Sonntags um vier 1 Ensemble Resonanz Jean-Guihen Queyras Sonntag 3. Oktober 2010 16:00 Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stofftaschentücher des Hauses Franz Sauer aus. Sollten Sie elektronische Geräte, insbesondere Handys, bei sich haben: Bitte schalten Sie diese zur Vermeidung akustischer Störungen aus. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass Bild- und Tonaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind. Wenn Sie einmal zu spät zum Konzert kommen sollten, bitten wir Sie um Verständnis, dass wir Sie nicht sofort einlassen können. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell wie möglich Zugang zum Konzertsaal zu gewähren. Ihre Plätze können Sie spätestens in der Pause einnehmen. Sollten Sie einmal das Konzert nicht bis zum Ende hören können, helfen wir Ihnen gern bei der Auswahl geeigneter Plätze, von denen Sie den Saal störungsfrei (auch für andere Konzertbesucher) und ohne Verzögerung verlassen können. Sonntags um vier 1 Ensemble Resonanz Jean-Guihen Queyras Violoncello und Leitung Sonntag 3. Oktober 2010 16:00 Pause gegen 16:40 Ende gegen 17:50 2 Hans Werner Henze *1926 Introduktion, Thema und Variationen (1992) für Violoncello, Harfe und Streichorchester Joseph Haydn 1732 – 1809 Konzert für Violoncello und Orchester D-Dur Hob. VIIb:2 (1783) Allegro moderato Adagio Rondo. Allegro Pause Gustav Mahler 1860 – 1911 Adagietto. Sehr langsam aus: Sinfonie Nr. 5 cis-Moll (1901 – 1902) Alban Berg 1885 – 1935 Lyrische Suite (1928) für Streichquartett Bearbeitung für Streichorchester von Theo Verbey (2005) Allegretto gioviale Andante amoroso Allegro misterioso Adagio appassionato Presto delirando Largo desolato 3 Zu den Werken des heutigen Konzerts »Wenn jedes erfindliche Kommunikationsmittel ausgedient hat, wenn kein Brief mehr schreibbar, kein Telegramm mehr abzuschicken ist, wenn einem kein Telefongespräch mehr einfällt, wenn keine Gefühle mehr zu Wort kommen, wenn alles erfüllt ist, la libidine sfogata [zu deutsch: »ausgetobte Begierde«] und auch der seelische Kontakt, wenn weder Schlaf noch Alkoholrausch zur Entschuldigung gereichen – dann liegt die Wüste weit ausgebreitet da, der für das Schreiben für Musik reservierte Raum, in dem man sich selbst zum Gegenüber, zur Zielscheibe nimmt. In diesem Raum trägt man zusammen, was Begegnungen, Gesehenes und Gehörtes einem eingebracht haben, die Jagdbeute. Ohne genau zu wissen wie, bringt man das Geräusch, das die Dinge an sich haben oder das die Empfindung dieser Dinge auslöste, hier zum Schweigen. Wenn das Schweigen vollständig geworden ist und den ganzen Raum ausgefüllt hat, nehmen die mitgebrachten Gegenstände musikalische Formen an und kehren später in dieser neuen Gestalt in die Welt zurück, für eine Deprivation, die sie an einem Ort verursacht haben mögen, mit einem neuen Klang andernorts einzustehen.« So beschreibt Hans Werner Henze, geboren 1926 in Gütersloh, den Akt des Komponierens. Für ihn ist Musik ebenso »wenig abstrakt wie Sprache, ein Tod oder eine Liebe«. Seine bevorzugte »Jagdbeute« ist Erlebtes, auch Ersehntes, es sind poetische Bilder und politische Kontexte. Henze wächst im Nationalsozialismus auf. Sein Vater ist ein strammer Nazi und Kriegsfreiwilliger. In Braunschweig studiert er ab 1942 Klavier und Schlagzeug, erlebt das Wüten der SS. 1944 geht er als Korrepetitor ans Stadttheater Bielefeld, wird als Funker zum Kriegsdienst eingezogen und kommt 1945 in englische Kriegsgefangenschaft. 1946 beginnt er ein Kompositionstudium am Kirchenmusikalischen Institut in Heidelberg bei Wolfgang Fortner. 