Wir sehen den Innovationshunger

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Titel
Marktforschung
„Wir sehen den Innovationshunger“
Dr. Frank Wartenberg, Vorsitzender der Geschäftsführung Deutschland und President
Central Europe beim Marktforschungsunternehmen IMS Health, spricht im Interview
über den steigenden Wettbewerbsdruck von US-Technologiefirmen wie Google und
IBM, den großen Bedarf an Analysen im Bereich Big Data, und welche Rolle dabei die
neue Datenschutzverordnung auf EU-Ebene spielen könnte.
HEALTHCARE MARKETING: Herr Dr. Wartenberg, IMS
Health hat sich von einem Marktforschungsunternehmen zu
einem Anbieter von Informations- und Technologiedienstleistungen entwickelt. Worauf geht dieser Wandel zurück?
FRANK WARTENBERG: Wir haben als klassischer Informationsdienstleister begonnen und stellen seit etwa zehn
Jahren unseren Kunden zusätzlich Beratung, in Form von
Analysen für Sales und Marketing, und Strategiekonzepte
zur Verfügung. In den vergangenen fünf Jahren wiederum
haben wir uns im Technologiebereich stärker aufgestellt.
Wir sehen im Gesundheitswesen einen beispiellosen Prozess
der Digitalisierung, des Innovationshungers aber gleichzeitig der Kostenreduktion. Das ist eine komplexe Gemengelage, die unsere Kunden vor große Herausforderungen stellt.
HEALTHCARE MARKETING: Wie
haben sich die Anforderungen im
globalen Wettbewerb verändert?
WARTENBERG: Der globale
Wettbewerb ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Für
die Industrie einerseits, da Forschung und Entwicklung und
somit Innovation losgelöst von
Ländergrenzen stattfinden, andererseits aber Produkteinführungen
und Marketing und Sales länderspezifisch komplexer geworden
sind. Dieser Gegensatz
bedingt einen großen Bedarf an Daten und Analysen, die
in den Bereich von Big Data und Predicitve Analytics hineinreichen. Auch für IMS Health sehe ich global einen steigenden Wettbewerbsdruck. Technologiefirmen wie Apple,
Google und IBM engagieren sich zunehmend im Gesundheitsmarkt. Solche Firmen besitzen Big Data- und Technologiekompetenz, ihnen fehlt aber spezifisches Marktwissen.
Natürlich gilt aber auch für uns: Innovation ist unabdingbar. So sind wir ständig dabei uns weiterzuentwickeln.
HEALTHCARE MARKETING: Die Digitalisierung stellt die
Industrie vor enorme Herausforderungen. Inwieweit müssen
auch Marktforschungsdienstleister sich mitentwickeln?
WARTENBERG: Die Digitalisierung bietet unglaublich
hohes Potenzial. Die Herausforderung besteht für die Industrie darin, dieses auch zu nutzen, um in verschiedenen
Phasen der Wertschöpfung an Effektivität zu gewinnen.
Ein Beispiel ist der Einsatz von Predictive Analytics zur
Versorgungsanalyse bei der Entwicklung neuer Medikamente. Die riesigen Rechnerkapazitäten, über die wir nun
verfügen, erlauben uns, aus mehreren Petabyte umfassende
Daten Zusammenhänge herzuleiten. Hier können Wirkungen von Arzneimitteln bei bestimmten Patientensegmenten
früher erkannt und genutzt werden. Und auch in unseren
anderen Geschäftsfeldern sehen wir Technologie als eines
der Kernthemen. Für das Multichannel Marketing, also die
Orchestrierung unterschiedlicher Kanäle und Maßnahmen
zur Kundenansprache, bieten wir eine technologische Plattform mit Nexxus Marketing an. Ich bin überzeugt davon,
dass das optimale Management verschiedener Kanäle und
der damit verbundene optimierte Mitteleinsatz die Marketinglandschaft nachhaltig verändern wird. Wir sehen uns
Dr. Frank Wartenberg
zeichnet seit Januar 2010 als Vorsitzender der Geschäftsführung und Country Manager von IMS
Health Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main und seit Januar 2011 zusätzlich als President Central
Europe. Davor verantwortete er als Vice President und Practice Leader Commercial Effectiveness EMEA
alle Beratungsleistungen um die Themen Vertrieb und Marketing in Europa, Middle East und Afrika.
Wartenberg hat ein Diplom als Wirtschaftsingenieur der Universität Karlsruhe sowie einen Doktor rer.
pol. mit Schwerpunkt Marketing und Vertrieb. Daneben hat er Geschichte und Philosophie studiert.
[email protected]
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Healthcare Marketing 12/2015
Titel
als ganzheitlicher Dienstleister, der die technologischen Lösungen anbieten kann und durch das tiefe Marktverständnis genau weiß, wo der Schuh bei unseren Kunden drückt.
