Projekt „WissensARTen“: Klangwelten - Leben in

Werbung
http://www.faz.net/-i30-7w2pl
FAZJOB.NET
LEBENSWEGE
SCHULE
FAZ.NET
F.A.Z.-E-PAPER
Abo
Newsletter
Mehr
HERAUSGEGEBEN VON WERNER D'INKA,
BERTHOLD KOHLER, GÜNTHER
F.A.S.-E-PAPER
Miträtseln und
Gewinnen: Der
FAZ.NETAdventskalender
2014
Anmelden
NONNENMACHER, HOLGER STELTZNER
Frankfurt 4°
Feuilleton
Freitag, 05.
Dezember 2014
VIDEO
THEMEN
BLOGS
ARCHIV
POLITIK WIRTSCHAFT FINANZEN FEUILLETON SPORT GESELLSCHAFT STIL TECHNIK & MOTOR WISSEN
Home
Feuilleton
Dritte Kultur
Projekt „WissensARTen“: Klangwelten - Leben in Geräuschkulissen
SACHBÜCHER DES JAHRES
REISE BERUF & CHANCE RHEIN-MAIN
Projekt „WissensARTen“
Leben in Geräuschkulissen
Kreativität und Neugier verbinden Künstler und Wissenschaftler seit jeher.
Dennoch werden sie als getrennte Welten wahrgenommen. Das Projekt
„WissensARTEN“ bringt sie zusammen – im ersten Teil zum Thema: Was ist
Klang?
08.11.2014, von SIBYLLE ANDERL
Artikel.Text
© ANDREAS BRAND
Kunst und Wissenschaft: Klangwelten
M
it Wissenschaft wird Berechenbarkeit und Objektivität
assoziiert, mit Kunst Spontaneität und Subjektivität. Ganz
unbestreitbar teilen Kunst und Wissenschaft aber Kreativität und
Neugier. Wir haben uns dem Thema Klang aus beiden
05.12.14 14:11
Perspektiven genähert.
I. Die Künstlerin
„Das Ereignis selbst ist paarweise angelegt und in verschiedenen
Mustern geschrieben. Man schreibt alle Möglichkeiten auf, bis sie
alle nebeneinander stehen. Das Ganze ist außerdem als Loop
beschrieben. Dadurch ergibt sich so etwas wie eine Interferenz: auf
einer ganz minimalen Ebene entsteht da ein Rhythmus.“ Jorinde
Voigt sitzt an der Küchenzeile ihres großzügigen AtelierBungalows in einem Hinterhof in Berlin Alt-Treptow und erläutert
auf einem Blatt Papier den Algorithmus, der ihren Arbeiten zum
“akustischen Impuls” zugrunde liegt. Wenn man Voigts Werke auf
den ersten Blick sieht, die grazilen Bögen und Linien, die sich in
kraftvoller Dynamik über ihre großformatigen Leinwände ziehen,
vermutet man vielleicht nicht unbedingt, auf welch komplexem,
konzeptuellem Fundament die Bilder ruhen. Wenn man dann aber
die sorgfältigen Beschriftungen entziffert, „Distanz“,
„Rotationsgeschwindigkeit“, „Zeitraum“, „Windrichtung“, und sich
einlässt auf die bedächtigen Erklärungen, die von Voigt Schritt für
Schritt entwickelt werden, merkt man, dass es in den Bildern um
sehr viel mehr geht, als um oberflächliche Ästhetik.
© PEIN, ANDREAS
„Ludwig van Beethoven, Sonate 32“: Für jede Sonate ergibt sich graphisch eine andere dynamische
Struktur, in der das breite emotionale Spektrum der Sonate und dessen Notation erfassbar werden.
05.12.14 14:11
Tatsächlich erscheinen Voigts Werke als Resultate und Endpunkte
eines Erkenntnisprozesses, an dessen Anfang sehr universelle
Fragen stehen: „Was ist das eigentlich alles in der Welt, was mich
umgibt? Die Frage ist ja heute noch die gleiche: Warum ist das so?
Aber nicht so sehr im wissenschaftlichen Sinne von ‘Was ist das
Ergebnis?’, sondern bei mir ist vielmehr der Erkenntnisprozess die
Zeit des Tuns“, beschreibt Voigt die Motivation ihrer Arbeit. Die
Themen, mit denen sie sich beschäftigt, findet sie dabei
typischerweise in ihrem persönlichen Lebenskontext: angeregt
durch Bücher, die sie liest, beispielsweise Autoren wie Roland
Barthes oder Niklas Luhmann, motiviert durch Erfahrungen, die
sie macht, zum Beispiel die unserer permanenten Einbettung in
Raum und Relationen. Oft ergeben sich auch neue Themen aus
alten Arbeiten, wenn sich interessante Nebenaspekte eines bereits
behandelten Themas dafür anbieten, Anlass für eine eigene,
tiefergehende Untersuchung zu geben.