1948 wird er musikalischer Mitarbeiter Heinz Hilperts am Deutschen Theater Konstanz und von 1950 bis 1953 ist er künstlerischer Leiter und Dirigent des Balletts des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. Seine Erfahrungen während des Krieges, auch eine gefühlte Mitschuld machen ihn zum überzeugten Kriegsgegner. Sein kompositorisches Werk ist stets ein musikalisches Eintreten: gegen das Vergessen der NaziVerbrechen, für Frieden und Brüderlichkeit, für Recht und Freiheit. Henze wird Mitglied der Kommunistischen Partei, setzt sich für den 4 Sozialismus auf Kuba ein, reiht sich – Arm in Arm mit Luigi Nono – in die Berliner Anti-Vietnamkrieg-Bewegung ein, macht Wahlkampf für Willy Brandt, nimmt Rudi Dutschke in seiner Villa in Italien auf, wohin er 1953 aufgrund der mangelnden Aufarbeitung des »Dritten Reichs« in der Nachkriegsrepublik auswandert. Er vertont politische Texte: von Brecht bis Ho Shi Minh. 1967 instrumentiert er die Freiheitshymne von Mikis Theodorakis; 1968 komponiert er in memoriam Ernesto Che Guevara das Oratorium Das Floß der Medusa; 1969/70 schreibt er gemeinsam mit Hans Magnus Enzensberger El Cimarrón. Autobiographie des geflohenen Sklaven Estéban Montejo; im Gedenken an den ermordeten chilenischen Musiker und Theaterregisseur Víctor Lidio Jara Martínez entsteht 1974 das Chilelied; seine neunte Sinfonie (1995 – 97) nach Motiven aus dem Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers widmet er »den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus«. Mit seiner politischen Überzeugung macht Henze sich in Deutschland nicht nur Freunde. Etwa als 1968 Westberliner Mitwirkende bei der Uraufführung des Oratoriums Das Floß der Medusa unter einem Porträt von Che Guevara und einer roten Fahne auftreten sollen, was die Veranstaltung platzen lässt, oder als er 1969/70 einen Lehrauftrag in Havanna annimmt. Unbeirrt übt Henze Kritik an militant-totalitären Machtregimen. Auch in Bühnenwerken, die einen Schwerpunkt in seinem Schaffen darstellen: etwa in We Come to the River (1976) nach Texten des 1934 geborenen, englischen Dramatikers Edward Bond und in den Arbeiten, die ab 1955 zusammen mit seiner kongenialen Gefährtin Ingeborg Bachmann entstehen: das Ballett Der Idiot (1952), die Opern Der Prinz von Homburg (1958/59; rev. 1991) und Der junge Lord (1964). Henze vertont auch verschiedene ihrer Gedichte. »Die enge Zusammenarbeit zwischen ihm und der Dichterin«, so der Musikjournalist Wolfgang Schreiber, »basiert auf dem mythischen Grund eines an der Antike orientierten, auch gefährdeten, am Abgrund geschärften Schönheits- und Menschenbildes, das in traumhaften wechselseitigen Erhellungen von Poesie und Musik Gestalt gewinnt.« Mehrmals knüpft Henze an antike oder klassische Stoffe an. Denn, so sagt er in Zusammenhang mit dem Prinz von Homburg: »Fragen der Missachtung von Gesetz und Ordnung, das Zittern eines Menschen vor der Gewalt der herrschenden Macht, der Mut, sich ihr zu widersetzen – all das könnte auch heute oder hätte 5 vor tausend oder zweitausend Jahren sein können, in Sparta oder in Athen.« Der Rückblick auf vergangene Zeiten bietet ihm zudem »Stärkung, Anreiz und Bindung«. Auch musikalisch. Als Komponist bedient er traditionelle Formen und Gattungen, schreibt tonal ebenso wie zwölftönig. Dagegen distanziert er sich von den abstrakten, scheinbar objektiven Ordnungsprinzipien des Serialismus. Seine Musik soll nicht Klangraum bleiben, sondern Sprache werden. Er bekennt sich zu einer »musica impura«, einer befleckten Musik, die sich von Menschlichem und Gleichnishaften ableitet. Oftmals sind diese »Verstrickungen« nur noch als Subtext in die Musik eingeschrieben, sind Referenz ohne selbst benannt zu werden oder gar zu erklingen. So auch bei Introduktion, Thema und Variationen für Violoncello, Harfe und Streichorchester. Das Werk entstand 1992 durch die Zusammenfügung des Konzertstücks für Violoncello und kleines Ensemble (1977/85) und des fünften Satzes aus den Liebesliedern für Violoncello und Orchester von 1984/85. Diese wurden 1986 in Köln uraufgeführt, wo Henze zwischen 