Moderne Medizin im Dilemma zwischen Ökonomie und ärztlichem

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Institut für Moraltheologie
Katholisch-Theologische Fakultät Graz
Walter Schaupp
Moderne Medizin in der Spannung von Ökonomie
und ärztlichem Heilungsauftrag
Wels, 29. Februar 2008
1. Das Knappheitsproblem
„Moderne Medizin in der Spannung von Ökonomie und ärztlichem Heilungsauftrag“ – Ohne
Zweifel erleben wir gegenwärtig eine finanzielle Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen,
die immer wieder in Konflikt mit dem Grundauftrag des Arztes kommt, sich kompromisslos
in den Dienst seines Patienten zu stellen. Dass es sich um eine wirklich bedrohliche
Knappheit handelt, welche die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems in Frage stellt,
wird zwar immer wieder bezweifelt und von Politikern öffentlich negiert, im Großen und
Ganzen aber von allen einschlägigen Fachleuten als unausweichliches Problem anerkannt:
Langfristig, so die meisten Gesundheitsexperten, werden sich die Gesundheitsausgaben nicht
in dem Maß erhöhen lassen, dass alle möglichen und medizinisch sinnvollen Leistungen auch
solidarisch finanziert werden.
Faktoren, die zu einer Knappheit führen
Die aktuelle Ressourcenknappheit ist vor allem Folge eines ständig wachsenden Angebots
medizinischer Leistungen auf der einen und einer ständigen Zunahme der Nachfrage auf der
anderen Seite. Die Faktoren, die zu einer solchen „Explosion des sinnvoll Machbaren“1
führen, sind im Wesentlichen bekannt,2 nämlich die stetig ansteigende Lebenserwartung in
den westlichen Gesellschaften, eine Zunahme an chronischen Erkrankungen,3 ein ständig
wachsendes Angebot an medizinischen Leistungen mit einer zunehmenden Spezialisierung
und Differenzierung des Angebots,4 wobei die Tatsache dass der Fortschritt der Medizin vor
allem Zusatz- und nicht Ersatztechnologien hervorbringt, besonders schwer wiegt.5 Parallel
dazu beobachten wir eine zunehmende Medikalisierung von Lebensbereichen, z.B. der
Schwangerschaft oder im Zusammenhang mit Alterssterilität. Gleichzeitig dringen innerhalb
der Medizin immer stärker melioristische Zielsetzungen gegenüber rein therapeutischen vor
ohne dass sich hier eine exakte Grenze ziehen ließe.
1
Krämer 2007, 37.
Zum Folgenden vgl. Heinrichs 2005; sowie die einzelnen Beiträge in dem Sammelband: Gesundheit für alle – wie lange
noch? 2007; Wallner 2004 u.a.
3
Walter Krämer meint dazu: „Diese massenhaften Aufenthaltsverlängerungen – bewirken, dass wir immer mehr zu einem
Volk von Kranken werden“; vgl. Walter Krämer: Was macht Rationierung unvermeidbar?, in: Gesundheit für alle – wie
lange noch?, Berlin 2007, 39.
4
Wie die aktuell diskutierten Schlagworte von case-management und Schnittstellenmanagement zeigen, schafft die
Spezialisierung und Differenzierung im Gesundheitsbereich große Probleme; es kommt zu Reibungsverlusten und
Effizienzverlusten an den Schnittestellen zwischen den einzelnen Teilsystemen, die letztlich auch dem Patienten schaden. In
diesem Sinn soll case management die Kosten reduzieren helfen und gleichzeitig die Hilfe für den individuellen Patienten
optimieren; vgl. Ärzte Woche 20(2006)14.
5
Im Zeitraum von 1990-1999 stieg in Deutschland die Zahl der Ballondilatationen um 392 Prozent! (Ärzte Zeitung
20.3.2007).
2
© W. Schaupp 2008
2
Allenthalben wird die These vertreten, erweckt, das Finanzierungsproblem im
Gesundheitsbereich ließe sich angemessen durch Rationalisierungsmaßnahmen bewältigen,
d.h. durch einen verantwortlicheren und effizienteren Einsatz finanzieller Mittel bei
gleichbleibender oder steigender Leistungsqualität für die Patienten. Dies scheint jedoch nicht
zuzutreffen. In der Sicht von Gesundheitsökonomen liegt das Hauptproblem der modernen
Medizin in den eben genannten Faktoren und nicht in einer „immer wieder angeprangerte
Korruption und Misswirtschaft“; das Grundproblem „der modernen Medizin sind nicht ihre
Mängel, sondern ihre Möglichkeiten“.6
2. Bewältigungsstrategien und ihre Bewertung
Welche Strategien kommen nun prinzipiell dafür in Frage, das Knappheitsproblem im
Gesundheitsbereich zu lösen und wie sind diese Strategien ethisch zu bewerten? Im
Folgenden soll ein kurzer Überblick über die derzeit diskutierten Lösungsansätze gegeben
werden, um diese danach einer genaueren Prüfung zu unterziehen.7
Als ökonomisch denkbare Lösungsstrategien sind zu nennen:
Rationalisierung = Erhöhung des outcomes für Patienten bei konstanten finanziellen
Ressourcen oder gleichbleibender outcome bei sinkendem Ressourcenverbrauch; auch als
Steigerung der Effizienz bezeichnet (Effizienzprinzip)
Steigerung der Gesundheitsausgaben
= Erhöhung der in das Gesundheitswesen
eingebrachten Ressourcen – konkret durch höhere Steuern oder höhere Versicherungsbeiträge
(in Österreich)
Rationierung/Leistungsbegrenzung = bewusster Vorenthalt bestimmter Leistungen aus
Kostengründen (bewusste Verknappung der Leistungen)
Marktmodell = Gesundheitsleistungen werden dem freien Markt, d.h. dem Spiel von Angebot
und Nachfrage überlassen.