„Der Prozess soll durchsichtig sein“
Für jedes Thema setzt Voigt sich daraufhin einen neuen,
besonderen Algorithmus und legt eine Struktur fest, nach der das
Werk entsteht, innerhalb dessen aber dennoch Raum ist für
kreative, spontane Entscheidungen: „Zum Beispiel wenn es darum
geht, dass zwei Punkte einen Bezug haben, man aber nicht auf eine
Konvention zurückgreifen möchte, was zum Beispiel der Fall wäre
wenn man einfach eine gerade Linie zieht. Stattdessen sagt man,
dass jede mögliche Art der Verbindung richtig ist, und das ist dann
Teil des Algorithmus: die Linie zu ziehen auf irgend eine spontane
Art.“ Die entsprechenden Informationen werden vollständig offen
gelegt und sollen sicherstellen, dass der Betrachter den
Schaffensprozess und die Eigenlogik der Werke nachvollziehen
kann: „Es ist mir sehr wichtig, dass der Prozess durchsichtig bleibt.
Zum Beispiel indem alles beschriftet ist, um was es da geht, und
dass ganz klar ist, dass es ein Denkmodell und nicht eine reine
künstlerische Zeichnung ist. Mit Zeichnungen habe ich eigentlich
gar nichts zu tun, es ist letztendlich nichts anderes als eine
exaltierte Art von Schreiben.“
05.12.14 14:11
Die Berliner Künstlerin Voigt in ihrem Atelier.
© PEIN, ANDREAS
Dem Prozesscharakter von Voigts Arbeiten kommt besondere
Relevanz zu. Die zeitbasierte, nicht revidierbare Entwicklung und
Schaffung eines Werkes ist zentraler Bestandteil des ablaufenden
Verständnisprozesses, innerhalb dessen immer wieder
rückversichert wird, was „funktioniert“ und was nicht, das heißt
was im Sinne der Ursprungsidee ist und was im Gegenteil vom
Gedanken weg führt. Gleichzeitig eröffnet die visuelle Darstellung
verglichen mit dem eindimensional in der Zeit ablaufenden,
theoretischen Verstehen wie es beispielsweise beim Lesen eines
Artikels vorliegt, eine zusätzliche Möglichkeit, mit der Komplexität
des zu verstehenden Phänomens umzugehen: „Das, was ich mache
ist ja letztendlich, viele Dinge nebeneinander aufzuschreiben, die
ich nicht gleichzeitig in der Lage bin zu denken. Aber ich bin in der
Lage, eins nach dem anderen zu denken. Auf dem Papier mache
ich die Dinge in der Gleichzeitigkeit sichtbar und kann sie plötzlich
sehen. Über das Auge lässt sich vielleicht etwas daran ableiten, was
Aufschluss gibt über spezifische Charakteristika dessen.“
05.12.14 14:11
Arbeitstisch der Künstlerin.
© PEIN, ANDREAS
Die Wahrnehmung und Erzeugung von Klängen und Geräuschen,
Rhythmen und Melodien, findet sich umgesetzt in graphische
Partituren in vielen von Voigts Werken. Auch dieser
Themenkomplex ist in ihrer eigenen Biographie verwurzelt:
Jorinde Voigt genoss während ihrer Jugend eine intensive
klassische Musikausbildung an Klavier und Cello. Die Strenge und
die damit verbundenen Zwänge dieser Ausbildung verhinderten
zwar letztendlich, dass Voigt die Musik zu ihrem
Hauptlebensinhalt machte. Gleichzeitig eröffnete sich so für sie
aber die Innenperspektive auf die internen Funktionsweisen von
Musik, auf die Zeitlichkeit, Dynamik, Theorie und Emotionalität
des Transformationsprozesses geschriebener Partituren in immer
wiederholbare und doch jeweils einmalige Aufführungen:
„Dadurch, dass ich sehr viel Musik gemacht habe, ist dieser
Transkriptionsprozess für mich etwas Normales. Wie man Musik
empfindet wenn man sie spielt. Das, was sich da transportiert in
der Partitur, diese Zusammenhänge, diese Motive, überhaupt
dieses nie auf die gleiche Art wiederholbare Erleben. Dass es dafür
eine Schreibweise gibt, die dazu immer neu Anlass geben kann in
spezifischer Art und Weise, das ist eine Erfahrung, die sehr
hilfreich war.“ Die aus der Musik bekannte Variation von Motiven,
das orchestrale Zusammenspiel verschiedener musikalischer
Einzelaspekte, die Erzeugung und das Halten von Spannungen
05.12.14 14:11
sind Aspekte, die Voigt in ihren Werken schließlich aus der Musik
in die bildende Kunst transferierte.
