4 ADHS und andere Posteriorisierungs

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4 ADHS und andere Posteriorisierungsstörungen
Die Störung des Posteriorisierungsmechanismus kann naturgemäß in einer zu ausgeprägten und einer zu geringen Posteriorisierung
ausfallen. Das ADHS ist auf eine zu starke Posteriorisierung, also eine Überposteriorisierung oder Hyperposteriorisierung zurückzuführen, deshalb beschränkt sich die Darstellung in diesem Buch auf Störungen, die aus einer zu starken Posteriorisierung resultieren.
Neben ADHS sind zwei weitere Krankheitsbilder zu nennen: die posttraumatische Belastungsstörung und die Beeinträchtigungen, die
ein Mobbingopfer aufweist. Abgesehen davon,
dass beide Störungen einen hohen Anteil gleicher Symptome mit ADHS teilen, insbesondere im Bereich der geistigen, emotionalen und
sozialen Leistungsfähigkeit, sind auch gegenseitige Verursachungen aller drei Störungsbilder untereinander zu beobachten. Zum Beispiel haben ADHS-Betroffene ein deutlich erhöhtes Risiko, gemobbt zu werden, sind aber
auch häufiger Täter (Holmberg 2008). Eine vorangegangene Traumatisierung in der Kindheit
ist eines der allgemein bekannten Risiken für
ADHS (Weinstein et al. 2000; Adler et al. 2004;
Rucklidge et al. 2006; Daud und Rydelius 2009)
und Mobbing (van der Kolk 2003). Schon aus
diesen Gründen ist es sinnvoll, alle drei Krankheitsbilder unter dem Blickwinkel der Posteriorisierung in die Analyse einzubeziehen. Besonders wertvoll für die Theorie der fehlangepassten Sicherheitsreaktion sind die sehr ähnlichen Ergebnisse in funktionellen bildgebenden Verfahren bei ADHS, posttraumatischer
Belastungsstörung und Ausgrenzungsangst als
Voraussetzung für Mobbing. Allen Untersuchungen gemeinsam ist eine Störung der Posteriorisierung als Ausdruck einer Überaktivierung des Sicherheitssinns im Vergleich zu gesunden Probanden, ohne dass eine angemesse-
ne Gefahrensituation gegeben ist. Störungen,
die mit einer derartig fehlangepassten Sicherheitsreaktion einhergehen, werden in der vorliegenden Theorie mit Posteriorisierungsstörung bezeichnet.
Auch Schlafmangel ist in Bezug auf die Leistungsbeeinträchtigung des Betroffenen dem
ADHS ähnlich (Papp et al. 2004). Das Gehirn
von übermüdeten Personen zeigt in funktionellen bildgebenden Untersuchungen grundlegende Übereinstimmungen mit dem Gehirn
ADHS-Betroffener (Yoo et al. 2007). Zudem
gibt es medizingeschichtliche Hinweise auf die
Ähnlichkeit von beiden Phänomenen, denn
der Schlafmangel erfuhr früher teilweise eine
dem ADHS gleichartige Behandlung. Früher
als bei anderen Beeinträchtigungen und Störungen wurden hier Stimulanzien angewendet,
so z.B. das Amphetaminpräparat Pervitin bei
übermüdeten Soldaten, erstmals im Ersten
Weltkrieg und zuletzt 1992 im Ersten Golfkrieg
(Logan 2002).
Die Posteriorisierungsstörung ist eine
Fehlanpassung der Stellung des zentralen Sicherheitsreglers (ZSR) weiter posterior als die
Gefahrenlage erfordert mit beeinträchtigender Einbuße an Kulturbefähigung.
Abbildung 4-1 verdeutlicht die Fehlanpassung
des Sicherheitssinns in einer friedlichen Kultursituation, der die Posteriorisierungsstörung
charakterisiert.
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ZSR
friedliche Kultursituation
LSS
dorsolateraler
präfrontaler Cortex,
ant. Cingulum
laterale Amygdala
Abb. 4-1: Wesen der Posteriorisierungsstörung
4.1 Störung der Posteriorisierung bei ADHS
Sämtliche Symptome von ADHS können dadurch erklärt werden, dass die Position des
zentralen Sicherheitsreglers für die Lebensumstände zu weit nach hinten verlagert und in der
Folge die Ausrichtung von Wahrnehmung,
Leistungsvermögen und Verhalten auf die Bewältigung traumatischer Gefahren ausgerichtet
ist. Wie schon in Abschnitt 3.1 beschrieben
wurde, sind besonders die maximal gesteigerte
und gestreute Aufmerksamkeit und die Hyperoder Hypoaktivität, aber auch die hohe Impulsivität auf die Unsicherheitserwartung zurückzuführen.
Bei ADHS-Betroffenen sind viele Besonderheiten im Sozialverhalten zu beobachten. Ein
Großteil dieser Auffälligkeiten ist eine Folge
der erhöhten Gefahrenerwartung. Beispielhaft
sei hier genannt, dass sich ADHS-Betroffene
schlecht Autoritäten unterordnen können und
es besonders schwer haben, Kritik anzunehmen und Schuld einzugestehen. Auch tolerieren viele von ihnen einen engen Körperkontakt
nur, wenn er von ihnen ausgeht, wenn sie in
der Stimmung dazu sind. Wird der enge Kontakt von anderen Personen herbeigeführt,
empfinden die Betroffenen ihn als unangenehm und beengend.
Diese Überempfindlichkeit führt dazu, dass
das Leben mit anderen vom Sicherheitssinn
kontinuierlich und mit besonderer Sensibilität
hinsichtlich der Anzeichen für eine Herabsetzung oder eine Einschränkung der Autonomie
analysiert wird. Wegen der bei erhöhter Gefahrenerwartung gesenkten Reizschwelle erkennt
der Sicherheitssinn viele Wahrnehmungen des
sozialen Miteinanders als Gefahr, wodurch die
bereits vorbestehende Posteriorisierung weiter
verstärkt wird. Daraus ergibt sich regelmäßig
eine Verstärkung der Fehlposition des zentralen Sicherheitsreglers. Zu ihrer Ausprägung
tragen Vorgänge in der frühkindlichen Lebensphase bei, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt
noch ein hypothetischer Bestandteil der vorliegenden Theorie sind. Genaue Ausführungen
zu den entwicklungspsychologischen Aspekten
der daran beteiligten Prägungsvorgänge in der
Frühkindheit finden sich in Kapitel 6.
Die physiologische Reifung des Sicherheitssinns verläuft in den ersten Lebensjahren parallel zu der allgemeinen Hirnreifung. Da das
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