Das zuletzt genannte Marktmodell, welches Gesundheitsleistungen dem freien Markt
überlassen will, wird nicht weiter diskutiert, da es wegen seines Mangels an sozialer
Solidarität vor allem in Europa als nicht konsensfähig gilt.8
Möglichkeiten und Grenzen von Rationalisierung
Wie ist die Chance zu beurteilen, dem Knappheitsproblem durch Rationalisierungsmaßnahmen beizukommen, also die finanziellen Kosten – den input - gleich zu halten oder zu
senken, bei gleichzeitiger Steigerung des outcomes, also der Gesundheitsleistungen?
Rationalisierung bedeutet Steigerung der ökonomischen Effizienz, z. B. durch preisgünstigere
Medikamente (Generika), Optimierung der Handlungsabläufe, Strukturreformen, Optimierung
6
Ebd. 35. Das oft gehörte Schlagwort „Prävention statt Therapie“ biete hier keinen Ausweg, da durch die Verhinderung von
bestimmten Krankheiten oder einer längeren Lebenserwartung die Gesundheitskosten nicht gesenkt werden.
7
Zum Folgenden vgl. Marckmann 2005.
8
Zur Unmöglichkeit eines reinen Gesundheitsmarktes: a) Ökonomisches Argument: die Gesundheitsgüter weisen immanente
Merkmale auf, die zu einem Markversagen führen würden; b) Gerechtigkeitsargument: Gesundheit ist ein besonders
grundlegendes Gut – es ist ein „Ermöglichungsgut“ – gleicher Zugang ist ident mit Chancengleichheit in einer Gesellschaft –
auf einem freien Markt würden sie nach finanziellen Fähigkeiten verteilt; c) Denkbar ist ein Mischsystem aus basalem
Solidarsystem und Marktmodell für Zusatzversorgung (nach individuellen Präferenzen). Das „Geschäftsmodell“ lässt sich
auch deshalb nur unvollkommen auf die therapeutische Situation übertragen, da der Kranke aufgrund seiner Abhängigkeit
und Hilfsbedürftigkeit immer noch etwas anderes ist als reiner Kunde; vgl. auch Marckmann 2005, 181-184.
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3
der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen
Einsparungen im Personalwesen u.a.
Institutionen
im
Gesundheitswesen,
Es trifft ohne Zweifel zu, dass aus einer ethischen Perspektive Rationalisierung Vorrang vor
Rationierung haben muss: Solange im Gesundheitssystem Rationalisierungsreserven
vorhanden sind, ist es unethisch, dem Patienten sinnvolle medizinische Leistungen
vorzuenthalten. Es wird in der Diskussion jedoch auch auf deutliche Grenzen des
Rationalisierungskonzepts hingewiesen:
Rationalisierungsmaßnahmen werden langfristig nicht ausreichen, die zunehmenden
Kosten im Gesundheitswesen zu kompensieren.
Rationalisierungsmaßnahmen haben potentielle negative, inhumane Nebeneffekte:
Rigorose Einsparungen beim Personal können langfristig zu einer Überforderung des
Personals führen mit der Gefahr eines burn outs; durch die Technisierung von
Handlungsabläufen verschwindet der menschlich-personale Faktor; insgesamt wird die
Qualität der Versorgung ausgehöhlt. Es besteht die Gefahr, dass einzelne Gruppen
diskriminiert werden (= „Benachteiligung der kleinen Zahl“9).
Man spricht öffentlich von Rationalisierung und in Wirklichkeit geschieht schon eine
„stille“ Rationierung, die sekundär und implizit, d. h. ohne explizite Regeln und ohne,
dass dies so benannt wird, verläuft10; z. B. durch den Abbau von Intensivbetten, die
Verlängerung von Wartezeiten und den Abbau von Facharztstellen.
Eine weitere verschleiernde Strategie besteht darin, Globalbudgets langsam zu kürzen
oder einzufrieren, um einen Rationalisierungsdruck zu erzeugen. Faktisch aber kommt
es dadurch auf der unteren Ebenen zu Rationierungsprozessen, wobei den Ärzten die
entsprechenden Allokationsentscheidungen aufgezwungen werden.11 Zu Recht
beklagen Ärzte sich hier, wenn die Politik notwendige Allokationsentscheidungen
einfach auf die Mikroebene (Administrations-Arzt und Arzt-Patientenebene) verlagert,
um öffentlich nicht dazu stehen zu müssen!12
Zusammenfassend ergibt sich, dass Rationalisierung zwar einen ethischen Imperativ darstellt,
aber nicht um jeden Preis! Es wäre falsch, wie es oft geschieht, Rationierungen von
vornherein als ethisch bedenklich anzusehen, die möglichen negativen Konsequenzen von
Rationalisierung jedoch zu übersehen. Rationalisierungsstrategien müssen vielmehr
genauestens auf ihre „Kosten“ im Hinblick auf Qualität der Betreuung, auf zugemutete
Belastungen und auf mögliche Diskriminierungen geprüft werden. Zweitens dürfen sie nicht
dazu dienen, implizite Rationierungsmaßnahmen zu erzwingen, die dann aber gleichzeitig
verschleiert werden. All dies wird nur durch ein sensibles und leistungsfähiges
9
„Insofern wird es in Sozialsystemen immer Räume geben, die nicht durchrationalisiert werden können. Insbesondere denke
ich hier an die Tatsache der „Benachteiligung der kleinen Zahl“: In dünn besiedelten Landstrichen wird ein Krankenhaus nie
so effizient wirtschaften können, wie im Ballungsraum einer Großstadt.“ (Rosenberger 2007).
