http://www.faz.net/-i30-7w2pl FAZJOB.NET LEBENSWEGE SCHULE FAZ.NET F.A.Z.-E-PAPER Abo Newsletter Mehr HERAUSGEGEBEN VON WERNER D'INKA, BERTHOLD KOHLER, GÜNTHER F.A.S.-E-PAPER Miträtseln und Gewinnen: Der FAZ.NETAdventskalender 2014 Anmelden NONNENMACHER, HOLGER STELTZNER Frankfurt 4° Feuilleton Freitag, 05. Dezember 2014 VIDEO THEMEN BLOGS ARCHIV POLITIK WIRTSCHAFT FINANZEN FEUILLETON SPORT GESELLSCHAFT STIL TECHNIK & MOTOR WISSEN Home Feuilleton Dritte Kultur Projekt „WissensARTen“: Klangwelten - Leben in Geräuschkulissen SACHBÜCHER DES JAHRES REISE BERUF & CHANCE RHEIN-MAIN Projekt „WissensARTen“ Leben in Geräuschkulissen Kreativität und Neugier verbinden Künstler und Wissenschaftler seit jeher. Dennoch werden sie als getrennte Welten wahrgenommen. Das Projekt „WissensARTEN“ bringt sie zusammen – im ersten Teil zum Thema: Was ist Klang? 08.11.2014, von SIBYLLE ANDERL Artikel.Text © ANDREAS BRAND Kunst und Wissenschaft: Klangwelten M it Wissenschaft wird Berechenbarkeit und Objektivität assoziiert, mit Kunst Spontaneität und Subjektivität. Ganz unbestreitbar teilen Kunst und Wissenschaft aber Kreativität und Neugier. Wir haben uns dem Thema Klang aus beiden 05.12.14 14:11 Perspektiven genähert. I. Die Künstlerin „Das Ereignis selbst ist paarweise angelegt und in verschiedenen Mustern geschrieben. Man schreibt alle Möglichkeiten auf, bis sie alle nebeneinander stehen. Das Ganze ist außerdem als Loop beschrieben. Dadurch ergibt sich so etwas wie eine Interferenz: auf einer ganz minimalen Ebene entsteht da ein Rhythmus.“ Jorinde Voigt sitzt an der Küchenzeile ihres großzügigen AtelierBungalows in einem Hinterhof in Berlin Alt-Treptow und erläutert auf einem Blatt Papier den Algorithmus, der ihren Arbeiten zum “akustischen Impuls” zugrunde liegt. Wenn man Voigts Werke auf den ersten Blick sieht, die grazilen Bögen und Linien, die sich in kraftvoller Dynamik über ihre großformatigen Leinwände ziehen, vermutet man vielleicht nicht unbedingt, auf welch komplexem, konzeptuellem Fundament die Bilder ruhen. Wenn man dann aber die sorgfältigen Beschriftungen entziffert, „Distanz“, „Rotationsgeschwindigkeit“, „Zeitraum“, „Windrichtung“, und sich einlässt auf die bedächtigen Erklärungen, die von Voigt Schritt für Schritt entwickelt werden, merkt man, dass es in den Bildern um sehr viel mehr geht, als um oberflächliche Ästhetik. © PEIN, ANDREAS „Ludwig van Beethoven, Sonate 32“: Für jede Sonate ergibt sich graphisch eine andere dynamische Struktur, in der das breite emotionale Spektrum der Sonate und dessen Notation erfassbar werden. 05.12.14 14:11 Tatsächlich erscheinen Voigts Werke als Resultate und Endpunkte eines Erkenntnisprozesses, an dessen Anfang sehr universelle Fragen stehen: „Was ist das eigentlich alles in der Welt, was mich umgibt? Die Frage ist ja heute noch die gleiche: Warum ist das so? Aber nicht so sehr im wissenschaftlichen Sinne von ‘Was ist das Ergebnis?’, sondern bei mir ist vielmehr der Erkenntnisprozess die Zeit des Tuns“, beschreibt Voigt die Motivation ihrer Arbeit. Die Themen, mit denen sie sich beschäftigt, findet sie dabei typischerweise in ihrem persönlichen Lebenskontext: angeregt durch Bücher, die sie liest, beispielsweise Autoren wie Roland Barthes oder Niklas Luhmann, motiviert durch Erfahrungen, die sie macht, zum Beispiel die unserer permanenten Einbettung in Raum und Relationen. Oft ergeben sich auch neue Themen aus alten Arbeiten, wenn sich interessante Nebenaspekte eines bereits behandelten Themas dafür anbieten, Anlass für eine eigene, tiefergehende