Gustav Mahler: 2. Sinfonie c-Moll Gustav Mahler hatte als Jude oft unter nationalistischen und antisemitischen Tendenzen zu leiden. Gleichwohl fühlte er sich der christlichen Erlösungsidee verbunden. Die Grundidee, dass ohne Vergehen keine Auferstehung möglich sei, prägte sein Denken – auch in der Auferstehungs- Sinfonie. Dieser Beiname rührt vom letzten Satz der zweiten Sinfonie her, einer Vertonung von Klopstocks Gedicht Aufersteh‘n, ja aufersteh‘n aus seinem Messias. Mahler lernte es während der Trauerfeier für Hans von Bülow kennen. Dort sang ein Chor diese Verse, und Mahler war wie vom Blitz getroffen. Er machte sich unverzüglich an die Arbeit am noch fehlenden letzten Satz seiner Sinfonie. Die Werkgestalt seiner c-Moll-Sinfonie war dem Komponisten lange Zeit ein Problem. Mahler schwankte, ob die ersten drei Sätze eine Einheit seien oder ob gar der erste Satz als selbstständige Komposition (Todtenfeier) aufzufassen sei. In einem Brief schrieb er, es sei „der Held meiner D-Dur-Sinfonie, den ich da zu Grabe trage, und dessen Leben ich, von einer höheren Warte aus, in einem reinen Spiegel auffange“. Später legte er die heute gültige Werkgestalt mit fünf Sätzen fest, von denen er die drei mittleren als „Intermezzi“ begriff. Ende 1895 fand in Berlin die Uraufführung des Werks unter Mahlers Leitung statt. Nach der Aufführung brach er, schwer von Migräne geplagt, in der Garderobe zusammen. Im ersten Satz verbindet sich der Charakter eines Trauermarschs mit der strengen Sonatenform. Laut einem Programmtext des Komponisten ist sein Inhalt folgender: „Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Mal, an unserem geistigen Auge vorüber.“ Es ist kein Zufall, dass das gregorianische „Dies irae“, Tonsymbol für den Jüngsten Tag, anklingt. Nach dem ersten Satz mit seinen choralhaften und aufsteigenden Themen verlangt der Komponist in der Partitur eine Pause von „mindestens fünf Minuten“. Der zweite Satz in As-Dur führt in eine andere Welt. „Ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses theuren Toten und eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld“, so Mahlers Kommentar. Musikalisch hat man es mit einer Verbindung von Menuett, Walzer und Fuge zu tun; der folkloristische Ton dominiert. Die Atmosphäre des Sanften und Seligen weicht mit einem Paukenschlag im dritten Satz der Rückkehr in die Lebenswirklichkeit. Hier klingt das Wunderhorn-Lied vom heiligen Antonius von Padua an, der den Fischen predigt. Die rastlose Bewegung des Wassers und der Fische wird abgebildet, doch verlässt der Komponist die Naturschilderung und gibt dem „Spuk des Lebens“ Raum. Die Natur kennt auch das Moment der Desillusion – denn die Predigt des Antonius bleibt vollkommen wirkungslos. In eine nochmals andere Sphäre führt der vierte Satz, Urlicht in Des-Dur, dessen Text Mahler ebenfalls der Sammlung Des Knaben Wunderhorn entnahm. Er will ihn ohne Unterbrechung an den dritten Satz angeschlossen haben. Thematisch ist die Singstimme mit dem ersten Satz verknüpft, doch ist der Charakter weniger dramatisch. Dafür, dass Mahler die kindlich-naive Religiosität ironisch brechen wollte, gibt es keine Anzeichen. Auch nicht im fünften Satz Aufersteh‘n. Musikalisch fällt die Verklammerung mit dem ersten Satz auf, die dem Eindruck des Gestückelten entgegenwirkt. Der Charakter der Musik ist zuerst dramatisch und ernst und weicht einem prophetisch-visionären Ton, bis die Bläser das Dies irae zitieren und in einen Marschteil überführen. Erst nach 470 Takten ist es Zeit für den Chor, die Sopranistin und die Altistin, dem „grossen Appell“ der Blechbläser zu folgen. Sterben werd ich, um zu leben, singt der Chor zur Begleitung des vollen Orchesters mit Glocken und Orgel – ohne Apokalypse keine Erlösung. Das Finale mit seinen räumlichen Effekten, den Dynamik-Kontrasten und seinem religiösen Pathos trennt heute noch die bedingungslosen Mahler-Bewunderer von den Kritikern dieser Sinfonie. Sigfried Schibli