10
Vgl. die Studien von Carlo Schultheiss und Susanne Hahn, in: psychoneuro 30 (2004) 4:221-22.
11
„In practice, the responsibility of rationing health care resources has historically been the responsibility of the medical
profession when demand exceeds supply, which is the case every day in health services.” (Carlsson 2007, 84).
12
Bruch, Hans-Peter: Ärztliches Handeln unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen, in: Gesundheit für alle - wie lange
noch?, Berlin 2007, 45-50.
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4
Evaluierungssystem vermeidbar sein, in dem die Folgekosten von Rationalisierungsmaßnahmen immer wieder unvoreingenommen geprüft werden.
Steigerung der Gesundheitsausgaben?13
Die zweite grundsätzliche Möglichkeit, auf ein Ressourcenproblem zu antworten, besteht in
einer Steigerung der gesellschaftlichen Gesundheitsausgaben. Auch wenn eine solche
Erhöhung des Gesundheitsbudgets immer wieder notwendig sein wird, wird dies
voraussichtlich langfristig das Problem ebenfalls nicht lösen können. Zumindest ist auch
dieser Weg mit einigen wichtigen Problemen behaftet. Zunächst steht Gesundheit als ein
gesellschaftliches Gut in Konkurrenz zu anderen wichtigen gesellschaftlichen Gütern wie
Bildung, Kultur, Entwicklungshilfe, Infrastruktur und Ausgleichsmaßnahmen für sozial
schwache Gruppen der Bevölkerung. Gesundheitsbezogene Ausgaben müssen gegen diese
anderen Güter abgewogen werden und können nicht beliebig erhöht werden. Zweitens wird
die Volksgesundheit nicht nur und nicht einmal primär durch direkte medizinische
Maßnahmen gefördert, sondern vor allem durch Faktoren wie sozialer Status, Bildungsgrad
und soziales Netz. Selbst wenn Gesundheit eines der wichtigsten Anliegen einer Gesellschaft
ist, bedeutet das also noch lange nicht, dass unbegrenzt in den primären medizinischen Sektor
investiert wird. Drittens haben Untersuchungen gezeigt, dass die Volksgesundheit eines
Landes keineswegs in direktem Zusammenhang mit dem Gesundheitsbudget steht, was
bedeutet, dass eine Erhöhung der direkten Gesundheitsausgaben nicht notwendig zu einer
entsprechenden Steigerung des health status einer Gesellschaft führt.14 Schließlich würde ein
ungebremster Anstieg der gesellschaftlichen Gesundheitsausgaben das Solidarsystem
gefährden, indem es ab einem bestimmten Punkt die Bereitschaft zu solidarischem Teilen in
der Bevölkerung überfordert.
Rationierung
Will man an einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem festhalten, bleibt also als
letzter Weg die Rationierung, d. h. die bewusste Begrenzung öffentlich und solidarisch
finanzierter medizinischer Leistungen. Eine solche Rationierung kann prinzipiell auf zwei
Weisen erfolgen, als implizite Rationierung, bei welcher ein Globalbudget begrenzt wird und
die konkrete Allokation der begrenzten Ressourcen den untergeordneten Stellen, d. h. den
Kliniken, Spitälern und Ärzten, überlassen wird, und als explizite Rationierung, bei der die
Kriterien der Leistungsbegrenzung direkt und öffentlich benannt und auf der Makroebene
festgelegt werden.
Obwohl die implizite Rationierung politisch viel leichter durchzusetzen ist und derzeit auch
schon praktiziert wird, da man hier die Beschränkungen nicht öffentlich konkret zu benennen
braucht und nicht rechtfertigen muss, hat sie doch gravierende Nachteile. Implizite
13
Höhe der aktuellen Gesundheitsausgaben im Vergleich (2007): Österreich 10,2 % des BIP - USA 16% - GB 6,9% - D:
10,7% - Polen 6,2 – Schweden 9,1. Die aktuelle Empfehlung der WHO liegt bei 5% des BIPs. Was die Frage betrifft, wie
hoch die Gesundheitsausgaben eines Staates sein sollten, nennt Savedoff nennt als Kriterien für die Festlegung notwendiger
Gesundheitsausgaben: wie ist die Ausgangssituation? – Welchen Standard will man erreichen? – Effektivität der Ausgaben –
Relative Gewichtung von Gesundheit vs. Andere Güter; vgl. Savedoff 2007.
