Mitspielfähigkeit

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Kristina Brümmer
Mitspielfähigkeit
Praktiken der Subjektivierung | Band 5
Kristina Brümmer
Mitspielfähigkeit
Sportliches Training als formative Praxis
Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation
zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
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Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Lektorat & Satz: Kristina Brümmer
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
Print-ISBN 978-3-8376-2932-3
PDF-ISBN 978-3-8394-2932-7
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Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit
Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie
Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl
von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie
und Religionspädagogik
Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft
Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie
Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft
Kristina Brümmer (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Soziologie und Sportsoziologie« des Instituts für Sportwissenschaft an
der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte
sind die Soziologie der Praktiken, des Körpers und des Sports, Konzepte praktischen Wissens, Ethno- und Praxeografie sowie Abstimmungs- und Subjektivierungsprozesse im Sport.
Editorial
Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie
eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen
sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert.
Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und
Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente
der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des
DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in
historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung
eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der
Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des
Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des
Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen.
Die Reihe wird herausgegeben von
Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie
Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte
Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des
19. und 20. Jahrhunderts
Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters
Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie
Inhalt
Vorwort | 7
Einleitung | 9
1. Zugänge zum Handeln im Sport | 19
1.1 Sportpsychologische Handlungs(regulations)theorien | 19
1.2 Theorien ‚anderen Wissens‘ | 26
1.2.1
Heuristiken und Intuitionen im Sport | 28
1.2.2
Implizites Wissen im Sport | 31
1.2.3
Polanyis Theorie impliziten Wissens
und ihre Rezeption in der Sportpsychologie | 34
Implizites Wissen als Bewegungsgefühl | 36
1.2.4
1.2.5
Affordanzen und implizites Wissen | 42
1.3 Erstes Zwischenfazit | 44
1.4 Sportliches Handeln in praxissoziologischer Perspektive | 45
2. Theoretischer Rahmen für die empirische Analyse | 49
2.1 Praxeologische Grundannahmen | 50
2.1.1
Vorbemerkung zum Verhältnis von
Praxeologie, Empirie und Sport | 52
2.1.2
Die Überindividualität und Kollektivität von Praktiken | 53
Die lokale und materielle Situiertheit und
2.1.3
die spezifische Temporalität von Praktiken | 55
2.1.4
Die Körperlichkeit von Praktiken | 56
2.1.5
Die Normativität und Intentionalität von Praktiken | 59
2.1.6
Die Öffentlichkeit und prinzipielle
Beobachtbarkeit von Praktiken | 60
2.1.7
Das Verhältnis von Praktiken und Handlungen | 62
2.2 Die praxeologischen Zugänge in der Diskussion | 64
2.2.1
Die Fortschreibung etablierter Dualismen | 65
2.2.2
Praktiken als gelingende Routinen | 66
2.2.3
Die Formierung von Mitspielern:
Inkorporierung oder Subjektivierung? | 70
2.3 Zusammenführung: Forschungsfragen | 75
Methodik | 79
3.1 Grundzüge ethno- und praxeografischer Forschung | 80
3.1.1
Ethno- und Praxeografie als Forschungshaltungen | 80
3.1.2
Das Verhältnis von Empirie, Theorie und Methodik:
Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes | 83
3.2 Eigenes Vorgehen | 87
3.2.1
Die Auswahl des Feldes | 87
3.2.2
Der Feldzugang und die frühen Phasen der Beobachtung | 89
3.2.3
Der Rückzug aus dem Feld | 96
3.2.4
Die Einführung der Videokamera | 100
3.2.5
Videogestützte Interviews als ergänzende Methode
der Beobachtbarmachung | 103
Die Subjektivierung von Praxeografierfähigkeit | 105
3.2.6
3.3 Ausblick auf das folgende Kapitel: Die Fallanalysen | 109
3.
4.
