren, doch sind sie nicht da, damit sich anhaftet, wer erkennt und doch nicht erkennt, ist doch der Oberste Wille nur Allverschlossenstes: Nichts“, sagt das Zohar II,239. Kommen wir nun aber zu den einzelnen Sefirot: Ich beginne hierarchisch oben: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. b) Die Gottheit selber bleibt transzendent Neuplatonische Tradition. Gottheit immer transzendent, völlig jenseitig, alle Eigenschaften, die man ihr zuschreibt, sind unzutreffend, entstammen nur dem menschlichen Erfahrungsbereich. Moses Maimonides, 2. Glaubensartikel: Die zweite Grundlehre betrifft die Einheit Gottes – erhoben werde Er! Das heißt, dass Er, die Ursache von allem, EINER ist, und zwar einer von einer Art und einer von einer Gattung und nicht wie ein Einzelding, das zusammengesetzt und in viele Teile teilbar ist, und auch nicht wie ein Einzelkörper einzig der Zahl nach ist und dabei unendlicher Teilbarkeit unterliegt, sondern Er – erhoben werde Er! – ist EINER nach einer Einheit, die ihresgleichen nicht hat. Auf diese zweite Grundlehre weist der Vers (Dtn 6,4): Höre Israel, JHWH, unser Gott, JHWH ist EINER. Wie wir aus der rabbinischen Tradition sahen, gibt es dort einen sehr menschlichen Gott, einen nahen und sich vermittelnden Gott. Man verstand darunter nicht einfach nur Bilder, sondern reale Erscheinungsformen Gottes. Manche, darunter die Karäer, kritisierten massiv die anthropomorphe Vorstellung von Gott. Die Hohelieddeutung spielte eine wichtige Rolle. Sie verstärkte die Vorstellung von Gottes Gestalthaftigkeit. Andererseits kennt die Bibel auch Aussagen von Gottes absoluter Transzendenz, wie in Jes 55,8ff. Im 12. und 13. Jh. tobte also eine Auseinandersetzung über diese Tendenzen, ausgelöst durch die Schriften des Maimonides, der dogmenhaft die Unkörperlichkeit des göttlichen Wesens und seine absolute Transzendenz vermitteln wollte. Die dritte Grundlehre betrifft den Ausschluss der Körperlichkeit in Bezug auf Ihn. Das heißt, dass jener EINE weder ein Körper ist noch eine Kraft in einem Körper, und dass ihm Eigenschaften der Körper wie eine Bewegung und das Ruhen nicht zukommen, weder von Seiten des Wesens noch als Akzidens. Darum verneinten sie – Friede mit ihnen! – in Hinblick auf Ihn auch Verbindung und Trennung und sagten (bChagiga 15a): Oben gibt es nicht Sitzen und nicht Stehen, kein oref und kein ippuj. Das heißt: Keine Teilung – das ist oref, und keine Verbindung – dass ist ippuj, vom Ausdruck (in Jes 11,14): und fliegen Schulter an Schulter gegen Philister..., das heißt: Sie drängen aneinander heran mit der Schulter, um sich zu verbinden. Und der Prophet sagt (Jes 40,18): Wem wollt ihr Gott vergleichen, etc.?, und (Jes 40,25): Wem wollt ihr vergleichen, dass ich ähnlich sei? Nämlich, als wäre Er ein Körper gleich anderen Körpern. So klingt (zwar) auch all das, was in den Heiligen Schriften an Beschreibung mit körperlichen Attributen vorkommt, wie Gehen und Stehen, 149 Kabbala die Sefira I: Keter/Krone, Gottesname: `Ehje die Sefira II: Chokma/Weisheit, Gottesname: JH die Sefira III: Bina/Einsicht, Gottesname: JHWH als Elohim gelesen die Sefira IV: Chesed/Gnade, Gottesname: El die Sefira V: Gebura/Macht, Gottesname: Elohim die Sefira VI: Tif´eret/Pracht, Gottesname: JHWH die Sefira VII: Netsach/Sieg, Gottesname: JHWH tsebaot die Sefira VIII: Hod/Majestät, Gottesname: Elohe tsebaot die Sefira IX: Jesod/Fundament, Gottesname: El chaj die Sefira X: Malkut/Herrschaft, Gottesname: Adonaj 1. Sefira I: Für die Mehrzahl der Kabbalisten die Quelle des Willens, der sich in II repräsentiert, das göttliche Denken. Für Gikatilla, der I nicht vom En Sof strikt absetzt, ist I das absolute Erbarmen. 2. Sefira II: Gleichsetzung der Weisheit mit der Tora. Hier allerdings abstrakte ganzheitliche Tora. 3. Sefira III: Vermittlung zwischen den oberen und den weiteren sieben. Großer Schritt im Sinne der emanatorischen Qualitätsveränderung des Seienden. Prinzip der Individuation. Hier sind die einzelnen Konsonantenbuchstaben konzipiert. Geistige erste Sprach- und Schriftgestalt der Sefirot. 4. Die Sefira IV: 5. Die Sefira V: Repräsentation des strengen Gerichts, das der linken Säule der Sefirotkonfiguration eine negative Bedeutung verleiht, eine besondere Rolle. Diese Kräfte wirken sich nach unten verheerend weiter, vor allem als Straffolgen für Israels Ungehorsam. 150 Grundkurs Judentum Kabbala Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 6. Die Sefira VI: Die maßgeblichste Sefira. Gleicht die Wirkungskräfte aus, trägt daher den Gottesnamen. Enhält dadurch auch die Symbole der übrigen Sefirot. Jakob ist damit verbunden, denn JHWH ist der Name, unter dem sich die Gottheit den Nachkommen Jakobs, allein dem auserwählten Volk Israel, offenbarte. Dies ist die Zusage der schriftlichen Tora. 7. Die Sefira VII: Gehört eng mit 8 zusammen 8. Die Sefira VIII: 9. Die Sefira IX: 10. Die Sefira X: Die unterste Sefira hat natürlich am meisten Interesse geweckt, da man über sie zu den höheren Stufen gelangen kann und auf sie einwirken kann. Außerdem wirken alle Sefirot auf sie ein. Besonders reich ausgeprägte Symbolik. Zum weiblichen Aspekt vgl. dazu Scholem. Von der mystischen Gestalt der Gottheit Im Rahmen der Kabbala entwickelt sich auch eine Lehre von der Seelenwanderung, die zum Teil überaus komplex wird. 151 Alkalai und Kalischer Zwischen Tradition und Moderne 65-73 Aufklärung und Säkularisierung formten das Bewußtsein der ersten Generation emanzipierter Juden. Diese Kräfte führten zu der Suche nach einer neuen Identität, zu dem Versuch, jüdische Geschichte in Hinblick auf den Nationalismus des 19.Jahrhunderts neu zu definieren. Das neue jüdische Nationalbewußtsein, das später Zionismus genannt werden sollte, war also eine der dialektischen Auswirkungen des Emanzipationsprozesses selbst. Verglichen mit dem traditionellen Verlauf jüdischer Geschichte war dieses Bewußtsein revolutionär und radikal, und tatsächlich wurde es zunächst vom rabbinischen Establishment als gefährlich und häretisch abgelehnt. Trotz dieser ersten Ablehnung zeigten sich sogar innerhalb der religiösen Orthodoxie selbst erste Anzeichen eines neuen Trends, der durchdrungen war von Ideen, die sich, wenn auch sehr indirekt und vorsichtig, aus der radikalisierten Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts ableiteten. Die Mehrheit der rabbinischen Autoren näherte sich dem Thema der Erlösung weiterhin auf die traditionelle, passive Weise. In den Schriften wenigstens zweier Rabbiner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist jedoch ein geistiges Echo auf den modernen nichtjüdischen Nationalismus zu erkennen. Sie führten zu einen, tastenden Suchen nach einer aktiveren Haltung gegenüber den hergebrachten jüdischen messianischen Ideen. Rabbi Jehuda Hai Alkalai, ein Sephardi, und Rabbi Zwi Hirsch Kalischer, ein Aschkenasi, ergänzten die traditionellen frommen messianischen Hoffnungen und Gebete um eine praxisorientierte und etwas weltlichere Note. Beide Männer präsentieren ein außerordentlich komplexes Ideengebäude. Einerseits stehen sie fest auf dem Boden der Orthodoxie. Ihre Suche nach Erlösung bleibt in der traditionellen messianischen Sehnsucht der jüdischen Religion verankert. Andererseits können die aktiven Elemente ihrer Ideen eindeutig auf den Einfluß zurückgeführt werden, den die Entwicklungen in den umliegenden nichtjüdischen Gesellschaften auf ihre Vorstellungen und auf die allgemeine Stellung der jüdischen Bevölkerung ihrer Heimatgebiete gleichermaßen hatten. Sowohl Alkalai als auch Kalischer stammten nämlich aus typischen Grenzgebieten, in denen eine Vielzahl ethnischer Gruppen lebte. Die verschiedenen nationalen Gruppen bekämpften einander, und die jüdischen Gemeinden befanden sich im Kreuzfeuer dieses Konflikts. Jehuda Hai Alkalai (1798-1878) wurde in Sarajewo geboren, das damals Teil des Türkischen Großreiches war. 1825 wurde er zum Rabbiner der Stadt Semlin in Serbien berufen. Der gesamte Balkan wurde von beginnenden nationalen Konflikten überschwemmt; Serben, Kroaten, Griechen, Bulgaren und Rumänen waren im Begriff, ihr eigenes nationales Selbstbewußtsein zu entwickeln und den multinationalen Großreichen Türkei und Österreich ein eigenes nationales Heimatland zu entreißen. In Alkalais Jugend kämpften Griechen und Serben erfolgreich um ihre Unabhängigkeit. Die jüdische Bevölkerung bestand aus aschkenasischen und sephardischen Juden. 152 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Rabbi Zwi Hirsch Kalischer (1795-1874) war etwa zur gleichen Zeit in einem ähnlich multinationalen Gebiet tätig. Er wurde in Posen geboren, im gleichen Grenzgebiet wie Heinrich Graetz. Es war das Gebiet Westpolens, das nach der Teilung Polens und als Folge der napoleonischen Kriege unter preußische Herrschaft gekommen war. Die Mehrheit der Bevölkerung sprach Polnisch, aber die zumeist in den Städten lebenden Deutschen bildeten die herrschende Minderheit. In einigen Fällen versuchte die preußische Obrigkeit, die deutschsprachige Minderheit größer erscheinen zu lassen, indem sie jiddisch sprechende Juden statistisch zu den Deutschen zählte. Jiddisch gehörte schließlich zu den germanischen Sprachen. Versuche wie diese wurden zwar von der jüdischen Führung, die Deutschland als emanzipatorische Kulturnation ansah, begrüßt, führten jedoch zu Reibungen zwischen der jüdischen und der polnischen Bevölkerung und wurden daher von vielen Juden mit gemischten Gefühlen betrachtet. Die verschiedenen polnischen Rebellionsversuche brachten die jüdische Bevölkerung in Hinblick auf ihre politische und sprachlich-kulturelle Identität immer wieder in zwiespältige Situationen. Die Juden dieser (Grenzgebiete waren also in bezug auf Kultur, Nationalismus und Sprachpolitik in höchstem Maße sensibilisiert. Aus jüdischer Sicht war die Provinz Posen auch Grenzland zwischen den emanzipierten Juden der deutschen Herrschaftsgebiete und den traditionelleren orthodoxen Ostjuden des alten polnischen Staates. Alkalai und Kalischer sind typische Beispiele dafür, was geschieht, wenn sich äußerer nationalistischer Druck in der nichtjüdischen Gesellschaft aufbaut. Das empfindliche und komplexe Gleichgewicht zwischen der jüdischen Bevölkerung und ihrer Umwelt wird gestört, und sogar Traditionalisten in der jüdischen Gemeinde fangen an, nach neuen Lösungen zu suchen. Trotz ihres unterschiedlichen geographischen und kulturellen Hintergrundes teilten Alkalai und Kalischer aufgrund der ähnlichen Situation in ihren jeweiligen Gemeinden die gleichen Voraussetzungen und suchten nach neuen Antworten. Beide schrieben in traditionell-orthodoxer Manier in rabbinischem Hebräisch.1 In seinem Buch Minchat Jehuda (Die Gabe des Juda),2 zuerst 1845 veröffentlicht, versucht Alkalai, der traditionellen Erlösungsvision eine weltliche Dimension zu verleihen. Er legt biblische Hinweise auf die Erlösung aus und vertritt auf dieser Basis die These, der Erlöser werde nicht plötzlich erscheinen, sondern seinem Erscheinen werde eine Reihe von vorbereitenden Prozessen vorausgehen. Da das Land Israel zur Zeit fast unbewohnt sei, erklärt Alkalai, sei es auch praktisch unmöglich, daß alle Juden der Welt auf einmal dorthin kämen, um es zu besiedeln. Irgendwie müßten Vorbereitungen getroffen werden, sagt Alkalai und fügt hinzu »Der Herr will, daß wir in Würde erlöst werden sollen. Wir können daher nicht als eine große Masse dorthin wandern, denn dann würden wir als Zeltbewohner über das ganze heilige Land verteilt leben müssen. Die Erlösung muß langsam kommen. Das Land muß nach und nach aufgebaut und vorbereitet werden.« Er erklärt auch, daß einige anfangs noch in der Diaspora bleiben müßten, »so daß sie den ersten Siedlern in Palästina helfen können, die zweifellos aus den Reihen der Armen kommen werden.