14
Länder mit einer Kindersterblichkeitsrate unter 30 pro 1000 haben ein Gesundheitsbudget zw. 1,4 und 8,7% bzw. von 7$
bis zu 4.200 $ pro Kopf Einkommen; Faktum ist, dass es bislang sehr schwierig wenn nicht unmöglich ist, Verbesserungen
im Gesundheitswesen (changes in health status) mit gestiegenen Ausgaben (health care spending) zu korrelieren. „Betrachtet
man jedoch traditionelle Gesundheitsindikatoren wie Lebenserwartung oder Säuglingssterblichkeit, so erscheint das britische
System nicht ineffektiver als Gesundheitssysteme in anderen Ländern“ (Wallner 2004, 200).
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5
Rationierung verlagert erstens die ganze Verantwortung für die sehr schwierigen
Allokationsentscheidungen auf Spitäler und Ärzte, wodurch diese überfordert sein können.
Sie führt zweitens zu mangelnder Transparenz im Gesundheitssystem und begünstigt eine
Verschleierung faktisch vorhandener Rationierungen. Drittens begünstigt sie Ungleichheiten
und Diskriminierungen, z. B. wenn vorhandene Mittel nach persönlichen Gesichtspunkten
zugeteilt werden oder die Allokation an verschiedenen klinischen Einrichtungen verschieden
gehandhabt wird, wodurch das Prinzip des gleichen Zugangs zu Gesundheitsmitteln verletzt
wird. Aus diesen Gründen ist eine explizite Rationierung ethische vorzuziehen, da sie eine
offene Diskussion verlangt, die im Idealfall dazu führt, dass die Entscheidungskriterien
transparent gemacht und gesellschaftlich mitgetragen werden und da sie für Gerechtigkeit und
Unparteilichkeit in der Anwendung sorgt.15 Ein deutlicher Nachteil einer strikt expliziten
Rationierung ist allerdings, dass der Freiraum für individuelle Behandlungsentscheidungen
verloren gehen kann, wenn die Behandlung sich immer mehr an allgemeinen
Effizienzkriterien (Kosten-Nutzen-Relation einer medizinischen Intervention) orientieren
muss.
2. Gesundheit als Grundgut
Das Gut der Gesundheit
Um die Spannungen zwischen ökonomischem Kalkül und ärztlichem Heilungsauftrag richtig
beurteilen zu können, sollte man an dieser Stelle innehalten und sich bewusst werden, um
welches menschliche Gut es eigentlich geht, wenn von Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und
ärztlicher Diagnostik und Therapie die Rede ist.
Gewöhnlich wird menschliche Gesundheit als ein so genanntes Basisgut angesehen.
Gesundheit ist für den Menschen nicht Selbstzweck, sondern die Grundlage – und in diesem
Sinn die „Basis“ - zur Führung eines individuellen Lebens, zur Verwirklichung eines
bestimmten Lebensplanes und der ihm inhärenten Güter, seien diese nun materieller,
ästhetischer, personaler oder geistiger Natur. Gesundheit ist damit keineswegs das höchste
Gut in unserem Leben, es kann und wird auch immer wieder im Namen höherer Güter
geopfert werden. Andere sprechen in diesem Sinn auch von einem transzendentalen Gut,
indem Gesundheit als Bedingung der Möglichkeit für andere, qualitativ ganz verschiedene
und heterogene Güter dient.
Ökonomen weisen darauf hin, dass Gesundheit nicht nur ein individuelles, sondern ebenso ein
gesellschaftliches Gut darstellt, da Volksgesundheit eine wichtige Voraussetzung für eine
funktionierende Wirtschaft ist. Aus dieser Sicht ist Gesundheit ein wichtiger Faktor des
„Humankapitals“ einer Gesellschaft.
Was in diesen Zugängen zum Gut der Gesundheit und auch in der gegenwärtigen
gesundheitspolitischen Diskussion zu wenig betont wird, ist, dass Gesundheit gewöhnlich mit
der Körperlichkeit des Menschen zu tun hat und dass diese wiederum in einem viel
unmittelbareren Zusammenhang mit der Person selbst und mit deren Würde steht als andere
Güter. Ein Dach über dem Kopf und eine im Winter geheizte Wohnung ist ebenso ein
15
Aus diesen Gründen, vor allem wegen der größeren Transparenz und Konsistenz, entscheiden Michael Rosenberger und
eine Reihe andere Ethiker sich klar für die explizite Rationierung; vgl. Rosenberger 2007.
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6
Basisgut für die Verwirklichung vieler anderer Güter, aber ein Angriff auf mein Haus ist nicht
einfach gleichzusetzen mit einem Angriff bzw. einer Verletzung meines Körpers. Es ist der
Mensch selbst als Person mit Würde, welcher in seiner Körperlichkeit begegnet. Anders als
ein Versicherungsmanager, der es mit den Finanzen eines Klienten zu tun hat, oder ein
Automechaniker, der das Auto seines Kunden bearbeitet, hat es der Arzt mit dem Körper des
Menschen und damit in einer viel unmittelbareren Weise mit dessen Person selbst zu tun. Der
Begriff eines respektvollen und würdigen Umgangs bekommt hier nochmals eine ganz andere
Bedeutung. Genau an diesem Punkt unterscheiden sich Arzt und Pflegepersonen in ihrer
beruflichen Tätigkeit von jener eines Gesundheitsmanagers oder Gesundheitsökonomen:
obwohl beide sich um die Gesundheit von Menschen kümmern und das Gut Gesundheit
befördern wolle, bleibt letzterer in einem distanzierten Verhältnis zum konkreten Menschen,
wogegen Arzt und Pflegepersonen den konkreten Menschen in seiner Körperlichkeit und
damit als Person berühren und affizieren.
