VOGUE Italia Dezember 2013, Seite 54 Klänge und Zeichnungen von Michele Fossi Jorinde Voigts Welt. Eine unsichtbare Partitur voller Assonanzen1 und musikalischen Gefühlen „Ich habe noch nie so viel gewagt wie in dieser Serie von Zeichnungen“, gesteht die Künstlerin Jorinde Voigt. Ich treffe sie in ihrem Berliner Studio, um mit ihr über „Superpassion“ zu sprechen, ihre erste Einzelausstellung in Italien, die vor kurzem im Macro in Rom eröffnet wurde und noch bis zum 9. März 2014 zu sehen ist. „Jedes der sechzehn Werke hat einen Auszug oder ein Kapitel von ,Liebe als Passion‘ von Niklas Luhmann zum Ausgangspunkt“, erklärt sie. Im Gegensatz zu „Piece for words and views“, einer anderen jüngeren Arbeit Voigts, die ebenso aus der Analyse eines literarischen Texts hervorgegangen ist („Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes), sind die Bilder in „Superpassion“ abstrakter. „Sie kommen aus einem intimen und geheimen Teil von mir, den ich bisher noch nicht sondiert hatte. Ich gebe offen zu, dass es mich emotional sehr beansprucht hat, diese Bilder hervorzurufen.“ Mit dem Geist einer Wissenschaftlerin und dem Aussehen eines Models - sie gilt als eine der herausragenden Künstlerinnen ihrer Generation und hat 2012 den Drawing prize der Guerlain-Stiftung gewonnen - ist sie eine der wenigen zeitgenössischen Kunstschaffenden, die das Zeichnen als Forschungsinstrument benutzen. Aufgrund ihrer musikalischen Ausbildung und der Vertrautheit mit dem Lesen von Partituren (sie hat im Alter von 9 bis 27 Jahren Violoncello studiert), ist in ihren Augen das Reale mit dichten Netzen aus unsichtbaren „Assonanzen“ durchwirkt: Diese mithilfe komplexer, multiparametrischer Konzeptkarten aufzudecken, ist die Aufgabe des Zeichenstiftes. Durch aufmerksame, fast besessene 1 Assonanz ist ein Terminus der Semantik für den Klang eines typischen Zeichens, der auf ein weiteres Signifikat verweist. Handelt es sich bei dem typischen Zeichen um ein verbales Zeichen, so ist die linguistische Nachricht sowohl Denotation, als auch Konnotation. Beispiel bei Roland Barthes In Rhétorique de l'image liefert Roland Barthes eine Spektralanalyse der Botschaften einer Panzani-Werbung. Das typische Zeichen Panzani lässt sich dabei als linguistische Nachricht untersuchen: Dabei liefert das Zeichen Panzani "nicht nur den Namen der Firma …, sondern durch seine Assonanz ein zusätzliches Signifikat, nämlich, wenn man so will, die »Italianität«; die sprachliche Botschaft ist also (Wikipedia) doppelt (zumindest in diesem Bild): eine der Konnotation und der Denotation." 1 Beobachtung verschiedenster Gegenstände - wie die Grünabstufungen in einem botanischen Garten - wird ein unerwarteter ästhetischer Eindruck in ein komplexes, rätselhaftes und abstraktes Wirrwarr von Linien übersetzt, das mal von Beschriftungen, mal von Aquarell-Tropfen, Collagen oder Blattgold-Applikationen bereichert wird. Man denke nur an „Combination algorithm eagle flight path 100 eagles“, eins ihrer aufregensten Werke, in dem sie die Anmut von hundert auffliegenden Adlern „parametrisiert“. Von Federn, Klauen und Flügeln ist jedoch keine Spur zu sehen. „Von der Musik habe ich gelernt, dass eine abstrakte Notation auf Papier die größten Gefühle in sich bergen kann. Aber wie Musik kann meine Kunst auch diejenigen begeistern, die keine Noten lesen können.“ Übersetzung: Torsten Korte, Berlin 2