1980 und 1991 Kompositionsprofessor war. Grundlage der Liebeslieder sind sieben englische Gedichte, aus verschiedenen Kunstepochen, die verschiedene Seelenzustände beschreiben. Diese hat Henze analysiert und »im Sinne von Liedkompositionen in Musik transportiert«. Das fünfte »Lied ohne Worte« erklingt nun neu in Introduktion, Thema und Variationen. Das Werk knüpft formal wie harmonisch gleichermaßen an klassische Vorlagen wie an Schönbergs Variationen op. 31 (1926/28) an. Henze verändert sein zwölftöniges Thema beständig reihentechnisch und charakterlich. Gleichzeitig bettet er es tonal ein. Die Identität des zugrundeliegenden Textes – wie auch die der übrigen Liebeslieder – hat Henze nicht preisgegeben; noch mehr verschweigt der Titel Introduktion, Thema und Variationen die Jagdbeute, von der die Musik wieder spricht: vielgestaltige Liebe. Die Liebe ist nicht allein das große Thema der abendländischen Kulturgeschichte. Sie ist das alle Menschen verbindende Thema. In all seinen Variationen von Vaterlandsliebe bis Narzissmus, begleitet von Leidenschaft, Bangen, Hoffen, Enttäuschung, Verrat und Erfüllung, von Macht, Ohnmacht und Tod. Während Hans Werner Henze, für den Musik a priori politisch ist, versucht, dem sich in sozialen Missständen, Gewalt, Krieg und totalitären Machtstrukturen äußernden Verlust von 6 Liebe in seiner Musik etwas entgegenzusetzen, profitiert gut 200 Jahre zuvor Josef Haydn (1732 – 1809) durchaus noch von gesellschaftlicher Ausbeutung. Nach über einem Jahrzehnt als freischaffender Musiker tritt Haydn 1761 zunächst in die Dienste von Paul Anton Esterházy, nach dessen Tod 1762 in die des Bruders Nikolaus Esterházy, der das Gehalt erst einmal um die Hälfte erhöht. Fast 30 Jahre, bis 1790, bleibt Haydn »Hausoffizier« der ungarischen Adelsfamilie, zunächst in Eisenstadt, später im neuen Schloss Esterháza in der Nähe des Neusiedler Sees. Ein neues Versailles soll es sein, mit Opernhaus, das allerdings 1779 bis auf die Grundmauern abbrennt. Das Geld für die prächtigen Bauten wie auch das großzügige Gehalt, das Haydn erhält, stammt größtenteils aus den Abgaben der Untertanen. Er selbst hat sich in den Hofstaat einzuordnen, muss laut Vertrag sauber erscheinen, »in weißen Strümpfen, weißer Wäsche, eingepudert, und entweder in Zopf, oder Haarbeutel«. Ihm untersteht die fürstliche Hofkapelle mit 12 bis 16 Musikern, und er hat freie Hand, vakante Stellen zu besetzen. Zu seinen Aufgaben zählt, sich um Noten und Instrumente zu kümmern, die Sängerinnen zu instruieren und auch für das Schlichten von Streitigkeiten ist er verantwortlich. Seine Stellung verleiht ihm Anerkennung und Macht und 1779 lässt er sich korrumpieren. Von der Liebe. Er engagiert ein Musikerehepaar: den schwindsüchtigen Geiger Antonio Polzelli und dessen 29-jährige Frau Luigia, eine mittelmäßige Sängerin, die Fürst Nikolaus beide schnell wieder los werden will. Doch der unglücklich verheiratete Haydn, zu dieser Zeit 47 Jahre, verfällt Luigias Charme und setzt ihre Weiterbeschäftigung durch. Für sie bearbeitet und transponiert er Arien und 1783 wird der vermutlich gemeinsame Sohn geboren. Im selben Jahr entsteht auch das Konzert für Violoncello und Orchester D-Dur. Doch Haydns Jagdbeute ist rein musikalischer Natur. Er denkt in Tönen. Durch seine Stellung kann er finanziell sorgenfrei und weitestgehend abgeschottet von anderen musikalischen Eindrücken wie in einem musikalischen Laboratorium experimentieren, »original werden« wie er es selbst ausdrückt. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen neue Fragen der Form, die Erweiterung von Ausdruck und Kompositionstechnik. Dies gilt vor allem für Kirchenmusik, Oper, Streichquartette und Sinfonien. Die meisten seiner Solokonzerte bleiben dagegen merkwürdig rückwärtsgewandt, folgen barocken Schemata. Ausnahmen bilden das späte, 7 in Wien entstandene Trompetenkonzert (1796) und eben das zweite Violoncellokonzert von 1783. Dieses wurde lange Zeit seinem Schüler Anton Kraft zugeschrieben. Erst mit der Auffindung des Originals 1954 konnte es zweifelsfrei als Werk Haydns identifiziert werden. Bis heute gilt es als ein Meilenstein der Celloliteratur. Formelhafte Wendungen blitzen hier nur mehr gleich Erinnerungsfetzen einer früheren Praxis auf. Der Cellopart ist von höchstem emotionalen Ausdruck, von Radikalität geprägt: vorherrschend sind extrem hohe und abgründig tiefe Lagen. Zudem sind Solist und Tutti auf ungewöhnliche Weise ineinander verwoben. Nicht nur melodische Phrasen auch klangliche Merkmale werden abgenommen, weitergetragen, zurückgegeben. Es ist kein Gegeneinander mehr, sondern ein Miteinander. Haydns Werk entsteht am Scheideweg von aristokratischem Feudalsystem und Revolution. Anders als Beethoven entkommt er den alten Gesellschaftsstrukturen nicht durch politisch motiviertes Aufbegehren, sondern allein aufgrund seiner schöpferischen Leistung: Er ist der berühmteste Musiker Europas. Formal von seinen Pflichten entbunden kehrt er 1790 zurück nach Wien, unterhält Kontakte zum Hochadel, eine herausgehobene Position nimmt er nicht mehr ein, lebt, obwohl immer noch vertraglich an Esterházy gebunden, fortan als scheinbar freier Künstler. Fast 100 Jahre nach Haydn, 1897, kommt Gustav Mahler (1860 – 1911) nach Wien. Als Katholik, da der Kaiser kaum einem Juden die Stelle des ersten Kapellmeisters und Hofoperndirektors zusprechen wird. Zwei Sinfonien hat er bislang geschrieben und sagt: »Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunklen Empfindungen walten, an der Pforte, die in die andere Welt hineinführt.« Trotz der zahlreichen textlichen Bezüge in seinen Sinfonien, der Allusionen an eine konkrete Klanglichkeit, wenn der Kuckuck ruft oder Glocken läuten, so ist seine Musik doch eine absolute. »Alles ist nur ein Gleichnis für Etwas, deren Gestaltung nur ein ›unzulänglicher‹ Ausdruck für das sein kann, was hier gefordert ist«, schreibt er über seine achte Sinfonie. Er ist überzeugt, dass es keine moderne Musik ohne inneres Programm gibt, welches jedoch verschwiegen, wieder verloren sein muss. Es ist darum nicht verwunderlich, dass Mahlers Werk einen großen Einfluss auf Henze ausübte, der schreibt: »Ich denke, dass der wichtigste Komponist 8 dieses Jahrhunderts nicht Webern war, sondern Mahler! Er hat wenig dazu beigetragen, die Musik aus der grammatikalischen Schwierigkeit zu befreien, er hat wenig dazu getan, neue Systeme zu erfinden, doch er war ein Zeuge seiner Zeit; seine Darstellung von Frustration und Leid in einer unmissverständlichen und direkten Musiksprache scheint mir interessanter und wichtiger als die Resultate der Wiener Schule. Ich finde Mahler unaristokratisch …«. Dessen Sinfonien sind Allegorien auf die existentielle Frage, die er sich immer wieder stellt: »Von wo kommen wir? Wohin führt unser Weg? … Wie verstehe ich die Grausamkeit und Bosheit der Schöpfung eines gütigen Gottes?« Die in den Liedern eines fahrenden Gesellen ausgesprochene Frage nach einer »Schönen Welt« erklingt wieder in der ersten Sinfonie (1888), doch hier ist sie schon bedroht, Utopie. Mahler beginnt, so der Musikologe Rüdiger Henze, »die schlechte Welt mit einem Gegenentwurf zu konfrontieren: dem Traum als Flucht aus dieser Welt, dem Traum als Erinnerung, als Reise zu Gegenwärtig-Fernem oder als für die Zukunft Ersehntes.