Ethische Implikationen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. (1) Insofern Gesundheit
als fundamentales Gut die Bedingung der Möglichkeit für so viele andere Güter unseres
Lebens darstellt, sollte eine gerechte Gesellschaft versuchen, dieses Gut für jeden Menschen
und in möglichst gleicher Weise zu gewährleisten. Aus verschiedenen Gründen, die hier nicht
weiter diskutiert werden sollen, ist dies nicht anders möglich als über ein funktionierendes
Solidarsystem (Versicherungssystem). Deshalb sollte die Idee einer gesellschaftlichen
Solidarität in Fragen der Gesundheit außer Diskussion stehen. (2) Insofern im medizinischen
Bereich im Gegensatz zu vielen anderen Berufen und anderen Gütern wird dem Menschen
viel unmittelbarer in seiner Körperlichkeit und in seiner psychischen Verfassung begegnen,
werden Fragen einer möglichen Würdeverletzung viel dringlicher als in anderen
gesellschaftlichen Sphären. Wie Immanuel Kant formuliert, bedeutet Würde so viel wie
Selbstzwecklichkeit, Nicht-Instrumentalisierbarkeit, Einmaligkeit und Originalität. Jeder
Mensch ist um seiner selbst willen zu respektieren und zu behandeln und geht niemals in
einem gesellschaftlichen Nutzen auf. In der katholischen Soziallehre wird dieser Grundsatz
als das Personprinzip formuliert: der Mensch als Person ist das Ziel aller gesellschaftlichen
Einrichtungen und nicht umgekehrt die Gesellschaft oder allgemeine gesellschaftliche Ziele
dasjenige, wofür menschliche Personen da sind. Gesundheitssysteme müssen nicht nur
Gerechtigkeit schaffen sondern Bedingungen, unter denen Individuen in Gesundheitsbelangen
entsprechend ihrer Würde behandelt werden.
3. Zwei Mentalitäten im Umgang mit dem kranken Menschen
Blickt man nun nochmals auf die Spannung zwischen Ökonomie und ärztlichem
Heilungsauftrag, um die es in diesem Beitrag geht, dann findet man hier zwei sehr
verschiedene Zugänge zu Krankheit und Gesundheit, besser, zum kranken und gesunden
Menschen, jene des Gesundheitsökonomen und jene des Arztes. Bei ersteren handelt es sich
um eine patientenferne Gruppe, bei letzterer um eine patientennahe. Dieser verschiedene
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7
„Ort“ führt zu unterschiedlichen Perspektiven und unterschiedlichen Arten des ethischen
Empfindens und Argumentierens,16 die näher analysiert zu werden müssen.
3.1. Der gesundheitsökonomische Blick auf den Kranken
Ein erstes Merkmal des gesundheitsökonomischen Blicks auf den Kranken ist die
Orientierung an kollektiver Effizienz. Alle Überlegungen werden von der Frage geleitet, wie
kollektive Gesundheit möglichst effizient – d.h. kostengünstig – bereitgestellt werden kann. Im
Blick steht nicht der individuelle Mensch, sondern das kollektive Wohl, nicht individuelles
Heilwerden sondern Maximierung des Gesamtwohls im Sinn des gesellschaftlichen
Wohlfahrtsoptimums. Als „rationales“ und in diesem Sinn als rechtfertigbares, letztlich auch
verpflichtendes Handeln gilt hier jenes, das diesen Gesamtnutzen nachweisbar optimiert.17 Der gesundheitsökonomische Blick verlangt zweitens nach empirischen Daten und
statistischen Wahrheiten. Die Effekte medizinischen Handelns müssen möglichst genau
messbar werden, damit Vergleiche möglich und Effizienzgewinne so analysierbar werden.
Geleistet wird dies durch health technology assessment durch Pharmakoökonomie
(evidenzbasierte Medizin und System der QUALYs18). - Der gesundheitsökonomische Blick
auf Gesundheit und Krankheit ist drittens gegenüber dem individuellen ärztlichen Handeln
umfassend. Er richtet sich nicht nur auf die klassischen ärztlichen Tätigkeiten, sondern auf
alle Faktoren, die Krankheit und Gesundheit beeinflussen. Innerhalb des eigentlichen
Gesundheitswesens kommen wiederum alle systemischen Ebenen, Makro-, Meso- und
Mikroebene in den Blick.19 - Der individuelle Behandlungsfall ist hier schon immer ein Fall
unter vielen anderen und „Erfolg“ bezeichnet hier nicht den individuellen Heilungserfolg,
sondern das Funktionieren des Ganzen.20
Unbestreitbar positiv am ökonomischen Zugang ist, dass ein effizienter Umgang mit
begrenzten Ressourcen es insgesamt mehr Menschen ermöglicht, daraus einen Nutzen zu
ziehen. Sein Blick auf das Ganze kann Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen im Sinn
einseitiger Privilegierungen oder Vernachlässigungen besser verhindern als der in der
jeweiligen individuellen Arzt-Patienten-Beziehung befangene ärztliche Blick. Ohne
funktionierende ökonomische Basis gibt es langfristig auch kein individuelles
Heilungshandeln, sodass in diesem Sinn die Ökonomie die Basisbedingung für individuelles
Heilungshandeln darstellt.
