Integrative KVT bei Frustrationsintoleranz

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Leseprobe aus: Stavemann, Hülsner, Integrative KVT bei Frustrationsintoleranz, ISBN 978-3-621-28357-1
© 2016 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-28357-1
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Einleitung
Frustrationsintoleranz, Ärgerstörungen, Prokrastination oder pathologisches Aufschieben sind Begriffe, die uns sowohl in der therapeutischen und Beratungspraxis
als auch in der Forschung immer häufiger begegnen, wenn es um das Beschreiben
von Problemen geht, die emotionale Turbulenzen verursachen. Unterschiedliche
klinische Beobachtungen und Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten haben gezeigt,
dass Frustrationsintoleranzprobleme (FIP) zu erheblichem psychischen Leid führen
können. Zudem steigt im klinischen Bereich, in Therapien, Seminaren und Supervisionen die Zahl derjenigen, bei denen sich in der Therapie oder Beratung ein FIP als
Problemursache identifizieren lässt.
Obwohl durch das psychische Leiden von einem Therapiebedarf ausgegangen
werden kann, gibt es bisher hierzu kaum Behandlungsansätze. Frustrationsintoleranz
wird in der kognitiven Therapie von Ellis bereits seit 1979 – damals noch als »discomfort anxiety« bezeichnet (Ellis 1979) – als Problemursache erkannt und behandelt.
In mehr als 2000 Studien wurden Wirksamkeitsnachweise für KVT-Behandlungsstrategien – auch für die Therapie von FIP – erbracht (Ellis & Ellis, 2012). Seit den
1970er Jahren gibt es erste Forschungen in einem Bereich von FIP: der Prokrastination
(Höcker et al., 2013).
Bevor im zweiten Kapitel auf den Behandlungsansatz der Integrativen KVT eingegangen wird, werden zunächst einige Definitionen und bereits vorhandene Modelle
zur Erklärung und Therapie von Ärgerstörungen und Prokrastination betrachtet.
1.1 Was ist Frustrationsintoleranz?
In der wissenschaftlichen Literatur findet sich zunächst der Begriff der Frustrationstoleranz.
Frustrationstoleranz. Rosenzweig (1938) meint mit Frustrationstoleranz die Fähigkeit,
psychische Spannungen zu ertragen, die aus dem Nichtbefriedigen von Triebwünschen
herrühren. Die Frustrationstoleranz werde zu einem gewissen Grad im Zuge des
Individualisierungsprozesses erworben und könne durch Rosenzweigs Picture-Frustrationstest (Hörmann & Moog, 1957) ermittelt werden. Was heute unter diesem
Begriff verstanden wird, zeigt die folgende Definition in nicht-analytischer Diktion.
Definition
Frustrationstoleranz
Frustrationstoleranz bezeichnet die individuelle Fähigkeit, mit Enttäuschungen
oder Frustrationen angemessen (d. h. ohne unnötige zusätzliche negative Konsequenzen) umzugehen. Sie wird häufig einerseits als Persönlichkeitseigenschaft
1.1 Was ist Frustrationsintoleranz?
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angesehen, d. h. als Disposition, in bestimmten Situationen häufig entsprechend
typisch zu reagieren.
Andererseits kann Frustrationstoleranz vor allem in der frühen Sozialisation
vermittelt und erlernt werden und ist in gewissem Maße auch noch im Alter
trainierbar und kann durch Lernprozesse (z. B. durch Belohnungsaufschub, Belohnungsreduktion oder gestufte Sanktionen) aufgebaut werden.
