Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit Praktiken der Subjektivierung | Band 5 Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit Sportliches Training als formative Praxis Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kristina Brümmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2932-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2932-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft Kristina Brümmer (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Soziologie und Sportsoziologie« des Instituts für Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Praktiken, des Körpers und des Sports, Konzepte praktischen Wissens, Ethno- und Praxeografie sowie Abstimmungs- und Subjektivierungsprozesse im Sport. Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie Inhalt Vorwort | 7 Einleitung | 9 1. Zugänge zum Handeln im Sport | 19 1.1 Sportpsychologische Handlungs(regulations)theorien | 19 1.2 Theorien ‚anderen Wissens‘ | 26 1.2.1 Heuristiken und Intuitionen im Sport | 28 1.2.2 Implizites Wissen im Sport | 31 1.2.3 Polanyis Theorie impliziten Wissens und ihre Rezeption in der Sportpsychologie | 34 Implizites Wissen als Bewegungsgefühl | 36 1.2.4 1.2.5 Affordanzen und implizites Wissen | 42 1.3 Erstes Zwischenfazit | 44 1.4 Sportliches Handeln in praxissoziologischer Perspektive | 45 2. Theoretischer Rahmen für die empirische Analyse | 49 2.1 Praxeologische Grundannahmen | 50 2.1.1 Vorbemerkung zum Verhältnis von Praxeologie, Empirie und Sport | 52 2.1.2 Die Überindividualität und Kollektivität von Praktiken | 53 Die lokale und materielle Situiertheit und 2.1.3 die spezifische Temporalität von Praktiken | 55 2.1.4 Die Körperlichkeit von Praktiken | 56 2.1.5 Die Normativität und Intentionalität von Praktiken | 59 2.1.6 Die Öffentlichkeit und prinzipielle Beobachtbarkeit von Praktiken | 60 2.1.7 Das Verhältnis von Praktiken und Handlungen | 62 2.2 Die praxeologischen Zugänge in der Diskussion | 64 2.2.1 Die Fortschreibung etablierter Dualismen | 65 2.2.2 Praktiken als gelingende Routinen | 66 2.2.3 Die Formierung von Mitspielern: Inkorporierung oder Subjektivierung? | 70 2.3 Zusammenführung: Forschungsfragen | 75 Methodik | 79 3.1 Grundzüge ethno- und praxeografischer Forschung | 80 3.1.1 Ethno- und Praxeografie als Forschungshaltungen | 80 3.1.2 Das Verhältnis von Empirie, Theorie und Methodik: Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes | 83 3.2 Eigenes Vorgehen | 87 3.2.1 Die Auswahl des Feldes | 87 3.2.2 Der Feldzugang und die frühen Phasen der Beobachtung | 89 3.2.3 Der Rückzug aus dem Feld | 96 3.2.4 Die Einführung der Videokamera | 100 3.2.5 Videogestützte Interviews als ergänzende Methode der Beobachtbarmachung | 103 Die Subjektivierung von Praxeografierfähigkeit | 105 3.2.6 3.3 Ausblick auf das folgende Kapitel: Die Fallanalysen | 109 3. 4. 4.1 4.2 4.3 Eine Praxeografie sportakrobatischen Trainings | 113 Die Sportakrobatinnen-Gruppe als Community of Practice | 113 Die Choreografie: tänzerische und akrobatische Praktiken | 119 Mikroanalysen der sportakrobatischen Trainingspraxis | 125 4.3.1 Der disziplinierende Auftakt | 127 Das Üben und der Vollzug akrobatischer Praktiken: 4.3.2 Fälle eins bis drei | 139 4.3.2.1 Begründung der Fallauswahl | 139 4.3.2.2 Fall eins – Die Organisation eines Eintritts | 144 4.3.2.3 Fall zwei – Die Diagnose und Bearbeitung eines