16
„Professionisten werden sich in der Regel auf andere Kriterien berufen als Verwaltungsorgane“ (Wallner 2004, 253); „Der
Wille zur Veränderung und Leistungskürzungen ist gegeben, wenn man nicht selbst davon betroffen ist“ (Wallner 2004,
203).
17
Wallner 247.
18
Idealer Weise soll die Leistungsfähigkeit einzelner Verfahren genau in Verhältnis von Kosten und Gewinn an QUALYs
bestimmt werden können. Was wiederum dazu zwingt einen Schwellenwert zu bestimmen, ab dem ein Verfahren als
ökonomisch vertretbar gilt (In GB ca. 30.000 Pfund , in USA 50.000 Pfund). Die evidenzbasierte Medizin hat wiederum
ihren Ursprung nicht nur in der Sorge um das individuelle Wohl des Patienten, sondern gleichermaßen in dem Bestreben,
ökonomisch zu wirtschaften, indem man die jeweils effizientesten Verfahren einsetzt
19
Makroebene bezeichnet das Verhältnis von Gesundheitssystem zu anderen gesellschaftlichen Systemen; Mesoebene das
Verhältnis der einzelnen Gesundheitsinstitutionen zueinander (Krankenkassen – Spitäler – niedergelassene Ärzte –
Pharmafirmen); Mikroebene die Handlungsabläufe innerhalb einer Institution (vgl. Wallner 2004, 117).
20
Aufgrund dieses umfassenden und systemischen Blicks wird der Gesundheitsökonom mit in Betracht ziehen, dass wie
schon erwähnt die medizinische Versorgung in einem Land nur zu einem gewissen, nicht allzu großen Teil für die
Gesamtgesundheit der Bevölkerung verantwortlich ist (Wallner 2004, 206).
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8
Zu beachten ist aber ebenso, dass der ökonomische Zugang seinerseits Diskriminierungen
schaffen kann, weil er das kollektive Wohl im Auge hat und so dazu neigt, die kostenintensive
Sorge um einige wenige oder um marginale Gruppen von Menschen als rational nicht
rechtfertigbar darzustellen. Der beschriebene Zwang zu empirischer Evaluierung des Erfolgs
führt dazu, dass sinnvolles ärztliches Handeln den Kriterien eines in bestimmter Weise
„nachweisbaren“ Erfolgs unterworfen wird. Jene Dimensionen ärztlichen Handelns und
Heilens, die sich diesem Zugriff entziehen, verschwinden insgesamt aus dem Kalkül. Aus
diesem Blickwinkel ist der ökonomische Zugang zum Gesundheitsproblem einerseits ein
notwendiger, andererseits ein inhärent reduktiver. Dies bedeutet, dass wirkliche Probleme dort
auftauchen werden, wo er zur leitenden und alle anderen Sphären dominierenden Perspektive
wird.21
3.2. Der Blickwinkel des individuellen ärztlichen Handelns
Der „Ort“ und damit der Blickwinkel des ärztlichen Handelns auf den Patienten ist in
mehrerer Hinsicht ein konträrer. Im Zentrum steht hier ein individueller Mensch mit
individuellen Bedürfnissen, der in einer Einmaligkeit und Unvertretbarkeit zugänglich und
erlebbar wird. Das ärztliche Handeln soll sich ganz von seinem Wohl und seinem Willen
bestimmen lassen. Hier kann es den heroischen Kampf um das einzelne Leben bis zuletzt
genauso wie den Verzicht auf medizinisch Mögliches geben, beides aber immer streng im
Interesse des individuellen Menschen. Macht es Sinn, um sein Leben zu kämpfen, sollten alle
verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden und sollte kein Preis zu hoch und kein Mittel zu
teuer sein. Bei genauer Betrachtung bestimmt sich der Sinn ärztlicher und pflegerischer
Handlungen im Umgang mit dem individuellen Patienten nie nur vom messbaren Erfolg her,
sondern hat immer zugleich symbolische Bedeutung, d. h. er ist Ausdruck bestimmter
Haltungen diesem Menschen gegenüber. Der ungleich distanziertere Ort des
Gesundheitsökonomen oder Gesundheitspolitikers ist nicht in derselben Weise symbolisch
aufgeladen, auch wenn es sein kann, dass man eine bestimmte Politik zu Recht als
„menschenverachtend“ bezeichnet.
Auch diese Perspektive hat ihre Grenzen. Je mehr der individuelle Mensch in seiner
Unvertretbarkeit im Mittelpunkt steht, desto eher geraten Fragen aus dem Blick, die außerhalb
oder vor der unmittelbaren Behandlungssituation stehen und die doch ebenso von ethischer
Relevanz sind: Welche Menschen finden überhaupt den Weg in die Arztpraxis und welche
werden schon vorher ausselektiert? Wie gerecht ist der im Einzelfall durchaus sinnvolle
Einsatz hochtechnischer Mittel im Verhältnis zu jenen Personen, die sich bestimmte
Behandlungen nicht leisten können? Wieweit ist der finanzielle Aufwand für hohe
medizinische Standards und Spitzenmedizin im Westen angesichts der Situation in anderen
Ländern vertretbar? Würden allerdings all diese Fragen einer vergleichenden Gerechtigkeit
immer in der unmittelbaren Handlungssituation allzu dominant sein, könnte das das Handeln
des Arztes paralysieren. Um diesem Problem zu entkommen, lässt sich argumentieren, dass
der Arzt seinem individuellen Patienten all das schuldet, was in der konkreten Situation
21
So Hans-Peter Bruch; Bruch kritisiert am ökonomischen Zugang im Einzelnen einseitige Ausrichtung an standardisierten
Prozessen, ökonomische Bewertung des Menschen und starre Strukturen; allgemein das Paradigma „industrieller
Reparaturprozesse“ (Bruch 2007, 50).