Geringe Frustrationstoleranz. Menschen mit geringer Frustrationstoleranz neigen dazu,
Vorsätze und Ziele aufzugeben, wenn etwas nicht erwartungsgemäß und problemlos
verläuft. Sie geraten dann in emotionale Turbulenzen: Manche werden ärgerlich und
aggressiv, andere geben deprimiert auf. Sie können mit Misserfolgen nicht adäquat
umgehen und ihre Motivation für neue Anläufe oder neue Ziele wird ebenso wie ihre
Selbsteffizienzerwartung ständig geringer. Bei Frustrationen reagiert der Forderer-Typ
mit Arousalanstieg und erhöhter Anstrengung, um seine Ziele oder Meinung durchzusetzen, der Vermeider-Typ mit Ausweich- und Vermeidungsverhalten. Beim Forderer-Typ sind häufig aggressive Reaktionen mit erheblichen negativen sozialen Konsequenzen zu beobachten.
Vorhandene Ansätze zur »geringen Frustrationstoleranz« in der Literatur. Die Termini
»geringe Frustrationstoleranz« (GFT) oder »low frustration tolerance« (LFT) werden
in der wissenschaftlichen Literatur durchaus unterschiedlich verwendet.
Die wohl elaborierteste Darstellung zur Diagnose und Behandlung der Auswirkungen von GFT finden wir bei Ellis (2003a, 2003b). Auf diesen Ansatz werden wir in
Kapitel 2 noch ausführlicher eingehen.
Auch Beck et al. (1997) sehen in GFT die Ursache für diverse psychische Störungen
und für Suchtverhalten, beschreiben deren Auswirkungen und legen einen Behandlungsansatz dar.
Andere Autoren wie Freeman (2000) verstehen unter GFT ein Merkmal bei Persönlichkeitsstörungen.
Bohus und Stieglitz (2012) sehen geringe Frustrationstoleranz als typisches Verhaltensmuster bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Menschen mit dissozialer
Persönlichkeitsstörung handeln demnach manchmal planlos und ungestüm, um kurzfristige Vorteile und Vergnügungen zu erlangen. Langfristige Konsequenzen oder
Alternativen werden dabei kaum bedacht.
Rückert (2014) und Bohus und Stieglitz (2009) erkennen auch bei Menschen mit
histrionischer Persönlichkeitsstörung eine geringe Spannungs- und Frustrationstoleranz und eine ausgeprägte Tendenz zu kurzfristigen Abwechslungen und Vergnügungen.
Lauth und Schlottke (2000) finden geringe Frustrationstoleranz auch im Rahmen
von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, die durch neurologische Schädigungen bedingt sind (zerebrovaskuläre Erkrankungen, Alkoholmissbrauch, Alterserkrankungen), und bei psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie und Demenz. Bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen führen sie
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die sozialen Erfahrungen und Misserfolgserfahrungen u. a. auf eine niedrige Frustrationstoleranz, Aggressivität, Trotzverhalten o. Ä. zurück. Durch diese ungünstigen
reaktiven Verarbeitungen würde sich auch die Aufmerksamkeitsproblematik verschärfen (a. a. O.).
Eine Parallele zum Konzept der Frustrationsintoleranz finden wir in der verhaltenstherapeutischen Literatur u. a. im Selbstmanagementansatz von Kanfer (2011). Als
Spezialfall der Selbstregulation wird die Selbstkontrolle beschrieben, die sich darauf
bezieht, ob jemand dazu in der Lage ist, kurzfristig auf Positives zu verzichten oder
einen aversiven Zustand auszuhalten, um langfristig einen größeren positiven Effekt zu
erreichen. Menschen mit geringer Frustrationstoleranz besitzen demnach eine geringe
Selbstkontrolle (Kanfer et al., 2006; Kanfer et al., 2011).
Diagnose von geringer Frustrationstoleranz. Beck et al. (1997) haben eine Checkliste zur
Diagnose von geringer Frustrationstoleranz erstellt. Einen Frustrationsintoleranz-Test
hat Wolf (2015) veröffentlicht. Dieser Test steht unter http://www.palverlag.de/frustrationsintoleranz-test.html auch online zur Verfügung.
1.2 Was sind Ärgerstörungen?
Ärger als psychische Störung. Ärger wird nicht per se als inadäquat oder als problematisch angesehen, dies wird vielmehr von seiner Häufigkeit und Intensität abhängig gemacht sowie von den Bewältigungsstrategien, die für den Ärgerabbau eingesetzt werden. Es gibt bisher wenige epidemiologische Studien zu Ärgerreaktionen.