4.1
4.2
4.3
Eine Praxeografie sportakrobatischen Trainings | 113
Die Sportakrobatinnen-Gruppe als Community of Practice | 113
Die Choreografie: tänzerische und akrobatische Praktiken | 119
Mikroanalysen der sportakrobatischen Trainingspraxis | 125
4.3.1
Der disziplinierende Auftakt | 127
Das Üben und der Vollzug akrobatischer Praktiken:
4.3.2
Fälle eins bis drei | 139
4.3.2.1 Begründung der Fallauswahl | 139
4.3.2.2 Fall eins – Die Organisation eines Eintritts | 144
4.3.2.3 Fall zwei – Die Diagnose und
Bearbeitung eines Problems | 169
4.3.2.4 Fall drei – Der selbstorganisierte
Umgang mit Unsicherheit | 191
4.3.3
Zweites Zwischenfazit | 206
4.3.4
Die Entstehung und Aneignung neuer Praktiken:
Fälle vier und fünf | 214
4.3.4.1 Vorbemerkung | 214
4.3.4.2 Fall vier – Die Umarbeitung einer
akrobatischen Praktik | 217
4.3.4.3 Fall fünf – Die transformierende Aneignung
einer tänzerischen Praktik | 232
Fazit | 251
Literatur | 271
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Version meiner
Dissertation, die im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1608 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität entstanden ist. Da das Buch ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen sicher nicht fertig geworden
wäre, möchte ich mich an dieser Stelle bei den wichtigsten von ihnen bedanken.
Mein besonderer Dank gilt zunächst Thomas Alkemeyer, der mir während der
letzten Jahre als Betreuer nicht nur stets mit Rat und Tat zur Seite stand, sondern
mich immer wieder auch ermutigt hat, am Ball zu bleiben. Bei Jürgen Streeck
bedanke ich mich für seine konstruktiven Hinweise und seine nachdrücklichen
Ermahnungen, dem empirischen Material bis in seine kleinsten Details hinein die
allergrößte Aufmerksamkeit zu schenken. Auch Dagmar Freist und Robert Gugutzer danke ich für ihre Beiträge zum Abschluss meiner Promotion.
Einen ebenso großen Anteil an der Fertigstellung der Studie wie die wissenschaftlichen Betreuer und Gutachter haben die Sportakrobatinnen, die mich zwei
Jahre lang als Teil ihrer Gruppe akzeptiert, mir zahlreiche Fragen beantwortet
und für Interviews zur Verfügung gestanden haben. Bedanken möchte ich mich
vor allem bei den Trainern ‚Melanie‘ und ‚Christoph‘ sowie bei ‚Diana‘; sie haben mir mit viel Geduld und großer Aufgeschlossenheit tiefe Einblicke in die
faszinierenden Welten des Leistungssports und der Sportakrobatik ermöglicht.
Ich hatte und habe das große Glück, Teil eines tollen Arbeits- und Diskussionszusammenhangs zu sein. Ein wichtiger Teil meines Danks gilt deshalb meinen Kolleginnen aus dem Arbeitsbereich „Soziologie und Sportsoziologie“ sowie meinen Mitstreitern aus dem bereits erwähnten Graduiertenkolleg für ihre
vielfältigen Formen der fachlichen, handwerklichen und persönlichen Unterstützung bei der Erstellung der Arbeit. Stellvertretend für sie seien insbesondere
Alexandra Janetzko, Robert Mitchell und Roman Eichler genannt, die mir während der Promotionsphase stets nicht nur wichtige Gesprächspartner, sondern
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auch gute Freunde waren. Auch Anna, Nadine, Melvin und David haben – als
langjährige Weggefährtinnen und fortwährende Motivationshilfen – ihren je eigenen wichtigen Teil zum Erfolg beigetragen. Zu guter Letzt gilt mein spezieller
Dank meinen Eltern und Carlos: für ihre allumfassende Unterstützung und Zuversicht auch und insbesondere in den Phasen, in denen ich nahezu unausstehlich
war, sowie ihren unerschütterlichen Glauben an mich und meine Arbeit.