«"3 In dieser behutsamen, praktischen Weise und mit Hilfe ständiger Untermauerung seiner Argumente durch biblische und talmudische Zitate gelingt es Alkalai, den Prozeß der Erlösung - wenn auch natürlich nicht die Erlösung selbst - aus seiner mystischen Eindimensionalität zu lösen. Der Erlösungsprozeß ist somit keine rein göttliche Angelegenheit mehr, sondern wird zur Sache der Menschen. So vermeidet Alkalai den Vorwurf, er vertrete häretische Vorstellungen wie die »Beschleunigung des Endes der Tage« (Dechikat ha-Kez), während er gleichzeitig versucht, praktische Bemühungen zur Besiedelung Palästinas innerhalb der religiösen Tradition zu legitimieren. Alkalai erweitert diese Entmystizifierung des Erlösungsprozesses zusätzlich um eine pragmatische Einstellung zur hebräischen Sprache. Die rabbinische Orthodoxie hatte Hebräisch zur ausschließlich sakralen Sprache erklärt, die nicht durch den täglichen Gebrauch für weltliche Dinge profanisiert werden sollte. Zweifellos veranlaßt durch die literarische Wiederbelebung unbekannter Mundarten im Gefolge des nationalen Wiedererwachens auf dem Balkan, wird Alkalais Einstellung durch erheblich praktischere Erwägungen bestimmt. Alkalai erklärt, die Zerstreuung der Juden über die ganze Welt habe dazu geführt, daß sie nicht länger ein und dieselbe Sprache sprächen, eine Überlegung, die für traditionelle Denker nicht von Interesse war: 153 Wir sind leider heute so zerstreut und geteilt, weil jede jüdische Gemeinde eine andere Sprache spricht und andere Bräuche pflegt. Diese Teilung ist ein Hindernis für die Erlösung. Ich möchte dem Schmerz Ausdruck verleihen, den ich immer aufgrund des Irrtums unserer Vorfahren empfunden habe, denn sie haben es zugelassen, daß unsere heilige Sprache so in Vergessenheit geraten konnte. Deshalb war es möglich, daß unser Volk in siebzig Völker geteilt und unsere eine Sprache durch die siebzig Sprachen der Länder unseres Exils ersetzt wurden.4 Dieses Fehlen einer Nationalsprache könnte sich bei der Ankunft des Messias als praktisches Problem erweisen: Wenn der Allmächtige uns tatsächlich seine wunderbare Gunst zeigen und uns in unserem Lande versammeln sollte, wären wir nicht in der Lage, miteinander zu sprechen, und eine so uneinige Gemeinde hätte keinen Bestand. ...Eine derartige Sache geschieht nicht durch ein Wunder, und es ist fast unmöglich, sich eine wahre Wiederbelebung unserer hebräischen Sprache auf natürlichem Wege vorzustellen. Wir müssen jedoch darauf vertrauen, daß es geschehen wird ...5 Alkalais Schlußfolgerung ist praktisch orientiert und völlig neuartig: jeder sollte Hebräisch sprechen lernen. Ein einigendes Medium der Kommunikation sollte geschaffen und so ein weiterer Aspekt der Vorbereitung auf die Erlösung gefordert werden. »Da sollte man nicht verzweifeln, sondern wir sollten mit aller Kraft versuchen, unsere Sprache wiedereinzuführen und sie in den Mittelpunkt zu stellen; und Gott der Allmächtige wird die Lehrer und die Schüler, die Jungen und die Mädchen inspirieren, daß sie fließend Hebräisch sprechen.«6 Daraufhin präsentiert Alkalai ein pragmatisches Programm, das den Landkauf in Palästina und die Wiederbelebung der hebräischen Sprache als Teile der menschlichen Vorbereitung auf die göttliche Erlösung vorsieht. Er schlägt auch vor, daß nicht nur die Rabbiner, sondern auch die reicheren Schichten der jüdischen Gesellschaft Hebräisch lernen sollten. Die Entstehung eines neuen jüdischen Bürgertums, ein Ergebnis der Emanzipation, deutet Alkalai als Beweis fur eine langsame Verbesserung der Stellung der Juden und als Vorbote noch weiterer Verbesserungen. Diese Menschen sollten den Grundstein fur die organisierten Bemühungen bilden, Land in Palästina zu erwerben. Alkalai versteht genug von den Neuerungen des modernen Kapitalismus, um anzuregen, diese Organisation »analog zu der Feuerversicherungsgesellschaften oder Eisenbahnge- 154 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 sellschaften« 7 aufzubauen. Obwohl Alkalai ein talmudischer Gelehrter ist, sind seine Vorschläge vom Geist seiner Zeit geprägt. Die gleiche Einstellung zeigt sich auch in anderen Organisationsfragen. Alkalai schlägt die Wahl einer jüdischen verfassunggebenden Versammlung vor. Auch hier ist das Vorbild anderer entstehender Nationalbewegungen unverkennbar. Ihm ist jedoch bewußt, wie unorthodox ein derartiger innovativer Schritt innerhalb der jüdischen rabbinischen Tradition ist. Daher kleidet er seine Vorstellungen in eine besonders traditionalistische exegetische Sprache, welche gelegentlich die Neuartigkeit seiner Ideen verschleiert. Um derart moderne Vorstellungen zu legitimieren, bedient sich Alkalai eines besonders interessanten Aspekts der jüdischen messianischen Überlieferung. Eine Version dieser Überlieferung besagt, daß dem Erscheinen des Messias, Sohn des David, das Erscheinen eines Vorläufers vorausgehen wird, eines Messias, der Sohn des Josef genannt werden wird. Die Überlieferung besagt, daß dieser erste Messias (Maschiach ben Josef) an den Kriegen von Gog und Magog teilnehmen, das Land Israel von den Ungläubigen befreien, jedoch in der Schlacht fallen wird. Erst danach wird der endgültige Messias, Maschiach ben David, erscheinen und die Kinder Israels auf wunderbare Weise zurück in das Gelobte Land führen. Alkalai argumentiert, daß bereits das Erscheinen des Messias, Sohn des Josef, dessen Taten durch weltliche Eroberungen und nicht durch Wunder gekennzeichnet sind, auf symbolische Weise die Notwendigkeit irdischer, praktischer Aktivitäten deutlich mache, die dem Erscheinen des Messias, Sohn des David, vorausgehen müßten. Darüber hinaus erklärt Alkalai, daß es sich bei der Vorstellung eines Messias, Sohn des Josef, nicht so sehr um eine Person handle, sondern vielmehr um einen Prozeß, der in der modernen Zeit die Form politischer Führerschaft unter den Juden annehmen und den »Beginn der Erlösung« (atchalta di-geula, in der traditionellen aramäischen Version) vorbereiten werde. Die überlieferte Vorstellung von einem »vorbereitenden« und handelnden Messias wird so in die Sprache relevanter moderner sozialer Entwicklungen und Institutionen übersetzt: Die Erlösung beginnt mit den Anstrengungen der Juden selbst. Sie müssen sich vereinigen und organisieren, Führer wählen und ihr Exil verlassen. traditionellen normativen Ordnung zeichneten ihn in seiner Generation aus. Eine Nationalsprache und eine repräsentative Versammlung waren beinahe häretische Vorstellungen für das orthodoxe Judentum. Sie zu formulieren und gleichzeitig innerhalb der Traditionen zu verbleiben, war ein aufregend neuer Ansatz. Da keine Gemeinschaft ohne Regierungsorgan existieren kann, muß an allererster Stelle die Wahl von Ältesten aus jedem Bezirk stehen, frommen und weisen Männern, die alle Angelegenheiten der Gemeinde überwachen. Ich möchte in aller Bescheidenheit anmerken, daß mit der Verheißung des Messias, Sohn des Josef, wahrscheinlich diese gewählte Versammlung die Versammlung der Ältesten - gemeint ist. Diese Ältesten sollten von unseren größten Magnaten gewählt werden, auf deren Einfluß wir alle angewiesen sind. Die Organisation einer internationalen jüdischen Körperschaft ist bereits der erste Schritt zur Erlösung, denn aus dieser Organisation wird eine bevollmächtigte Versammlung von Ältesten, und aus der Mitte der Ältesten wird der Messias, Sohn des Josef, hervorgehen....8 Diese Vorstellungen, ebenso wie die Idee, einen Dauerfonds (Keren Kajemet) für den Landkauf in Palästina einzurichten (wiederum legitimiert durch Abrahams Kauf der Höhle von Machpela von Efron dem Hetiter), wurden zwar nicht mehr zu Alkalais Lebzeiten realisiert, sie enthaltenjedoch bereits einige Grundelemente späterer, aktiver zionistischer Organisation. Im Alter emigrierte Alkalai nach Jerusalem, und dieser Schritt, ebenso wie die Fülle der von ihm propagierten Ideen, seine phantasievolle Mischung neuer Ideen innerhalb einer 155 Zwi Hirsch Kalischer, der als Rabbiner für die Gemeinde Thorn in der Provinz Posen amtierte, präsentiert eine ähnliche Verbindung von Neu und Alt. Der Einfluß nichtjüdischer Nationalbewegungen auf sein Denken zeigt sich am klarsten in seinem Buch Drischat Zion (Suche nach Zion), das zuerst 1862 veröffentlicht und zu Lebzeiten Kalischers viele Male nachgedruckt wurde. Warum opfern die Völker Italiens und anderer Länder ihr Leben für das Land ihrer Väter, während wir, wie Männer, die ihrer Stärke und ihres Mutes beraubt wurden, nichts tun? Sind wir weniger wert als andere Völker, die Leben und Gut gering achten im Vergleich zu der Liebe zu ihrem Land und ihrer Nation? Laßt uns das Beispiel der Italiener, Polen und Ungarn zu Herzen nehmen, die ihr leben und ihren Besitz im Kampf für nationale Unabhängigkeit geben, während wir, die Kinder Israels, die wir das ruhmreichste und heiligste Land unser Erbe nennen, mutlos sind und schweigen. Wir sollten uns schämen!9 Wie Alkalai glaubt auch Kalischer nicht, daß die Erlösung plötzlich kommen wird. Vorbereitende Schritte sind nötig, und Kalischer setzt den Prozeß, die Anfänge der Erlösung zu entmystifizieren, ganz im Sinne Alkalais fort: Die Erlösung Israels, die wir ersehnen, mögest du, mein Israelit, Dir nicht in der Art vorstellen, daß plötzlich die Stimme Gottes von der Himmelshöhe ertönen und den Israeliten »Wohlan! nach Jerusalem hinauf!« zurufen werde; auch nicht so, daß plötzlich ein Messias von Gott auf die Erde gesandt, in die Posaune stoßend, die überall Zerstreuten zusammenruft nach Jerusalem führt. Die heilige Stadt wird nicht unversehens von Mauern, nicht durch Menschenhände aufgeführt, umgeben sein und den heiligen Tempel, gleichsam durch ein Wunder, in sich bergen.10 Nein! nicht so unvorbereitet und überraschend wird die Erlösung sich gestalten, sondern langsam und allmälig, bis dann zuletzt alle die göttlichen Verheißungen durch seine heiligen Propheten buchstäblich in Erfüllung gehen werden.11 Kalischer bezieht sich auf einige Verse des Propheten Jesaja über die Erlösung, wo diese mit dem langsamen Kornsammeln auf dem Felde gleichgesetzt wird: So enthüllte er, daß nicht alle Kinder Israels zur gleichen Zeit aus dem Exil zurückkehren, sondern nach und nach versammelt werden würden, so wie das Korn allmählich aus dem gedroschenen Getreide gesammelt wird. ...Es ist offensichtlich, daß sowohl ein erstes als auch ein zweites Sammeln geplant ist. Die Aufgabe des ersten wird es sein, das Land zu erschließen, und danach wird Israel dann in größter Erhabenheit erblühen.12 Kalischer legt sogar voller Sehnsucht nahe, daß schon die Tatsache, daß einige Juden sich ohne offensichtliche göttliche Intervention in Jerusalem versammelten, die von der Vorsehung bestimmte endgültige Erlösung beschleunigen könnte: Wenn sich viele Juden [im Lande Israel] ansiedeln und ihre Gebete am heiligen Berg in Jerusalem sich mehren - dann wird der Schöpfer sie erhören und den Tag der Erlösung beschleunigen. Damit aber all dies geschehen kann, muß es zunächst eine jüdische Besiedlung des Landes geben Wie kann ohne eine solche Besiedlung die Sammlung beginnen?13 Kalischer beschäftigt sich auch mit dem Problem der Beziehungen zu der bestehenden, wenn auch kleinen jüdisch-orthodoxen Gemeinde in Palästina. Kalischer weiß, daß in der Diaspora der Unwille, die finanzielle Hilfe für diese Gemeinde aufrechtzuerhalten, weit verbreitet ist. Sie ist weitgehend auf Almosen aus Übersee angewiesen und bekannt für ihren Widerwillen, sich selbst zu erhalten. »Es gibt viele«, so Kalischer, »die sich weigern, die Armen des Heiligen Landes zu unterstützen, und sagen: >Warum sollten wir Menschen unterstützen, die den Müßiggang wählen, die faul sind und nicht arbeiten wollen und die sich lieber darauf verlassen, daß die Juden in der Diaspora sie 156 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 versorgen.«< 14 Kalischer nennt dies ein falsches Argument. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina sei zur Zeit zu klein, um für sich allein zu sorgen. Sobald einmal die Masseneinwanderung nach Palästina beginne, werde auch die Grundlage für eine selbständige Wirtschaftsstruktur geschaffen, und dann könne der Alte Jischuw produktiv in diese neue Gesellschaft eingegliedert werden. Die Schaffung einer eigenen landwirtschaftlichen Gemeinschaft würde es den Juden ermöglichen, wieder die religiösen Gebote zu befolgen, die die Bearbeitung des Bodens (mizwot ha-telujot baarez) betreffen. »In dem Maße, wie wir dem Land auf diese weltliche Weise Erlösung bringen, wird sich auch der Schein der himmlischen Erlösung allmählich einstellen«,15 setzt Kalischer hinzu und stellt damit erneut die dialektische Beziehung zwischen menschlichem Handeln und göttlicher Vorsehung her. Kalischer erläutert auch einige Einzelheiten seines Projektes zur Wiederbesiedlung Palästinas. Ähnlich wie Alkalai schlägt er vor, der üblichen jüdischen Praxis der Geldbeschaffung durch allgemeine Spenden zu folgen und einen Fonds für den Landkauf einzurichten. Dieser Fonds sollte in erster Linie durch reiche jüdische Familien wie die Rothschilds, die Montefiores, die Foulds und die Albert Kahns finanziert werden. Diese Magnaten sollten auch die Möglichkeit erkunden, vom Sultan einen Schutzbrief für die jüdischen Treuhandsiedlungen zu erhalten. Das Siedlungsmodell selbst gleicht den Strukturen späterer jüdischer Bemühungen, öffentliches und kooperatives Handeln mit privater Landwirtschaft zu verbinden: Die Fähigkeit der traditionellen Strukturen, neuartige und moderne Ideen zu absorbieren, beweist die große Anpassungsfähigkeit des traditionellen Judentums. Während Alkalai und Kalischer innerhalb des rabbinischen Establishments des 19. Jahrhunderts allein standen, war es diese Anpassungsfähigkeit, die einige Generationen später weite Kreise der orthodoxen Gemeinde in die Lage versetzte, den Zionismus anzunehmen. Dies war möglich, obwohl die zionistischen Aktivisten zunächst einer negativen Reaktion der Traditionalisten gegenüberstanden. Diese Entwicklung verhinderte einen Bruch zwischen der zionistischen Bewegung und den Orthodoxen. Zu ihm kam es erst viel später, als die jüdische Nationalidee sich bereits herauskristallisiert hatte und als historische Kraft hervorgetreten war, und zwar aufgrund des intellektuellen und spirituellen Wirkens von Menschen, deren Erfahrungen durch die Suche nach Identität unter den Bedingungen der Säkularisierung und durch einen Bruch mit der religiösen Tradition geprägt waren. Viele Juden aus Rußland, Polen und Deutschland sollten von der Gesellschaft, der sie sich anschließen müßten, unterstützt werden und unter der Leitung solcher, die in, Feldbau unterrichtet worden sind (sofern sie den Ackerbau nicht schon selbst verstehen), Parzellen Landes zunächst unentgeltlich zugeteilt bekommen, bis sie im Stande sein würden, nachdem das Land mit Hilfe des Gesellschaftskapitals urbar gemacht worden, dasselbe als Pächter zu bestellen.16 Kalischer schlägt außerdem vor, in Palästina eine Landwirtschaftsschule einzurichten. Diese Idee wurde von der Alliance Israelite Universelle aufgegriffen, die 1870 die Landwirtschaftsschule Mikwe Israel in der Nähe von Jaffa gründete. Diese Schule spielte später bei der Entwicklung der jüdischen Landwirtschaft in Palästina eine große Rolle. Alkalai und Kalischer sind ein ungewöhnliches Phänomen unter den Rabbinern des 19. Jahrhunderts. Ihre Einzigartigkeit zeigt, welch tiefen Eindruck der Modernisierungsprozeß auf die Begriffswelt des traditionellen Judentums machte. Die emanzipierten Juden benötigten nach der Säkularisierung und dem Auftauchen des Nationalismus eine Neudefinition ihrer Identität. Für die Traditionalisten wie Alkalai und Kalischer gab es solche Identitätsprobleme nicht, denn ihre Identität wurde auch weiterhin durch die Grenzen des orthodoxen, normativen Judentums bestimmt. Aber auch sie erkannten die Notwendigkeit, auf die neuen Herausforderungen in den sie umgebenden Gesellschaften zu reagieren. So stellen sie in ihren Schriften spezifische Bedingungen vor, die den modernen nationalistischen Bewegungen entstammten, und entmystifizieren den Erlösungsprozeß, indem sie das Augenmerk auf die natürlichen Aspekte des messianischen Prozesses richten. Hierin zeigt sich der Einfluß, den die revolutionäre Situation des 19. Jahrhunderts auf das jüdische Bewußtsein der postemanzipatorischen Ära hatte. 