« Als musikalischer Gegenentwurf dieser unfassbar schönen Welt steht in vielen seiner Sinfonien der Marsch, Trauermarsch, Militärmarsch. So auch in seiner fünften Sinfonie (1901 – 03). Die insgesamt fünf Sätze sind in drei Abteilungen zusammengefasst. Eine Trompetenfanfare eröffnet, danach setzt, in Moll, der Generalmarsch der österreich-ungarischen Armee ein. Trommelwirbel. Choral. Es herrscht eine düster-schwarze Atmosphäre, die sich in den beiden folgenden Abteilungen in eine heitere, sehnsuchtsvolle Stimmung verwandelt. Ein Walzer beschwört zunächst die unbeschwerte Welt, schließlich spricht die Musik von einer geradezu überirdischen Sanftheit: Schwerelos, die Unendlichkeit beschwörend klingt der vierte Satz Adagietto für Harfe und Streichorchester. Nicht zufällig gibt es hier eine melodische Reminiszens an seine eigene Rückert-Vertonung Ich bin der Welt abhanden gekommen (1901). Das Finale stellt thematische Bezüge zu den anderen Sätzen auf, stellt diese in neue Zusammenhänge: eine furiose Apotheose. Das Adagietto hat für diese Entwicklung eine wichtige Bedeutung. Es ist weniger Einleitung denn Übergang, Wandlung. Und auch hier kommt wieder die Liebe ins Spiel. 1901, während der Arbeit an der fünften Sinfonie, verliebt sich Mahler, zu dieser Zeit 41 Jahre, in die 19-jährige Alma Schindler. Der niederländische Dirigent und Mahler-Zeitgenosse Willem Mengelberg (1871 – 1951) notiert in 9 seine Dirigierpartitur: »N.B. Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an: Alma! Statt eines Briefes sandte er ihr dieses Manuskript … Sie hat es verstanden … (Beide haben es mir erzählt)«. Beseelt von einer überirdisch-poetischen Kraft führt der Satz inzwischen eine aus seinem ursprünglichen musikalischen Kontext losgelöste Existenz. Doch ist dies eben nur ein Teil von Mahlers Lebenswirklichkeit, für die stets gilt, was er als Schlusszeilen zu Die zwei blauen Augen aus den Gesellen-Liedern dichtete: »Alles! Alles! Lieb und Leid! Und Welt und Traum!« Henze lernt Mahlers Œuvre erst kurz nach Kriegsende kennen. In seinen autobiographischen Mitteilungen »Reiselieder mit böhmischen Quinten« erinnert er sich mit einer Art von Musik konfrontiert worden zu sein, von der er damals so gut wie nichts wusste: »Sie hatte wohl in Deutschland nie so recht Fuß fassen können, zumal ihr Autor, Gustav Mahler, 1933 sofort auf den Index gekommen war. Diese Musik aber berührt mich zutiefst, sie vermittelte mir den Zugang in eine Ausdrucksweise und Gefühlswelt, von deren Dimensionen ich bisher keine Vorstellung gehabt hatte.« Henze ist begierig mehr über die verfemte Kunst der Weimarer Republik zu erfahren, über Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Kurt Weill, Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg: »Ich dachte, je mehr man über diese Dinge hört, desto deutlicher wird, wo und wie der Faden wieder aufgenommen werden kann«. Die Zwölftonmethode scheint vielen Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige Möglichkeit, einen nicht in Mitschuld verwobenen Traditionsfaden wieder aufzunehmen. Denn deren Vertreter wurden unter dem NS-Regime verboten, verfolgt und ermordet. Zudem lässt sich die Zwölftontechnik als Versuch interpretieren, der Herrschaft verneint und Gleichheit schafft. Die Gleichheit der einzelnen Töne, von Grundreihe, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung. Der belgische Komponist Henri Pousseur nannte das Webernsche Modell einen völlig neuen Vorschlag, »wo jedes Wesen gleichwertig ist, wo jedes Wesen alle anderen Wesen in Betracht ziehen und respektieren muss, damit alle Wesen sich entwickeln können.« Die damals neue Kompositionsmethode ist eben keine rein formal technische. »Musik schildert die Schicksale von Themen«, soll Schönberg einmal gesagt haben. Themen und Motive, musikalische Charaktere müssen variiert werden, sich weiter entwickeln, denn am Ende eines Stückes haben sie einiges 10 »erlebt«. Wie real sich ein solches Erleben musikalisch äußern kann, das zeigt auch Alban Bergs (1885 – 1935) Lyrische Suite von 1928. Schon die einzelnen Satzbezeichnungen sprechen davon. Ein ganzes Leben ist dort vor uns ausgebreitet: von Unbekümmertheit (»gioviale«) über Verliebtheit (»amoroso«) samt Geheimnis (»misterioso«) und Leidenschaft (»appassionato«) bis hin zum Tode (»delirando«, »desolato«). Die Alexander von Zemlinsky gewidmete Suite stellt nach Bergs eigenen Worten formal den Versuch dar, eine »allerstrengste 12Ton-Musik mit stark tonalem Einschlag zu schreiben«. Zwölftönige und atonale Sätze wechseln sich in der Reihenfolge ab. Ersteren legt Berg eine von Fritz Heinrich Klein 1924 veröffentlichte symmetrische Allintervallreihe zugrunde, die er irrtümlich für »die einzige ihrer Art« hält (eine Sonderform der Zwölftonreihe, die alle zwölf Töne und die elf möglichen Intervalle einer Oktave umfasst; in Wirklichkeit gibt es 3.856). Auffällig in der Behandlung der Allintervallreihe ist, dass die Töne a, b, h und f zunächst zusammenrücken, sich im weiteren Verlauf jedoch immer weiter von einander entfernen. Berg ist Fatalist, er glaubt an Vorherbestimmung und deutet Zahlen als direkte Zeichen. Die 23 ist Bergs Schicksalszahl. Am 23. Juli 1908 erleidet er im Alter von 23 Jahren seinen ersten Asthma-Anfall, er ist Mitbegründer der Wiener Musikzeitschrift 23 und datiert den Abschluss vieler Partituren auf den 23. eines Monats. Und wie in vielen anderen Werken so spielen auch in der Lyrischen Suite Zahlen eine wichtige Rolle, genauer die Zahlen 23 und 10. »Sie, lieber Herr Berg, können trotz oder vielmehr eben wegen Ihrer Zahlenmystik niemals in den Verdacht kommen, ein ›Mathematiker‹ zu sein. Zahlen bedeuten Ihnen, dem gefühlsstarken Menschen, tiefe Symbole, für den Mathematiker sind die Abstracta, lebloses Werkzeug«. Das schreibt am 25. November 1925 ausgerechnet der Mann, in dessen Ehefrau Berg unsterblich verliebt ist. Sie heißt Hanna Fuchs und ist die Schwester Franz Werfels. Es bleibt eine sehnsüchtige, ungelebte Liebe. Wie sehr Herbert Fuchs-Robettin mit seiner Einschätzung recht behält, kommt erst 1977 mit der Auffindung einer von Berg für Hanna Fuchs kommentierten Partitur der Lyrischen Suite ans Licht. Im Vorwort hat Berg die Worte »die Freiheit gelassen hat« unterstrichen und darunter eingefügt: »Sie hat mir, meine Hanna, auch noch andere Freiheiten gelassen! Z. Bsp. die, in dieser Musik immer wieder unsere Buchstaben, H, F und A, B heineinzugeheimnissen; 11 jeden Satz und Satzteil in Beziehung zu unseren Zahlen 10 und 23 zu bringen. Ich habe dies und vieles Beziehungsvolle für Dich (für die allein – trotz umstehender offizieller Widmung – ja jede Note dieses Werkes geschrieben ist) in diese Partitur hineingeschrieben. Möge sie so ein kleines Denkmal setzen.« Schon Adorno nennt die Lyrische Suite eine »latente Oper«. Sie ist mit zahlreichen weiteren Verweisen angefüllt. So zitiert Berg aus der Lyrischen Sinfonie (1922/23) Zemlinskys eine Stelle, die auf die Worte verweist: »Du bist mein Eigen, mein Eigen, Du die in meinen endlosen Träumen wohnt!«, und im letzten Satz den Tristan-Akkord. Nicht nur die Liebenden, auch die Kinder Hanna Fuchs’ und sogar ihr Ehemann sind in den Notentext eingeschrieben. Zwischen allen Sätzen gibt es thematische Verknüpfungen nach dem Prinzip der entwickelnden Variation. Vom Leben, von Charakteren und Schicksalen spricht diese Musik, die heute in der Bearbeitung für Streichorchester durch den niederländischen Komponisten Theo Verbey erklingt. Die Mittelsätze hat Berg übrigens in einer eigenen Bearbeitung für Streicherchor herausgegeben. Dazu schreibt Adorno: »Wird das lyrische Wesen der Suite am sichersten beim Quartett behütet, so das dramatische beim Streichertutti; erst hier schwimmen die Konturen so aufgelöst und hintergründig ineinander, wie es die Anschauung des Klangs als Begleitung notwendig macht; erst hier aber auch hat der Ausbruch die volle katastrophische Gewalt. … Mit dem vierzigsten Takt löst jede rhythmische Kontur sich auf in den Achteln, die verrinnen. Ein Instrument schweigt nach