Oldenburg im Januar 2015
Kristina Brümmer
Einleitung
E RKENNTNISINTERESSE
Es liegt geradezu auf der Hand, dass Sportler1 regelmäßige und langwierige
Trainingsprozesse durchlaufen müssen, in deren Zuge sie eine Reihe unterschiedlicher Wissensbestände und Fähigkeiten erwerben, bevor sie im Sport
bzw. im Rahmen der verschiedenen Sportarten handeln und als Mannschaftskollektiv zusammenspielen können. Trotz dieser Evidenz sowie des Umstandes,
dass das Phänomen des (sozialen) Handelns bereits von Max Weber (1984) als
der Gegenstand der Soziologie identifiziert wurde, erweisen sich die Fragen
nach der Mikrologik eines gekonnten Agierens im Sport sowie der Entwicklung
sportlicher Handlungs-, Mit- und Zusammenspielfähigkeit – sieht man von einigen wenigen Ausnahmen einmal ab – im Bereich der Sportsoziologie als nahezu
unbearbeitet. Wie Alkemeyer (2006) diagnostiziert, gilt das Interesse einer Soziologie des Sports nach wie vor in erster Linie dessen Organisationsstrukturen,
ökonomischen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie Regeln und Vorgaben. So ist im Bereich der Sportsoziologie ein bemerkenswerter
Korpus von systemtheoretischen Arbeiten vorfindbar, deren Interessensschwerpunkte zum einen auf der historischen Entwicklung des Sports als sozialem System (vgl. z.B. Cachay/Thiel 2000) oder zum anderen auf den Chancen und Grenzen der Inklusion bzw. Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen in den
(Vereins- oder Schul-)Sport (vgl. z.B. Kleindienst-Cachay/Cachay/Bahlke 2012;
Teubert 2009) liegen. Unausgeleuchtet bleibt dabei jedoch, wie im Anschluss an
1
Zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird in der Arbeit mit der Ausnahme des empirischen Teils (Kapitel vier), in dem mit der Verwendung der weiblichen oder männlichen Funktionsbezeichnungen (Trainer, Sportlerinnen) ausdrücklich nur Akteure des
bezeichneten Geschlechts gemeint sind, das generische Maskulinum verwendet. Das
weibliche Geschlecht ist dabei jeweils mitgemeint.
10 | M ITSPIELFÄHIGKEIT
die Inklusion die strukturellen Rahmenbedingungen im und durch das konkrete
Agieren der Teilnehmer ausgestaltet und durch Training praktisch zu füllen gelernt werden. Die vorliegende Arbeit macht sich die Bearbeitung eben dieses
Forschungsdesiderats zur Aufgabe.
In der soziologischen Teildisziplin der Sportwissenschaft weitgehend vernachlässigt, fällt die Frage nach den Voraussetzungen eines (zunehmend) versierten Agierens im Sport hauptsächlich in den Hoheitsbereich ihres psychologischen Forschungszweiges, in dem es im Verlauf der vergangenen 25 Jahren zu
einigen maßgeblichen Umorientierungen gekommen ist. Bis in die 1990er Jahre
hinein dominierten in der Sportpsychologie solche Zugänge, die sich in Anlehnung an etablierte Handlungstheorien ihrer Mutterdisziplin in erster Linie für die
mentale Organisation von sportlichen Handlungen sowie die dem manifesten
Tun vorausgehenden Denk-, Planungs- und Entscheidungsakte und expliziten
Sinn- und Wissensgehalte interessieren. Im Zuge einer fächerübergreifenden
Aufmerksamkeitsverschiebung gewinnen seither jedoch zunehmend solche Deutungsangebote an Einfluss, die die Implizitheit sowie mitunter auch die Körperlichkeit handlungsleitenden Wissens unterstreichen und empirisch zu belegen
versuchen. Festgehalten wird von diesen alternativen Konzeptionen gleichwohl
an einem für die handlungstheoretischen Ansätze der Sportpsychologie charakteristischen methodologischen Individualismus, in dem die Vorstellung zum Tragen kommt, dass soziale Zusammenhänge – im Falle des Sports also beispielsweise Spiele und Teamprozesse – als Summe der Einzelhandlungen individueller
Akteure zu betrachten und zu erforschen sind.2 Auf geradezu symptomatische
Weise zeigt sich dieser methodologische Individualismus in einem im Jahr 2012
publizierten Kommentar des renommierten Sportpsychologen Oliver Höner, in
dem dieser Folgendes proklamiert: „Gemeinsam war jedoch sämtlichen Erfolgen
[der Fußballmannschaften, die in 2012 die Europameisterschafts- und Champions-League-Finals erreichten; KB], dass sie auf einer hohen Qualität von Einzelspielern basierten.“ (Höner 2012: 270) Den verschiedenen sportpsychologischen
Erklärungsansätzen und Untersuchungen unterliegt die Vorstellung souveräner
und (im Rahmen der verschiedenen Konzeptionen auf unterschiedliche Weisen)
2
Hand in Hand geht mit dem methodologischen Individualismus dabei vielfach eine
Art Kontextinsensitivität, die sich darin äußerst, dass für empirische Untersuchungen
experimentelle Versuchsanordnungen eingerichtet werden und von den in diesen Anordnungen gewonnenen Erkenntnissen über die Prinzipien und Grundlagen eines gekonnten sportlichen Handelns auf ein Handeln in den üblichen Kontexten von Training und Wettkampf geschlossen wird.