157 Anmerkungen: 1. Eine sehr frühe zweisprachige Ausgabe einer der Schriften Alkalais wurde unter dem Titel Harbinger of Good Tidings (London, 1852) auf Hebräisch und Englisch veröffentlichet. 2. In rabbinischer Tradition enthält der Titel des Buches Alkalais Vornamen (Jehuda-Judah). 3. Arthur Hertzberg, The Zionist Idea, rev.ed. (NewYork, 1969), S. 105. 4. Ebenda, S. 106. Die Zahl siebzig bezieht sich auf die traditionelle jüdische Redensart von den »siebzig Völkern und Sprachen«, was soviel bedeutet wie »die gesamte Welt außerhalb des Judentums«. 5. Ebenda. 6. Ebenda. Die Vorstellung, daß Mädchen ebenso wie Jungen, Hebräisch lernen sollten, war genauso revolutionär und neuartig wie die Vorstellung, daß Lehrer und Schüler sich in der Heiligen Sprache unterhalten sollten. 7. Ebenda, S.107. 8. Ebenda, S. 106f. 9. Ebenda,S.114. 10. Alle diese Bilder stammen aus der traditionellen jüdischen Literatur über die Ankunft des Messias. 11. Hertzberg, S. 111. 12. Ebenda, S. 111f. 13. Ebenda, S.112f. 14. Ebenda,S.113. 15. Ebenda,S.114. 16. Zitat aus Moses Hess, Rom und Jerusalem -Die letzte Nationalitätenfrage, überarb. Aufl. (Tel Aviv, 1935), S. 137f. 158 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Theodor Herzl Der Durchbruch 111-123 der Weltöffentlichkeit war zwar wegen seiner eigenen kämpferischen - und oftmals manischen - Arbeit erfolgreich, aber im Laufe seines Lebens zeigte Herzl Anzeichen von unverantwortlichem, wenn nicht sogar gefährlichem Egoismus. Was Herzl jedoch beim Sprung ins öffentliche Rampenlicht half, waren sein Beruf und seine Persönlichkeit: Er war ein brillanter, bisweilen oberflächlicher Journalist, hungrig nach öffentlicher Aufmerksamkeit, erfahren in der Öffentlichkeitsarbeit. In diesem Sinne zeigte sich Herzl als wahres Kind seiner Gesellschaft. Sein intellektueller Eklektizismus und der Mangel von wirklich spiritueller Tiefe, gepaart mit Brillanz und Wiener feuilletonistischen Bonmots, die gemeinhin seine Schriften kennzeichnen -alle diese Merkmale, welche auf sein im Grunde leichtfüßiges Naturell hinzuweisen scheinen, waren genau die Momente, die ihn bei seinem einseitigen Bestreben unterstützten. Sorgsame und weniger oberflächliche Menschen hätten sich geängstigt, seinen Weg zu beschreiten. Aber von jenem Moment an, als Herzl die Notwendigkeit einer nationalen Lösung der jüdischen Frage sah, bemerkte er richtigerweise, daß eine so folgenschwere und revolutionäre Aufgabe nicht in stiller Arbeit abseits der Welt bewältigt werden könne. Artikel in obskuren jüdischen Publikationen konnten jedenfalls nicht die massiven Kräfte mobilisieren, die für einen enormen Umgestaltungsversuch gebraucht würden; ideologischer Richtungsstreit zwischen halbbeschäftigten jüdischen Intellektuellen in unbekannten Traktaten würde nie die Botschaft vermitteln können. Nur ein kühner, abenteuerlicher Durchbruch könnte erfolgreich die Botschaft ins Zentrum der Weltöffentlichkeit befördern. Folglich war sein schriftstellerisches Werk - besonders der Judenstaat - oftmals pompös, bombastisch und theatralisch. Und seine Lösungsvorschläge sehen nicht nur so aus, als hätte sie ihr Autor erstmalig entdeckt, sondern auch, als sei er der erste gewesen, die Fragen überhaupt zu stellen. So war auch sein Versuch, Hilfe von jüdischen Finanzmagnaten wie Edmund de Rothschild und Maurice de Hirsch zu erhalten, von der prophetischen Chuzpe eines für das ganze jüdische Volk sprechenden Bettlers gekennzeichnet. Alle seine dramatischen Annäherungsversuche an den Papst, den Deutschen Kaiser, den Sultan, den Erzherzog von Baden sowie den britischen Kolonialminister wurden von seinem profunden Verständnis geleitet, daß die Anstrengungen eines kleinen und verfolgten Volkes nur Erfolg hätten, wenn sie direkt, ohne Vermittlung und mit unerbittlicher Einfalt direkt in die Regierungsspitzen der Weltmacht und der internationalen Meinung getrieben würden. Er, Theodor Herzl, ein wohlbekannter, aber mittelloser Journalist, pflegte mit dem Sultan über die Gewährung eines Freibriefes für die Juden in Palästina zu verhandeln; er, der assimilierte Jude, wollte Wege ins Herz des Papstes finden; er, dessen einzige Waffe der Stift war, wollte den Deutschen Kaiser, die Königlich-Britische Regierung, den Innenminister des Zaren - kurz: all die Hohen und Mächtigen überzeugen. Keine dieser Mühen hatte Erfolg. Der Sultan war nicht davon überzeugt, daß eine Allianz mit den Juden die weiseste politische Entscheidung sei; die britische Regierung trat ihrerseits von der exotischen Idee zurück, Teile Ostafrikas jüdischen Siedlungen Theodor Herzl, der den ersten Zionistenkongresses in Basel im Jahr 1897 einberief und die World Zionist Organization gründete, ist mehr als jede andere Person mit dem Phänomen des politischen Zionismus in Zusammenhang gebracht worden. Sein Leben (1860-1904) erhielt legendäre Züge, sein Bildnis wurde zum Markenzeichen des Zionismus, und die Symbolträchtigkeit, die seiner Persönlichkeit anhaftete, wurde zu einem wirkungsvollen Grundzug der zionistischen Sache. Konsequenterweise ist sein Leben Gegenstand von Studien, Diskussionen und Analysen geworden, mehr als das der anderen zionistischen Gründerväter.1 Darauf soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden, auch sollen weiterhin die offensichtlichen und bereits bekannten Fakten seines Wirkens nicht wiederholt werden. Unsere Untersuchung beschränkt sich hauptsächlich auf einen Kernpunkt, auf die grundlegende Fragestellung in bezug auf Herzl. Jeder, der Herzls Werke liest - hauptsächlich Der Judenstaat (1896) und Altneuland (1902) -, wird eine Fülle an Ideen über die Dilemmata der jüdischen Existenz in der modernen Welt sowie einige praktische Lösungsvorschläge finden. Nur wenige dieser Ideen sind ungewöhnlich oder gar originell. Herzls scharfsinnige Analyse der Wurzeln des Antisemitismus in der nach-emanzipatorischen Zeit nahmen bereits die analytisch noch genaueren Schriften von Hess, Lilienblum und Pinsker vorweg; Herzls Ideen über die Gründung von nationalen jüdischen Einrichtungen zur Beschleunigung der zionistischen Ziele gingen ähnliche Ideen -und Institutionen -von Kalischer, Smolenskin und den Gründern der Chowewe Zion-Bewegung voraus. Außerdem waren jüdische Siedlungen Jahrzehnte vor Herzl in Palästina gegründet worden, und trotz ihres begrenzten Erfolgs richtete sich die Aufmerksamkeit und Bewunderung zahlreicher jüdischer Organisationen in etlichen Ländern auf sie. Worauf gründete dann aber die neuartige und historische Bedeutsamkeit von Herzls Tun? Lag diese doch weder in der Originalität seiner Gedanken noch in seinem organisatorischen Sachverstand, der eher beschränkt war; sie mußte also in etwas ganz anderem bestehen. Herzl war der erste, der einen Durchbruch für den Zionismus in der jüdischen sowie der weltweiten Öffentlichkeit erreichte. Er trug die Suche nach einer nationalen Lösung der Misere des jüdischen Lebens, die in hebräischen Zeitschriften thematisiert und von einer Handvoll jüdischer Intellektueller in den entfernten Ecken der russischen Siedlungsprovinzen ausführlich und in gelehrtem Ton debattiert wurde, in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit. Diese Randerscheinung des jüdischen Lebens malte er als die zionistische Lösung hinsichtlich der Misere des jüdischen Volkes auf die weltpolitische Leinwand und seit damals hat diese sie nicht mehr verlassen. Herzl besaß keine finanziellen Mittel und keine politische Macht, die ihm den Rücken stärkte. Das jüdische finanzielle und das rabbinische Establishment beobachtete ihn zumeist mit Misstrauen, wenn nicht sogar mit Bestürzung. Sein Auftreten in der Arena 159 160 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 zuzuweisen; Kaiser Wilhelm II. verstand wahrscheinlich noch nicht einmal die Zusammenhänge, die Herzl ihm vortrug; sogar Rothschild und Hirsch blieben letztlich unüberzeugt und öffneten nicht ihre Tresore. Und trotzdem konnte Herzl auf seine Bemühungen weisen: Beeinflussung und Beeindrucken der Höflinge, Bestechung auf seinem Weg durch das Labyrinth des ottomanischen Hofes, seine Aufwartung bei Wilhelm II. anläßlich dessen JerusalemBesuchs, das Warten in den Vorzimmern der Hohen Pforte - immerfort die Mächtigen der Weltpolitik bestürmend und bedrängend. Denn zu guter Letzt hatte Herzl trotz aller Fehlschläge doch mit ihnen oder mit ihrer unmittelbaren Umgebung gesprochen und ihnen seine Ideen und Pläne vorstellen können. In diesen Dingen hatte er mehr Erfolg als irgend jemand vor ihm. Während er dies zuwege brachte, trat er dabei jedesmal auf, als spräche er als bevollmächtigter Gesandter eines mächtigen jüdischen Reiches, obwohl hinter ihm keine Bewegung und praktisch keine Organisation, kein Geld und kein Einfluß standen. Seine einzige Geldquelle war manchmal nur der Pfandleiher. All dies war die virtuose Darstellung eines Meisters der Öffentlichkeitsarbeit, eines Menschen, welcher der zukünftigen neuen Mächte des 20. Jahrhunderts gewahr wurde: die öffentliche Meinung, Massenkommunikation und Taschenspielertricks, deren Bedeutung mehr in ihrer nachhaltigen Wirkung als in ihrer Substanz liegt. Dies erklärt die Überdramatisierung sowie sein Beharren, nur mit Menschen an der Spitze (Papst, Kaiser, Sultan) sprechen zu wollen, aber ebenso die zahlreichen bühnenreifen Auftritte Herzls: Dazu gehören der Zylinder, der makellose Frack, die weißen Handschuhe, die zeremonielle Eröffnung des ersten Zionistenkongresses. Diese Äußerlichkeiten wurden von Herzls Zeitgenossen und Mitarbeitern oftmals kritisch beäugt. Einige bemerkten darin zurecht eine Kompensierung von psychologischen Defiziten, vielleicht sogar die Rasereien einer leicht instabilen Seele. Einige akzeptierten diese Äußerlichkeiten als persönliche Eigenheiten, die gerechtfertigt schienen, als Herzl den erwählten Gipfel tatsächlich erklomm. Andere wiederum fanden es weitaus schwieriger, sich mit seinem grellen Stil anzufreunden (kein Wunder, war Disraeli doch Herzls bevorzugter Politiker). Aber Freund und Feind mußten gleichermaßen einräumen, daß seit Herzl, kometenhaftem Erscheinen der Zionismus begonnen hatte, sich in eine andere Sphäre zu bewegen: Losgelöst von der engstirnigen Beschäftigung einiger jüdischer Intellektueller wurde dieser jetzt zu einer Angelegenheit der Weltpolitik und übertraf das bloße organisatorische Gründungsfaktum der zionistischen Bewegung. Mit diesem Durchbruch schmiedete Herzl jene Waffe, die später die Hauptstütze des Zionismus für den Kampf eines schwachen Volkes wurde, das anfänglich über keine militärische und politische Macht verfugte, die seinen Anspruch im Angesicht der überwältigenden Stärke von Politik und Historie hätte unterstützen können, als eben die öffentliche Meinung. Sie war die einzige zionistische Waffe, die eingesetzt werden konnte, um den Klauen der Weltgeschichte eine Heimstatt für das jüdische Volk zu entreißen. Die Balfour-Deklaration von 1917, die Resolution der Vereinten Nationen von 1947, die einen jüdischen Staat in einem Teil des Mandatsgebiets von Palästina forderte, und andere Meilensteine auf dem Weg zum jüdischen Staat sind nicht durch jüdische Wirtschafts- oder politische Macht, sondern durch die Geschicklichkeit der zionistischen Bewegung an sich zustande gekommen. Diese verstand es immer wieder, die intellektuellen und geistigen Reserven eines hochgebildeten, polemisch geschulten und auf den öffentlichen Diskurs eingestellten