51 4 ADHS und andere Posteriorisierungsstörungen Die Störung des Posteriorisierungsmechanismus kann naturgemäß in einer zu ausgeprägten und einer zu geringen Posteriorisierung ausfallen. Das ADHS ist auf eine zu starke Posteriorisierung, also eine Überposteriorisierung oder Hyperposteriorisierung zurückzuführen, deshalb beschränkt sich die Darstellung in diesem Buch auf Störungen, die aus einer zu starken Posteriorisierung resultieren. Neben ADHS sind zwei weitere Krankheitsbilder zu nennen: die posttraumatische Belastungsstörung und die Beeinträchtigungen, die ein Mobbingopfer aufweist. Abgesehen davon, dass beide Störungen einen hohen Anteil gleicher Symptome mit ADHS teilen, insbesondere im Bereich der geistigen, emotionalen und sozialen Leistungsfähigkeit, sind auch gegenseitige Verursachungen aller drei Störungsbilder untereinander zu beobachten. Zum Beispiel haben ADHS-Betroffene ein deutlich erhöhtes Risiko, gemobbt zu werden, sind aber auch häufiger Täter (Holmberg 2008). Eine vorangegangene Traumatisierung in der Kindheit ist eines der allgemein bekannten Risiken für ADHS (Weinstein et al. 2000; Adler et al. 2004; Rucklidge et al. 2006; Daud und Rydelius 2009) und Mobbing (van der Kolk 2003). Schon aus diesen Gründen ist es sinnvoll, alle drei Krankheitsbilder unter dem Blickwinkel der Posteriorisierung in die Analyse einzubeziehen. Besonders wertvoll für die Theorie der fehlangepassten Sicherheitsreaktion sind die sehr ähnlichen Ergebnisse in funktionellen bildgebenden Verfahren bei ADHS, posttraumatischer Belastungsstörung und Ausgrenzungsangst als Voraussetzung für Mobbing. Allen Untersuchungen gemeinsam ist eine Störung der Posteriorisierung als Ausdruck einer Überaktivierung des Sicherheitssinns im Vergleich zu gesunden Probanden, ohne dass eine angemesse- ne Gefahrensituation gegeben ist. Störungen, die mit einer derartig fehlangepassten Sicherheitsreaktion einhergehen, werden in der vorliegenden Theorie mit Posteriorisierungsstörung bezeichnet. Auch Schlafmangel ist in Bezug auf die Leistungsbeeinträchtigung des Betroffenen dem ADHS ähnlich (Papp et al. 2004). Das Gehirn von übermüdeten Personen zeigt in funktionellen bildgebenden Untersuchungen grundlegende Übereinstimmungen mit dem Gehirn ADHS-Betroffener (Yoo et al. 2007). Zudem gibt es medizingeschichtliche Hinweise auf die Ähnlichkeit von beiden Phänomenen, denn der Schlafmangel erfuhr früher teilweise eine dem ADHS gleichartige Behandlung. Früher als bei anderen Beeinträchtigungen und Störungen wurden hier Stimulanzien angewendet, so z.B. das Amphetaminpräparat Pervitin bei übermüdeten Soldaten, erstmals im Ersten Weltkrieg und zuletzt 1992 im Ersten Golfkrieg (Logan 2002). Die Posteriorisierungsstörung ist eine Fehlanpassung der Stellung des zentralen Sicherheitsreglers (ZSR) weiter posterior als die Gefahrenlage erfordert mit beeinträchtigender Einbuße an Kulturbefähigung. Abbildung 4-1 verdeutlicht die Fehlanpassung des Sicherheitssinns in einer friedlichen Kultursituation, der die Posteriorisierungsstörung charakterisiert. 4 ADHS und andere Posteriorisierungsstörungen 52 ZSR friedliche Kultursituation LSS dorsolateraler präfrontaler Cortex, ant. Cingulum laterale Amygdala Abb. 4-1: Wesen der Posteriorisierungsstörung 4.1 Störung der Posteriorisierung bei ADHS Sämtliche Symptome von ADHS können dadurch erklärt werden, dass die Position des zentralen Sicherheitsreglers für die Lebensumstände zu weit nach hinten verlagert und in der Folge die Ausrichtung von Wahrnehmung, Leistungsvermögen und Verhalten auf die Bewältigung traumatischer Gefahren ausgerichtet ist. Wie schon in Abschnitt 3.1 beschrieben wurde, sind besonders die maximal gesteigerte und gestreute Aufmerksamkeit und die Hyperoder Hypoaktivität, aber auch die hohe Impulsivität auf die Unsicherheitserwartung zurückzuführen. Bei ADHS-Betroffenen sind viele Besonderheiten im Sozialverhalten zu beobachten. Ein Großteil dieser Auffälligkeiten ist eine Folge der erhöhten Gefahrenerwartung. Beispielhaft sei hier genannt, dass sich ADHS-Betroffene schlecht Autoritäten unterordnen können und es besonders schwer haben, Kritik anzunehmen und Schuld einzugestehen. Auch tolerieren viele von ihnen einen engen Körperkontakt nur, wenn er von ihnen ausgeht, wenn sie in der Stimmung dazu sind. Wird der enge Kontakt von anderen Personen herbeigeführt, empfinden die Betroffenen ihn als unangenehm und beengend. Diese Überempfindlichkeit führt dazu, dass das Leben mit anderen vom Sicherheitssinn kontinuierlich und mit besonderer Sensibilität hinsichtlich der Anzeichen für eine Herabsetzung oder eine Einschränkung der Autonomie analysiert wird. Wegen der bei erhöhter Gefahrenerwartung gesenkten Reizschwelle erkennt der Sicherheitssinn viele Wahrnehmungen des sozialen Miteinanders als Gefahr, wodurch die bereits vorbestehende Posteriorisierung weiter verstärkt wird. Daraus ergibt sich regelmäßig eine Verstärkung der Fehlposition des zentralen Sicherheitsreglers. Zu ihrer Ausprägung tragen Vorgänge in der frühkindlichen Lebensphase bei, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ein hypothetischer Bestandteil der vorliegenden Theorie sind. Genaue Ausführungen zu den entwicklungspsychologischen Aspekten der daran beteiligten Prägungsvorgänge in der Frühkindheit finden sich in Kapitel 6. Die physiologische Reifung des Sicherheitssinns verläuft in den ersten Lebensjahren parallel zu der allgemeinen Hirnreifung. Da das