Untersuchung zu geben. „Der Prozess soll durchsichtig sein“ Für jedes Thema setzt Voigt sich daraufhin einen neuen, besonderen Algorithmus und legt eine Struktur fest, nach der das Werk entsteht, innerhalb dessen aber dennoch Raum ist für kreative, spontane Entscheidungen: „Zum Beispiel wenn es darum geht, dass zwei Punkte einen Bezug haben, man aber nicht auf eine Konvention zurückgreifen möchte, was zum Beispiel der Fall wäre wenn man einfach eine gerade Linie zieht. Stattdessen sagt man, dass jede mögliche Art der Verbindung richtig ist, und das ist dann Teil des Algorithmus: die Linie zu ziehen auf irgend eine spontane Art.“ Die entsprechenden Informationen werden vollständig offen gelegt und sollen sicherstellen, dass der Betrachter den Schaffensprozess und die Eigenlogik der Werke nachvollziehen kann: „Es ist mir sehr wichtig, dass der Prozess durchsichtig bleibt. Zum Beispiel indem alles beschriftet ist, um was es da geht, und dass ganz klar ist, dass es ein Denkmodell und nicht eine reine künstlerische Zeichnung ist. Mit Zeichnungen habe ich eigentlich gar nichts zu tun, es ist letztendlich nichts anderes als eine exaltierte Art von Schreiben.“ 05.12.14 14:11 Die Berliner Künstlerin Voigt in ihrem Atelier. © PEIN, ANDREAS Dem Prozesscharakter von Voigts Arbeiten kommt besondere Relevanz zu. Die zeitbasierte, nicht revidierbare Entwicklung und Schaffung eines Werkes ist zentraler Bestandteil des ablaufenden Verständnisprozesses, innerhalb dessen immer wieder rückversichert wird, was „funktioniert“ und was nicht, das heißt was im Sinne der Ursprungsidee ist und was im Gegenteil vom Gedanken weg führt. Gleichzeitig eröffnet die visuelle Darstellung verglichen mit dem eindimensional in der Zeit ablaufenden, theoretischen Verstehen wie es beispielsweise beim Lesen eines Artikels vorliegt, eine zusätzliche Möglichkeit, mit der Komplexität des zu verstehenden Phänomens umzugehen: „Das, was ich mache ist ja letztendlich, viele Dinge nebeneinander aufzuschreiben, die ich nicht gleichzeitig in der Lage bin zu denken. Aber ich bin in der Lage, eins nach dem anderen zu denken. Auf dem Papier mache ich die Dinge in der Gleichzeitigkeit sichtbar und kann sie plötzlich sehen. Über das Auge lässt sich vielleicht etwas daran ableiten, was Aufschluss gibt über spezifische Charakteristika dessen.“ 05.12.14 14:11 Arbeitstisch der Künstlerin. © PEIN, ANDREAS Die Wahrnehmung und Erzeugung von Klängen und Geräuschen, Rhythmen und Melodien, findet sich umgesetzt in graphische Partituren in vielen von Voigts Werken. Auch dieser Themenkomplex ist in ihrer eigenen Biographie verwurzelt: Jorinde Voigt genoss während ihrer Jugend eine intensive klassische Musikausbildung an Klavier und Cello. Die Strenge und die damit verbundenen Zwänge dieser Ausbildung verhinderten zwar letztendlich, dass Voigt die Musik zu ihrem Hauptlebensinhalt machte. Gleichzeitig eröffnete sich so für sie aber die Innenperspektive auf die internen Funktionsweisen von Musik, auf die Zeitlichkeit, Dynamik, Theorie und Emotionalität des Transformationsprozesses geschriebener Partituren in immer wiederholbare und doch jeweils einmalige Aufführungen: „Dadurch, dass ich sehr viel Musik gemacht habe, ist dieser Transkriptionsprozess für mich etwas Normales. Wie man Musik empfindet wenn man sie spielt. Das, was sich da transportiert in der Partitur, diese Zusammenhänge, diese Motive, überhaupt dieses nie auf die gleiche Art wiederholbare Erleben. Dass es dafür eine Schreibweise gibt, die dazu immer neu Anlass geben kann in spezifischer Art und Weise, das ist eine Erfahrung, die sehr hilfreich war.