„Beethoven Sonate 1-32“ graphisch interpretiert
Gleichzeitig thematisierte sie diesen musikalischen
Transformationsprozess von der Partitur zum musikalischen
Erlebnis aber auch explizit in einer ihrer Arbeiten, der Serie
„Beethoven Sonate 1-32“. Diese Arbeit ist einer der seltenen Fälle,
in denen das Thema von außen an Voigt herangetragen wurde. Ein
Freund hatte Jorinde Voigt gebeten, für das Luminato Festival in
Toronto eine Arbeit zu Beethoven anzufertigen. „Ich habe
bestimmt sechs, sieben Monate gebraucht, um zu überlegen, was
an den Beethovensonaten ein Thema sein könnte, das auch mein
Thema ist. Irgendwann kristallisierte sich als Startpunkt heraus,
dass ja grade die Musik von Beethoven ganz besonders ist im
Sinne seines unglaublich breiten, emotionalen Spektrums.“ Um zu
verstehen und darzustellen, wie dieses emotionale Spektrum
anhand der musikalischen Notation vermittelt wird, analysierte
Voigt daraufhin die Partituren aller Sonaten, extrahierte
Satzbezeichnungen, Tempoangaben, Taktarten und
Vortragsbezeichnungen. Diese Listen musikalischer
Bezeichnungen wurden dann in intuitiv gesetzten Linien zu
Achsen des zeitbasierten musikalischen Erlebens in Beziehung
gesetzt. Auf diese Art ergibt sich für jede Sonate graphisch eine
andere dynamische Struktur, in der die jeweilige emotionale
Strecke der Sonate sichtbar gemacht werden soll. Das in der Zeit
ablaufende, musikalische Werk wird dabei in eine visuelle
Gleichzeitigkeit transferiert. Dennoch bleibt darüber hinaus etwas
Unergründliches, das nicht theoretisch sondern nur im Hören der
Musik erfahren werden kann: „Es ist ja unfassbar, was das heisst,
dass diese Partitur so eine Erfahrung in die heutige Zeit
transportieren kann. Es ist eine Art von Erkenntnis, vielleicht
sogar eine psychische, die man sonst vielleicht über Religiösität
vermittelt bekommen würde. Beethoven vermittelt einem so etwas
ohne ein Wort, nur über Musik. Wirklich unglaublich.“
05.12.14 14:11
© PEIN, ANDREAS
Ein Atelier voller Bücher: Oben eigene Veröffentlichungen, unten einflussreiche Literatur.
Eine der frühesten Werkserien, die sich, jenseits der Musik,
konkret mit akustischen Umgebungen auseinander setzt, entstand
2003 auf einer Reise Jorinde Voigts in Indonesien: „Ich saß an
einer Strassenecke und habe die Frequenz von Ereignissen notiert.
Es ging erstmal darum, gar nichts zu wollen sondern nur eine
Bestandsaufnahme zu machen: Was gibt es hier, aus was besteht
die Situation? Anhand dessen habe ich entdeckt, dass es sehr
interessant ist, in welcher Frequenz die Dinge auftauchen und dass
dies eine Beschreibung der Sache bewirkt, die auch helfen kann,
die Situation zu verstehen.“ In ihren Graphiken tauchen
entsprechend Schwärme von Mopeds, Autos, oder surrende
Stromgeneratoren in beschrifteten Soundkurven auf, zusammen
mit der Beschreibung anderer Ereignisse, die eine Wirkung auf die
Gesamtsituation haben, wie z.B. ein am Vortag ausgerufener
Bombenalarm. Die realen Soundsituationen werden somit in
wissenschaftlich anmutenden Partituren eingefangen, die anders
herum wieder Anlass zu deren späterer Rekonstruktion geben
können. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Komponisten
wurden diese Werke Voigts tatsächlich nachträglich auch vertont
und zu einer CD verarbeitet: „Mich hat daran interessiert, was das
für Lesarten erzeugt, und es hat mich gefreut dass es so viele
unterschiedliche waren.“ Voigts Freude an unterschiedlichen
Lesarten demonstriert, dass es ihr in ihren Werken keineswegs
05.12.14 14:11
darum geht, eine möglichst objektive Dokumentation des
Gegebenen zu erreichen, der formierende Einfluss der
künstlerischen Perspektive ist immer mitgedacht: „Wenn ich etwas
zu verstehen versuche, konstruiert sich natürlich auch etwas.
