10 Prävention und Prophylaxe in der Tradition von Annemarie

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10.1 Einleitung
10
Prävention und Prophylaxe in der
Tradition von Annemarie Dührssen
Richard Kettler
10.1
Einleitung
Mit ihrem Eintritt in das Zentralinstitut für Psychogene Erkrankungen 1949 baute
Annemarie Dührssen zunächst die Abteilung für Prophylaxe auf. Prävention und
Prophylaxe von Erkrankungen waren im seinerzeit kriegszerstörten Berlin vordringliche Probleme. Dührssen war bereits in ihrer vorangegangenen ärztlichen
Tätigkeit mit dieser Thematik konfrontiert worden. 1945 und 1946 musste sie als
Fachärztin für Innere Medizin die Leitung eines dem Krankenhaus Friedrichshain angegliederten 250-Betten-Seuchenkrankenhauses übernehmen und dafür
die begonnene psychiatrische Facharztweiterbildung zunächst unterbrechen. Bei
der psychiatrischen Facharztweiterbildung hatte sie unter anderem auch eine kinderpsychiatrische Station geleitet mit damals zeittypisch auffälligen Jugendlichen.
Die Versorgung der vielen elternlosen Kinder und Jugendlichen stellte eine große
Herausforderung dar. Insbesondere ging es auch um die Frage, welche sozialen
Maßnahmen eine günstige präventive Auswirkung haben würden. Annemarie
Dührssens Expertise führte dann in den fünfziger Jahren zu einer von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeregten Untersuchung über Heimkinder und
Pflegekinder in ihrer Entwicklung, deren Ergebnisse sie 1958 publizierte.
Die soziale Dimension der Untersuchung und der ihr zugrunde liegenden Problematik wurde Annemarie Dührssen rasch deutlich. Daraus folgte eine enge Zusammenarbeit mit der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und der Senatsverwaltung für Jugend und Sport sowie – von ihr besonders hervorgehoben – mit
den Kollegen vom schulärztlichen Dienst.
Die Offenheit Annemarie Dührssens für soziale Fragen, die über den engeren
psychotherapeutischen Fokus hinausgehen, zeigt sich hier deutlich.
Krankheitsdisposition und Prävention sind wichtige Themen in vielen ihrer späteren Publikationen (etwa 1972, 1981, 1988), auch wenn diese dann eher implizit
als expressis verbis angesprochen werden.
Die soziale Orientierung der Psychotherapie, die über eine rein kurative Perspektive hinausgeht, blieb auch bei den Schülern Annemarie Dührssens erhalten. In
dieser Tradition wurde von Richard Kettler 2010 das Annemarie-Dührssen-Institut
für Psychosomatische Prävention und Psychotherapie an der ARGORA Klinik Berlin
gegründet. Eine Hauptaufgabe des Instituts liegt in der Begleitung und Auswertung
eines Programms zur Prophylaxe von Burnout-Reaktionen bei Lehrerinnen und
Lehrern. Gegenüber der Nachkriegssituation, vor der Annemarie Dührssen seinerzeit stand, sind die aktuellen Probleme völlig andere. Gleichgeblieben ist die BeRudolf: Psychotherapie in sozialer Verantwortung. ISBN: 978-3-7945-3215-5. © Schattauer GmbH
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rücksichtigung von präventiven Maßnahmen bei bestehenden Krankheitsrisiken.
Gleichgeblieben ist auch eine Haltung von Psychotherapie aus sozialer Verantwortung, die über einen rein kurativen Blickwinkel hinausreicht.
Nachfolgend sollen die Arbeit des Annemarie-Dührssen-Instituts für Psychosomatische Prävention und Psychotherapie ausführlicher beschrieben und erste
Ergebnisse des seit 2006 durchgeführten Präventionsprogramms mitgeteilt werden.
10.2
Ein psychosomatisches Präventionskonzept gegen
Burnout bei Lehrerinnen und Lehrern
Die klinische Beobachtung einer sehr hohen psychosomatischen Erkrankungsrate
bei Lehrkräften veranlasste im Jahre 2006 die ärztliche und kaufmännische Leitung
der privaten Tagesklinik – ARGORA Klinik Berlin, seinerzeit Potsdam – zu der Einrichtung eines psychosomatisch-präventiven Curriculums für Lehrkräfte, die sich
gesundheitlich belastet fühlten, ohne dies direkt mit einem Behandlungsanliegen zu
verbinden. Das Programm sollte zur Unterstützung der politischen Bemühungen
zur Gesunderhaltung von Lehrkräften in Berlin dienen. Die Gesundheit der Lehrer
sollte ferner der Entwicklung ihrer Schüler, unseren Kindern, zugutekommen.