“ Die aus der Musik bekannte Variation von Motiven, das orchestrale Zusammenspiel verschiedener musikalischer Einzelaspekte, die Erzeugung und das Halten von Spannungen 05.12.14 14:11 sind Aspekte, die Voigt in ihren Werken schließlich aus der Musik in die bildende Kunst transferierte. „Beethoven Sonate 1-32“ graphisch interpretiert Gleichzeitig thematisierte sie diesen musikalischen Transformationsprozess von der Partitur zum musikalischen Erlebnis aber auch explizit in einer ihrer Arbeiten, der Serie „Beethoven Sonate 1-32“. Diese Arbeit ist einer der seltenen Fälle, in denen das Thema von außen an Voigt herangetragen wurde. Ein Freund hatte Jorinde Voigt gebeten, für das Luminato Festival in Toronto eine Arbeit zu Beethoven anzufertigen. „Ich habe bestimmt sechs, sieben Monate gebraucht, um zu überlegen, was an den Beethovensonaten ein Thema sein könnte, das auch mein Thema ist. Irgendwann kristallisierte sich als Startpunkt heraus, dass ja grade die Musik von Beethoven ganz besonders ist im Sinne seines unglaublich breiten, emotionalen Spektrums.“ Um zu verstehen und darzustellen, wie dieses emotionale Spektrum anhand der musikalischen Notation vermittelt wird, analysierte Voigt daraufhin die Partituren aller Sonaten, extrahierte Satzbezeichnungen, Tempoangaben, Taktarten und Vortragsbezeichnungen. Diese Listen musikalischer Bezeichnungen wurden dann in intuitiv gesetzten Linien zu Achsen des zeitbasierten musikalischen Erlebens in Beziehung gesetzt. Auf diese Art ergibt sich für jede Sonate graphisch eine andere dynamische Struktur, in der die jeweilige emotionale Strecke der Sonate sichtbar gemacht werden soll. Das in der Zeit ablaufende, musikalische Werk wird dabei in eine visuelle Gleichzeitigkeit transferiert. Dennoch bleibt darüber hinaus etwas Unergründliches, das nicht theoretisch sondern nur im Hören der Musik erfahren werden kann: „Es ist ja unfassbar, was das heisst, dass diese Partitur so eine Erfahrung in die heutige Zeit transportieren kann. Es ist eine Art von Erkenntnis, vielleicht sogar eine psychische, die man sonst vielleicht über Religiösität vermittelt bekommen würde. Beethoven vermittelt einem so etwas ohne ein Wort, nur über Musik. Wirklich unglaublich.“ 05.12.14 14:11 © PEIN, ANDREAS Ein Atelier voller Bücher: Oben eigene Veröffentlichungen, unten einflussreiche Literatur. Eine der frühesten Werkserien, die sich, jenseits der Musik, konkret mit akustischen Umgebungen auseinander setzt, entstand 2003 auf einer Reise Jorinde Voigts in Indonesien: „Ich saß an einer Strassenecke und habe die Frequenz von Ereignissen notiert. Es ging erstmal darum, gar nichts zu wollen sondern nur eine Bestandsaufnahme zu machen: Was gibt es hier, aus was besteht die Situation? Anhand dessen habe ich entdeckt, dass es sehr interessant ist, in welcher Frequenz die Dinge auftauchen und dass dies eine Beschreibung der Sache bewirkt, die auch helfen kann, die Situation zu verstehen.“ In ihren Graphiken tauchen entsprechend Schwärme von Mopeds, Autos, oder surrende Stromgeneratoren in beschrifteten Soundkurven auf, zusammen mit der Beschreibung anderer Ereignisse, die eine Wirkung auf die Gesamtsituation haben, wie z.B. ein am Vortag ausgerufener Bombenalarm. Die realen Soundsituationen werden somit in wissenschaftlich anmutenden Partituren eingefangen, die anders herum wieder Anlass zu deren späterer Rekonstruktion geben können. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Komponisten wurden diese Werke Voigts tatsächlich nachträglich auch vertont und zu einer CD verarbeitet: „Mich hat daran interessiert, was das für Lesarten erzeugt, und es hat mich gefreut dass es so viele unterschiedliche waren.“ Voigts Freude an unterschiedlichen Lesarten demonstriert, dass es ihr in ihren Werken keineswegs 05.12.14 14:11 darum geht, eine möglichst objektive Dokumentation des Gegebenen zu erreichen, der formierende Einfluss der künstlerischen Perspektive ist immer mitgedacht: „Wenn ich etwas zu verstehen versuche, konstruiert sich natürlich auch etwas. Einerseits hat das schon einen analytischen Ansatz, anderseits ist es auch im gleichen Moment eine Konstruktion.“ Akademisches Schreiben reicht ihr nicht Diese bewusste Einbeziehung aller in der Arbeit wirkenden Parameter, wie etwa der Intuition und des momentanen Zustands des Künstlers, vor deren Hintergrund der Anspruch von Objektivität fragwürdig erscheint, ist nach Voigt etwas, das die Kunst von der Wissenschaft unterscheiden mag. Dass sie selbst in der Kunst und nicht etwa der Wissenschaft ihren Fragen nach dem Wesen der Dinge nachgeht, hat aber noch andere Gründe: „Ich bin in der Kunst gelandet, weil es das einzige Feld ist, in dem eine Struktur besteht, in der ich das machen kann was ich mache. In dem ich auch die Interessenten, das Publikum finde, das offen ist für diese Fragestellungen.“ Dabei hatte sie zunächst durchaus versucht, Antworten im Rahmen einer akademischen Laufbahn zu finden: „Ich habe auch angefangen, Philosophie, Soziologie und Literatur zu studieren. Erst in Göttingen, dann in Berlin. Ich habe es dann aber abgebrochen, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht weiterkomme, wenn ich nur schreibe und lese. Denn ich hatte das Gefühl, wenn es um die Arbeit mit der Welt geht, müssen mir auch alle Mittel zur Verfügung stehen. Dann kann es nicht nur das Schreiben sein. Und insbesondere nicht das Schreiben, so wie es im universitären Kontext erwartet wurde.“ Es ist interessant zu sehen, dass Elemente wie philosophische Schriften und naturwissenschaftliche Konzepte, die man aus einem universitären Kontext kennt, nach wie vor Voigts Werke durchziehen und als Referenzen in einem neuen Kontext wirksam werden. Und manchmal scheinen sich daraus direkte Berührungsflächen zu den Wissenschaften zu eröffnen, beispielsweise in der graphischen Umsetzung musikalischer Erlebnisse oder indonesischer Soundscapes. 05.12.14 14:11 Das Treffen: die Künstlerin Jorinde Voigt (links) und Prof. Brigitte Schulte-Fortkamp. © ANDREAS PEIN II. Die Lärmforscherin Das Bild mit dem Titel „New York 5th Avenue“, das in Frau Schulte-Fortkamps Büro an der Wand hängt, könnte ohne weiteres als ein Werk abstrakter Gegenwartskunst durchgehen. Erst auf den zweiten Blick fällt dem aufmerksamen Betrachter auf, dass die farbigen Flecken und Muster nicht der kreativen Intention eines Künstlers entsprungen sind, sondern aus einer Aneinanderreihung akustischer Spektren resultieren, die damit die sich zeitlich verändernde Geräuschkulisse der 5th Avenue abbilden. „Dieses Bild beinhaltet alle Informationen, die wir brauchen, um etwas über die 5th Avenue aus unserer Sicht zu sagen. Was wir hier sehen, beziehungsweise was man eigentlich auch schon hört wenn man es als Psychoakustiker betrachtet, ist New York. Man hört die Glocken läuten, man hört die Busse fauchen, stampfen und den Verkehr rauschen. Eigentlich kann jeder einzelne Punkt psychoakustisch analysiert werden“, erläutert Schulte-Fortkamp. 