Einerseits hat das schon einen analytischen Ansatz, anderseits ist
es auch im gleichen Moment eine Konstruktion.“
Akademisches Schreiben reicht ihr nicht
Diese bewusste Einbeziehung aller in der Arbeit wirkenden
Parameter, wie etwa der Intuition und des momentanen Zustands
des Künstlers, vor deren Hintergrund der Anspruch von
Objektivität fragwürdig erscheint, ist nach Voigt etwas, das die
Kunst von der Wissenschaft unterscheiden mag. Dass sie selbst in
der Kunst und nicht etwa der Wissenschaft ihren Fragen nach dem
Wesen der Dinge nachgeht, hat aber noch andere Gründe: „Ich bin
in der Kunst gelandet, weil es das einzige Feld ist, in dem eine
Struktur besteht, in der ich das machen kann was ich mache. In
dem ich auch die Interessenten, das Publikum finde, das offen ist
für diese Fragestellungen.“ Dabei hatte sie zunächst durchaus
versucht, Antworten im Rahmen einer akademischen Laufbahn zu
finden: „Ich habe auch angefangen, Philosophie, Soziologie und
Literatur zu studieren. Erst in Göttingen, dann in Berlin. Ich habe
es dann aber abgebrochen, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht
weiterkomme, wenn ich nur schreibe und lese. Denn ich hatte das
Gefühl, wenn es um die Arbeit mit der Welt geht, müssen mir auch
alle Mittel zur Verfügung stehen. Dann kann es nicht nur das
Schreiben sein. Und insbesondere nicht das Schreiben, so wie es
im universitären Kontext erwartet wurde.“ Es ist interessant zu
sehen, dass Elemente wie philosophische Schriften und
naturwissenschaftliche Konzepte, die man aus einem universitären
Kontext kennt, nach wie vor Voigts Werke durchziehen und als
Referenzen in einem neuen Kontext wirksam werden. Und
manchmal scheinen sich daraus direkte Berührungsflächen zu den
Wissenschaften zu eröffnen, beispielsweise in der graphischen
Umsetzung musikalischer Erlebnisse oder indonesischer
Soundscapes.
05.12.14 14:11
Das Treffen: die Künstlerin Jorinde Voigt (links) und Prof. Brigitte Schulte-Fortkamp.
© ANDREAS PEIN
II. Die Lärmforscherin
Das Bild mit dem Titel „New York 5th Avenue“, das in Frau
Schulte-Fortkamps Büro an der Wand hängt, könnte ohne weiteres
als ein Werk abstrakter Gegenwartskunst durchgehen. Erst auf den
zweiten Blick fällt dem aufmerksamen Betrachter auf, dass die
farbigen Flecken und Muster nicht der kreativen Intention eines
Künstlers entsprungen sind, sondern aus einer Aneinanderreihung
akustischer Spektren resultieren, die damit die sich zeitlich
verändernde Geräuschkulisse der 5th Avenue abbilden. „Dieses
Bild beinhaltet alle Informationen, die wir brauchen, um etwas
über die 5th Avenue aus unserer Sicht zu sagen. Was wir hier
sehen, beziehungsweise was man eigentlich auch schon hört wenn
man es als Psychoakustiker betrachtet, ist New York. Man hört die
Glocken läuten, man hört die Busse fauchen, stampfen und den
Verkehr rauschen. Eigentlich kann jeder einzelne Punkt
psychoakustisch analysiert werden“, erläutert Schulte-Fortkamp.
05.12.14 14:11
Der Soundscape der New York 5th Avenue: die Spektralanalyse hängt im Büro.
