Reiter-Theil Handout - Evangelische Akademie Tutzing

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Ethische Perspektiven
Risiken und unerwünschte Folgen
medizinischer Behandlung
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
ANNE FRANK-Professorin und Vorsteherin
Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik (IAEME)
Medizinische Fakultät der Universität Basel
Website: www.unibas.ch/aeme
1
Gliederung
• Das Thema „ Risiken“ und „unerwünschte
Folgen“ in der Medizin
– Exkurs: Irrtum in Wissenschaft – und Ethik?
• Ebenen der Auseinandersetzung:
Individualethik – Organisationsethik
• Ethische Begriffe - Veranschaulichung
• Fehlerkultur in der Klinik
• Probleme: „verdeckte Rationierung“ und „ethische
Schwierigkeiten“
• Konsequenzen
2
Unerwünschte Folgen, Fehler
• Trotz einer Therapie ...
• Durch eine Therapie ...
• Durch eine unterlassene Therapie ...
• Durch eine falsche Therapie ...
• Durch eine falsch angewendete Therapie ...
• Durch eine pflegerische Maßnahme ...
• Durch ein Beratungsgespräch ...
– ... belastende Nebenwirkungen oder
bleibende Schäden erleiden
3
Exkurs: Irrtum in Wissenschaft –
und Ethik?
• „Die Geschichte der Wissenschaft – und ähnlich auch die
Geschichte aller menschlichen Ideen – ist eine Geschichte von
unverantwortlichen Träumen, von Starrsinn und von Irrtum.
• Aber die Wissenschaft ist eine der ganz wenigen menschlichen
Tätigkeiten – vielleicht sogar die einzige –, bei der Irrtümer
systematisch kritisiert werden und häufig sogar rechtzeitig
korrigiert (rechtzeitig, das heißt, um schlimme Folgen zu
vermeiden).
• Das ist wohl, weshalb wir sagen können, weshalb wir in der
Wissenschaft oft aus unseren Fehlern lernen, und weshalb wir in
der Wissenschaft klar und oft mit Recht von Fortschritt sprechen
können“ (S. 314).
•
Popper KR (1994) Vermutungen und Widerlegungen (Original: 1963, Conjectures
and Refutations)
4
Wenn das Erkennen von Irrtümern für die Entwicklung
der Wissenschaft so fruchtbar ist, können wir dies auch
für die Ethik geltend machen?
• Keine direkte, einfache Analogie, aber:
• Die Lehre, dass das Erkennen von Irrtümern weiter führt
(„Kritizismus“) empfiehlt eine grundsätzlich kritische
Haltung.
• Auch in der Ethik ist es wichtig, sich vor Dogmatismus
zu hüten.
• Es kann weit fruchtbarer für die Beteiligten sein, wenn
nicht nach dem (vermeintlich) einzig richtigen Weg
gesucht wird – worüber die Beteiligten oft in Streit geraten.
5
Welche „Mängel“ sind in der ethischen Beurteilung von
Optionen denkbar, die uns dazu dienen können, eine
Option auszuschalten?
• Eine Option ist in sich widersprüchlich.
– Konsistenz; Logik
• Eine Option hat keinen angemessenen Bezug
zur Realität.
– Sollen setzt Können voraus: Realisierbarkeit ? *
• Eine Option passt nicht zu ihren eigenen
(theoretischen, moralischen)
Voraussetzungen.
– Kohärenz; Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft
* Albert H (1969) Traktat über kritische Vernunft
6
Ebenen der Auseinandersetzung
Individualethik, Ethik persönlicher
Beziehungen, Informed Consent
• Arzt-Patienten-Beziehung, PflegendePatienten-Beziehung ...
Organisationsethik, Verantwortung auf der
Leitungsebene
• Strukturen, Ressourcen, Qualitätssicherung –
auch in ethischer Hinsicht
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Ethische Prinzipien
1. Respekt vor der Autonomie / Respect
for autonomy / Voluntas aegroti
2. Vermeidung von Schaden / Nonmaleficence / Nil nocere
3. Hilfeleistung / Beneficence / Salus
aegroti
4. Gerechtigkeit / Fairness
Beauchamp & Childress 1994 ff
8
"Informed Consent"
Das Konzept von Beauchamp & Childress 1994
1. Schwellen-Elemente
1. Kompetenz d.P. (zu verstehen u. zu entscheiden)
2. Freiwilligkeit d.P. (zu entscheiden)
2. Information-Elemente
3. Aufklärung d.P. d.d.A. (inhaltliche Information)
4. Ärztliche Empfehlung (eines Vorgehens)
5. Verstehen d.P. (von 3 und 4)
3. Zustimmungs-Elemente
6. Entscheidung (für einen Behandlungsplan)
7. Autorisierung (des Plans)
9
"Informed Consent“- Erweitertes Modell 1
1. Schwellen-Elemente
2. Informations-Elemente
3. Elemente der Beratung
4. Elemente der Beziehung
5. Zustimmungs-Elemente
Reiter-Theil 1998
10
"Informed Consent“- Erweitertes Modell 2
3. Elemente der Beratung
1.