05.12.14 14:11 Der Soundscape der New York 5th Avenue: die Spektralanalyse hängt im Büro. © PEIN, ANDREAS Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik und Lärmwirkung an der TU Berlin am Institut für Strömungsmechanik und Technische Akustik. Das Bild “5th Avenue” ist ein Beispiel für eines der Werkzeuge, mit denen sie praktisch arbeitet, wenn es darum geht, Geräuschsituationen abzubilden und auszuwerten. Was in Schulte-Fortkamps Erläuterungen des Bildes relativ einfach klingt, nämlich die Rückführung von Höreindrücken auf physikalisch messbare Schallspektren, ist in Wirklichkeit ein hoch komplexer Prozess, dessen Verständnis die Kernaufgabe der Psychoakustik darstellt. Tatsächlich erfordert das, was akustisch messbar ist, und das, was in der Wahrnehmung empfunden wird, zwei voneinander zunächst völlig unterschiedliche Beschreibungsweisen. Physikalischen Größen, wie dem Schalldruck, der Frequenz oder der Bandbreite, stehen dabei eine Reihe von psychoakustischen Parametern gegenüber, mit deren Hilfe die verschiedenen Dimensionen eines Hörereignisses charakterisiert werden können. Dazu zählen die Lautheit, das heißt die empfundene Lautstärke, die Schärfe, die verbunden ist mit der Reinheit der Klangfarbe, die Tonheit, d.h. die Höhe des Tons, und die Rauhigkeit, die zum Beispiel bei brummenden Motorengeräuschen zum Tragen kommt. Wann stören Geräusche? 05.12.14 14:11 Wie diese Parameter mit den physikalisch messbaren Größen zusammenhängen, muss empirisch auf der Grundlage psychoakustischer Tests in der Befragung von Testpersonen ermittelt werden. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Feld der Psychoakustik auf verschiedene Methoden aus ganz verschiedenen Fächern angewiesen ist, um sowohl die physikalische Beschreibung als auch die individuelle Wirkungsweise unseres Gehörs gleichermaßen zu berücksichtigen. Schulte-Fortkamp, selbst studierte Soziologin, betont: „Das Gebiet stellt sich immer interdisziplinär dar: im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie auf der einen Seite für die Erklärungszusammenhänge. Auf der anderen Seite ist es die Physik, auch die Psychophysik, die eine Rolle spielt. Von der Psychologie her kommen die Verfahren und Bewertungsprozesse für das, wie wir die Perzeption messen wollen.“ Der ruhigste Ort Berlins – der reflexionsarme Raum der TU Berlin © PEIN, ANDREAS Frau Schulte-Fortkamps Hauptinteresse geht allerdings über die reine Erforschung psychoakustischer Zusammenhänge hinaus. Sie versucht nicht nur, die subjektive Wirkung bestimmter Geräuschumgebungen zu verstehen, sondern interessiert sich insbesondere dafür, wann Geräusche als Störung empfunden werden und wie die negative Wirkung von Lärm reduziert werden kann. Hier kommt der Begriff der Soundscape zum Tragen, der in 05.12.14 14:11 den späten 70er Jahren vom kanadischen Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer geprägt wurde. Die Soundscape eines Ortes bezeichnet die charakteristische Gesamtheit seiner akustischen Erscheinungen, so wie sie von einzelnen Personen oder auch Gesellschaftsgruppen wahrgenommen wird. Was zum Beispiel an der 5th Avenue in New York der rauschende Verkehr und die hupenden Autos sind, würde entsprechend für den Berliner Grunewald das Bellen von Hunden, Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume sein. Nachdem das ursprüngliche Interesse an Soundscapes aus der Klangforschung kam, wird der Begriff erst seit 1997, auf Initiative von Frau Schulte-Fortkamp, in der Community Noise Forschung thematisiert. Der Einfluss der Soundscape, also der akustischen Umgebung, auf das menschliche Wohlbefinden, auf die