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verfügbar ist und vom individuellen Patientenwohl her gesehen sinnvoll ist, dass er aber nicht
unmittelbar dafür verantwortlich ist, was vor Ort verfügbar ist und wie gerecht die
entsprechenden Verteilungsstrukturen auf einer höheren Ebene sind.
4. Konsequenzen
Die zuletzt angestellten Überlegungen gingen in die Richtung, dass wir es angesichts der
aktuell aufbrechenden Ressourcenknappheit mit zwei verschiedenen Perspektiven zu tun
haben, die nicht einfach zur Deckung zu bringen sind, sondern in bleibender Spannung
zueinander stehen.22 Ihnen entsprechen zwei ethische Prinzipien: das Prinzip des Respekts vor
der individuellen menschlichen Würde, das sich auf den unabwägbaren und unverrechenbaren
Wert jedes menschlichen Lebens bezieht, verlangt von uns, in der konkreten Situation alles zu
unternehmen, um sich um das Wohl einer individuellen Person zu kümmern; das Prinzip der
Gerechtigkeit verlangt, die verfügbaren Ressourcen zwischen bedürftigen Individuen gerecht
zu verteilen und so den einzelnen schon immer als Teil eines Kollektivs, als Teil einer
Gemeinschaft von Individuen mit gleicher Würde zu betrachten. Die alles entscheidende
Frage lautet nun, wie diese Spannung im Hinblick auf Gesundheitsversorgung richtig
bewältigt werden kann. Folgende Aspekte scheinen dafür wichtig zu sein:
(1) Man sollte den Unterschied zwischen den beiden beschriebenen Zugängen akzeptieren wie
auch deren jeweilige ethische Legitimität. Eine einseitige Auflösung der daraus sich
ergebenden Spannung ist nicht möglich. Weder lässt sich individuelles ärztliches Handeln in
Gesundheitspolitik auflösen, noch wird es langfristig Sorge um individuelle Patienten ohne
eine stabile gesundheitsökonomische Basis geben. Blickt man auf die institutionelle,
systemische Ebene, dann können beide Anliegen kaum in Personalunion gelebt werden. Es
braucht so etwas wie eine doppelte „Anwaltschaft“ im Gesundheitssystem, einerseits also
Personen, die sich um eine möglichst gerechte Verteilung der knappen Ressourcen kümmern
und diese im Hinblick auf die konkreten „Orte“ medizinischer Praxis begrenzen, und andere
Personen, die Anwälte der individuellen und unverrechenbaren Bedürfnisse konkreter
Patienten sind.
(2) Damit ist die entscheidende ethische Frage, wie beide Perspektiven und damit die zwei
dahinter liegenden ethischen Prinzipien in der Praxis in ein richtiges Verhältnis zueinander
gesetzt werden können. In der richtigen Balancierung zwischen zwei ethischen Anliegen liegt
dann das anzustrebende ethisch Gute. Dass dies prinzipiell möglich ist, zeigt das Beispiel der
Allokation von Organen in der Transplantationsmedizin. Die meisten Ethiker gehen hier
davon aus, dass die ethisch richtige Verteilung knapper Organen nur durch eine angemessen
22
Zur folgenden Idee, von der notwendigen Balancierung zweier rivalisierender ethischer Prinzipien auszugehen vgl. Per
Carlsson, darauf hinweist, dass die allgemein akzeptierte ethische Basis für das Gesundheitssystem in Schweden in zwei
aufeinander nicht zu reduzierenden Prinzipien bestehe, nämlich Kosteneffizienz und aktuelle Bedürftigkeit ( Carlsson 2007).
Einer amerikanischen Studie zufolge würde ein Großteil der Menschen im Hinblick auf eine gerechte Verteilung von
Gesundheitsleistungen drei Prinzipien Bedürfnisprinzip, Maximierungsprinzip und Gerechtigkeitsprinzip kombinieren und
keinem von ihnen den absoluten Vorrang geben (Cookson, Richard/Dolan, Paul: Principles of Justice in Health Care
Rationing, in: Journal of Medical Ethics 2000, 26: 323-329).