Die vorhandenen Studien zeigen jedoch, dass Ärger eine der häufigsten emotionalen
Reaktionen ist, ohne dass Ärgerstörungen jedoch in der ICD-10 oder im DSM-5 als
eigenständige Störung aufgeführt werden.
Diverse Autoren (z. B. DiGiuseppe & Tafrate, 2007) sehen – unter Berücksichtigung
spezieller Kriterien – Ärger jedoch durchaus als klinisch relevante Störung an und
fordern, ihn als Störungsbild in die Diagnosesysteme aufzunehmen.
Bei vielen psychischen Störungsbildern spielen Ärgerreaktionen in Genese und
Ätiologie eine bedeutsame Rolle. Daher definieren einige Autoren (z. B. Novaco, 2010;
Steffgen et al., 2014) ärgerbezogene Störungen als Krankheitsbilder, in denen Ärgerreaktionen eine relevante Rolle spielen, wie beispielsweise bei psychotischen Störungen, Demenz, PTBS, Impuls- und Kontrollstörungen oder Depressionen, und sie
machen die klinische Relevanz und Behandlungsbedürftigkeit von Ärgerreaktionen
davon abhängig, wie adaptiv oder angemessen diese in gegebenen Situationen sind.
Andere Autoren wie DiGuiseppe und Trafante (2007) fordern, Ärger als eigenständige
klinische Störungskategorie zu etablieren, wenn häufige, intensive oder anhaltende
Ärgerepisoden, nach außen gerichteter Ärger und regelmäßige negative Konsequenzen
in sozialen und beruflichen Beziehungen sowie ein subjektiver Leidensdruck bestehen.
Auch bei chronischen körperlichen Erkrankungen spielt Ärger eine bedeutsame Rolle.
So sind Ärger und Feindseligkeit als Risikofaktoren bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
bestätigt (Steffen et al., 2014). Allein aufgrund von häufigen Ärgerepisoden können
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Herzinfarkte ausgelöst werden (Mittelmann et al., 1995). Die Autoren vermuten, dass
Ärger einen relevanten Einfluss bei der Ätiologie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
besitzt. Die Erstmanifestation erfolge erst nach Jahren, und Ärger und die damit
zusammenhängenden Konsequenzen spielten vermutlich eine entscheidende Rolle.
So könne die mit Ärger einhergehende psychophysiologische Erregung krankheitsrelevante physiologische Prozesse begünstigen. Dieser Faktor allein reiche jedoch nicht
aus, sondern es seien ebenfalls genetisch-konstitutionelle Faktoren zu berücksichtigen (d. h. das Zusammenwirken von genetischer Prädisposition für Herz-KreislaufErkrankungen und Ärgerneigung sowie Umweltfaktoren wie die Erfahrungen in der
frühen Sozialisation). Bunde und Suls (2006) beschreiben einen Zusammenhang zwischen Ärger und gesundheitsgefährdendem Verhalten (wie z. B. übermäßigem Genussmittelkonsum), falscher Ernährung und körperlicher Inaktivität. Zusammenhänge
zwischen Ärger und Schmerzerleben erbrachten bisher nur korrelative Zusammenhänge zwischen Ärgerunterdrückung und erhöhter Schmerzempfindlichkeit.
Diagnostik. Für die Diagnose von Ärgerstörungen gibt es neben Selbstbeobachtungsmethoden im Rahmen von Ärgertagebüchern auch einige diagnostische Mittel, die
zum Erfassen von Ärgerstörungen entwickelt wurden, wie z. B.
" das State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar STAXI (Schwenkmezger et al., 1992),
" den Fragebogen zu ärgerbezogenen Reaktionen und Zielen AERZ (Weber & Titzmann, 2003),
" das Müller-Anger-Coping Questionnaire MAQ (Müller, 1993),
" den Fragebogen zu kindlichen Ärgerregulierungsstrategien KAERST (Salisch &
Pfeiffer, 1998).