Dialog fördern Dr P
2.
Zeit und Geduld Dr P
3.
Information kontextualisieren Dr P
4. Elemente der Beziehung
1. Vertraute Personen einbeziehen P
2. Respekt und Verantwortung zeigen Dr P
3. Fürsorge anbieten Dr
•
Reiter-Theil S (1998) Ethische Aspekte der Patienten-Verfügung. Eine
Chance zur Gestaltung des Sterbens. Forum DKG 13: 262-268
11
Organisationsethik
• Als deskriptive Untersuchung
– beschreibt sie die „moralische Kultur“ einer Organisation.
• Als normative Untersuchung
– untersucht und diskutiert sie die Arbeit an den Werten und
Normen, die die Kultur einer Organisation prägen (sollen).
• Der ethisch-praktische Diskurs (über die Werte und
Normen)
– wird von den Angehörigen der O. wie auch von denjenigen,
die durch das Handeln der O. betroffen sind, geführt.
Fahr & Reiter-Theil 2005, Fernlehrgang, Lehrbrief 1/2, III
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Studie über Fehler und unerwünschte Ergebnisse.
Erste Daten aus USA und Deutschland
• Ärzte, Pflegende und Patienten haben
verschiedene Auffassungen darüber
• ob ein Fehler offen gelegt werden soll
• ob der Patient entschädigt werden soll
• Z.B. Information über Entschädigung:
– Patienten wünschen diese:
• In USA: 30%
• In D: 61%
– Patienten erhalten diese:
• In USA: 0%
• In D: 9%
•
Löwenbrück, Burant, Reiter-Theil, Illhardt, Tröhler, Youngner (2005) Vortrag, 2. International
Conference, Basel
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• Wird die Kommunikation über Fehler in der
Organisation unterstützt?
– Wird nicht unterstützt
• Ärzte USA: 44%
• Ärzte D: 14%
• Wissen über eine schriftliche Leitlinie
– Kein Wissen
• Ärzte USA: 27%
• Ärzte D: 55
•
Löwenbrück, Burant, Reiter-Theil et al. (2005) Vortrag, 2. International
Conference, Basel
Mehr dazu und zu den Antworten der befragten Studierenden:
• AG 4, Aus Fehlern lernen – Herausforderung für die Aus- und Fortbildung
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Fehlerkultur 1
"Aus Fehlern lernt man!"
• Die Einführung eines Fehlermeldesystems wird vom
Pflegepersonal im Allgemeinen positiv gewertet:
• Im Vordergrund muss die Veränderung von Mechanismen und
Strukturen stehen, die Fehler begünstigen, nicht hingegen ein
Suchen und Bestrafen von Schuldigen.
• Der Begriff "Fehler" wird durch den Begriff "kritische Ereignisse"
oder "fast-kritische Ereignisse" ersetzt.
• Beispiel: Umgang mit Sturzereignissen
– Stürze von Patienten werden oft als Versagen des
Pflegepersonals eingestuft. Pflegepersonen, die Stürze bei
Patienten erleben, machen sich meist heftige Vorwürfe und
werden zum Teil sanktioniert. Bei Stürzen sollten mit Hilfe
von Sturzprotokollen die Umstände und Gründe ermittelt
werden, die zu einem Sturz geführt haben, um diese zu
verhüten.
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Umgang mit knappen Ressourcen –
„verdeckte Rationierung“ ?
• Es gibt Daten über:
– Meinungen von Ärzten
(Baines 1998; Cooke 2001; Rosen 2002)
– Ärztliche Entscheidungen in
hypothetischen Fällen
(Ryynanen 1997; Perneger 2002)
• Es gibt aber kaum Daten über den Umgang
mit knappen Ressourcen, d.h. über
„berichtete Rationierung“ am Krankenbett.