Volkes zu mobilisieren. Dies waren die Waffen einer schwachen, drangsalierten und kleinen Nation in einem Kampf mit sehr unsicherem Ausgang. Herzl war der erste, der dieses Potential erkannte und es zur öffentlichen Macht schmiedete. Zu einem Großteil beruhen der Zionismus und der Staat Israel bis zum heutigen Tag darauf. Konsequenterweise ist es bei der Bewertung von Herzls Schriften notwendig, die begrenzte Originalität seiner Ideen mit jener immensen Wirkung abzuwägen, als sie zum ersten Mal im zionistischen Denken - tatsächliche Verkaufsschlager wurden. Es ist ein allgemeines Mißverständnis, daß Herzl sich im Judenstaat zum ersten Mal der jüdischen Frage annahm und daß nur die Dreyfus-Affäre ihn auf' dramatische Weise vor dem Erscheinen einer bösartigen Form des Antisemitismus warnte und davon überzeugte, die Emanzipation sei fehlgeschlagen. In seiner Generation war Herzl ein typisches Produkt dieser Emanzipation: Geboren in Budapest als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, zog er als Kind nach Wien, promovierte später in Jura und wurde einer der bekanntesten und meistgelesenen Journalisten und Kolumnisten der liberalen Wiener Neuen Freien Presse. Er versuchte sich, wenngleich nicht sehr erfolgreich, auch als Bühnenautor, in dessen Werken die ersten Zweifel an der Emanzipation zur Sprache kamen. Die meisten seiner Stücke, die ans jüdisch-bourgeoise Wiener Theaterpublikum gerichtet waren, handeln von den Problemen des modernen, emanzipierten jüdischen Intellektuellen. Eines der erfolgreicheren Stücke, Das neue Ghetto (1894), drückt das Gefühl von Frustration aus, an einem toten Punkt angelangt zu sein, welches typisch für viele der erfolgreichen, emanzipierten Juden der Mittelklasse war. Als einer der Helden im Stück darauf besteht, aus diesem Gefängnis zu fliehen, bedeutet ihm ein weiterer Protagonist namens Rabbi Friedheimer: 161 Und ich antworte Ihnen. wir können nicht! Als das wirkliche Ghetto noch bestand, durften wir es ohne Erlaubnis nicht verlassen - bei schwerer Leibesgefahr. Jetzt sind die Mauern und Schranken unsichtbar... Aber auch dieses moralische Ghetto ist unser vorgeschriebener Aufenthaltsort. Wehe dem, der hinaus will!2 In Frankreich, wo er seit 1891 als Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse arbeitete, wurde Herzl sogar noch sensibler, was die Unklarheit über den Status des modernen Juden betraf. Rührte der volkstümliche Antisemitismus in Wien zum Teil aus den Überbleibseln religiöser Gefühle gegenüber den Juden in einer im Grunde traditionellen Gesellschaft, so lernte Herzl in Paris eine neue - populistische -Variante des Antisemitismus kennen, genährt von den Widersprüchen einer modernen, im höchsten Maße säkularisierten und parlamentarischen Gesellschaft. Viele von Herzls Berichten aus Paris während dieser Zeit behandeln das Auftreten des sozialen Antisemitismus in Frankreich.3 Herzl verfolgte mit großer Besorgnis die dortige öffentliche Debatte, die den wachsenden Vorsprung der Juden im wirtschaftlichen, intellektuellen und parlamentarischen Leben Frankreichs ins Auge zu fassen begann. Diskussionen über Wirtschaftskrisen und Finanzskandale sowie intellektuelle und parlamentarische Debatten wurden aufgrund der einseitigen Betonung der jüdischen Herkunft einiger bedeutender Personen zu einer heillos verworrenen, ablenkenden und 162 Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 unfeinen Angelegenheit. Herzl sieht darin ein neues Problem, welches in der Emanzipation selbst begründet liegt und deshalb nicht durch diese überwunden werden kann. Der Widerspruch scheint Herzl offensichtlich: Gerade in dem Land, in welchem die erste Judenemanzipation gewährt wurde - im republikanischen Frankreich, dem Erben der Großen Revolution - tritt ein neu es und drohendes Problem auf, das seine Ursprünge in den Spannungen und Belastungen der modernen Gesellschaft per se hat. Die Dreyfus-Affäre deutete Herzl richtig als den lediglich dramatischen Ausdruck eines weitaus tiefergreifenden Unbehagens. Das Auftreten des modernen Antisemitismus in einem für Universalismus und Brüderschaft einstehenden Land - wo zudem der jüdische Bevölkerungsanteil gering war -brachte Herzl die Ironie der herkömmlichen liberalen Weisheit ins Bewußtsein, daß nämlich Gleichstellung und Gleichberechtigung die jüdische Frage würden lösen können. Nicht nur, daß die Judenemanzipation sich dazu als unfähig erwies - das Problem in seinen neuen Dimensionen lag in der Gleichstellung und dem Auftreten des modernen, weltlichen Juden selbst begründet. In seinem Judenstaat schreibt Herzl: In den Hauptländern des Antisemitismus ist dieser eine Folge der Judenemanzipation. Als die Kulturvölker die Unmenschlichkeit der Ausnahmegesetze einsahen und uns freiließen, kam die Freilassung zu spät. Wir waren gesetzlich in unseren bisherigen Wohnsitzen nicht mehr emanzipierbar. Wir hatten uns im Ghetto merkwürdigerweise zu einem Mittelstandsvolk entwickelt und kamen als eine fürchterliche Konkurrenz für den Mittelstand heraus. So standen wir nach der Emanzipation plötzlich in einem harten Wettstreit mit der Bourgeoisie und müssen da einen doppelten Druck aushalten, von innen und von außen. Die christliche Bourgeoisie wäre wohl nicht abgeneigt, uns dem Sozialismus als Opfer hinzuwerfen; freilich würde das wenig helfen...4 In Altneuland liefert Herzl einen treffenden Überblick darüber, wie das moderne Leben so viele Juden in die Mitte der unzähligen sozialen und wirtschaftlichen Kreuzfeuer stellt. Ähnliche Gedanken hatten vorher auch schon Lilienblum und Pinsker formuliert: Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art: Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein feinsinniger Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft setzte die neuesten und auch ältesten Mittel ein. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, daß die Juden die Presse - wie einst im Mittelalter den Brunnen - vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern, wenn sie ihre Genossen waren, als Lohnverderber gehaßt; als Ausbeuter, wenn sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehaßt, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückdrängt, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, daß sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mußten.5 Gemäß Herzl würden sich diese Prozesse intensivieren, und er sieht keine Garantien oder eingebauten Mechanismen, um diese Entwicklungen für die Zukunft einzuschränken oder gar umzukehren. Darum lautet die schmerzvolle Erkenntnis, daß den Juden letztlich nur ein Weg offenbleibt - der nach draußen.6 Als Herzl zu dieser radikalen Ansicht gelangte, beschleunigt sich seine Aktivität, um dieses Ziel zu verwirklichen, und seine journalistische Karriere wird untrennbar verwoben mit seinen Bemühungen um eine neuartige Form der jüdischen diplomatischen Aktivität. Dies ist eine bekannte und oft erzählte Geschichte; deshalb wird diese Untersuchung auf die Natur der zukünftigen jüdischen Gesellschaft begrenzt bleiben, wie sie Herzl in seinen programmatischen Büchern Der Judenstaat und Altneuland entwarf. 163 Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 In ihrer Form sind diese zwei Werke so unterschiedlich, wie sie nur sein können. Der Judenstaat ist eine Kombination aus politischem Mallifest und juristischem Schriftsatz. Das Buch zählt die Probleme der jüdischen Existenz in der modernen Gesellschaft auf, um dann - im juristischen Detail manchmal übertrieben - die Struktur der jüdischen Organisationen zur Schaffung einer jüdischen Gesellschaft in einem neuen Land zu beschreiben. Die Frage, ob diese neue Gesellschaft in Palästina oder in Argentinien (wie es vorher durch Baron Hirschs philanthropische Bestrebungen empfohlen wurde) beheimatet sein soll, bleibt offen. Trotzdem scheint Herzl zu der historischen Heimat des jüdischen Volkes zu neigen. Altueuland hingegen ist ein utopischer Roman, jene Art von Buch, Von der Herz im Judenstaat sagt, daß er es nicht schreiben werde, denn »nichts beweist mir, daß sie [die utopische »Maschinerie«] in Betrieb gesetzt werden könne.«7 Altneuland, geschrieben 1902, ist die Beschreibung eines jüdischen Palästina, projiziert ins Jahr 1923. Ungeachtet seiner didaktischen Form (die es mit den meisten utopischen Romanen gemein hat) sowie allzu offensichtlicher Handlung ist dieses Werk mit einer reichen Vorstellungskraft geschrieben, die tief in der Wirklichkeit der jüdischen Situation und den Lebensbedingungen in Palästina verwurzelt ist. Verglichen mit den später auftretenden israelischen Lebenswirklichkeiten ist es ein interessanter Gradmesser, an dem sich der zionistische Traum messen läßt. Die dort vorgestellte Vision sollte im allgemeinen Kontext des utopischen Literaturgenres betrachtet werden. Es ist keine Frage, daß viel von seiner Faszination in der lebendigen und bewegenden Beschreibung eines wiedererweckten Landes Israel liegt. Herzl hatte keine Zweifel mehr am Schauplatz der neuen Heimat. Es war ihm klar, daß die Wiederbelebung des jüdischen Volkes nur in dessen angestammten Land möglich sei. Jedoch liegt diesen Büchern auch ein gemeinsames Muster zugrunde. In beiden Werken beschreibt Herzl nicht bloß eine Gesellschaft, die eine Zuflucht für die Juden bedeutet, sondern er erschafft diese auch als ein Modell für soziale Gerechtigkeit, basierend auf der sozialistisch-utopischen Literatur des 19.Jahrhunderts. Das klingt zu einem großen Teil sehr paradox, denn Herzl ist für sich genommen das Urbild eines bourgeoisen, liberalen Denkers, und keine politisch extreme Veranlagung ist bei ihm zu entdecken. Seine politische Philosophie tendiert im allgemeinen sogar zum Konservativen. Im Judenstaat etwa bemerkt er, daß die Idealform einer Regierung eine »aristokratische Republik« sei, und er zitiert dazu Venedig als Modellfall." Einen ähnlichen Hinweis gibt er in Altneuland. Ungeachtet seiner moderaten, wenn nicht konservativen politischen Haltung ist sich Herzl allerdings bewußt, daß die Revolution, die notwendig mit der Errichtung eines jüdischen Staates verbunden ist, zwangsläufig mit einer radikalen Un1gestaltung der jüdischen Sozialstruktur einhergeht. Und weiter: Da Herzl begreift, daß die Juden im Grunde genommen ein Mittelklassevolk sind, würde die Schaffung eines nationalen jüdischen Staatswesens die Umwandlung der Juden von einer Klasse in ein Volk bedeuten, die sie vom alt-neuen Ghetto zu einer sozialen Gesamtstruktur hinführt, in der alle Tätigkeiten von Juden ausgeführt würden. Ironischerweise erwähnt Herzl sogar, daß 164 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 - während die Juden die industriellen, wissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Positionen der Neuen Gesellschaft eroberten - in seinem Haifa des Jahres 1923 viele der dortigen Kaufleute Griechen und Armenier seien.10 Eine Umwandlung der Sozialstruktur kann nicht durch die Marktmechanismen einer Laisser-faire-Gesellschaft zustande gebracht werden, stellt Herzl fest. Im Judenstaat kristallisiert sich das Element des öffentlichen Landbesitzes folgendermaßen heraus: Das Land wird kollektiv in Besitz genommen, und es wird kein privates Eigentum an Land und natürlichen Ressourcen geben. Eigenständige Farmer werden ihre Parzellen vom Nationalen Fonds pachten. In Altneuland führt Herzl dies sorgfaltig aus und empfiehlt dabei, das alte mosaische Prinzip des Jubeljahres in den Nutzungsplänen der Neuen Gesellschaft als Einrichtung aufzunehmen. Zudem ist im neuen Staatsgebiet kein privater Landbesitz erlaubt. Diesem Prinzip folgte später der Jüdische Nationalfonds, der Eigentümer jenes Landes wurde, das die Zionistische Organisation erstanden hatte. Herzl faßt im Judenstaat die massive Besiedlung Palästinas durch die Einrichtung von staatlichen Häusern für Arbeiter und durch die Schaffung eines umfassenden Netzwerks von sozialen Wohlfahrtsinstitutionen ins Auge, welche die Neue Gesellschaft als Wohlfahrtsstaat gliedern. Als Höhepunkte dieser sozialen Bestrebungen nennt Herzl den Sieben-Stunden-Arbeitstag und das Bereitstellen von allgemeiner Arbeit anstatt öffentlicher Unterstützung.11 Dieser Sieben-StundenTag ist so wichtig für ihn, daß diese Idee sich auch in der Flagge ausdrückt, die er für den jüdischen Staat vorschlägt: »Ich denke mir eine weiße Fahne mit sieben goldenen Sternen. Das weiße Feld bedeutet das neue, reine Leben; die Sterne sind die sieben goldenen Stunden unseres Arbeitstages. Denn im Zeichen der Arbeit gehen die Juden in das gelobte Land.