Die Klinik nahm sich für dieses Vorhaben Annemarie Dührssen zum Vorbild,
die vor mehr als einem halben Jahrhundert individuelle ärztliche und psychotherapeutische Erfahrungen wissenschaftlich evaluiert und die Ergebnisse in einem
zweiten Schritt erfolgreich in den Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge
transferiert hatte.
Zum Zweck der Supervision und Evaluation des Projekts gründete die ARGORA
Klinik Berlin im Jahre 2010 das Annemarie-Dührssen-Institut für psychosomatische
Prävention und Psychotherapie (Kettler 2011). In der Zeit von 2006 bis 2010 hatten
dort 280 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den oben genannten Kurs durchlaufen.
Das Curriculum sollte weder psychotherapeutische Behandlung noch Schulpolitik noch Wissenschaft sein – und berührte doch unvermeidlich all diese Aspekte.
Mit dieser eher restriktiven Selbstdefinition und einer bewussten Akzeptanz der
Einbettung in ein soziales Konfliktfeld sollte die Authentizität des Programms für
interessierte Lehrkräfte erkennbar gemacht und den Mitarbeitern die notwendige
Freiheit in der konkreten Ausgestaltung des Curriculums verschafft werden.
Das Projekt wurde aus Eigenmitteln der Klinik finanziert, da es auch als Instrument der Akquise eines privaten Wirtschaftsunternehmens gesehen wurde. Den
psychosomatisch behandlungsbedürftigen Lehrkräften wurde eine tagesklinische
Alternative zu einer andernfalls erforderlichen stationären Behandlung angeboten.
Die Kosten des Transfers klinischer Erfahrung in den öffentlichen Raum wurden
durch den wirtschaftlichen Mehrwert finanziert, der durch individuelle Gesundheit
entsteht und dann als sozialer Mehrwert in Erscheinung tritt.
In einem eher bescheidenen finanziellen Beitrag der Teilnehmer sollte deren
Anteil von Eigenverantwortung für ihre Gesundheit zum Ausdruck kommen. Die
Berliner Schulverwaltung hat das Projekt logistisch unterstützt und damit ihre poRudolf: Psychotherapie in sozialer Verantwortung. ISBN: 978-3-7945-3215-5. © Schattauer GmbH
10.3 Die Struktur des Curriculums
litische Mitverantwortung dokumentiert. Die Mitarbeit der pädagogischen CoLeiter wurde als Abordnungsstunden anerkannt.
10.3
Die Struktur des Curriculums
Zwei komplementäre Faktoren waren in eine fruchtbare dynamische Beziehung
zu bringen – ähnlich wie sonst in Gruppentherapien. Einerseits die hilfsbereite
Solidarisierung der Trainer mit den Nöten der Teilnehmer ohne Identifizierung
mit deren Sicht der Konflikte; andererseits das Aufnehmen begründeter Klagen
über eine außergewöhnliche Stressbelastung, ohne diese zur Freisprechung von
Eigenverantwortung zu missbrauchen.
Aus Psychotherapien von Lehrern war bekannt, dass sich rasch eine kollektive
Klage gegen einen externen Verantwortlichen (etwa »die Schulpolitik«) bildet,
sobald bzw. solange die Gruppenteilnehmer in der Gruppenleitung einen vermeintlich mit ihnen solidarischen Adressaten für ihre Klagen vermuten. Wenn
eine solche Gruppendynamik nicht verhindert oder aufgelöst wird, ist eine kritische
Selbstreflexion nicht mehr möglich.
Andererseits sind die Arbeitsumstände von Lehrern oft schwierig, dies umso
mehr als sie häufig den Spott anderer gesellschaftlicher Gruppierungen zu ertragen
haben. Es wäre völlig unglaubwürdig und daher kontraproduktiv gewesen, wenn
man die Schwere der Situation durch unsensible Konfrontation mit angeblicher
Eigenverantwortung oder gar Schuldzuweisung hätte leugnen wollen.