Problems | 169 4.3.2.4 Fall drei – Der selbstorganisierte Umgang mit Unsicherheit | 191 4.3.3 Zweites Zwischenfazit | 206 4.3.4 Die Entstehung und Aneignung neuer Praktiken: Fälle vier und fünf | 214 4.3.4.1 Vorbemerkung | 214 4.3.4.2 Fall vier – Die Umarbeitung einer akrobatischen Praktik | 217 4.3.4.3 Fall fünf – Die transformierende Aneignung einer tänzerischen Praktik | 232 Fazit | 251 Literatur | 271 Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1608 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität entstanden ist. Da das Buch ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen sicher nicht fertig geworden wäre, möchte ich mich an dieser Stelle bei den wichtigsten von ihnen bedanken. Mein besonderer Dank gilt zunächst Thomas Alkemeyer, der mir während der letzten Jahre als Betreuer nicht nur stets mit Rat und Tat zur Seite stand, sondern mich immer wieder auch ermutigt hat, am Ball zu bleiben. Bei Jürgen Streeck bedanke ich mich für seine konstruktiven Hinweise und seine nachdrücklichen Ermahnungen, dem empirischen Material bis in seine kleinsten Details hinein die allergrößte Aufmerksamkeit zu schenken. Auch Dagmar Freist und Robert Gugutzer danke ich für ihre Beiträge zum Abschluss meiner Promotion. Einen ebenso großen Anteil an der Fertigstellung der Studie wie die wissenschaftlichen Betreuer und Gutachter haben die Sportakrobatinnen, die mich zwei Jahre lang als Teil ihrer Gruppe akzeptiert, mir zahlreiche Fragen beantwortet und für Interviews zur Verfügung gestanden haben. Bedanken möchte ich mich vor allem bei den Trainern ‚Melanie‘ und ‚Christoph‘ sowie bei ‚Diana‘; sie haben mir mit viel Geduld und großer Aufgeschlossenheit tiefe Einblicke in die faszinierenden Welten des Leistungssports und der Sportakrobatik ermöglicht. Ich hatte und habe das große Glück, Teil eines tollen Arbeits- und Diskussionszusammenhangs zu sein. Ein wichtiger Teil meines Danks gilt deshalb meinen Kolleginnen aus dem Arbeitsbereich „Soziologie und Sportsoziologie“ sowie meinen Mitstreitern aus dem bereits erwähnten Graduiertenkolleg für ihre vielfältigen Formen der fachlichen, handwerklichen und persönlichen Unterstützung bei der Erstellung der Arbeit. Stellvertretend für sie seien insbesondere Alexandra Janetzko, Robert Mitchell und Roman Eichler genannt, die mir während der Promotionsphase stets nicht nur wichtige Gesprächspartner, sondern 8 | M ITSPIELFÄHIGKEIT auch gute Freunde waren. Auch Anna, Nadine, Melvin und David haben – als langjährige Weggefährtinnen und fortwährende Motivationshilfen – ihren je eigenen wichtigen Teil zum Erfolg beigetragen. Zu guter Letzt gilt mein spezieller Dank meinen Eltern und Carlos: für ihre allumfassende Unterstützung und Zuversicht auch und insbesondere in den Phasen, in denen ich nahezu unausstehlich war, sowie ihren unerschütterlichen Glauben an mich und meine Arbeit. Oldenburg im Januar 2015 Kristina Brümmer Einleitung E RKENNTNISINTERESSE Es liegt geradezu auf der Hand, dass Sportler1 regelmäßige und langwierige Trainingsprozesse durchlaufen müssen, in deren Zuge sie eine Reihe unterschiedlicher Wissensbestände und Fähigkeiten erwerben, bevor sie im Sport bzw. im Rahmen der verschiedenen Sportarten handeln und als Mannschaftskollektiv zusammenspielen können. Trotz dieser Evidenz sowie des Umstandes, dass das Phänomen des (sozialen) Handelns bereits von Max Weber (1984) als der Gegenstand der Soziologie identifiziert wurde, erweisen sich die Fragen nach der Mikrologik eines gekonnten Agierens im Sport sowie der Entwicklung sportlicher Handlungs-, Mit- und Zusammenspielfähigkeit – sieht man von einigen wenigen Ausnahmen einmal ab – im Bereich der Sportsoziologie als nahezu unbearbeitet. Wie Alkemeyer (2006) diagnostiziert, gilt das Interesse einer Soziologie des Sports nach wie vor in erster Linie dessen Organisationsstrukturen, ökonomischen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie Regeln und Vorgaben. So ist im Bereich der Sportsoziologie ein bemerkenswerter Korpus von systemtheoretischen Arbeiten vorfindbar, deren Interessensschwerpunkte zum einen auf der historischen Entwicklung des Sports als sozialem System (vgl. z.B. Cachay/Thiel 2000) oder zum anderen auf den Chancen und Grenzen der Inklusion bzw. Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen in den (Vereins- oder Schul-)Sport (vgl. z.B. Kleindienst-Cachay/Cachay/Bahlke 2012; Teubert 2009) liegen. Unausgeleuchtet bleibt dabei jedoch, wie im Anschluss an 1 Zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird in der Arbeit mit der Ausnahme des empirischen Teils (Kapitel vier), in dem mit der Verwendung der weiblichen oder männlichen Funktionsbezeichnungen (Trainer, Sportlerinnen) ausdrücklich nur Akteure des bezeichneten Geschlechts gemeint sind, das generische Maskulinum verwendet. Das weibliche Geschlecht ist dabei jeweils mitgemeint. 10 | M ITSPIELFÄHIGKEIT die Inklusion die strukturellen Rahmenbedingungen im und durch das konkrete Agieren der Teilnehmer ausgestaltet und durch Training praktisch zu füllen gelernt werden. Die vorliegende Arbeit macht sich die Bearbeitung eben dieses Forschungsdesiderats zur Aufgabe. In der soziologischen Teildisziplin der Sportwissenschaft weitgehend vernachlässigt, fällt die Frage nach den Voraussetzungen eines (zunehmend) versierten Agierens im Sport hauptsächlich in den Hoheitsbereich ihres psychologischen Forschungszweiges, in dem es im Verlauf der vergangenen 25 Jahren zu einigen maßgeblichen Umorientierungen gekommen ist. Bis in die 1990er Jahre hinein dominierten in der Sportpsychologie solche Zugänge, die sich in Anlehnung an etablierte Handlungstheorien ihrer Mutterdisziplin in erster Linie für die mentale Organisation von sportlichen Handlungen sowie die dem manifesten Tun vorausgehenden Denk-, Planungs- und Entscheidungsakte und expliziten Sinn- und Wissensgehalte interessieren. Im Zuge einer fächerübergreifenden Aufmerksamkeitsverschiebung gewinnen seither jedoch zunehmend solche Deutungsangebote an Einfluss, die die Implizitheit sowie mitunter auch die Körperlichkeit handlungsleitenden Wissens unterstreichen und empirisch zu belegen versuchen. Festgehalten wird von diesen alternativen Konzeptionen gleichwohl an einem für die handlungstheoretischen Ansätze der Sportpsychologie charakteristischen methodologischen Individualismus, in dem die Vorstellung zum Tragen kommt, dass soziale Zusammenhänge – im Falle des Sports also beispielsweise Spiele und Teamprozesse – als Summe der Einzelhandlungen individueller Akteure zu betrachten und zu erforschen sind.2 Auf geradezu symptomatische Weise zeigt sich dieser methodologische Individualismus in einem im Jahr 2012 publizierten Kommentar des renommierten Sportpsychologen Oliver Höner, in dem dieser Folgendes proklamiert: „Gemeinsam war jedoch sämtlichen Erfolgen [der Fußballmannschaften, die in 2012 die Europameisterschafts- und Champions-League-Finals erreichten; KB], dass sie auf einer hohen Qualität von Einzelspielern basierten.