«12 In Altneuland erscheint das soziale Element in einer weitaus stärkeren Form. Die Sozialstruktur des Landes wird hier als »gemeinschaftlich« und »mutualistisch« - ein Ausdruck, der direkt aus dem französischen Sozialutopismus entlehnt ist – bezeichnet. Die Festlegung der Wirtschaft ist genossenschaftlich, aber der einzelne soll nicht von der Möglichkeit abgehalten werden, individuelle Initiativen einzubringen: Littwak fährt damit fort, die Vorgänger dieses genossenschaftlichen Gemeinwesens in Palästina aufzuzählen: Charles Fourier, der französische sozialistische Utopist und Begründer des Phalanstère-Systems; Etienne Cabet, der französische kommunistische Utopist und Autor von Voyage en Icarie; Theodor Hertzka, der Autor von Freiland; Edward Bellamy, »der in seinem Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 eine edle kommunistische Gesellschaft darstellt«; und schließlich die Rochdale-Pioniere. Am Ende dieser Aufzählung sagt Littwak zu den Mitgliedern von Neudorf: Und doch stellt unser Konzept die Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus dar. Der einzelne wird nicht der Anregungen und Freuden des Privateigentums beraubt, und dennoch kann er sich im Zusammenstehen mit Genossen der kapitalistischen Übermacht erwehren. Der Jammer, der Fluch ist von unseren Armen genommen, daß sie am Erzeugnis weniger verdienen und den Verbrauch teurer bezahlen als die Reichen.13 Einer der dramatischen erzählerischen Höhepunkte von Altneuland ist die Gemeindeversammlung der Bauern in der neucn Kooperative Neudorf in Galiläa. Diese Versammlung wird von Herzl zu einem umfangreichen didaktischen Vortrag über die Prinzipien der sozialen Organisation der Neuen Gesellschaft genutzt, die von David Littwak, der Hauptfigur des Romans, vorgetragen werden. Im folgenden skizziert Littwak die Ursprünge der jüdischen Genossenschaftsgesellschaft in Palästina: Und ihr werdet es für einen Scherz halten, wenn ich euch sage, daß Neudorf gar nicht in Palästina gebaut worden ist, sondern anderswo. Es ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in Deutschland. Es ist entstanden aus Erfahrungen, Büchern und Träumen. Die mißglückten Versuche von Praktikern wie von Phantasten mußten euch zur Lehre dienen - ihr wußtet es nur nicht. 14 165 Wenn ihr heute in euren Konsumverein geht und die besten Waren zum billigsten Preise bekommt, so habt ihr das den Pionieren von Rochdale zu verdanken. Und wenn euer Neudorf heute eine blühende landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft ist, so habt ihr das den armen Märtyrern von Rahaline in Irland zu verdanken. ... Die neue Gesellschaft beruht vielmehr auf den Ideen, die ein gemeinsames Produkt aller Kulturvölker sind.15 Es liegt auf der Hand, daß nicht der politische, revolutionäre Sozialismus der militanten Arbeiterklasse Herzls Vorbild ist, sondern der utopische, humanitäre und reformistische, der später im zionistisch-sozialistischen Kontext »konstruktivistisch« genannt werden sollte. Es ist bezeichnend, daß der Begründer des modernen politischen Zionismus, der selbst ein liberaler, wenn nicht gar ein gemäßigt konservativer Politiker war, die zukünftige jüdische Gesellschaft auf sozialistischen, genossenschaftlichen Grundzügen errichtet sah. Er erblickte im Neucn Israel die Verwirklichung der Vision des europäischen Sozialutopismus des 19. Jahrhunderts. Herzl war sich bewußt, daß die Bedingungen für die Neue Gesellschaft in Palästina, die aus dem Nichts begonnen hatte, besonders geeignet für die Errichtung einer mutualistischen Gemeinschaft waren, da es »unser Gewinn ist, frei zu sein von inneren Lasten; wir brauchten nicht irgend jemanden ins Elend zu stürzen, um das Los der Massen zu erleichtern.« Solch eine Gesellschaft kann - laut Herzl als ein Modell für eine parallele soziale Umgestaltung in Europa dienen. Diese sozialistischen Elemente in seiner Beschreibung der zukünftigen jüdischen Gesellschaft in Palästina werden von einer Vielzahl anderer Einrichtungen begleitet, die im Kontext der damaligen Zeit auffallend originell waren. Herzl selbst überschritt bei vielen dieser Innovationen, die er dieser utopischen Gesellschaft zuordnete, die Grenzen seines eigenen bürgerlich-liberalen Horizontes. Zu einer Zeit, als beispielsweise kein europäisches Land das Wahlrecht für Frauen garantierte, postulierte Herzl das allgemeine Wahlrecht als Grundlage der politischen Struktur der Neuen Gesellschaft, und anhand vieler Details beschrieb er die volle Teilnahme der Frauen am politischen Leben der Gemeinschaft.16 Zu einer Zeit, als praktisch jedes europäische Land immer noch das männliche Wahlrecht durch diverse Eigentumsbestimmungen einschränkte, reicht Herzls Vision weit über seine allgemeine Vorliebe für eine »aristokratische Republik« hinaus. Unter den weiteren radikalen und revolutionären Einrichtungen dieser Neuen Gesellschaft, die alle auf der sozialutopischen Literatur beruhen, ist Herzls Beharren auf freien und universalen Unterricht, vom Kindergarten bis zur Universität, gleichfalls völlig neu in seiner Zeit um 1902. Zugleich heißt es, daß alle Mitglieder der Gesellschaft, »die männlichen wie die weiblichen, ...zwei Jahre ihres Lebens dem öffentlichen Dienste widmen müssen.17 Dieser nationale Dienst gilt nicht den militärischen Belangen. Die jungen Menschen, im allgemeinen zwischen 18 und 20 Jahren alt, widmen diese zwei Jahre sozialen Diensten, welche die Gesellschaft ihren Mitgliedern anbietet: Kliniken, 166 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Kranken und Waisenhäuser, Ferienlager und Altersheime. Diese und weitere soziale Wohlfahrtseinrichtungen werden somit von Leuten unterhalten, die ihren nationalen Dienst leisten. Und ebenso sind alle Bewohner gegen Krankheit und Alter versichert, niemand wird von Armut und Schmerzen geplagt. Herzl meint, daß auch seine Gesellschaft des 19. Jahrhunderts diese Einrichtungen hätte aufbauen können: »Die alte Gesellschaft war schon zur Jahrhundertwende reich genug, nur litt sie an ihrer unbeschreiblichen Verworrenheit. Sie war eine überfüllte Schatzkammer, in der man keinen Suppenlöffel fand, wenn man ihn brauchte.«18 Städtisches Planungswesen ist gleichfa1ls ein Hauptelement für die Entwicklung der Neuen Gesellschaft. Die neuen Städte in Palästina würden alle sehr sorgfaltig geplant sein und sich somit nicht so chaotisch entfalten wie das übliche städtischen Wachstum. Ihre Größe hänge nicht von Grundstücksspekulationen ab. Es gäbe in allen Städten ein elektrifiziertes Massentransportsystem, überwiegend Hochbahnen; Schnellzüge und erstklassige Straßenverbindungen verknüpften die Städte untereinander; Wasserkraftwerke, die mittels Kanäle das Gefälle zwischen Mittel- und Toten Meer ausnützten, sorgten so für billige Elektrizität usw. Auf einen Punkt gebracht: Herzls Altneuland beinhaltet alle Bausteine einer utopischen Gese1lschaft, in der mutualistischer Sozialismus mit technologischem Fortschritt und zentralisierter Planung verbunden ist. In Altneuland spricht Herzl aber auch die zukünftigen Beziehungen zwischen Juden und Arabern in der Neuen Gesellschaft an. Herzl ist deutlich bewußt, daß das Land wenngleich spärlich - bereits von Arabern besiedelt ist, und sein Lösungsvorschlag, der heute in Rückschau oberflächlich naiv und simpel anmutet, ist nichtsdestoweniger von dem universalen, humanistischen Ethos motiviert, das den gesamten Roman durchzieht: Allen arabischen Bewohnern, die der Neuen Gesellschaft als gleichgestellte Mitglieder und Bürger beitreten wollen, steht es frei, dies zu tun. Eine zentrale Figur des Romans, Reschid Bey, verkörpert den romantischen archetypischen Orientalen der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts: tief verwurzelt im den Wertvorstellungen seiner arabischen und muslimischen Gesellschaft, verbindet er doch im selben Atemzug die Höflichkeit und Toleranz des Orients mit der wissenschaftlichen Entfaltung und der Großzügigkeit des Okzidents. Reschid Bey und seinesgleichen sind gleichgestellte Mitglieder dieser Gesellschaft, und einige Male erklärt er nachdrücklich, daß die Araber Palästinas beträchtlich von der jüdischen Immigration profitieren.19 Herzl macht jedoch auch darauf aufmerksam, daß die rasche Europäisierung Palästinas durch die Juden sich von Toleranz leiten lassen und das kulturelle Erbe der arabischen Gesellschaft bewahren müsse. Auf diese Weise sollte sich ein Pluralismus im sozialen Verhalten entwickeln. Während arabische Frauen das gleiche Recht haben, zu wählen und genauso für ein öffentliches Amt gewählt zu werden, könnten die meisten von ihnen es gemäß der muslimischen Sitte vorziehen, innerhalb ihres traditionellen orientalischen Haushaltes zu bleiben, was ihr Vorrecht darstelle. Es ist von nicht unwesentlicher Bedeutung, daß die öffentliche Hauptdebatte, die Herzls Neue Gesellschaft im Jahr 1923 bewegt, die Beziehung zwischen Juden und Arabern, mithin die Toleranzfrage behandelt. Im Roman findet zu jener Zeit eine Wahlkampagne für die Repräsentantenversammlung im Lande statt. Eine extremistische Partei, angeführt von einen, Rabbi namens Dr. Geyer, befürwortet die Mitgliedschaft in der Neuen Gesellschaft nur für Juden sowie eingeschränkte Bürgerrechte; die gemäßigte Partei, der David Littwak vorsteht, besteht indes darauf, daß im Lande lebende NichtJuden auch weiterhin ihre Gleichberechtigung behalten sollten. Es ist müßig anzufugen, daß die Söhne des Lichts über die Söhne der Finsternis triumphieren: Littwaks Partei besiegt lautstark Geyer und seine Anhänger -Toleranz und Gleichberechtigung behalten die Oberhand. Interessant hierbei ist Herzls Weitblick beim Aufspüren von Intoleranz und nationalreligiösen, Fanatismus als eines jener Probleme, das die sozialen Errungenschaften der Neuen Gesellschaft im Land Israel heimsuchen würde. An diesem Punkt wie auch in seinen positiven Vorhersagen waren Herzls Vorstellungen überraschend zutreffend hinsichtlich der Natur jener Gesellschaft, die durch die zionistischen Anstrengungen erst geschaffen werden sollte. Trotz seiner Toleranz und seinen, universalen Humanismus, die bezeichnend für seine mitteleuropäische Weltanschauung sind, sowie seiner untadeligen Vision der Bürgerrechte für die palästinensischen Araber übersah Herzl aber offensichtlich die Eventualität einer nationalen Bewegung der arabischen Bevölkerung, die nicht zuletzt auch eine Antwort auf die jüdische Immigration und jene Versuche des Zionismus darstellt, das Land in eine jüdische Heimstatt umzuwandeln. Es gibt keinen Zweifel, daß sich für Herzl das Problem daraufbegrenzte, die Menschen- und Bürgerrechte der Araber als Individuen zu sichern. Die Frage einer arabischen Nationalbewegung kam ihm niemals in den Sinn. Dies ist in der Tat ein bedenklicher Fehler, jedoch muß man sich den Kontext der Zeit, in der Herzl schrieb, vor Augen halten. Damals existierte so gut wie keine politische Nationalbewegung unter der arabischen Bevölkerung in Palästina. Vielleicht hätten Menschen wie Herzl sich der Möglichkeit einer solchen Bewegung bewußt sein sollen. Aber von Herzl, der nach einer Lösung des jüdischen Nationalproblems suchte, zu verlangen, zugleich den Aufstieg einer arabischen Nationalbewegung in Palästina ins Auge zu fassen (und das zu einer Zeit, als weder die herrschenden Ottomanen oder die westlichen Mächte noch die arabische Bevölkerung selbst deren Bevorstehen ahnten), hieße wohlhistorisch gesprochen -, zuviel zu verlangen. Bei jedem Versuch, Herzls Beitrag für die Entwicklung des zionistischen Denkens zu bewerten, stechen zwei Punkte deutlich hervor. Erstens: Er war unglaublich erfolgreich darin, den Ideen, die eine lange Zeit geschlummert hatten, vor der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und dem allgemeinen Bewußtsein seiner Zeit jetzt Gehör zu verschaffen. Zweitens: Als ein Denker, der selbst weit vom sozialistischen oder radikalrevolutionärem Gedankengut entfernt war, berücksichtigte er trotzdem sozialutopische Elemente in der zionistischen Neugestaltung. Dabei prophezeite er zutreffend, wie die zionistische Unternehmung in der konkreten Organisation der neuenjüdischen Gemeinschaft in Palästina schließlich verwirklicht werden würde. 167 Anmerkungen: 168 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 1. Eine faszinierende biographische Untersuchung über Herzls Wiener Umfeld bietet Amos Elon, Herzl. (NewYork, 1975). Für eine eher konventionelle Untersuchung siehe Alex Bein, Theodor Herzl. Eine Biographie (Berlin, 1983/Wien, 1934). 2. »Das neue Ghetto«, in. Theodor Herzl. Gesammelte zionistische Werke. In fünf Bänden. V. Band (Berlin: JüdischerVerlag, 1935), S. 1-124, hier S. 37. 3. Siehe dazu in Herzl, Gesammelte zionistische Werke. In fünf Bänden. I. Band. Zionistische Schriften, Tel Aviv. Hozaah Ivrith, 3. Auflage 1934 (Berlin: JüdischerVerlag, 1905). 4. »Der Judenstaat«, in Herzl, Werke. I. Band [s. Anm. 3], S. 17-105, hier S. 39f. 5. »Altneuland«, in Herzl, Werke. V. Band [s. Anm. 2]. S. 125-420, hier S.189f. 6. Wie schmerzvoll diese Einsicht für eine Person aus Herzls Gesellschaftsschicht, geprägt von der europäischbourgeoisen Kultur, gewesen sein muß, wird durch seine Bemerkung über die im jüdischen Staat gesprochenen Sprachen ersichtlich. Herzl hat keine mögliche Wiederbelebung des Hebräischcn ins Auge gefaßt (»Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?«); dafür heißt es: »Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist. ...Wir werden auch drüben bleiben, was wir jetzt sind, sowie wir nie aufhören werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt wurden, mit Wehmut zu lieben.« (Herzl, Judenstaat [s.Anm. 4], S. 94.). 7. Ebenda, S. 20. 