Es sollte bei den Interessenten auch nicht der Eindruck entstehen, als stünde das
Projekt im Dienst eben jener Schulverwaltung, die für die Missstände verantwortlich gemacht wurde und die nun vermeintlich ihr »Versagen« mit einem Präventionsprogramm notdürftig zu kaschieren versuchte. Die logistische Unterstützung
der Schulverwaltung war vielmehr Ausdruck einer selbstkritischen Haltung, die
sich der »Schulmisere« bewusst war, welche tatsächlich politisch zu managen war.
Das Ansprechen einer möglichen Verflechtung von öffentlichen Missständen mit
individuellen Verhaltensmustern, deren psychologische Infragestellung und Reflexion ist ein sensibles Unterfangen. »Political correctness« ist ein schmaler Grad
und eine scharfe Klinge.
Die Ausgestaltung und die Durchführung des Curriculums konnten daher nur
in die Hände von Mitarbeitern gelegt werden, die durch langjährige klinische Tätigkeit in der psychosomatischen Tagesklinik über entsprechende therapeutische
Erfahrung im Umgang mit Lehrkräften verfügten13.
13 Verantwortliche Durchführung des Programms: Dipl.-Psych. Ulrike Wittschen.
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10.4
Prophylaxe statt Behandlung
In einer tagesklinischen, psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung
werden Krankheit und Gesundheitszustand des Patienten umfassend betrachtet,
worunter auch die biographischen Erfahrungen, die Persönlichkeitsstruktur, die
soziale Realität und die Bewältigungsmöglichkeiten sowie deren Grenzen fallen.
Dieses wirksame Behandlungsmodell lag auch dem präventiven Curriculum zugrunde, allerdings mit einem spezifischen Akzent auf der Berufsrealität der Teilnehmenden. Aus einem multi-modalen Behandlungsmodell wurde durch Akzentuierung und Modifizierung ein auf Gesundheit bezogenes Präventionsprogramm.
In einer professionell angeleiteten Gruppe von Vertretern der gleichen Berufsgruppe (Lehrkräfte) als Solidargemeinschaft mit vergleichbarer Stressbelastung
wird in wohlwollend-kritischer Solidarität die belastende Dysfunktionalität der
beruflichen Wirklichkeit benannt und jenseits individuell unterschiedlicher politischer Einstellungen unter dem über-individuellen Gesichtspunkt psychischer
und körperlicher, gesundheitlicher Belastungsfaktoren analysiert.
Die emotionale Verständnisfigur einer gemeinsamen, hohen beruflichen Stressbelastung ohne ausreichende öffentliche Wertschätzung ermöglicht und begünstigt
den Austausch individueller Erfahrungen sowohl hinsichtlich der bereits eingetretenen Gesundheitsrisiken als auch der bisherigen – mehr oder weniger erfolgreichen – Bewältigungsversuche.
Der Erfolg des Curriculums hängt wesentlich davon ab, inwieweit eine zu starke
Psychologisierung und Externalisierung vermieden werden können. Daher muss
der Blick auf der sozialen Realität und den spezifischen gesetzlichen Rahmenbedingungen der Teilnehmer fokussiert bleiben (Beamte oder Angestellte im öffentlichen
Dienst). Ein Mitglied der gleichen Berufsgruppe repräsentiert als Co-Gruppenleiter
diesen Aspekt des Programms und steht für schulspezifische, fachlich-administrative oder individuelle Auskünfte zur Verfügung.
Individuelle psychische und körperliche Reaktionen müssen ggf. fachgerecht
psychotherapeutisch bzw. ärztlich aufgefangen werden können.
Je nach Verlauf der Gruppendynamik können Gruppen als Selbsterfahrung oder,
neu zusammengestellt, als berufsbezogenes Coaching oder Supervision fortgeführt
werden.
In zunächst zwölf, später zehn 2,5-stündigen Gruppensitzungen mit maximal 8
Teilnehmern wurden im Abstand von zwei Wochen folgende Inhalte abgehandelt:
• freier Austausch über die kollektive Problemlage an »der« Schule
• Solidarisierung als Berufsgruppe mit einem spezifischen Belastungsprofil
• Positionsbestimmung des Lehrers im gesellschaftlichen Wertekanon
• Betrachtung persönlicher Schwierigkeiten
• Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses
• Förderung der Selbstwahrnehmung
• ärztliche Informationen über Stress und seine möglichen psychosomatischen
Folgen
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