Indikation für die Therapie von Ärger. Ärger wird nicht per se als behandlungsbedürftig
eingestuft. Eine Indikation zur Behandlung sehen z. B. Steffgen et al. (2014), wenn:
" Leidensdruck besteht (bei der Person selbst oder denen, die mit den Folgen des
Ärgers konfrontiert sind),
" Ärger mit aggressivem Verhalten verknüpft ist (und der Betroffene selbst oder
andere geschädigt werden),
" die Ärgerarousals psychosomatische Erkrankungen bewirken oder bewirken könnten oder bestehende Erkrankungen verstärken (z. B. Hypertonie, koronare Herzerkrankung, chronische Schmerzen, kognitive Lernstörungen),
" physiologische oder Verhaltenskonsequenzen aus den Ärgerreaktionen Konzentration und Leistung beeinträchtigen (und damit zur Gefahr für den Betroffenen oder
für andere werden).
Prognose. Ist eine ausgeprägte Ärgersymptomatik erkennbar, gestaltet sich der Aufbau
einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Klient schwerer, und
die Prognose und Therapieerfolgsaussichten sind ungünstiger (s. z. B. Steffgen et al.,
2014).
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1.2.1 Vorhandene Theorien und Modelle zu Ärgerstörungen
Ärger wird allgemein als genetisch angelegte Emotion angesehen, wobei jedoch die
»Ärgerneigung« (d. h. die Wahrscheinlichkeit und Intensität, mit der jemand auf
bestimmte Reize ärgerlich reagiert) durch Vererbung und Sozialisierungsprozesse
bestimmt wird. Die Sozialisierungsprozesse werden wiederum durch Modelle (Eltern,
Geschwister, Peers) sowie den kulturellen und sozialen Kontext mitbeeinflusst.
Betrachten wir zunächst, welche Erklärungs- und Behandlungsansätze bisher für
Ärgerreaktionen dargestellt werden.
Verhaltenstheoretische Ansätze. Uns liegen weder Studien zum klassischen noch
zum operanten Konditionieren von Ärger vor, allenfalls von Aggression. Tafrate und
Kassnove (1998) gehen davon aus, dass Ärger durch klassisches Konditionieren entstanden sein könnte, da sich die Exposition mit Ärgerstimuli als effektive Ärgerintervention erwiesen habe. Operant werde Ärger vermutlich (ebenso wie Aggression)
sowohl über positive Verstärkung (z. B. Kontrollgewinn) als auch über negative (z. B.
Vermeidung) konditioniert (DiGuiseppe & Tafrate, 2007).
Kognitionstheoretische Ansätze. Ärger wird als Folge meist unbewusster kognitiver
Prozesse gesehen. Externe Ereignisse haben dabei keinen direkten Einfluss auf das
emotionale Erleben, sondern dies wird den beteiligten Kognitionen und typischen
Konzepten zugeschrieben. Wird ein Ereignis als Normenverletzung und negativ bewertet, führe die damit verbundene Bewertung zu Ärger. So führe ein Blockieren oder
Bedrohen des eigenen Wohlbefindens, der eigenen Ressourcen oder des Selbstbilds
immer dann zu Ärgerreaktionen, wenn der Betroffene dies als »Unverschämtheit /
Sauerei / Frechheit« bewerte. Über Rückkoppelungsprozesse zwischen Verhaltensreaktionen und Bewertungen kann ein Aufschaukelungsprozess in Form einer »Ärgerspirale« einsetzen.
Sozialkonstruktivistische Ansätze. Ärger wird als soziale Emotion gesehen, die der
Regelüberwachung bei Normverletzung und Fehlverhalten dient. Nach diesem Ansatz
begünstigen soziale Normen das Auftreten von Ärger.