“ (Höner 2012: 270) Den verschiedenen sportpsychologischen Erklärungsansätzen und Untersuchungen unterliegt die Vorstellung souveräner und (im Rahmen der verschiedenen Konzeptionen auf unterschiedliche Weisen) 2 Hand in Hand geht mit dem methodologischen Individualismus dabei vielfach eine Art Kontextinsensitivität, die sich darin äußerst, dass für empirische Untersuchungen experimentelle Versuchsanordnungen eingerichtet werden und von den in diesen Anordnungen gewonnenen Erkenntnissen über die Prinzipien und Grundlagen eines gekonnten sportlichen Handelns auf ein Handeln in den üblichen Kontexten von Training und Wettkampf geschlossen wird. E INLEITUNG | 11 wissender Sportler-Subjekte, aus deren Mitte heraus den Voraussetzungen und Prinzipien sportlichen Handelns auf den Grund gegangen wird. Mit dem Ziel, einen plausiblen Gegenvorschlag zu den sportpsychologischen Erklärungsansätzen zu formulieren und zur Schließung der eingangs identifizierten Forschungslücke beizutragen, wird für die Entwicklung einer theoretischen Optik, mit deren Hilfe am Beispiel sportakrobatischen Trainings3 das Machen von Sport und die Entwicklung sportlicher Handlungs- und Mitspielfähigkeit empirisch untersucht werden sollen, auf einschlägige neuere praxissoziologische Konzeptionen (insb. Reckwitz 2003; Schatzki 2002; Schmidt 2012) zurückgegriffen. Charakteristisch für diese ist die Überzeugung, die Analyse des Sozialen gerade nicht bei einzelnen, gleichsam ‚naturwüchsig‘ handlungsfähigen und wissenden Subjekten sowie deren individuellen Handlungen zu beginnen, sondern sie an sozialen Praktiken – etwa dem Fußballspielen, dem Autofahren, dem Halten eines Vortrags – anzusetzen. Unter Praktiken werden dabei in den genannten Zugängen organisierte, typisierte und wiedererkennbare Bündel bzw. Verkettungen von Aktivitäten verstanden, die durch eine irreduzible Kollektivität und Überindividualität, konkrete Situiertheit, Körperlichkeit und Beobachtbarkeit sowie eine spezifische Normativität und Intentionalität charakterisiert sind. Akteure interessieren in einer solchen Perspektive als Mitspieler4 dieser Praktiken unter anderen, die erst und nur in ihrer Teilhabe an diesen Praktiken zu handlungs- bzw. genauer: mitspielfähigen Subjekten werden. Die Anlegung einer praxeologischen Optik rückt Fragen danach in den Blick, welche Wissensbestände und Fähigkeiten das Mitspielen-Können in Praktiken verbürgen und auf welche Weisen Mitspielfähigkeit5 in Praktiken überhaupt erworben wird. 3 Vgl. Kapitel 3.2.1 für die Erläuterung der Gründe der Auswahl gerade dieses empirischen Gegenstandes. 4 Es gibt eine ganze Reihe praxissoziologischer Arbeiten, die sich einer „Heuristik des Spiels“ (Schmidt 2011: 38) oder des Sports bedienen, um oft übersehene Dimensionen des Sozialen (z.B. seine Körperlichkeit und Implizitheit) kenntlich zu machen (vgl. genauer Kapitel 2.1.1). Der Gebrauch der Begriffe Mitspieler und Mitspielfähigkeit erklärt sich vor diesem Hintergrund. 