© PEIN, ANDREAS
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik und
Lärmwirkung an der TU Berlin am Institut für
Strömungsmechanik und Technische Akustik. Das Bild “5th
Avenue” ist ein Beispiel für eines der Werkzeuge, mit denen sie
praktisch arbeitet, wenn es darum geht, Geräuschsituationen
abzubilden und auszuwerten. Was in Schulte-Fortkamps
Erläuterungen des Bildes relativ einfach klingt, nämlich die
Rückführung von Höreindrücken auf physikalisch messbare
Schallspektren, ist in Wirklichkeit ein hoch komplexer Prozess,
dessen Verständnis die Kernaufgabe der Psychoakustik darstellt.
Tatsächlich erfordert das, was akustisch messbar ist, und das, was
in der Wahrnehmung empfunden wird, zwei voneinander zunächst
völlig unterschiedliche Beschreibungsweisen. Physikalischen
Größen, wie dem Schalldruck, der Frequenz oder der Bandbreite,
stehen dabei eine Reihe von psychoakustischen Parametern
gegenüber, mit deren Hilfe die verschiedenen Dimensionen eines
Hörereignisses charakterisiert werden können. Dazu zählen die
Lautheit, das heißt die empfundene Lautstärke, die Schärfe, die
verbunden ist mit der Reinheit der Klangfarbe, die Tonheit, d.h.
die Höhe des Tons, und die Rauhigkeit, die zum Beispiel bei
brummenden Motorengeräuschen zum Tragen kommt.
Wann stören Geräusche?
05.12.14 14:11
Wie diese Parameter mit den physikalisch messbaren Größen
zusammenhängen, muss empirisch auf der Grundlage
psychoakustischer Tests in der Befragung von Testpersonen
ermittelt werden. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Feld der
Psychoakustik auf verschiedene Methoden aus ganz verschiedenen
Fächern angewiesen ist, um sowohl die physikalische
Beschreibung als auch die individuelle Wirkungsweise unseres
Gehörs gleichermaßen zu berücksichtigen. Schulte-Fortkamp,
selbst studierte Soziologin, betont: „Das Gebiet stellt sich immer
interdisziplinär dar: im Spannungsfeld von Soziologie und
Psychologie auf der einen Seite für die
Erklärungszusammenhänge. Auf der anderen Seite ist es die
Physik, auch die Psychophysik, die eine Rolle spielt. Von der
Psychologie her kommen die Verfahren und Bewertungsprozesse
für das, wie wir die Perzeption messen wollen.“
Der ruhigste Ort Berlins – der reflexionsarme Raum der TU Berlin
© PEIN, ANDREAS
Frau Schulte-Fortkamps Hauptinteresse geht allerdings über die
reine Erforschung psychoakustischer Zusammenhänge hinaus. Sie
versucht nicht nur, die subjektive Wirkung bestimmter
Geräuschumgebungen zu verstehen, sondern interessiert sich
insbesondere dafür, wann Geräusche als Störung empfunden
werden und wie die negative Wirkung von Lärm reduziert werden
kann. Hier kommt der Begriff der Soundscape zum Tragen, der in
05.12.14 14:11
den späten 70er Jahren vom kanadischen Komponisten und
Klangforscher R. Murray Schafer geprägt wurde. Die Soundscape
eines Ortes bezeichnet die charakteristische Gesamtheit seiner
akustischen Erscheinungen, so wie sie von einzelnen Personen
oder auch Gesellschaftsgruppen wahrgenommen wird. Was zum
Beispiel an der 5th Avenue in New York der rauschende Verkehr
und die hupenden Autos sind, würde entsprechend für den
Berliner Grunewald das Bellen von Hunden, Vogelgezwitscher und
das Rauschen der Bäume sein. Nachdem das ursprüngliche
Interesse an Soundscapes aus der Klangforschung kam, wird der
Begriff erst seit 1997, auf Initiative von Frau Schulte-Fortkamp, in
der Community Noise Forschung thematisiert. Der Einfluss der
Soundscape, also der akustischen Umgebung, auf das menschliche
Wohlbefinden, auf die Akzeptanz von Orten und deren
Aufenthaltsqualität hat dem Begriff seitdem zu so großer
Aufmerksamkeit verholfen, dass aktuell eine Internationale Norm
verabschiedet wird, an deren Erarbeitung Schulte-Fortkamp
zusammen mit weiteren Vertretern aus 47 Nationen maßgeblich
beteiligt ist.