Das Modell von Steffgen et al. (2014). Steffgen et al. (2014) definieren Ärger als komplexen Zustand, der aus Kognitionen, Erregungsniveaus und Handlungsimpulsen
besteht. Ob sich jemand ärgert, hänge von situativen, personalen und kognitiven
Faktoren ab. Als situative Auslöser für Ärger werden u. a. handlungsblockierende oder
schädigende Reize, Nichterfüllen eines Bedürfnisses, Beleidigungen, persönliche Angriffe und Frustrationen beschrieben (a. a. O.). Als personaler Faktor wird die biologische Vulnerabilität (Reagibilität des autonomen Nervensystems und des endokrinologischen Systems) angeführt, die das Ärgerniveau bestimme. Ob Ärger entsteht,
hänge auch davon ab, wie eine Person die Situation bewertet. Ärger entstehe immer
dann, wenn
" sich ein Ereignis gegen eigene, als wichtig bewertete Motive/Bedürfnisse richtet,
" es eigene als wichtig eingestufte Handlungsziele blockiert,
" sich etwas oder jemand findet, das oder der für das Blockieren verantwortlich
gemacht (im Sinne einer Schuldzuschreibung) werden kann, und wenn es oder er
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gegen eigene oder soziale Regeln verstoßen hat und wenn sich dafür keine Rechtfertigungsgründe finden.
Auf der Bewältigungsebene unterscheiden die Autoren »Ärgerunterdrückung« (im
Extremfall gegen die eigene Person gerichtet) und »Ärgerausbruch« und beschreiben
als Verhaltensmöglichkeiten das »Unterwerfen« als Vermeiden einer offenen Auseinandersetzung, das »Relativieren« als Infragestellen und Herunterspielen sowie
Humor, Ablenkung und Feedback. »Ärgerstabilisierung« trete ein, wenn die Ärgerbewältigung kurzfristig erfolgreich war und / oder sozial verstärkt wurde. Langfristig
chronifiziere sich die Ärgerreaktion und deren Bewältigungsform und führe zu einer
Einschränkung des Verhaltensrepertoires und zu negativen körperlichen und psychischen Problemen. (Die Autoren benennen keine negativen sozialen Folgen.)
1.2.2 Vorhandene Behandlungsansätze für Ärgerstörungen
In der Fachliteratur finden sich kaum Forschungen zu diesem FIP-Typ. Unter dem
Begriff »ärgerbezogene Störungen« (Steffgen et al., 2014) erschien ein Behandlungsmanual, das die therapeutische Bedeutsamkeit von Ärgerreaktionen hervorhebt.
Es gibt in der Laienliteratur häufig die Empfehlung, seinen Ärger bzw. seine
Aggression frei und leidenschaftlich auszudrücken, um darüber Ärger- und Spannungsreduktion zu erfahren. Empirisch konnte bisher jedoch nicht belegt werden, dass
aggressives Verhalten eine derartige Wirkung hat. Das Empfinden »Es hat gut getan,
meinem Ärger freien Lauf zu lassen«, wird eher als Fehlinterpretation gesehen, die mit
einer Reduktion kognitiver Dissonanz (Rechtfertigung) in Verbindung gebracht wird.
Im Gegenteil zeigte sich, dass aggressives Veralten mittel- und langfristig die empfundene Ärgerintensität und -bereitschaft eher steigert (Steffgen et al., 2014; Lammers,
2008).
Kognitive Ansätze. Hier wird auf das Bearbeiten der irrationalen Kognitionen und
Überzeugungen abgezielt und an der Formulierung rationalerer Kognitionen gearbeitet (Ellis, 1977). Ellis (2002) und Ellis und Tafrate (2016) haben Behandlungsansätze
speziell zur Therapie von Ärgerstörungen vorgelegt.