Akzeptanz von Orten und deren Aufenthaltsqualität hat dem Begriff seitdem zu so großer Aufmerksamkeit verholfen, dass aktuell eine Internationale Norm verabschiedet wird, an deren Erarbeitung Schulte-Fortkamp zusammen mit weiteren Vertretern aus 47 Nationen maßgeblich beteiligt ist. Ein öffentliches Wohnzimmer In der Praxis geht es aber nicht nur um die Beschreibung und Ermittlung von Soundscapes, sondern auch darum, auf der Grundlage einer solchen Beschreibung konkrete Maßnahmen einzuleiten, um die akustische Situation an bestimmten Orten zu verbessern. Dabei ist es insbesondere wichtig, eng mit den Betroffenen zu kooperieren und deren Erfahrungen als Grundlage für eine akustische Analyse zu nehmen. Wie so etwas aussehen kann, erläutert Schulte-Fortkamp an ihrem Projekt des Nauener Platzes in Berlin, dessen akustische Umgestaltung 2012 mit dem European Soundscape Award ausgezeichnet wurde. 05.12.14 14:11 Schallmessgeräte älteren Datums. Schaukasten der TU Berlin. © PEIN, ANDREAS Der Nauener Platz im Berliner Wedding liegt zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen und war vor seiner Umgestaltung als Drogenumschlagplatz bekannt. Ein existierender Spielplatz konnte vor diesem Hintergrund nicht mehr genutzt werden und auch ältere Anwohner mieden den Platz aus Angst vor Übergriffen. Die Änderungen, die die akustische Situation des Platzes verbessern sollten, mussten auf diese Situation angepasst erfolgen, also sicherstellen, dass der Platz einsehbar ist. „Die Idee war, eine Art öffentliches Wohnzimmer zu gestalten. Es handelt sich um einen Bereich in Berlin, der sozial und multikulturell besonders geprägt ist. Zudem grenzt eine Seniorenwohnanlage an den Platz.Es war eine interessante Konstellation, auch in Bezug auf die Frage der Zusammenführung und Akzeptanz, es war schon eine Herausforderung. Es hat drei Jahre gedauert und das Ergebnis war sehr zufriedenstellend.“ Naturgeräusche werden gewünscht Die Lärmbelastung konnte schließlich durch einen Gabionenberg, also eine Schallschutzwand, an einer Seite des Platzes reduziert werden. Außerdem wurden Hörbänke aufgestellt, die einen Schallschutz in Bezug auf den Straßenlärm bieten und an denen man auf Knopfdruck Geräusche hören kann. Diese Geräusche 05.12.14 14:11 wurden im Rahmen einer Magisterarbeit durch umfangreiche Tests und Befragungen der Anwohner vor Ort ausgesucht. Trotz der großen kulturellen und sozialen Unterschiede war das Ergebnis dieser Befragung erstaunlich einheitlich: „Es haben sich alle Naturgeräusche gewünscht. Wir hatten andere Befürchtungen vorher, dass jeder zu jeder Zeit seinen eigenen Sound hören will. Ich weiss nicht warum, aber alle haben sich auf Naturgeräusche, Vogelstimmen und Bachplätschern geeinigt”, beschreibt SchulteFortkamp. Außerdem wurde das existierende Ballspielfeld mit einem weichen Boden ausgestattet, um auch von dort die akustische Belastung zu reduzieren. Natürlich sind einer solchen Umgestaltung aber auch praktische Grenzen gesetzt: „Leider konnten wir kein Gitter installieren, das auch entsprechend sanft klingt. Das Ballspielfeld wird immer noch gerne genutzt, um richtig Zoff zu machen in der Mittagszeit. Es wäre auch ungewöhnlich, wenn nicht. Wenn jetzt alle da auf Zehenspitzen gehen würden, weil die Seniorenanlage Mittagsruhe hat - das klappt nicht.“ Literatur für Psychoskustik auf dem Schreibtisch der Forscherin. © PEIN, ANDREAS Das Projekt ‘Nauener Platz’ stellt damit eine prototypische Anwendung der Lärm- und Soundscapeforschung dar. „Das Typische daran ist, über die Wahrnehmung der Betroffenen die kritischen akustischen Bereiche aufzuzeigen und dann gemeinsam 05.12.14 14:11 Veränderungen zu beschließen. Das ist aber immer unter dem Gesichtspunkt der psychoakustischen Bewertung zu reflektieren.