Ein öffentliches Wohnzimmer
In der Praxis geht es aber nicht nur um die Beschreibung und
Ermittlung von Soundscapes, sondern auch darum, auf der
Grundlage einer solchen Beschreibung konkrete Maßnahmen
einzuleiten, um die akustische Situation an bestimmten Orten zu
verbessern. Dabei ist es insbesondere wichtig, eng mit den
Betroffenen zu kooperieren und deren Erfahrungen als Grundlage
für eine akustische Analyse zu nehmen. Wie so etwas aussehen
kann, erläutert Schulte-Fortkamp an ihrem Projekt des Nauener
Platzes in Berlin, dessen akustische Umgestaltung 2012 mit dem
European Soundscape Award ausgezeichnet wurde.
05.12.14 14:11
Schallmessgeräte älteren Datums. Schaukasten der TU Berlin.
© PEIN, ANDREAS
Der Nauener Platz im Berliner Wedding liegt zwischen zwei
Hauptverkehrsstraßen und war vor seiner Umgestaltung als
Drogenumschlagplatz bekannt. Ein existierender Spielplatz konnte
vor diesem Hintergrund nicht mehr genutzt werden und auch
ältere Anwohner mieden den Platz aus Angst vor Übergriffen. Die
Änderungen, die die akustische Situation des Platzes verbessern
sollten, mussten auf diese Situation angepasst erfolgen, also
sicherstellen, dass der Platz einsehbar ist. „Die Idee war, eine Art
öffentliches Wohnzimmer zu gestalten. Es handelt sich um einen
Bereich in Berlin, der sozial und multikulturell besonders geprägt
ist. Zudem grenzt eine Seniorenwohnanlage an den Platz.Es war
eine interessante Konstellation, auch in Bezug auf die Frage der
Zusammenführung und Akzeptanz, es war schon eine
Herausforderung. Es hat drei Jahre gedauert und das Ergebnis war
sehr zufriedenstellend.“
Naturgeräusche werden gewünscht
Die Lärmbelastung konnte schließlich durch einen Gabionenberg,
also eine Schallschutzwand, an einer Seite des Platzes reduziert
werden. Außerdem wurden Hörbänke aufgestellt, die einen
Schallschutz in Bezug auf den Straßenlärm bieten und an denen
man auf Knopfdruck Geräusche hören kann. Diese Geräusche
05.12.14 14:11
wurden im Rahmen einer Magisterarbeit durch umfangreiche
Tests und Befragungen der Anwohner vor Ort ausgesucht. Trotz
der großen kulturellen und sozialen Unterschiede war das
Ergebnis dieser Befragung erstaunlich einheitlich: „Es haben sich
alle Naturgeräusche gewünscht. Wir hatten andere Befürchtungen
vorher, dass jeder zu jeder Zeit seinen eigenen Sound hören will.
Ich weiss nicht warum, aber alle haben sich auf Naturgeräusche,
Vogelstimmen und Bachplätschern geeinigt”, beschreibt SchulteFortkamp. Außerdem wurde das existierende Ballspielfeld mit
einem weichen Boden ausgestattet, um auch von dort die
akustische Belastung zu reduzieren. Natürlich sind einer solchen
Umgestaltung aber auch praktische Grenzen gesetzt: „Leider
konnten wir kein Gitter installieren, das auch entsprechend sanft
klingt. Das Ballspielfeld wird immer noch gerne genutzt, um
richtig Zoff zu machen in der Mittagszeit. Es wäre auch
ungewöhnlich, wenn nicht. Wenn jetzt alle da auf Zehenspitzen
gehen würden, weil die Seniorenanlage Mittagsruhe hat - das
klappt nicht.“
Literatur für Psychoskustik auf dem Schreibtisch der Forscherin.
© PEIN, ANDREAS
Das Projekt ‘Nauener Platz’ stellt damit eine prototypische
Anwendung der Lärm- und Soundscapeforschung dar. „Das
Typische daran ist, über die Wahrnehmung der Betroffenen die
kritischen akustischen Bereiche aufzuzeigen und dann gemeinsam
05.12.14 14:11
Veränderungen zu beschließen. Das ist aber immer unter dem
Gesichtspunkt der psychoakustischen Bewertung zu reflektieren.“
Durchgeführt wurden am Nauener Platz auch psychoakustische
und normale Mappings, das heißt es wurden Lärmkarten erstellt,
auf denen man sehen kann, was sich durch die
Umstrukturierungen nicht verändert hat. „Der Schalldruck geht
zurück, aber das Muster des Geräusches bleibt gleich und insofern
muss man überlegen, ob die Störung wirklich noch da ist, wie man
sie überspielen kann und so weiter. Das klappt sehr gut“, erklärt
Schulte-Fortkamp. Der Anwendungsbereich der
psychoakustischen Methode reicht offenbar weit über öffentliche
Plätze hinaus und kann in Schulen, Krankenhäuser und
Einflugschneisen zum Einsatz kommen.