dem anderen. Die Bratsche ist allein übrig, und ihr wird nicht einmal das Verlöschen, nicht einmal der Tod zugestanden. Sie muss spielen für immer; nur wir sind es, die sie nicht mehr vernehmen. Oder wie Henze sagt: »Kunst wird, während sie das Leben befragt, selber Leben«. Susanne Laurentius 12 Jean-Guihen Queyras Der kanadisch-französische Cellist Jean-Guihen Queyras trat bereits auf den wichtigsten Konzertpodien und mit vielen der international führenden Orchester auf. Sein Repertoire umfasst sowohl Werke der Klassik und Romantik als auch zeitgenössische Kompositionen. So spielte er die Uraufführung von Ivan Fedeles Cellokonzert mit dem Orchestre National de France unter Leonard Slatkin wie auch Gilbert Amys Cellokonzert mit dem Tokyo Symphony Orchestra in Tokio. Er war Solocellist des Ensemble intercontemporain, mit dem er unter Pierre Boulez Gyorgy Ligetis Cellokonzert einspielte. 2005 hat er mit großem Erfolg Bruno Mantovanis Cellokonzert mit dem Radiosinfonieorchester Saarbrücken sowie Philippe Schoellers Konzert Wind’s Eyes bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg uraufgeführt. Mit Concerto Köln debütierte JeanGuihen Queyras 2005 in der New Yorker Carnegie Hall. Zu seinen Kammermusikpartnern zählen u. a. Tabea Zimmermann, Antje Weithaas, Lars Vogt, Isabelle Faust, Emmanuel Pahud, Alexandre Tharaud sowie Leif Ove Andsnes. Für das Muziekcentrum Vredenburg gestaltete er die Serie »Jean-Guihen Queyras and Friends«, in der auch das Arcanto Quartett, in dem er mit Daniel Sepec, Antje Weithaas und Tabea Zimmermann spielt, zu hören war. Eine besondere Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Ensemble Resonanz, bei dem er 2009 erstmalig als Solist und Dirigent zu Gast war und nun ab Herbst 2010 Artist in Residence ist. Seine Diskographie umfasst mehrere preisgekrönte Einspielungen, darunter zwei Solo-CDs mit Benjamin Brittens Cello-Suiten und Werken von Zoltan Kodály, Gyorgy Kurtág und Sandor Veress sowie eine CD mit Werken für Klavier und Violoncello von Claude Debussy und Francis Poulenc. Darüber hinaus hat er Henri Dutilleux’ Tout un Monde Lointain und Pierre Boulez’ Messagesquisse eingespielt. Jean-Guihen Queyras hat eine Professur an der Musikhochschule Stuttgart inne. Er spielt ein Cello von Gioffredo Cappa (1696), das ihm das Mécénat Musical Société Générale zur Verfügung stellt. In der Kölner Philharmonie war Jean-Guihen Queyras zuletzt im Februar 2007 zu Gast. 13 Ensemble Resonanz Das Ensemble Resonanz repräsentiert eine neue Generation von Musikern: Sie spannen den Bogen von Tradition zu Gegenwart und suchen den Kontrast und die Verbindung zwischen alten und zeitgenössischen Meistern. Mit Leidenschaft widmen sie sich der Förderung und Entwicklung neuen Streicherrepertoires und der zeitgemäßen Interpretation klassischer Werke. So bildet das Ensemble die Schnittstelle zwischen Kammerorchester und Solistenensemble und ist in den Abonnementreihen der führenden Konzerthäuser ebenso vertreten wie auf Festivals für Neue Musik. Es gastiert auf Bühnen und Festivals im In- und Ausland und begeisterte auf Konzertreisen durch Indien, Sri Lanka und Pakistan, Israel und Ägypten sowie von Kopenhagen über New York bis Mexiko sein Publikum. 2010 beginnt das Ensemble Resonanz eine intensive Zusammenarbeit mit Jean-Guihen Queyras als Artist in Residence. Weitere Partner des Ensembles sind nicht nur namhafte Solisten und Dirigenten, sondern auch Medienkünstler, Regisseure sowie darstellende und bildende Künstler. In den letzten Jahren waren dies u. a. Ingo Metzmacher, Fazıl Say, Imre Kertész, Matthias Goerne, Roger Willemsen, Tabea Zimmermann, Helmut Lachenmann, Peter Rundel, Reinhard Goebel und der RIAS Kammerchor. Beheimatet ist das Ensemble Resonanz seit 2002 in Hamburg, wo es als Ensemble in Residence der Laeiszhalle – Musikhalle Hamburg