8. Der Titel »Altneuland« ist ein Widerhall auf den utopisch-sozialistischen Roman »Freiland«, geschrieben von Herzls Wiener Zeitgenossen und Kollegen Theodor Hertzka, herausgegeben im Jahr 1890. Die sozialen Übereinkünfte von Herzls Gesellschaft gehen eng auf jene in »Freiland« zurück; Herzl erwähnt sogar Hertzkas Namen etliche Male im Judenstaat und in Altneuland. Herzl berichtet, daß dieser Titel ihm als eine Variation des Namens der berühmten und ehrwürdigen Prager Synagoge »Altneuschul« erschien, die für viele emanzipierte Juden Mitteleuropas die Kontinuität und den mystischen Glanz der jüdischen Existenz symbolisierte. 9. Ebenda, S. 93 und 94. 10. Herzl, Altneuland [s.Anm. 5], S. 224. 11. Herzl, Judenstaat [s.Anm.4], S.54-57. 12. Ebenda, S. 96. Ursprünglich hatte Herzl dieses Design der »Sieben Goldenen Sterne« als Flagge der zionistischen Bewegung vorgeschlagen. Aber eine Gruppe englischer Zionisten aus dem Wirtschaftsleben hatte wegen der sozialistischen Bezugnahme Einwände. Schließlich gab Herzl nach, und das blauweiße Banner mit dem Davidsstern wurde als zionistische Flagge akzeptiert. Diese wurde später auch die Flagge des Staates Israel. 13. Herzl, Altneuland[s.Anm.5],S.210. 14. Ebenda, S. 266. 15. Ebenda, S. 270f. und 274. 16. Ebenda, S. 198ff. 17. Ebenda, S. 203. 18. Ebenda, S. 202. 19. Ebenda, S. 245f und 248: »<Eine Frage, Reschid Bey! ...Sind die früheren Bewohner von Palästina durch die Einwanderung der Juden nicht zugrunde gerichtet worden? Haben sie nicht wegziehen müssen? Ich meine: im großen und ganzen. Daß einzelne dabei gut fuhren, beweist ja nichts.> >Welche Frage!< entgegnete Reschid. >Für uns alle war es ein Segen. Selbstverständlich in erster Linie für die Besitzenden, die ihre Landstücke zu hohen Preisen an die jüdische Gesellschaft verkaufen konnten oder auch weiter behielten, wenn sie noch höhere Preise abwarten wollten. ...Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nichts nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert, warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben?«< 20. Ebenda S. 261-263. Dieser Dr. Geyer (»Geier«), bemerkt Herzl ironischerweise, war ursprünglich ein fanatischer Anti-Zionist, der sich später mit dem Zionismus aussöhnte, aber dennoch seine unnachgiebige Einstellung in seine neue politische Überzeugung mit einbrachte. In der Charakterisierung Geyers tritt auch Herzls streng anti-klerikale Haltung lebhaft zutage. Achad Haam, Die geistigen Dimensionen des Judentums 137-149 169 Ascher Ginsberg, der unter dem Pseudonym Achad Haam (»Einer aus diesem Volk«) schrieb, war einer der profiliertesten Schriftsteller der hebräischen Renaissance um die Jahrhundertwende in Rußland. Er war wie kein anderer Schriftsteller für die Gestaltung einer modernen hebräischen Prosa verantwortlich, die er von der gestelzten quasibiblischen Nachahmungssprache der Haskala befreite. Seine Wirkung auf die hebräische Literatur ist nur von Chaim Nachman Bialik übertroffen worden. Haam war der erste, der positivistische Elemente in die hebräische Publizistik einführte, die damals immer noch stark von den gefühlvollen Schnörkeln der Neoromantik beeinflußt war. In diesem Kapitel wird die Diskussion jedoch auf seinen Beitrag zur zionistischen Debatte, in der sein sogenannter spiritueller Zionismus als Antithese zu Herzls politischem Zionismus gesehen wurde, beschränkt bleiben. Seine Biographie (1856-1927) ist typisch für die Haskala: chassidischer Familienhintergrund, Jeschiva-Studien, auswärtiger Unterricht an einer russischen Oberschule und dann der erfolglose Versuch, eine Universität zu besuchen. Nach etlichen familiären Schicksalsschlägen ließ sich Ascher Ginsberg in Odessa nieder, wo er, wie jeder andere junge Jude seiner Generation, unter den emanzipatorischen Einfluß der vergleichsweise weltlichen Atmosphäre dieser Stadt kam. Und über die Schriften des russischen Positivisten Dimitri Pisarew machte er die Bekanntschaft mit dem Gedankengebäude John Stuart Mills. Achad Haams erster Aufsatz »Falscher Weg« (1889) deutete in einem großen Maße seine einzigartige Rolle innerhalb der Chowewe Zion-Bewegung an.1 Es lag auf der Hand, daß er einer der sich am besten Gehör verschaffenden Sprecher dieser Bewegung wurde; andererseits war er auf vielen ihrer öffentlichen Kundgebungen auch ihr strengster Kritiker. Diese Charakterzüge beschreiben ebenfalls seine Aktivitäten innerhalb der zionistischen Bewegung, der er während des ersten Zionistenkongresses beitrat, bei deren Tagesgeschäften er aber stets ein wenig zurückhaltend blieb. Zwei Aufsätze mit den Titeln »Judenstaat und Judennot« (1897) und »Fleisch und Geist« (1904) sind vielleicht die zentralen Schriften, in denen sich seine Erkenntnis hinsichtlich einer modernen jüdischen Nationalbewegung formte. »Judenstaat und Judennot« wurde unmittelbar nach Achad Haams Rückkehr vom ersten Zionistenkongreß geschrieben (welcher auch der einzige derartige Kongreß blieb, den er jemals besuchte). Sein Aufsatz zielte in gewissem Maße darauf ab, jener unkritischen Euphorie entgegenzuwirken, die viele jüdische Kreise im Kielwasser der fast königlichen und pompösen Umstände des Basler Kongresses ergriffen hatte. Getreu seiner positivistischen und rationalistischen Einstellung versuchte Haam, die Botschaft des Kongresses zusammenzufassen und leidenschaftslos die Herausforderungen anzusprechen, denen sich die neugeborene zionistische Bewegung gegenübergestellt sah. 170 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Achad Haams Ausgangspunkt war dabei Nordaus programmatische Eröffnungsrede, welche die Delegierten nachhaltig beeindruckt hatte. Er resümierte Nordaus Bericht, indem er unterstrich, daß dieser zu Recht die zweifache Natur des damaligen jüdischen Problems betont habe: Für das osteuropäische Judentum liege dieses hauptsächlich in der wirtschaftlichen Not begründet, während die Juden im Westen sich in einer moralischen Not befanden, sobald sie sich das Mißlingen der Emanzipation als einer angemessenen Antwort auf die Suche nach einer jüdischen Identität in der Moderne vergegenwärtigten. Folgerichtig wendeten sich beide Gemeinschaften der zionistischen Lösung zu - der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina. An dieser Stelle wirft Achad Haam mit seinem nüchternen Realismus eine Reihe von Fragen auf. Laßt uns annehmen, erörtert er, daß die zionistische Bewegung ihr Ziel erreicht hat. Ein Judenstaat ist in Palästina geschaffen worden, und dieser vereinnahmt nun Welle für Welle jüdischer Einwanderer. Wird damit das jüdische Problem in einer oder zwei Generationen gelöst sein? Können alle Juden der Welt - damals wurden um die zehn Millionen gezählt - auf der Stelle ins Land Israel einwandern und so ihre Armut, sei sie wirtschaftlicher oder geistiger Natur, überwinden? Wird die Errichtung eines Judenstaates tatsächlich eine Lösung für das Problem aller Juden sein? Angenommen, so argumentiert Haam weiter, daß die Errichtung eines Judenstaates keine sofortige und gänzliche Zusammenführung der Exilierten bedeutet, sondern zu Anfang nur »die Ansiedlung eines kleinen Teiles des Volkes in Palästina, wie vermag er dann der physischen Not der Majorität des Volkes in den Ländern der Diaspora abzuhelfen?«2 Achad Haam ist der Meinung, daß das wirtschaftliche Problem im wesentlichen nur für einen Teil des Volks gelöst sein würde: nämlich für diejenigen, die in den jüdischen Staat emigriert sind. Aber für jene, die während der ersten Phasen des sicherlich Generationen andauernden Einwanderungsprozesses in der Diaspora verblieben, würden und könnten die wirtschaftlichen Probleme nicht durch die bloße Errichtung des jüdischen Staates gelöst werden. Ihr wirtschaftliches und soziales Schicksal hinge vielmehr von den Bedingungen in ihren Aufenthaltsländern ab. Weil aber der Judenstaat nicht in der Lage sein würde, das ökonomische Problem dieser jüdischen Massen zu lösen, die - selbst wenn nur vorübergehend - außerhalb seiner Landesgrenzen blieben, läge der einzige Beitrag dieses Staates darin, ihre Not auf einem Teilgebiet, dem spirituellen und kulturellen, zu lösen. Deshalb ist das Kardinalproblem, mit dem sich der Zionismus auseinandersetzen muß, nicht nur die Schaffung eines jüdischen Staates - vorausgesetzt, ein solcher könnte entstehen -, sondern es ist auch zwingend notwendig, daß der Zionismus sich fragt, inwieweit er mithelfen wird, die geistige Not und Zwangslage der riesigen Mehrheit des jüdischen Volkes zu lösen, das weiterhin für eine absehbare Zeit außerhalb des Landes Israel lebt. Für jemanden, der als einer der intellektuellsten visionärsten zionistischen Denker gilt, besaß Achad Haam dennoch gerade im Aufzeigen der praktischen Probleme, die dem Zionismus nach der Errichtung des Staates Israel gegenüberstehen würden, treffsicheres Gespür. Während viele der sogenannten praktischen Zionisten lediglich in die unmittelbare Zukunft - die Ansiedlung von Einwanderern und Pionieren in Palästina sowie die Errichtung eines unabhängigen Staates blickten, erkannte und erklärte Achad Haam jene Probleme, die von existentieller Bedeutung für Israel nach seiner Gründung sein werden. Folglich ist die heutige Bedeutsamkeit vieler seiner Beobachtungen weitaus herausfordernder als die Vision derjenigen, für die der Zionismus am 15. Mai 1948 zu seinem Ende kam. Mit Nordau stimmte Achad Haam überein, daß das Problem für die Juden Westeuropas sich grundsätzlich verschieden von dem der Juden in den engen osteuropäischen Siedlungsgebieten gestaltete. Durch seine bloße Existenz kann der Zionismus, so argumentierte Haam, das westliche Problem immer noch weitaus besser als das östliche lösen. Der Jude des Westens, von der jüdischen Kultur bereits abgenabelt, allerdings jener Gesellschaft, in der er lebt und arbeitet, noch entfremdet, wird in der bloßen Existenz eines jüdischen Staates die Lösung für die Probleme seiner nationalen Identität finden. Dieser mag ihn für seine fehlende Integration in die ihn umgebende nationale Kultur entschädigen. In einer Beobachtung, die mehr als 50 Jahre später ungewöhnlich bedeutsam für viele westliche Juden aufgrund der realen Existenz Israels wurde, sagte Haam: 171 Und in dieser seiner Not richtet er [der westliche Jude; S.A.] den Blick nach dem Lande seiner Väter und träumt davon, wie gut es wäre, wenn dort wieder ein Judenstaat errichtet würde, ein Staat wie die Staaten aller Völker mit all ihrer gesetzlichen Ordnung und ihren kulturellen Lebensformen. Dann könnte er in seinem Volke voll und ganz sich ausleben, in seinem Hause das finden, was er jetzt bei anderen sieht und wonach er hascht, ohne es zu erreichen. Freilich, nicht alle Juden werden ihren Wohnort verlassen, um nach ihrem Staate auszuwandern; aber schon das Bestehen des jüdischen Staates wird das Ansehen der in der Zerstreuung Verbliebenen heben, und die Einheimischen werden sie nicht mehr verachten und zurückstoßen wie niedrige Knechte, die nach der fremden Tafel schielen; und da er sich diesem Phantasiegebilde seines Herzens hingibt, entdeckt er plötzlich tief in seinem Innern, daß schon der Staatsgedanke allein, noch bevor der Staat selbst gegründet würde, neun Zehntel der Not beseitigt. Er eröffnet ihm die Möglichkeit zu öffentlicher Betätigung, zu politischem Enthusiasmus; das Herz kommt auf seine Rechnung, ohne daß er vor Fremden im Staube liegen müßte; - und er fühlt deutlich, daß durch dieses Ideal sein Geist seine Niedrigkeit abschüttelt und seine Menschenwürde wieder erhält ohne allzu große Anstrengung und ohne jede Hilfe von außen. Und da widmet er sich diesem seinem Streben mit aller Wärme seiner Gefühle, läßt seiner Phantasie die Zügel schießen, daß sie sich frei erhebe über die Wirklichkeit und beschränktes Menschenkönnen hinaus. Er braucht ja sein Ideal nicht zu erreichen, da die Jagd nach ihm allein genügt, um sein seelisches Leiden zu heilen und das Gefühl der inneren Knechtschaft von ihm zu nehmen. Je höher das Ideal steigt, je weiter es in die Ferne strebt, um so mehr wächst sein Vermögen, die Seele zu erheben.3 Andererseits war die Situation in Osteuropa grundlegend anders: Unter den Ostjuden stellte sich die Not kollektiv, nicht individuell dar. Und was hier den Zweifel ausmachte, war nicht die Identität des einzelnen Juden, sondern die Existenz der gesamten Gemeinschaft. Was in Osteuropa laut Achad Haam passierte, war nicht bloß die Tatsache, daß die Juden, sondern daß das Judentum als solches das Ghetto verlassen hatte. Das traditionelle Ghetto-Leben hatte es demJudentumm ermöglicht, sich selbst in den Grenzen einer geschlossenen Gesellschaft am Leben zu erhalten und somit ein Gleichgewicht zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Gesellschaft erlangt, das auf Trennung und Absonderung beruhte. Aber die moderne kulturelle Entwicklung, die alle Völker Osteuropas ergriffen hatte, zerstörte diese Isolation, ohne zugleich den enormen jüdischen Massen zu gestatten, sich als eine Gemeinschaft mit eigener 172 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 nationaler und kultureller Prägung zu fühlen. »In unserer Zeit hüllt sich die Kultur überall in das nationale Gewand des betreffenden Volkes, und jeder Fremde, der sich ihr naht, muß seine Eigenart aufgeben und in der Geistesart der herrschenden Nation aufgehen.