Verhaltenstherapie. In der Verhaltenstherapie stehen einige Möglichkeiten zum Abbau
von Ärger zur Verfügung wie beispielsweise Exposition mit Ärgerauslösern zum
Erlernen neuer Verhaltensreaktionen, Entspannungsverfahren zur Arousalreduktion,
soziale Fertigkeitentrainings oder Rollenspiele. In der Dialektischen Verhaltenstherapie
werden Verhaltensanalysen von Ärgerepisoden erstellt, Fertigkeiten zu Mindfulness
vermittelt, interpersonale Interaktionen, Stresstoleranz und Emotionsregulation trainiert (Linehan, 1993).
Systemische Ansätze. Am Ärgerproblem wird mit dem ganzen System gearbeitet (wie
z. B. der Familie). Mit dem jeweiligen System werden die Ärgersituationen analysiert
und neue Lösungen für das System erarbeitet. Dazu werden auch im System erforderliche Fertigkeiten, wie z. B. kommunikative Skills, trainiert.
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Psychoanalytische Ansätze. Im ersten Schritt soll die Einsicht für hinter dem Ärger
liegende Bedürfnisse, Wünsche und Ängste gefördert werden, um so eine neue,
adaptive Reaktion in Ärgersituationen zu ermöglichen. Weiterhin wird mittels der
therapeutischen Beziehung die Möglichkeit geboten, neue Beziehungsmuster aufzubauen und dann in bestehende zu übertragen (Knafo & Moscovitz, 2006). In der
Individualpsychologie nach Adler wird geklärt, weshalb jemand ärgerlich reagiert, und
welche Ziele mit der Ärgerreaktion verfolgt werden sollten. Mittels Re-Edukation bzw.
Re-Orientation soll das Zielerreichen erleichtert und ermöglicht werden.
Emotionsfokussierte Therapie. In der emotionsfokussierten Therapie wird zunächst
geprüft, ob der Ärger adaptiv oder maladaptiv ist. Maladaptiv sei Ärger dann, wenn er
weder angemessen noch hilfreich ist und zu seelischer Belastung führt. Durch verschiedene Techniken der Emotionsexposition und Emotionsregulation wird versucht,
angemessenes Ärgererleben und angemessenen Ärger(-ausdruck) zu erarbeiten.
Ärgerkontrollierende Methoden. Bei diesen Interventionstechniken sollen die Betroffenen z. B. bis zehn zählen, sich ablenken, eine Nacht darüber schlafen. Dies soll zunächst
weitere Konflikte in sozialen Beziehungen verhindern, eine Reduktion des körperlichen Erregungsniveaus ermöglichen und der Person Zeit für eine Neubewertung
geben.
Medikamentöse Behandlungsansätze. In der Pharmakotherapie von Ärgererkrankungen werden SSRI als Mittel der Wahl angesehen. Bei Achse II Störungen werden auch
Antipsychotika wie Haloperidol zur Mitbehandlung der Ärgersymptomatik eingesetzt,
sie werden jedoch wegen ihrer Nebenwirkungen eher nicht bevorzugt.
Wirksamkeit psychologischer Ärgerbehandlung. Als relevant für den Therapieerfolg hat
sich erwiesen, dass individuums- und kulturspezifische Anpassungen vorgenommen
werden, dass Rückfallprävention und Nachbetreuung mit eingebunden sind, dass der
Therapiewiderstand beachtet wird und dass die Änderungsmotivation gesichert ist.
Bei der Mehrzahl der Verfahren wurden kognitiv-behaviorale Verfahren eingesetzt,
die sich im Vergleich auch als besonders wirksam erwiesen (Deffenbacher, 2006;
Steffgen et al., 2014). Dabei sind sowohl Einzel- als auch Gruppentherapie effektiv.
Der Trend geht zu multimodalen und integrativen Behandlungsansätzen, die mehrere der oben beschriebenen Einzelverfahren anwenden.
1.3 Was ist Prokrastination?
Prokrastination (lat. »procrastinare« = vertagen, aufschieben, verschieben) beschreibt
das, was wir umgangssprachlich mit »Aufschieberitis« und selbstschädigendem Vermeidungsverhalten meinen, und wird, wie das FIP allgemein, bereits bei Philosophen
der Antike, insbesondere in der Stoa erwähnt.