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10
Balancierung der rivalisierenden Prinzipien medizinischer Nutzen (Maximierung des medical
benefits) und Gerechtigkeitsprinzip (gleiche Chancen auf ein Organ) erreicht werden kann.23
(3) Ökonomische Überlegungen und Maßnahmen sind notwendig und legitim, müssen aber
als Basis oder als Rahmen verstanden werden. Ohne sie ist langfristig individuelles ärztliches
Handeln nicht möglich. Dieses benötigt jedoch einen eigenständigen Raum, weil es zwar das
Prinzip der Kosteneffizienz mit berücksichtigen muss, darin aber nicht vollkommen aufgehen
kann. Es braucht mit anderen Worten einen bestimmten Spielraum, innerhalb dessen sich eine
kompromisslose Sorge um den einzelnen Menschen entfalten kann. Nicht die Sorge um den
einzelnen Menschen als solche darf begrenzt werden, sehr wohl jedoch der Spielraum dieser
Sorge und zwar im Sinn von Überlegungen der Gerechtigkeit und der Fairness. Die hier
unvermeidliche Ausbalancierung muss erstens transparent sein und sie muss ständig überprüft
werden, ausgehend von der Überlegung, dass ökonomische Zwänge zu viel in den
individuellen therapeutischen Raum eingreifen können aber auch zu wenig präsent sein
können.24 Im Sinn des oben angesprochenen Modells der Anwaltschaft kommt Ärzten und
Pflegepersonen die Aufgabe zu, für mögliche Übergriffe ökonomischer Überlegungen zu
sensibilisieren und diese zu thematisieren. Umgekehrt haben Gesundheitsökonomen z. B. die
Pflicht, auf eine ethisch unverantwortliche Kostenineffizienz bestimmter medizinischer
Verfahren hinzuweisen.
(4) Konkret bedeutet dies, dass es ethisch legitim ist, auf der Makroebene Beschränkungen
einzuführen. Es gibt keine kategorische Verpflichtung dazu, dass in einem Staat immer und
überall die jeweils neuesten medizinischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Angesichts
der vor Ort faktisch vorhandenen Ressourcen muss dann jedoch immer alles sinnvoll
Mögliche getan werden können.25 Ebenso ist es ethisch legitim, ja notwendig, dass Ärzte sich
über die relative Kosteneffizienz der verschiedenen medizinischen Maßnahmen, die sie
anwenden, im Klaren sind. Die Mitberücksichtigung von Kosten in individuellen
Behandlungsentscheidungen ist so lange kein Verstoß gegen die Würde, wie darin nicht das
einzige Kriterium für Behandlungsentscheidungen liegt.
(5) Angesichts der Tendenz zur Verschleierung von Problemen und der Neigung, implizit zu
rationieren bzw. die entsprechende Verantwortung auf die letzte Ebene zu delegieren, ist für
eine möglichst offene und transparente Debatte zu plädieren. Bestimmte Wertentscheidungen
im Sinn von Abwägungsvorgängen sind unvermeidbar: je mehr Entscheidungen von einem
allgemeinen Konsens getragen sind und vernünftig begründbar sind, desto weniger verletzten
sie die Würde des Menschen. So könnte eine Gesellschaft durchaus zur Auffassung gelangen,
dass eine qualitativ gute Pflege und genügend Zeit bei der ärztlichen Betreuung wichtiger
erscheint als optimierte Hochleistungsmedizin.
23
Vgl. UNOS Ethics-Committee: General Principles for Allocating Human Organs and Tissues, in: Transplantation
Proceedings, Vol.24, 1992, No.5: 2227-2235; Gutmann, Thomas/Land, Walter: The Ethics of Organ Allocation. The State of
the Debate, in: Transplantation Reviews Vol.11, 1997, No.4:191-207.
24
Zu diesem Lösungsansatz vgl. Wallner 2004, 87: „Demnach ist eine Entscheidung gegenüber der konkreten Person dann
gerechtfertigt, wenn für sie alles Mögliche getan wurde (z.B. die an einem Krankenhaus verfügbaren Therapiemöglichkeiten
ausgeschöpft wurden). Dies impliziert jedoch nicht die Garantie, dass für alle (abstrakten und statistischen Personen) zu jeder
Zeit und an jedem Ort alle medizinischen Möglichkeiten vorhanden sein müssen.“
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Nach Walter Krämer sollten Rationierungen nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Mensch unter bestimmten
Bedingungen stirbt, nie aber direkt eine Entscheidung für oder gegen den Tod eines konkreten Menschen implizieren.
© W. Schaupp 2008
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(6) Was ökonomische Überlegungen angeht, haben Rationalisierungsmaßnahmen Vorrang
vor Rationierungen, dies wurde schon gesagt. Aber es braucht Sensibilität für die möglichen
negativen „Kosten“ solcher Maßnahmen. Das Ziel ist dann aber wiederum nicht die
Zurückweisung jeglicher Rationalisierung, sondern die Bereitschaft und die Geduld, über
Evaluierungen und Rückmeldungen Rationalisierungsmaßnahmen richtig zu adjustieren.
Literatur
Bruch, Hans-Peter: Ärztliches Handeln unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen, in: Nationaler Ethikrat
(Hg.): Gesundheit für alle – wie lange noch?, 45-50.
Carlsson, Per: Is it possible to be more systematic and transparent in priority setting in health care? Recent
developments in Sweden, in: nationaler Ethikrat (Hg.): Gesundheit für alle – wie lange noch?, a.a.O., 83-90.
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Krämer, Walter: Was macht Rationierung unvermeidbar?, in: Nationaler Ethikrat: Tagungsdokumentation:
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Ärzteblatt 2006, 103:A-320/B-282/C-267.
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Ethikrat (Hg.): Gesundheit für alle – wie lange noch?, a.a.O., 103-119.
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Wallner, Jürgen: Ethik im Gesundheitssystem, Wien 2004.
Wallner, Jürgen: Live or let die? Ethische Überlegungen zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen, Wien
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© W. Schaupp 2008
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