“ Durchgeführt wurden am Nauener Platz auch psychoakustische und normale Mappings, das heißt es wurden Lärmkarten erstellt, auf denen man sehen kann, was sich durch die Umstrukturierungen nicht verändert hat. „Der Schalldruck geht zurück, aber das Muster des Geräusches bleibt gleich und insofern muss man überlegen, ob die Störung wirklich noch da ist, wie man sie überspielen kann und so weiter. Das klappt sehr gut“, erklärt Schulte-Fortkamp. Der Anwendungsbereich der psychoakustischen Methode reicht offenbar weit über öffentliche Plätze hinaus und kann in Schulen, Krankenhäuser und Einflugschneisen zum Einsatz kommen. „Musik und Kunst sind andere Dimensionen“ Von der EU wird der Kampf gegen Lärm mittlerweile durch eine Umgebungslärmrichtlinie unterstützt und in vielen Städten gibt es Lärmaktionspläne, um die negativen Auswirkungen von Lärmbelastung auf die Gesundheit einzudämmen. Daneben kommt sogenanntes Sounddesign industriell an vielen Stellen zum Einsatz, wenn es darum geht, Produktgeräusche auf die Hörgewohnheiten der Kunden anzupassen, beispielsweise bei Innengeräusche von Automodellen. Interessant ist dabei, dass immer die individuelle Wahrnehmung im Mittelpunkt steht und stehen muss, was die Forschungsergebnisse abhängig von ihrem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext macht. Was in Deutschland als Lärm empfunden wird, mag beispielsweise in Spanien noch vollkommen im Akzeptanzbereich liegen. Die Kontextabhängigkeit der Ergebnisse und der enge Bezug auf menschliche Erfahrung sind zwei Eigenschaften der Psychoakustik und Soundscapeforschung, die einen Kontrast zu anderen naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern aufmachen und stattdessen eine vermeintliche Ähnlichkeit zu künstlerischer Arbeit herstellen könnten. Frau Schulte-Fortkamp sieht den Versuch eines solchen Brückenbaus trotzdem kritisch: „Ich finde es nicht einfach, die Verbindung zur Kunst herzustellen. Natürlich können sich Kunst und Psychoakustik auf der Wahrnehmungsschiene treffen: Wenn ich über Geräusche rede, dann rede ich über Wahrnehmung. Ich rede über Akzeptanz oder Störung. Und ich 05.12.14 14:11 rede letztlich über die Berechnung der Störung. Die Kunst macht das glaube ich anders.“ Ähnlich sieht Frau Schulte-Fortkamp auch die Beziehung zur Musik: „Ich mache selten Arbeiten, die auch die Musikwahrnehmung betreffen, denn das ist eine andere Dimension. Es gibt zwei Arbeiten, die ich mit Frau Professor de la Motte-Haber durchgeführt habe, aber das sind einfach Begegnungen, keine systematischen Zusammenhänge.“ Die Psychoakustik liefert für die Musik zwar die Grundlage der Wahrnehmung und ist daher auch für viele Studierende aus der Musik interessant. “Aber letztlich können wir die Musik nie genau treffen. Es gibt nicht die gesteuerte Verbindung zur Kunst. Überhaupt nicht,” gibt Schulte-Fortkamp zu bedenken. Schematische Darstellung des Hallraums im Institut. © PEIN, ANDREAS Könnte die Berechenbarkeit wissenschaftlicher Phänomene demnach als ein Abgrenzungskriterium gesehen werden? Wird wissenschaftlich berechnet, was in der Kunst in kreativen Ausdrucksformen und damit auf einer völlig anderen Ebene umgesetzt wird? In der Psychoakustik wird deutlich, dass diese Berechenbarkeit manchmal selbst in den Wissenschaften an ihre Grenzen stößt und mehr Ideal als funktionierendes Werkzeug ist: „Wir können ja alles berechnen. Wir können auch Prognosen machen. Aber die Prognosen haben nie gestimmt. Nicht weil wir falsch gerechnet hätten, sondern weil diese Intervention durch die 05.12.14 14:11 subjektive Wahrnehmung so nicht erfassbar ist.