Ein Vermeidungsverhalten im Sinne kurzfristig hedonistischer Ziele beschreibt
keine psychische Störung. Allerdings können die Konsequenzen eines solchen, exzessiv
gelebten Kurzfrist-Hedonismus zu emotionalen Turbulenzen und Leidensdruck führen.
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Dabei zeigen diverse Untersuchungsergebnisse (s. z. B. Blunt & Pychyl, referiert in
Höcker et al., 2013) und klinische Erfahrungen, dass Probleme wegen Prokrastination
nicht einfach durch Ratgeber zum Zeitmanagement, durch Erstellen von To-do-Listen
o. Ä. zu beheben sind, sondern dass dysfunktionale oder fehlende Konzepte bei den
Betroffenen wirken, die für die Persistenz ihrer Problematik verantwortlich sind.
1.3.1 Vorhandene Theorien und Modelle zur Prokrastination
Insgesamt gesehen scheint die Tendenz zur Prokrastination durch innerpsychische
und Bewertungsprozesse, weniger durch die objektive Aufgabenschwierigkeit bestimmt. Die zu erledigenden Aufgaben werden als unangenehm, lästig und frustrierend eingeschätzt. Der Zusammenhang von Prokrastinationstendenz und dem Beurteilen der zu erledigenden Aufgabe als aversiv wurde mit r =.40 ermittelt (Höcker et al.,
2013). Blunt und Pychyl (2000) sehen Ärger, »Frustration« und »Langeweile« als
dominierende Emotionen, die Prokrastinierende beim Erledigen der Aufgabe erfahren.
Verschiedene Perspektiven der Prokrastination. Prokrastination wird in der Literatur
und Forschung aus unterschiedlichen Richtungen erklärt und beforscht: verhaltensbezogen, motivational-volitional, kognitiv und psychodynamisch.
Der verhaltensbezogene Ansatz. Aus der verhaltensbezogenen Perspektive dient Prokrastinieren dem Ziel, angenehmes und unangenehmes Erleben in ein Gleichgewicht
zu bringen. Aufschieben führt demnach zu einer kurzfristigen Stimmungsverbesserung (positive Verstärkung) oder verhindert eine Stimmungsverschlechterung (negative Verstärkung), je nachdem, wie die Attraktivität der verfügbaren alternativen
Aufgaben oder Aktivitäten eingeschätzt wird. Wenn zur eigentlichen Aktivität Alternativen verfügbar sind, werden diese Tätigkeiten bevorzugt, auch wenn diese normalerweise als aversiv empfunden werden (wie z. B. Putzen oder Aufräumen), weil sie als
weniger aversiv empfunden werden und in kurzer Zeit erledigt werden können (vgl.
Höcker et al., 2013).
Der volitionale Ansatz. Aus volitionaler Sicht wird Prokrastination als gestörte Entscheidungs- und Handlungsregulation verstanden. Sowohl in der Phase des Abwägens,
des Planens und Handelns, des Handlungsausführens und des Abschließens und
Ablösens zeigen Prokrastinierende beispielsweise fehlende oder diffuse Zielvorstellungen, Abneigung gegen ein Zielfestlegen oder sie planen zu wenig oder zu viel,
sodass die Planung selbst zur bevorzugten Tätigkeit wird. Sie treffen Fehleinschätzungen wie beispielsweise Über- oder Unterschätzen von Zeit- und Energieaufwand,
zeigen mangelndes Selbstüberwachen, lenken sich schnell ab oder geben schnell auf,
wenn es schwierig wird. Handlungsergebnisse werden verzerrt bewertet. So wird die
eigentliche Leistung meist als weniger wertvoll eingeschätzt, als bei Menschen, die
nicht prokrastinieren. Die noch kurz vor einer Deadline eingesetzte enorme Anstrengung wird positiv eingeschätzt und damit ein Selbstwertverlust verhindert. Prokrastination wird so verstärkt und aufrechterhalten (vgl. Höcker et al., 2013).
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