E INLEITUNG
| 11
wissender Sportler-Subjekte, aus deren Mitte heraus den Voraussetzungen und
Prinzipien sportlichen Handelns auf den Grund gegangen wird.
Mit dem Ziel, einen plausiblen Gegenvorschlag zu den sportpsychologischen
Erklärungsansätzen zu formulieren und zur Schließung der eingangs identifizierten Forschungslücke beizutragen, wird für die Entwicklung einer theoretischen
Optik, mit deren Hilfe am Beispiel sportakrobatischen Trainings3 das Machen
von Sport und die Entwicklung sportlicher Handlungs- und Mitspielfähigkeit
empirisch untersucht werden sollen, auf einschlägige neuere praxissoziologische
Konzeptionen (insb. Reckwitz 2003; Schatzki 2002; Schmidt 2012) zurückgegriffen. Charakteristisch für diese ist die Überzeugung, die Analyse des Sozialen
gerade nicht bei einzelnen, gleichsam ‚naturwüchsig‘ handlungsfähigen und wissenden Subjekten sowie deren individuellen Handlungen zu beginnen, sondern
sie an sozialen Praktiken – etwa dem Fußballspielen, dem Autofahren, dem Halten eines Vortrags – anzusetzen. Unter Praktiken werden dabei in den genannten
Zugängen organisierte, typisierte und wiedererkennbare Bündel bzw. Verkettungen von Aktivitäten verstanden, die durch eine irreduzible Kollektivität und
Überindividualität, konkrete Situiertheit, Körperlichkeit und Beobachtbarkeit
sowie eine spezifische Normativität und Intentionalität charakterisiert sind. Akteure interessieren in einer solchen Perspektive als Mitspieler4 dieser Praktiken
unter anderen, die erst und nur in ihrer Teilhabe an diesen Praktiken zu handlungs- bzw. genauer: mitspielfähigen Subjekten werden. Die Anlegung einer
praxeologischen Optik rückt Fragen danach in den Blick, welche Wissensbestände und Fähigkeiten das Mitspielen-Können in Praktiken verbürgen und auf
welche Weisen Mitspielfähigkeit5 in Praktiken überhaupt erworben wird.
3
Vgl. Kapitel 3.2.1 für die Erläuterung der Gründe der Auswahl gerade dieses empirischen Gegenstandes.
4
Es gibt eine ganze Reihe praxissoziologischer Arbeiten, die sich einer „Heuristik des
Spiels“ (Schmidt 2011: 38) oder des Sports bedienen, um oft übersehene Dimensionen
des Sozialen (z.B. seine Körperlichkeit und Implizitheit) kenntlich zu machen (vgl.
genauer Kapitel 2.1.1). Der Gebrauch der Begriffe Mitspieler und Mitspielfähigkeit
erklärt sich vor diesem Hintergrund.