5 In den Theorien, die zur Entwicklung dieser Forschungsfragen herangezogen werden, ist der Begriff des Wissens prominenter als der der Mitspielfähigkeit. Aus folgendem Grund wird für die vorliegende Arbeit trotzdem letzterer favorisiert: Unter den Wissensbegriff werden zumeist erworbene und erlernte Gehalte subsumiert, die dem praktischen Tun zu Grunde liegen, dieses organisieren und zu einer sinnvollen und zielgerichteten Aktivität machen (vgl. für die Verwendung des Wissensbegriffs in der Soziologie z.B. Knoblauch 2008). Als Wissen gelten dabei Gehalte, die auf die Erledigung 12 | M ITSPIELFÄHIGKEIT Im Feld soziologischer Theorien ist den Praxistheorien das Verdienst zuzusprechen, für eine systematische Berücksichtigung ansonsten vielfach übersehener Dimensionen des Sozialen – etwa seiner genuin körperlichen und impliziten, d.h. vorbewussten und nicht-sprachförmigen oder -diskursiven, Aspekte sowie insbesondere auch seines Vollzugscharakters – Sorge zu tragen. Plausibilisiert wird die Forderung zur Ernstnahme dieser oft vergessenen Seiten des Sozialen häufig anhand von Beispielen aus dem Bereich des Sports (vgl. Kapitel 2.1.1). Nicht zuletzt deshalb scheinen diese Ansätze wiederum für die empirische Analyse von Phänomenen aus den Bereich des Sports oder des sportlichen Trainings geradezu prädestiniert. Im Zuge einer für die Anfertigung der vorliegenden Arbeit angestellten ausgiebigen Theoriearbeit sowie der Erprobung praxissoziologischer Prämissen am Gegenstand des sportakrobatischen Trainings unter den oben skizzierten Fragestellungen wurde jedoch deutlich, dass die herangezogenen praxissoziologischen Arbeiten zu drei Vereinseitigungen tendieren, die wichtige Merkmale und Facetten des empirischen Gegenstandes zu verdunkeln drohen. Diesen Vereinseitigungen wird im Zuge der Ausarbeitung eines theoretischen Rahmens für die empirische Analyse kritisch und korrigierend begegnet.6 Erstens wird an den betreffenden praxistheoretischen Ansätzen kritisiert, dass ihr Interesse vorrangig impliziten und verkörperten Wissensgehalten gilt, wohingegen explizite und verbalisierbare Bestände in den Analysen weitgehend vergessen und damit Dualismen von implizit und explizit sowie sprachlich und körperlich, die diese Ansätze selbst zu überwinden beanspruchen, perpetuiert werden. Zweitens werden Praktiken zumeist als routinierte und sozial geregelte Vollzüge konzeptualisiert und untersucht, die selbstläufig und störungsfrei über ihre Teilnehmer hinweg prozessieren und diese für ihre Ziele und Zwecke „rekrutieren“ (Schmidt 2012: 218; Shove/Pantzar/Watson 2012: 63). Übersehen werden mit einem solchen Verständnis von Praktiken die Interaktionen sowie die Bewältigungsanstrengungen, Eigeninitiativen und verschiedenen Formen des Engage- bestimmter Aufgaben gerichtet sind, also funktionale Bestände, welche die praktische Bewältigung sich stellender Aufgaben verbürgen. Begreift man nun Wissen als einzig relevante Ressource für den Vollzug von Aktivitäten, gerät aus dem Blick, dass und inwiefern für die praktische Erledigung bestimmter Aufgaben auch Aspekte wie Motivation, Engagement, Disziplin, Konzentration oder Vertrauen eine Rolle spielen. Mit dem Begriff der Mitspielfähigkeit sollen eben diese vielfältigen Voraussetzungen der Teilnahme an und des Vollzugs von Praktiken berücksichtigt werden. 6 Dies bedeutet zugleich, dass der als Optik für die empirische Analyse entwickelte und herangezogene Theorierahmen ist nicht allein literatur-, sondern bereits auch schon selbst „empiriegeladen“ (Hirschauer 2008a) ist.