mit großem Erfolg die Konzertreihe Resonanzen etabliert hat. Als Katalysator des Musiklebens bereichert dieses kontrastreiche Programm mit seiner Vernetzung von Raritäten und Klassikern früherer Jahrhunderte mit Neuer Musik, Auftragsarbeiten oder Uraufführungen nun in der achten Saison die Hansestadt. Bei uns war das Ensemble Resonanz zuletzt im Mai dieses Jahres im Rahmen der MusikTriennale Köln zu Gast. 14 Die Besetzung des Ensemble Resonanz Violine Barbara Bultmann Juditha Haeberlin Gregor Dierck Swantje Tessmann Tom Glöckner David-Maria Gramse Wojciech Garbowski Hyun-Jung Kim Daniella Strasfogel Hayley Wolfe Viola Tim-Erik Winzer David Schlage Jennifer Anschel Hannah Klein Violoncello Saskia Ogilvie Saerom Park Foucher Jörn Kellermann Kontrabass Anne Hofmann Oboe Kalev Kuljus Amy McKean Horn Christoph Moinian Isaak Seidenberg Harfe Gesine Dreyer Violoncello und Leitung Jean-Guihen Queyras 15 KölnMusik-Vorschau Ihr nächstes Abonnement-Konzert 04.10.2010 Montag 20:00 05.12.2010 Sonntag 16:00 Montserrat Caballé Sopran Montserrat Martí Sopran Ekaterina Goncharova Sopran Phillip Rhodes Bariton Manuel Burgueras Klavier Sonntags um vier 2 Musik von Alfredo Catalani, Giacomo Puccini, Isaac Albéniz, José Serrano, Giuseppe Verdi, Charles Gounod, Gaetano Donizetti u. a. Nachholtermin für das am 27.06.2010 entfallene Konzert 05.10.2010 Dienstag 20:00 Baroque … Classique 1 Andreas Staier Hammerklavier Orchestre des Champs-Élysées Philippe Herreweghe Dirigent Joseph Haydn Sinfonie g-Moll Hob. I:83 (»La Poule«) Wolfgang Amadeus Mozart Konzert für Klavier und Orchester Nr. 25 C-Dur KV 503 Sinfonie Nr. 38 D-Dur KV 504 (»Prager«) 07.10.2010 Donnerstag 12:30 PhilharmonieLunch Gürzenich-Orchester Köln Markus Stenz Dirigent 30 Minuten kostenloser Musikgenuss beim Probenbesuch: Eine halbe Stunde vom Alltag abschalten, die Mittagspause oder den Stadtbummel unterbrechen und sich für kommende Aufgaben inspirieren lassen. PhilharmonieLunch wird von der KölnMusik gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln und dem Gürzenich-Orchester Köln ermöglicht. Medienpartner Kölnische Rundschau. KölnMusik gemeinsam mit dem Gürzenich-Orchester Köln Eintritt frei Tine Thing Helseth Trompete Trondheim Soloists Edvard Grieg Fra Holbergs tid op. 40 (1884) Suite im alten Stil für Streichorchester Rolf Wallin Elegi (1979) Fassung für Trompete und Streichorchester Johann Baptist Georg Neruda Konzert für Trompete und Streicher Es-Dur Franz Schubert / Gustav Mahler Streichquartett d-Moll D 810 (1824) Der Tod und das Mädchen Bearbeitung für Streichorchester Philharmonie Hotline +49.221.280280 koelner-philharmonie.de Informationen & Tickets zu allen Konzerten in der Kölner Philharmonie! Kulturpartner der Kölner Philharmonie Herausgeber: KölnMusik GmbH Louwrens Langevoort Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH Postfach 102163, 50461 Köln koelner-philharmonie.de Redaktion: Sebastian Loelgen Corporate Design: Rottke Werbung Textnachweis: Der Text von Susanne Laurentius ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. Fotonachweise: Marco Borggreve S. 12; Michael Haydn S. 13 Umschlaggestaltung: Hida-Hadra Biçer Umschlagsabbildung: Torsten Hemke Gesamtherstellung: adHOC Printproduktion GmbH Foto: Decca/Sheila Rock Fr 15. Oktober 2010 20:00 Internationale Orchester 1 Thomas Zehetmair Violine Christian Poltéra Violoncello Orchestre Révolutionnaire et Romantique Sir John Eliot Gardiner Dirigent Robert Schumann Ouvertüre aus: Manfred op. 115 koelner-philharmonie.de Roncalliplatz 50667 Köln Philharmonie Hotline 0221.280 280 in der Mayerschen Buchhandlung Neumarkt-Galerie 50667 Köln Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 »Rheinische« Johannes Brahms Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-Moll op. 102 € 10,– 25,– 35,– 48,– 58,– 68,– € 48,– Chorempore (Z)