„Musik und Kunst sind andere Dimensionen“
Von der EU wird der Kampf gegen Lärm mittlerweile durch eine
Umgebungslärmrichtlinie unterstützt und in vielen Städten gibt es
Lärmaktionspläne, um die negativen Auswirkungen von
Lärmbelastung auf die Gesundheit einzudämmen. Daneben
kommt sogenanntes Sounddesign industriell an vielen Stellen zum
Einsatz, wenn es darum geht, Produktgeräusche auf die
Hörgewohnheiten der Kunden anzupassen, beispielsweise bei
Innengeräusche von Automodellen. Interessant ist dabei, dass
immer die individuelle Wahrnehmung im Mittelpunkt steht und
stehen muss, was die Forschungsergebnisse abhängig von ihrem
jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext macht.
Was in Deutschland als Lärm empfunden wird, mag beispielsweise
in Spanien noch vollkommen im Akzeptanzbereich liegen. Die
Kontextabhängigkeit der Ergebnisse und der enge Bezug auf
menschliche Erfahrung sind zwei Eigenschaften der Psychoakustik
und Soundscapeforschung, die einen Kontrast zu anderen
naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern aufmachen und
stattdessen eine vermeintliche Ähnlichkeit zu künstlerischer Arbeit
herstellen könnten. Frau Schulte-Fortkamp sieht den Versuch
eines solchen Brückenbaus trotzdem kritisch: „Ich finde es nicht
einfach, die Verbindung zur Kunst herzustellen. Natürlich können
sich Kunst und Psychoakustik auf der Wahrnehmungsschiene
treffen: Wenn ich über Geräusche rede, dann rede ich über
Wahrnehmung. Ich rede über Akzeptanz oder Störung. Und ich
05.12.14 14:11
rede letztlich über die Berechnung der Störung. Die Kunst macht
das glaube ich anders.“ Ähnlich sieht Frau Schulte-Fortkamp auch
die Beziehung zur Musik: „Ich mache selten Arbeiten, die auch die
Musikwahrnehmung betreffen, denn das ist eine andere
Dimension. Es gibt zwei Arbeiten, die ich mit Frau Professor de la
Motte-Haber durchgeführt habe, aber das sind einfach
Begegnungen, keine systematischen Zusammenhänge.“ Die
Psychoakustik liefert für die Musik zwar die Grundlage der
Wahrnehmung und ist daher auch für viele Studierende aus der
Musik interessant. “Aber letztlich können wir die Musik nie genau
treffen. Es gibt nicht die gesteuerte Verbindung zur Kunst.
Überhaupt nicht,” gibt Schulte-Fortkamp zu bedenken.
Schematische Darstellung des Hallraums im Institut.
© PEIN, ANDREAS
Könnte die Berechenbarkeit wissenschaftlicher Phänomene
demnach als ein Abgrenzungskriterium gesehen werden? Wird
wissenschaftlich berechnet, was in der Kunst in kreativen
Ausdrucksformen und damit auf einer völlig anderen Ebene
umgesetzt wird? In der Psychoakustik wird deutlich, dass diese
Berechenbarkeit manchmal selbst in den Wissenschaften an ihre
Grenzen stößt und mehr Ideal als funktionierendes Werkzeug ist:
„Wir können ja alles berechnen. Wir können auch Prognosen
machen. Aber die Prognosen haben nie gestimmt. Nicht weil wir
falsch gerechnet hätten, sondern weil diese Intervention durch die
05.12.14 14:11
subjektive Wahrnehmung so nicht erfassbar ist.“ In der
Psychoakustik versucht man daher herauszufinden, was die
Bewertungszusammenhänge in Bezug auf Geräuschsituationen
sind.