“ In der Psychoakustik versucht man daher herauszufinden, was die Bewertungszusammenhänge in Bezug auf Geräuschsituationen sind. Diese Bewertungszusammenhänge werden wiederum anhand etablierter Methoden aus der Psychologie und Soziologie systematisch erforscht und statistisch validiert. Obwohl die subjektiven Reaktionen auf Lärmquellen nicht streng berechenbar sind, tut sich damit zumindest methodisch keine Grauzone zu den Künsten auf. Eine solche Grauzone mag es höchstens in Bezug auf die graphischen Erzeugnisse beider Gebiete geben: „Ich könnte sagen: wegen der graphischen Umsetzung von Klang sind unsere Motive ähnlich. Allerdings ist diese graphische Umsetzung bei uns systematisch erzeugt durch eine Software.“ Dennoch räumt Frau Schulte-Fortkamp ein, dass diese graphische Umsetzung durchaus auch als Komposition gesehen werden kann: „Es ist im Grunde eine akustische Komposition. Zum Beispiel wenn ich das Bild ‘5th Avenue’ nenne. Das ist auch gut angekommen bei Ausstellungen oder bei Tagungen.“ Vom 8.11. - 20.12. sind Werke von Jorinde Voigt in der Galerie Johann König in Berlin zu sehen. Ein Projekt der Dritten Kultur Kunst und Wissenschaft liefern zwei verschiedene Sichtweisen auf die Welt - unterschiedliche Zugänge, die viele Fragen aufwerfen. Stehen Kunst und Wissenschaft im Widerspruch zueinander, oder ergänzen sich beide Bereiche, wenn sie versuchen, bestimmte Aspekte der Welt zu verstehen? Wie arbeiten Künstler und Wissenschaftler? Welche Fragen stellen sie sich? Und schließlich: Was können wir aus beiden Perspektiven über die Phänomene unserer Welt lernen? Die Artikel in dieser Serie versuchen diesen Fragen nachzugehen. Sie sind Teil eins des multimedialen Projektes „WissensARTen“. Die Idee dahinter: Unsere Autorin sucht jeweils einen Künstler und einen Wissenschaftler, die zum gleichen Thema arbeiten. In Interviews und Fotoserien werden beide Perspektiven, Herangehensweisen und Arbeitsumfelder ausführlich vorgestellt. Schließlich wird ein Treffen beider Protagonisten im Video dokumentiert. Das gesamte Material finden Sie auf der Projektwebsite: www.wissensarten.net Die Autorin, Sibylle Anderl, wollte bis zum Abitur wie ihr Vater Kunst studieren, wählte dann aber doch den unaufwändigeren Weg des Studiums der Philosophie und Physik. Nach der Promotion im Fach Astrophysik forscht sie heute zu den Themen Sternentstehung und interstellares Medium in Grenoble. Mit dem Projekt “WissensARTen” versucht sie, einigen der Fragen auf die Spur zu kommen, die sie fast ihr ganzes Leben begleitet haben. Das Projekt „WissensARTen“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Quelle: F.A.Z. Zur Homepage 05.12.14 14:11 Themen zu diesem Beitrag: Kreativität | Roland Barthes | Berlin | New York | Niklas Luhmann | Alle Themen Hier können Sie die Rechte an diesem Artikel erwerben Weitere Empfehlungen José Ortega y Gasset Lob des Überflüssigen Der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset sagt: Der Mensch arbeitet in Wirklichkeit nicht des Geldes wegen. Aus unserer Serie Die Weltverbesserer. Mehr Von CHRISTIAN SIEDENBIEDEL 30.11.2014, 09:13 Uhr | Wirtschaft Anzeige Finden Sie Ihren perfekten Bartstyle! So ziehen Sie mit Ihrem Bartstyle alle Blicke auf sich! 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