«4 Im Westen war es der Liberalismus, der eine Kampfansage an die jüdische Existenz stellte, im Osten der Nationalismus. Diese Kampfansage veranlaßte das osteuropäische Judentum, für seine Identität einen neuen Mittelpunkt zu formen. In seinem Positivismus beharrte Achad Haam unerbittlich darauf, daß diese neue Mitte weder eine Rückkehr zum traditionellen religiösen Symbolismus der Vergangenheit noch eine erneute Hinwendung zur Isolierung in einer abgeschotteten Ghetto-Gesellschaft sein könnte. Es war dieser neue Mittelpunkt, der das osteuropäische Judentum, auf eine neue, in Palästina zu errichtende Gesellschaft blicken ließ: Kontextes der kulturellen Entwicklung im modernen Europa ist eine Renaissance der jüdischen Kultur in der Diaspora nicht länger möglich. Deshalb ist für die Aufrechterhaltung einer nationalen jüdischen Identität außerhalb Palästinas eine jüdische Gemeinschaft in Palästina vonnöten, deren Kultur bis in die Diaspora ausstrahlt und die dortige moderne jüdische Existenz erträglich macht. Andernfalls wird jeder Jude, der nicht nach Palästina auswandert, seine jüdische Identität früher oder später verlieren. Ein politischer Zionismus, der sich ausschließlich auf die Errichtung eines Judenstaates versteift, übersieht jene kulturelle Dimension, die lebenswichtig ist für eine fortdauernde jüdische Existenz. Für Achad Haam liegt die traditionelle Kraft des Judentums in der Tatsache begründet, daß die Propheten den Wert nicht nur der materiellen, sondern auch der spirituellen Stärke lehrten. Ein jüdischer Staat bar jeder geistigen jüdischen Werte, die für das Diaspora-Leben von Bedeutung sind, wird die Bindung mit den außerhalb beheimateten Juden verlieren. In dieser Hinsicht tritt Haam als Kritiker der Herzlschen Vision eines Judenstaates auf, in dem jedermann gemäß seinem Ursprungsland Deutsch, Französisch oder Russisch spricht und in dem eine italienische Oper oder ein deutsches Theater blühen. Ein Staat »von Deutschen oder Franzosen der jüdischen Rasse« ist kein lebensfähiger Staat, meint Haam, denn So strebt das Judentum danach, zu seinem historischen Mittelpunkte zurückzukehren, dort naturgemäß sich auszuleben und zu entwickeln, auf allen Gebieten der menschlichen Kultur die in ihm lebenden Kräfte zu betätigen, seine eigenen nationalen Güter, die es sich bisher erworben, zu mehren und auszugestalten und so auch künftig wie einst in vergangenen Tagen die Schatzkammer der Menschheit durch eine große nationale Kultur zu bereichern, die Frucht freier Arbeit eines im eigenen Geiste schaffenden Volkes. Für einen solchen Zweck könnten vorläufig weit geringere Mittel genügen, man brauchte nicht ein politisches Staatswesen zu gründen - sondern nur jene Vorbedingungen im Vaterlande zu schaffen, die eine weitere Entwicklung in dieser Richtung ermöglichen würden: die Ansiedlung einer größeren Zahl von Juden, die ungestört in allen Zweigen menschlicher Kultur von Ackerbau und Handwerk bis zu Wissenschaft und Literatur sich betätigen. Diese Ansiedlung, die nach und nach entstehen wird, wird mit der Zeit ein Zentrum des Volkes werden, in ihr wird der Volksgeist ungetrübt zur Geltung kommen und sich allseitig zur größtmöglichen Vollkommenheit entfalten. Aus diesem Mittelpunkt wird dann der Geist des Judentums zu allen Punkten der weiten Peripherie dringen, zu allen Gemeinden der Diaspora, um sie zu beleben und alle zu einer Einheit zusammenzuhalten. Dann, wenn die nationale Kultur in Palästina diese Höhe erreicht haben wird, dann wird sie uns sicherlich selbst aus ihrer Mitte jene Männer geben, die es verstehen werden, den geeigneten Moment zu nützen, um dort auch einen Staat und nicht nur einen Judenstaat, sondern einen tatsächlich jüdischen Staat zu gründen.5 Anklänge an Herder und Hegel sind deutlich vernehmbar, wenn Achad Haam die Schaffung eines Staatskörpers als Gipfel der kulturellen und geistigen Kräfte eines Volkes darstellt: Ein Staat wird somit nicht etwa aus dünner Luft geschaffen oder durch einen bloßen diplomatischen Handstreich. Solch ein Staat würde sich nämlich als kurzlebiges Phänomen erweisen, denn die soziokulturelle Infrastruktur ist eine notwendige Bedingung für das politische Leben. Daher rührt auch Haams Opposition zu Herzls diplomatischem Bestreben, einen jüdischen Staat durch einen Schutzbrief oder einen ähnlichen Plan zu sichern. Solch ein Staat würde nach Haams Worten die solide Grundlage vermissen lassen, würde ohne Kultur, ohne Wurzeln sein. Zudem könnte er sich als kaum lebensfähig erweisen. Tatsächlich sei die kulturelle Seichtheit und spirituelle Eindimensionalität von Herzls politischer Konstruktion auffallend. Haam argumentiert, daß Herzls Staat vielleicht einen Judenstaat darstellen könnte (und so nennt Herzl ja auch seine Schrift); aber er würde kein jüdischer Staat sein - und es ist ein jüdisches Staatswesen, das Achad Haam sich wünscht. Da ein großer Teil des jüdischen Volkes für eine lange Zeit auch nach Schaffung dieses Staates außerhalb seiner Grenzen bleiben würde - zudem dauerte es ja seine Zeit, bis ein solcher Staat aufgebaut sein würde -, ist es deshalb zwingend notwendig, daß das neue Israel ein IdentifikationsBrennpunkt für das gesamte jüdische Volk werden muß. Wegen des nationalistischen 173 ein Staatsgedanke, der sich nicht auf die Basis der nationalen Kultur stellt, vermag den Sinn des Volkes den Idealen seines Geistes abspenstig zu machen und in ihm die Ambition zu erwecken, seinen Stolz in das Erreichen materieller Macht und politischer Herrschaft zu setzen.6 Dies ist nicht nur für den jüdischen Nationalismus eine Herausforderung. Für Haam ist dies ein Dilemma, das allen europäischen Nationalbewegungen gemeinsam ist. Der nationale Geist - der Volksgeist - dieser Nationalbewegungen zeigt sich in seinen spirituellen, kulturellen und materiellen Äußerungen ebenso wie im Staat. Der Mangel an einer spirituellen Dimension würde im Falle eines jüdischen Staates doppelt schädlich sein. Er könnte am Ende politische Macht zu einem Selbstzweck verkehren, was die Bande mit den auswärtigen Juden durchschneiden würde. Haam fürchtet einen hohlen und sterilen Etatismus, der das Mittel - den Staat - zum Wesen nationaler Existenz macht. In einem originellen historischen Exkurs gebraucht er den Staat von Herodes dem Großen als Beispiel für einen Staat ohne jeglichen geistigen und kulturellen Inhalt: Wie die Geschichte lehrt, war auch unter der Regierung des Herodianischen Königshauses Palästina wohl ein Judenstaat, die nationale Kultur aber war verachtet und verfolgt; die Dynastie tat ihr Möglichstes, um im Lande die römische Kultur zu fordern, und vergeudete die Kraft des Volkes für die Errichtung von Götzentempeln, Zirkusbauten usw. Ein solcher Judenstaat wäre ein Verderben für unser Volk und eine schwere Erniedrigung für seinen Geist: nicht stark genug, als politischer Faktor sich geltend zu machen, würde es sich der in seinem Innern lebenden sittlichen Kraft nicht bewußt werden; sein kleiner Staat, »ein Spielball für seine mächtigen Nachbarn, der nur durch diplomatische Ränke und fortwährende Erniedrigung vor der jeweils tonangebenden Großmacht besteht«, wird der Seele des Volkes nationalen Stolz nicht geben können, der nationalen Kultur aber, in der das Volk seinen Stolz hätte finden können, hat es in seinem Staate keine Stätte gewährt und hört nicht auf ihre Stimme. Und so wird es dann noch weit mehr als heute »ein kleines und niedriges Volk« sein, ein geistiger Knecht dessen, der im politischen Leben die Oberhand hat, neidisch blickend auf die »starke Faust seiner mächtigen Nachbarn«. Sein Bestand als politisches Staatswesen wird dem Buche seiner Geschichte kein Ruhmesblatt einfügen.7 174 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Achad Haam hält es auch für eine Illusion, der jüdische Staat hätte eine dritte Wahl - im Sinne einer »Schweiz des Nahen Ostens«, wie es Lilienblum meinte. Gelassen deutet Haam an, daß eine solche Alternative leider außer Frage stünde. Und hier ist wieder sein kühler Realismus anzumerken, der im Gegensatz zur selbstberauschenden Ausdrucksweise steht, die viele Schriften anderer Zionisten in jenen und späteren Zeiten zierte: Anders als die Essener liefen die Pharisäer nicht vor dem Leben davon und wollten den Staat keineswegs vernichten. Ganz im Gegenteil, denn sie standen im dichtesten Getümmel des Lebenskampfs auf ihrem Posten und versuchten dabei mit aller Kraft, den Staat vor dem moralischen Zerfall zu bewahren und gemäß dem Geist des Judentums zu formen. Sie wußten sehr wohl, daß der Geist ohne das Fleisch bloß ein wesenloser Schatten ist, und daß der Geist des Judentums sich ohne einen politischen Körper, in dem er seinen konkreten Ausdruck findet, nicht entwickeln und seine Vollendung nicht erreichen kann. Aus diesem Grund kämpften die Pharisäer stets eine doppelte Schlacht: Auf der einen Seite bekämpften sie den innewohnenden politischen Materialismus, für den der Staat bloß ein Körper ohne den lebenswichtigen Geist darstellte; auf der anderen Seite kämpften sie zusammen mit diesen Gegnern gegen den äußeren Feind, um den Staat vor der Vernichtung zu bewahren.9 Aber wer Palästina [mit] solchen kleinen Ländern vergleicht wie der Schweiz, vergißt seine geographische Lage und seinen religiösen Wert für alle Völker. Diese beiden Umstände werden den mächtigen Nachbarn ...unter keiner Bedingung gestatten, ihre Ansprüche auf Palästina vollständig aufzugeben, und auch wenn es ein Judenstaat geworden sein wird, werden die Blicke aller Völker darauf gerichtet sein, und jede Macht wird notwendigerweise auf die Politik des Staates geistigen Einfluß nehmen wollen, wie dies gegenüber anderen machtlosen Staaten (wie der Türkei und anderen) der Fall ist, in denen die großen Völker Europas Interessen zu wahren haben.8 Geographisch hat das Land Israel immer im Zentrum der Weltpolitik gestanden, warnt Haam, und das wird auch immer so bleiben. Der zionistischen Bewegung stünde es gut an, sich darüber keine Illusionen zu machen sowie über die Möglichkeit, das Ziel ohne die Konfrontation mit starken und mächtigen Interessen in dieser Region erreichen zu können. Politische Unabhängigkeit wird »das jüdische Problem« nicht von der weltpolitischen Tagesordnung verbannen. Aufgrund seiner Geschichte und seiner Geographie können das jüdische Volk das Land Israel nicht in der glückseligen Rumpelkammer der kleinen und unwichtigen Nationen verschwinden. Deshalb dringt Haam darauf, sich diesen Problemen von Anfang an zu stellen. Ein rein politischer Judenstaat (oder um die Ausdrucksweise vor dem Ersten Weltkrieg zu benutzen: ein jüdisches Serbien oder jüdisches Montenegro) wäre nicht fähig, diese Fragen ausreichend zu beantworten. Achad Haams Ansicht über die Notwendigkeit eines spirituellen Inhalts jüdischer Existenz entstammte nicht bloß einem taktischen oder bloß einem Bedürfnis nach innerer Stabilität; sie bezieht sich vielmehr auf ein fundamentales Verständnis der jüdischen Geschichte, das stark von Krochmal und Graetz beeinflußt war. In Haams Aufsatz »Fleisch und Geist« wird diese Sichtweise innerhalb einer historischen Perspektive dargestellt, die im Judentum zwei Grundzüge erkennt: einen materiellen und einen spirituellen. Zur Zeit des Ersten Tempels waren diese zwei Grundzüge - die zugleich auch realpolitisch und ideal genannt werden können - noch miteinander verflochten. Erst während der Periode des Zweiten Tempels entfernten sie sich voneinander. Achad Haam benennt die historischen Konflikte zwischen Sadduzäern und Pharisäern als Dreh- und Angelpunkte dieser zwei Aspekte im jüdischen Leben: Die Sadduzäer sahen die bloße Existenz des jüdischen Staates als Kern nationalen Lebens; die Pharisäer hingegen erkannten den spirituellen Gehalt als Hauptstütze jüdischer Existenz und waren deshalb auch zu weitreichenden Kompromissen mit den Römern bereit, solange diese nicht die nationale Existenz gefährdeten, sondern den spirituellen Wert des Judentums förderten. Für Achad Haam verkörperten die Pharisäer die wahre Synthese von Spirituellem und Materiellem. Daher betrachteten sie ihre dialektische Verteidigung der politischen Macht als notwendiges Instrumentarium, aber nicht als Selbstzweck: 175 Die Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer stellte die pharisäische Betrachtungsweise auf ihre härteste Belastungsprobe, denn sie bewies die Fähigkeit des Judentums, ohne den materiellen Unterbau eines Staatskörpers weiterzuexistieren. Hier schlug die großartigste historische Stunde der Pharisäer: Denn hätte erst einmal die sadduzäisch-zelotische Seite mit ihrer Auffassung, daß der Staat ein Selbstzweck sei, die Oberhand gewonnen, so wäre das jüdische Volk letzten Endes verschwunden, sobald seine Unabhängigkeit zerstört, sein Heimatland besetzt, sein Tempel niedergebrannt und fast die gesamte jüdische Bevölkerung durch die Römer ins Exil getrieben worden war. Das jüdische Schicksal wäre in so einem Fall analog dem Schicksal aller anderen von Rom besiegten Nationen gewesen. Aber die jüdische Geschichte nahm einen anderen Weg: Die politischen Materialisten, für die die Existenz des Staates alles bedeutete, hatten in der Zeit nach der politischen Katastrophe [die Zerstörung des Tempels durch die