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The Values at the Bedside Study
• Internationale Studie mit Förderung durch das NIH, in
Kooperation mit
– Faculté de Médecine, Université de Genève, Suisse
– Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik, Universität
Basel, Schweiz
– Norwegischer Ärzteverband, Norwegen
– ETHOX, University of Oxford, Großbritannien
– Fondazione Lanza, Padova, Italien
– National Institutes of Health, Department of Clinical Bioethics,
USA
•
Hurst, Slowther, Forde, Pegoraro, Reiter-Theil, Perrier, Garrett, Brown, Danis (z.
Publ. Einger.) Prevalence and Determinants of Physician Bedside Rationing in
Four European Countries
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Berichtete Rationierung
• Wie oft haben Sie persönlich während
der letzten sechs Monate
– auf Grund von Kosten für das
Gesundheitssystem
– folgende Interventionen unterlassen,
– obwohl diese für Ihren Patienten das Beste
gewesen wären ?
Liste mit 10 Arten von Interventionen
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Konsequenzen 1
• Rationierung durch Ärzte hat sich in allen
untersuchten Ländern
– Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweiz
als weit verbreitet herausgestellt.
• Zu differenzieren sind die Ebenen der
Entscheidung:
– Rationierung am Krankenbett
• verdeckt, ohne allgemeine und transparente Kriterien
und Verfahrensregeln
ist ethisch und rechtlich bedenklich.
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Konsequenzen 2
• Die größte Verbreitung wurde bei Interventionen wie
MRI (1), Screening-Tests (2) und der Überweisung zu
Spezialisten (3) festgestellt, gefolgt von RoutineRöntgenuntersuchungen (4), Labor (5) und
Medikamenten.
• Kriterien und Strategien weisen einen hohen Grad an
Variabilität auf.
– Auf konkrete Fragen zeigt sich eine verbreitete Akzeptanz
unter Ärzten bezüglich Rationierung am Krankenbett, sofern
diese selbst von Rationierung am Krankenbett berichten.
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Konsequenzen 3
• Rationierung am Krankenbett konfrontiert
Ärzte mit schwierigen moralischen
Dilemmas.
• Eine Diskussion über das Wie im
Gegensatz zum Ob der Rationierung am
Krankenbett ist dringend erforderlich.
– Der Fokus sollte stärker auf empirisch belegte
Engpässe gerichtet werden; diese sind nicht
unbedingt identisch mit denen, die am meisten
diskutiert werden (z.B. Dialyse).
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Ethische Schwierigkeiten 1
• Fast alle (99.4%) der Befragten berichten Erfahrungen
mit mindestens einer ethischen Schwierigkeit
• Am häufigsten wurden erlebt:
– Fragliche od. eingeschränkte
Entscheidungsfähigkeit d.P. (94.8%)
– Uneinigkeit unter Familienangehörigen (81.2%)
– Therapiebegrenzung am Lebensende (79.3%)
•
Hurst, Perrier, Pegoraro, Reiter-Theil, Forde, Slowther, Garrett-Mayer, Danis (in
Vorber.) European Physicians' Experience with Ethical Difficulties in Clinical
Practice
22
Hilfe 1 - Ethische Schwierigkeiten
Am häufigsten bevorzugt:
• Professionelle
Rückversicherung
(„Entscheidung = korrekt“)
(47.5%)
• Spezifischer Rat von
Kapazität (41.1%)
• Hilfe beim Abwägen von
Therapieergebnissen (36%)
und Klären von Fragen
(35.9%)
– Expertenmodell?
– Eindeutige Antworten „hard and fast“?
Am seltensten bevorzugt:
• Relevante Literatur zur
Verfügung gestellt
bekommen (20.9%)
• Hilfe beim Besprechen der
Fragen mit dem Patienten
(24.3%)
• Vermittlung (Mediation) bei
Konflikten (29.4%)
– Typ „Selbsthilfe“,
ungewohnt, aufwändig?
– Kommunikations-basiert?
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Hilfe 2 - Ethische Schwierigkeiten
• Diejenigen Ärzte fanden Hilfsmöglichkeiten
durch “Ethics Support” besonders gut, die
selbst
– größere Erfahrung im Umgang mit ethischen
Problemen hatten.
• Erfahrung mit ethischen Problemen zu
haben, kann Ausdruck moralischer
Sensibilität sein.
– Ärzte mit mehr Ethik-Training waren mit ihren
Lösungen von Problemfällen weniger zufrieden.
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