Diese Bewertungszusammenhänge werden wiederum anhand
etablierter Methoden aus der Psychologie und Soziologie
systematisch erforscht und statistisch validiert. Obwohl die
subjektiven Reaktionen auf Lärmquellen nicht streng berechenbar
sind, tut sich damit zumindest methodisch keine Grauzone zu den
Künsten auf. Eine solche Grauzone mag es höchstens in Bezug auf
die graphischen Erzeugnisse beider Gebiete geben: „Ich könnte
sagen: wegen der graphischen Umsetzung von Klang sind unsere
Motive ähnlich. Allerdings ist diese graphische Umsetzung bei uns
systematisch erzeugt durch eine Software.“ Dennoch räumt Frau
Schulte-Fortkamp ein, dass diese graphische Umsetzung durchaus
auch als Komposition gesehen werden kann: „Es ist im Grunde
eine akustische Komposition. Zum Beispiel wenn ich das Bild ‘5th
Avenue’ nenne. Das ist auch gut angekommen bei Ausstellungen
oder bei Tagungen.“
Vom 8.11. - 20.12. sind Werke von Jorinde Voigt in der Galerie
Johann König in Berlin zu sehen.
Ein Projekt der Dritten Kultur
Kunst und Wissenschaft liefern zwei verschiedene Sichtweisen auf die Welt - unterschiedliche
Zugänge, die viele Fragen aufwerfen. Stehen Kunst und Wissenschaft im Widerspruch
zueinander, oder ergänzen sich beide Bereiche, wenn sie versuchen, bestimmte Aspekte der
Welt zu verstehen? Wie arbeiten Künstler und Wissenschaftler? Welche Fragen stellen sie sich?
Und schließlich: Was können wir aus beiden Perspektiven über die Phänomene unserer Welt
lernen? Die Artikel in dieser Serie versuchen diesen Fragen nachzugehen. Sie sind Teil eins des
multimedialen Projektes „WissensARTen“. Die Idee dahinter: Unsere Autorin sucht jeweils einen
Künstler und einen Wissenschaftler, die zum gleichen Thema arbeiten. In Interviews und
Fotoserien werden beide Perspektiven, Herangehensweisen und Arbeitsumfelder ausführlich
vorgestellt. Schließlich wird ein Treffen beider Protagonisten im Video dokumentiert. Das
gesamte Material finden Sie auf der Projektwebsite: www.wissensarten.net
Die Autorin, Sibylle Anderl, wollte bis zum Abitur wie ihr Vater Kunst studieren, wählte dann aber
doch den unaufwändigeren Weg des Studiums der Philosophie und Physik. Nach der Promotion
im Fach Astrophysik forscht sie heute zu den Themen Sternentstehung und interstellares
Medium in Grenoble. Mit dem Projekt “WissensARTen” versucht sie, einigen der Fragen auf die
Spur zu kommen, die sie fast ihr ganzes Leben begleitet haben.
Das Projekt „WissensARTen“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
Quelle: F.A.Z.
Zur Homepage
05.12.14 14:11
Themen zu diesem Beitrag: Kreativität | Roland Barthes | Berlin | New York | Niklas
Luhmann | Alle Themen
Hier können Sie die Rechte an diesem Artikel erwerben
Weitere Empfehlungen
José Ortega y Gasset
Lob des Überflüssigen
Der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset sagt: Der Mensch
arbeitet in Wirklichkeit nicht des Geldes wegen. Aus unserer Serie
Die Weltverbesserer. Mehr
Von CHRISTIAN SIEDENBIEDEL
30.11.2014, 09:13 Uhr | Wirtschaft
Anzeige
Finden Sie Ihren perfekten Bartstyle!
So ziehen Sie mit Ihrem Bartstyle alle Blicke auf sich! Mehr
powered by plista
Gurlitt und die Folgen
Die Kunst hat ein Bleiberecht
Jutta Limbach, die frühere Präsidentin des
Bundesverfassungsgerichts, will, dass sich die Museen die in der
NS-Zeit beschlagnahmte Kunst gegenseitig zurückgeben. Für einen
solchen Ringtausch aber ist es längst zu spät. Mehr
Von HERMANN
PARZINGER
29.11.2014, 21:02 Uhr | Feuilleton
Anzeige
Endlich mit dem eigenen Unternehmen auf
Facebook – und dann?
Es ist geschafft – auf Facebook haben Sie Ihre eigene Unternehmensseite. Die ersten Bilder sind hochgeladen, eine Handvoll
Postings ist auch schon zu sehen. (Was... Mehr
powered by plista
Elektronische Musik
Die Pioniere des neuen Klangs
Seit 20 Jahren erscheint beim Frankfurter Label Infracom
innovative elektronische Musik. Die Geschichte aber beginnt viel
früher – als die Frankfurter Szene Maßstäbe setzte. Mehr
Von
05.12.14 14:11
NORBERT KRAMPF
30.11.2014, 15:00 Uhr | Rhein-Main
© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2014
Alle Rechte vorbehalten.
05.12.14 14:11
Herunterladen