Römer] nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Und deshalb kämpften sie verzweifelt und bewegten sich nicht vom Fleck, bis sie inmitten der so geliebten Trümmer tot umfielen. Aber die Pharisäer erinnerten sich sogar in diesem furchtbaren Moment, daß der politische Körper nur wegen des nationalen Geistes, der darin seinen Ausdruck gefunden hatte und nun Hilfe brauchte, ihre Zuneigung erforderte. Von da ab hegten sie niemals mehr die sonderbare Idee, daß die Zerstörung des Staates den Tod des Volkes mit einschließe und daß das Leben nicht länger lebenswert sei. Im Gegenteil: Nun erkannten sie die absolute Notwendigkeit, einige vorläufige Hilfsmittel auszumachen, um die Nation und deren Geist sogar ohne einen Staat zu erhalten, bis zu jenem Zeitpunkt, an dem Gott Mitleid mit Seinem Volk haben würde und es in sein Land und seinen Frieden zurückbrächte. So waren die Bande zerbrochen. Die politischen Zeloten verblieben mit dem Schwert in der Hand auf den Mauern Jerusalems, während die Pharisäer die Schriftrollen des Gesetzes nahmen und nach Jabne gingen.10 Jabne, das neue Zentrum jüdischen Lernens, wurde folglich zu einem neuartigen, quasipolitischen Mittelpunkt jüdischer Existenz, trotz des Mangels an politischer Unabhängigkeit: Und die Arbeit der Pharisäer trug Früchte. Es gelang ihnen die Bildung eines freischwebenden Nationalkörpers, ohne jegliche Fundamentierung im festen Boden. In diesem Körper hatte der hebräische Nationalgeist seinen Wohnsitz und überdauerte für zweitausend Jahre. Der Aufbau des Ghettos, dessen Grundlagen durch die nach der Zerstörung des Tempels folgenden Generationen gelegt wurden, ist eine erstaunliche und äußerst einzigartige Angelegenheit. Ihm lag die Idee zugrunde, daß das Ziel des Lebens die Vervollkommnung des Geistes ist, allerdings braucht dieser Geist einen ihm als Instrument dienenden Körper. Die Pharisäer dachten zu ihrer Zeit, daß - solange bis die Nation in einem einzigen, vollständigen und freien politischen Körper einen erneuten geistigen Wohnsitz gefunden haben wird - diese Lücke durch die Konzentration des Geistes auf viele kleine und zerstreute soziale Körperschaften künstlich gestopft werden müsse. Diese Körperschaften sind allesamt nach seinem Ebenbild geformt, existieren nach einer gemeinsamen Lebensweise und sind alle trotz ihrer jeweiligen örtlichen Abgeschiedenheit durch die gemeinsame Kenntnis ihrer ursprünglichen Einheit sowie ihres Strebens nach einem einzigen Ziele und einer zukünftigen vollständigen Nation vereint.11 Nach Achad Haams Worten muß diese Synthese des Materiellen mit dem Spirituellen auch dann die Zukunft bestimmen, wenn einjüdischer Staat entstanden ist, da ja das Ghetto verschwunden und somit die materielle Grundlage für jüdisches Leben in der 176 Grundkurs Judentum Zionismus Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 Diaspora zerstört wäre. Eine politische Heimstatt auf einer wie Haam sagen würde »materialistischen« oder »sadduzäischen« Grundlage zu errichten (also ohne spirituellen Inhalt), würde jeder jüdischen sowie universalgeschichtlichen Entwicklung zuwider laufen. Denn für Achad Haam, darin Hegel folgend, ist ein Staat kein Selbstzweck, sondern bloß das erforderliche Fundament für die spirituelle Äußerung des Nationalgeistes -dem Volksgeist. Achad Haams kritische Bewertung der Probleme des Zionismus in Palästina wird nirgends so augenfällig wie in seinem Aufsatz »Wahrheit aus dem Land Israel«, den er nach seinem ersten Besuch der neuen jüdischen Siedlungen geschrieben hat. Haams Reise geschah im Auftrag der Chowewe Zion, und seine Notizen sind zutiefst erfüllt von den unmittelbaren Eindrücken dieser ersten Versuche, jüdische Dörfer im Land aufzubauen. Ungleich anderer Besucher idealisierte Haam allerdings nicht die dortige sehr komplexe Situation. So beklagte er etwa die weitverbreitete Landspekulation, die sich bereits zu diesem frühen Stadium zeigte, und forderte die Chowewe Zion auf, diese Erscheinung sofort zu stoppen, bevor sie eine unheilbare Wunde am sozialen und wirtschaftlichen Gebilde der neuen Gesellschaft hinterließe. Sein Realismus war zum einen tief verwurzelt im Verständnis jenes historischen Zusammenhangs, in dem die jüdische Nationalbewegung ihre politischen und intellektuellen Ziele suchte, andererseits aber auch in der quälenden Erkenntnis jener Zwickmühlen, in denen der Zionismus wegen der Existenz einer arabischen Bevölkerung in der jüdischen Heimat steckte. Was Achad Haams Aufsatz auszeichnet, ist das Bewußtsein der Notwendigkeit, sich mit dem arabischen Problem in Palästina auseinanderzusetzen. Dabei äußert er einige sehr unerfreuliche Worte über die Einstellungen einiger der ersten Siedler gegenüber der arabischen Bevölkerung. Es ist häufig behauptet worden, daß der Zionismus die Existenz der Araber in dem, was er als jüdische Heimat bezeichnete, übersehen habe. Historisch betrachtet ist dies ein völlig falscher Vorwurf. Für Moses Hess etwa verlief das Auftauchen eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina Hand in Hand mit der Renaissance des arabischen Nationalismus und der Wiedererrichtung von unabhängigen Staaten in Syrien und Ägypten. Herzl machte seinerseits den humanitären, wenngleich auch etwas naiven Vorschlag, die arabische Bevölkerung an den universalen humanistischen Werten seines Altneulands teilhaben zu lassen. Achad Haam ging sogar noch weiter. Sein Aufsatz war vor Herzls Roman verfaßt, und er ist sich darin bewußt, daß nicht bloß eine beträchtliche arabische Bevölkerung im Lande Israel existiert, sondern betont auch sehr nachdrücklich das Potential für das Entstehen einer arabisch-palästinensischen Nationalbewegung. Geschrieben 1891, zu einer Zeit, als sich noch kaum irgendwelche Bekenntnisse eines arabischen Nationalismus in Palästina zu Worte meldeten, zeugt Achad Haams Wahrnehmung des sich dem zukünftigen Zionismus entgegenstellenden Konflikts von einer für zionistische Gelehrte außergewöhnlichen Sensibilität gegenüber jener Tragik, die ein möglicher Zusammenprall dieser zwei nationalen Bewegungen mit sich brächte. Am Anfang von »Wahrheit aus dem Land Israel« warnt Haam, daß man nicht der Illusion anheimfallen soll, Palästina wäre ein leeres Land: Wir neigen gern zu glauben, daß Palästina in diesen Tagen beinahe vollständig unbewohnt und eine unkultivierte Wildnis ist, in die jeder gehen und soviel Land erwerben kann, wie er möchte. Aber dies ist in Wirklichkeit nicht der Fall. Es ist schwer, irgendwo in diesem Land arabischen Grundbesitz zu finden, der brachliegt; die einzigen nichtkultivierten Gegenden sind Sanddünen und Steinfelsen, die lediglich mit Bäumen bepflanzt werden können. Und dies sogar nur, wenn viel Mühe und Kapital in Räumung und Aufbereitung gesteckt werden.12 177 Eine weitere Illusion sei laut Haam die Annahme, daß die türkische Regierung sich weder darum kümmere noch darüber Bescheid wisse, was eigentlich in Palästina auf der Tagesordnung steht. Ebenso, was die vorherrschende Mentalität des »Mit-ein-bißchenGeld-können-wir-tun-was-immer-wir-wollen« betrifft, besonders durch die Protektion der europäischen Konsuln. Achad Haam gibt zu, daß »Bakschisch eine große Macht in der Türkei« ist, aber er weist auch daraufhin, daß »wir wissen sollten, daß die staatlichen Würdenträger zugleich allesamt große Patrioten sind, die an ihre Religion und ihre Regierung glauben. In diesen Zusammenhängen werden sie ihre Pflichten ehrenvoll erfüllen - kein Bestechungsgeld würde sie beeinflussen.«13 Zudem behauptet er, daß allzu viel Vertrauen auf die europäischen Konsuln ins Auge gehen könnte. Wie auch in anderen Aufsätzen fordert Achad Haam eine realistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung. Eine auf Überheblichkeit beruhende Einstellung ihnen und ihrer Kultur gegenüber würde die Beziehungen zwischen beiden Völkern nur verschlimmern. Einzig in der ehrlichen Bestandsaufnahme der realen Situation werde es dem Zionismus möglich sein, jene Werkzeuge zu entwickeln, die gebraucht würden, um erfolgreich an die ihm gestellten Fragen heranzugehen: Wir neigen gern zu dem Glauben, daß alle Araber Wüstenbarbaren sind ein Volk von Eseln, das nicht erkennt oder versteht, was um es herum vorgeht. Dies ist ein grundlegender Fehler. Der Araber besitzt wie alle Semiten einen scharfen Verstand und ist voller List. ...Die Araber, und hier vor allem die Bewohner der Städte, verstehen sehr wohl, was wir wollen und was wir in diesem Land vorhaben; aber sie verhalten sich so, als ob sie es nicht bemerken, da sie im Augenblick keine Gefahr für sich oder die Zukunft in dem erblicken, was wir tun. Deshalb versuchen sie den besten Nutzen aus diesen neuen [ins Land kommenden] Gästen zu ziehen. ... Aber wenn der Tag kommt, an dem der Lebensstandard unseres Volkes im Lande Israel eine derartig hohe Stufe erreicht, der die örtliche Bevölkerung mehr oder minder verdrängt, dann wird diese nicht so einfach ihren Wohnsitz aufgeben.14 Ebenfalls warnte Haam vor einem gewalttätigen oder demütigenden Verhalten gegenüber der arabischen Bevölkerung. In seinem Aufsatz verwies er auf jene jüdischen Siedler, die sich in typische Streitereien mit arabischen Dorfbewohnern um Ackergrenzen oder Wasserrechte verwickelten und, um den Streit zu beenden, nicht selten gewaltsame Mittel anwendeten. Einige der jüdischen Siedler behaupteten sogar, »daß die einzige Sprache, welche die Araber verstehen, die der Stärke ist.« Achad Haam schrieb diese Zeilen vor fast 90 Jahren, und seine Vorausschau des tragischen Aspekts im aufkommenden Zionismus ist äußerst beeindruckend: Eine Sache sollten wir aus unserer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte gelernt haben: nämlich keinen gegen uns selbst gerichteten Zorn unter der ansässigen Bevölkerung zu entfachen. ...Wir müssen die dortige Bevölkerung auf angemessene und gerechte Weise mit Liebe und Respekt behandeln. Aber was tun unsere Brüder im Lande Israel? Genau das Gegenteil! Sklaven, die sie in ihrem Exilland waren, befinden sie sich plötzlich inmitten einer grenzenlosen und anarchischen Freiheit, so wie es immer bei Sklaven ist, die Könige wurden. Gegenüber den Arabern treten sie mit Feindseligkeit und Grausamkeit auf, verletzen deren Grenzen, schlagen auf beschämende Weise grundlos auf sie ein und brüsten sich sogar noch damit. Unsere Brüder liegen richtig, wenn sie sagen, daß der Araber nur jene als ehrenhaft bezeichnet, die Tapferkeit und Mut beweisen; 178 Grundkurs Judentum Zionismus Aus: Shlomo Avineri, Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998 aber dies ist bloß der Fall, wenn er fühlt, daß die anderen die Rechtmäßigkeit auf ihrer Seite haben. Es sieht indes ganz anders aus, wenn er [der Araber] vermutet, daß die Handlungen seines Gegners frevelhaft und rechtswidrig sind. In solch einem Fall könnte er seinen Unmut auf lange Sicht hin für sich behalten. Dieser Unmut aber wird sich fest in seinem Herzen einnisten; und auf die Dauer wird er sich als rachsüchtig und voller Vergeltung erweisen.13 Achad Haam unterstrich stets die geistigen, moralischen und kulturellen Elemente des jüdischen Nationalismus, aber er war auch in der Lage gewesen, zu einem sehr frühen Zeitpunkt einige der eher bestürzenden praktischen Probleme zu erkennen, welche die Entwicklung der zionistischen Bewegung in den kommenden Jahren bedrücken sollten. Er war ein politischer Philosoph und stellte als solcher die praktischen Probleme vor einen moralischen und theoretischen Hintergrund. Letztlich war es dieser Weitblick, der Achad Haams Beschreibung der Schwierigkeiten, denen sich das heutige Israel gegenübersieht, so zutreffend machte. Anmerkungen: 1. Achad Haam, Nationalism and the Jewish Ethic,Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Hans Kohn (New York, 1962) S.34-43. 2. Achad Haam, Judenstaat und Judennot, in: Ders., Am Scheidewege. Zweiter Band. Aus dem Hebräischen von Harry Torczyner (Berlin 1916) S. 7-28, hier S. 13. 3. Ebenda, S. 15f. 4. Ebenda, S. 17. 5. Ebenda, S. 18f. 6. Ebenda, S. 19. 7. Ebenda, S. 20f. Achad Haam merkt in einer Fußnote an, daß die zitierten Äußerungen von seinen Mitschriften einiger Reden stammen, welche anläßlich des ersten Zionistenkongresses in Basel gehalten wurden. 8. Ebenda, S. 21. 9. »Flesh and Spirit«, in. Nationalisn1 [s.Anm. 1], S. 202f. 10. Ebenda, S. 203. Der Verweis geht auf Rabban Yochanan Ben Zakkai zurück, der Jerusalem verließ, als es durch die Römer unter Vespasian und Titus belagert wurde. Von ihnen erhielt er die Erlaubnis, ein Zentrum für jüdische Gelehrsamkeit in der Stadt Jabne zu unterhalten, das damit zum Brennpunkt für die jüdische Kultur nach der Zerstörung des Tempels wurde. Der Name wurde gleichbedeutend mit dem spirituellen Inhalt des Judentums, indes weniger mit dem politischen. 11. Ebenda, S. 203-204. Siehe auch Hans Kohns »Introduction«, in: Nationalism [s.Anm. 1], S. 7-33, sowie Leon Simons »Introduction« von Achad Haams Selected Essays, rev.ed. (Philadelphia und Cleveland 1962), S. 11-40. 12. »Emet me-Eretz Israel«, in: Kol Kitvei Achad Haam [Achad Haam: Complete Works], hrsg. von H.Y. Roth (Tel Aviv, 1946) S.23. 13. Ebenda, S. 24. 14. Ebenda. 15. Ebenda, S. 29. 179