5
In den Theorien, die zur Entwicklung dieser Forschungsfragen herangezogen werden,
ist der Begriff des Wissens prominenter als der der Mitspielfähigkeit. Aus folgendem
Grund wird für die vorliegende Arbeit trotzdem letzterer favorisiert: Unter den Wissensbegriff werden zumeist erworbene und erlernte Gehalte subsumiert, die dem praktischen Tun zu Grunde liegen, dieses organisieren und zu einer sinnvollen und zielgerichteten Aktivität machen (vgl. für die Verwendung des Wissensbegriffs in der Soziologie z.B. Knoblauch 2008). Als Wissen gelten dabei Gehalte, die auf die Erledigung
12 | M ITSPIELFÄHIGKEIT
Im Feld soziologischer Theorien ist den Praxistheorien das Verdienst zuzusprechen, für eine systematische Berücksichtigung ansonsten vielfach übersehener Dimensionen des Sozialen – etwa seiner genuin körperlichen und impliziten,
d.h. vorbewussten und nicht-sprachförmigen oder -diskursiven, Aspekte sowie
insbesondere auch seines Vollzugscharakters – Sorge zu tragen. Plausibilisiert
wird die Forderung zur Ernstnahme dieser oft vergessenen Seiten des Sozialen
häufig anhand von Beispielen aus dem Bereich des Sports (vgl. Kapitel 2.1.1).
Nicht zuletzt deshalb scheinen diese Ansätze wiederum für die empirische Analyse von Phänomenen aus den Bereich des Sports oder des sportlichen Trainings
geradezu prädestiniert. Im Zuge einer für die Anfertigung der vorliegenden Arbeit angestellten ausgiebigen Theoriearbeit sowie der Erprobung praxissoziologischer Prämissen am Gegenstand des sportakrobatischen Trainings unter den
oben skizzierten Fragestellungen wurde jedoch deutlich, dass die herangezogenen praxissoziologischen Arbeiten zu drei Vereinseitigungen tendieren, die
wichtige Merkmale und Facetten des empirischen Gegenstandes zu verdunkeln
drohen. Diesen Vereinseitigungen wird im Zuge der Ausarbeitung eines theoretischen Rahmens für die empirische Analyse kritisch und korrigierend begegnet.6
Erstens wird an den betreffenden praxistheoretischen Ansätzen kritisiert, dass ihr
Interesse vorrangig impliziten und verkörperten Wissensgehalten gilt, wohingegen explizite und verbalisierbare Bestände in den Analysen weitgehend vergessen und damit Dualismen von implizit und explizit sowie sprachlich und körperlich, die diese Ansätze selbst zu überwinden beanspruchen, perpetuiert werden.
Zweitens werden Praktiken zumeist als routinierte und sozial geregelte Vollzüge
konzeptualisiert und untersucht, die selbstläufig und störungsfrei über ihre Teilnehmer hinweg prozessieren und diese für ihre Ziele und Zwecke „rekrutieren“
(Schmidt 2012: 218; Shove/Pantzar/Watson 2012: 63). Übersehen werden mit
einem solchen Verständnis von Praktiken die Interaktionen sowie die Bewältigungsanstrengungen, Eigeninitiativen und verschiedenen Formen des Engage-
bestimmter Aufgaben gerichtet sind, also funktionale Bestände, welche die praktische
Bewältigung sich stellender Aufgaben verbürgen. Begreift man nun Wissen als einzig
relevante Ressource für den Vollzug von Aktivitäten, gerät aus dem Blick, dass und
inwiefern für die praktische Erledigung bestimmter Aufgaben auch Aspekte wie Motivation, Engagement, Disziplin, Konzentration oder Vertrauen eine Rolle spielen. Mit
dem Begriff der Mitspielfähigkeit sollen eben diese vielfältigen Voraussetzungen der
Teilnahme an und des Vollzugs von Praktiken berücksichtigt werden.
6
Dies bedeutet zugleich, dass der als Optik für die empirische Analyse entwickelte und
herangezogene Theorierahmen ist nicht allein literatur-, sondern bereits auch schon
selbst „empiriegeladen“ (Hirschauer 2008a) ist.
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