HEALTHCARE MARKETING: Welche Bedürfnisse haben
Ihre Kunden heute?
WARTENBERG: Die Unternehmen befinden sich in einem
Spannungsfeld aus zunehmender Komplexität, zum Beispiel
durch die Veränderung des Portfolios in Richtung Spezialtherapien, und der Notwendigkeit effizienter zu werden,
um als Industrie ihre Margen und damit auch die Innovationskraft zu erhalten. Es geht also darum, den Markt
in seiner Gesamtheit zu verstehen und anzusprechen und
dabei neue Kommunikationskanäle optimal zu nutzen. Es
findet eine Verlagerung von persönlicher Kommunikation
zu digitaler Kommunikation mit Interaktion statt. Dafür
entwickeln wir prädiktive Modelle. Viele unserer Pharmakunden im Marketing stehen vor der Herausforderung, die
mediale Landschaft zu bespielen. Viele Kunden sind bereits
auf digitalen Pfaden unterwegs – ihnen fehlt aber häufig die
Erfahrung mit neuen Kanälen und wie diese mit traditionellen Kanälen erfolgreich koordiniert werden können. Und
nicht zuletzt spielt auch die Messbarkeit von Ergebnissen
und Compliance eine große Rolle. Außerdem hat sich das
Umfeld in den vergangenen Jahren in fast allen Ländern
deutlich geändert. Versorgungsentscheidungen basieren auf
komplexeren Prozessen, denken Sie etwa an die bei uns in
Deutschland seit AMNOG einzureichenden Dossiers zur
frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel. In anderen
Ländern gibt es das in ähnlicher Weise auch und teilweise
schon länger. Entsprechend sind mehr Akteure einzubinden
und letztlich auch mehrere Adressaten von den Entscheidungen betroffen. Hier unterstützen wir ebenfalls mit unseren Dienstleistungen, denn politische Entscheidungen und
Veränderungen im regulatorischen Umfeld beeinflussen den
Erfolg von Gesundheitsunternehmen auch. Stichworte hierzu sind etwa Market Access, Health Technology Assessments oder Pricing & Reimbursement.
HEALTHCARE MARKETING: Die digitale Transformation verändert nicht nur Kundenbeziehungen, sondern auch
gesamte Geschäftsmodelle. Wo sehen Sie die größten Stellschrauben auf Kundenseite?
WARTENBERG: Ich sehe die größten Hebel im Sales und
Marketing und in der Forschung und Entwicklung. Wie
bereits angedeutet, verändert sich das Pharmamarketing
hin zu einem multizentrierten multifaktoriellen Ansatz. Da
kann ein Unternehmen mit der richtigen Koordination und
Steuerung des Marketings eine Menge erreichen. Natürlich
spielen hier auch Effizienzgedanken eine zunehmend größere Rolle. Um dies erfolgreich zu bewältigen müssen auch
interne Strukturen verändert und optimiert werden. Der
zweite Hebel ist die Forschung und Entwicklung. Hier kann
Big Data Analytik eine wichtige Rolle bei der Wirkstofffindung oder Indikationserweiterung spielen. Auch Sicherheitsrisiken von Produkten können schneller und besser in
der Behandlungsrealität der Patienten erkannt und behoben
werden. Diese Herangehensweise sorgt in vielen Unternehmen bereits für eine verbesserte Arzneimittelüberwachung.
Dieser Trend wird sich weiter verstärken.
HEALTHCARE MARKETING: Wie viel Prozent machen
digitale Kanäle bei der Marktforschung aus? Können Sie
den Wandel an einem Beispiel illustrieren?
WARTENBERG: Eine Studie von IMS Health international hat gezeigt, dass im Jahr 2014 global rund drei Prozent
des Werbemittel-Budgets auf digitale Kanäle entfiel. Das ist
noch sehr wenig, aber dieser Bereich ist um über 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Besonders stark
wächst das Investment in E-Meetings. Gleichzeitig sinken
die Budgets in den klassischen Bereichen wie Außendienstbesuche, Musterabgabe und Präsenz-Meetings.
HEALTHCARE MARKETING: Eine Chance der Digitalisierung liegt im Sammeln und Nutzbarmachen von Daten. Brauchen Unternehmen Marktforscher bald überhaupt noch?
WARTENBERG: Sicher werden in Zukunft immer mehr
Daten gesammelt. Wenn Kunden beispielsweise ein gutes
Multichannel Marketing haben, werden sie die Daten nutzen und versuchen, daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Wie oft
hat der Arzt auf meine Webseite geklickt? Hat er das EMailing gelesen? An einem E-Meeting teilgenommen? Welche Themen haben ihn besonders interessiert? Diese Rückmeldungen zu verarbeiten und das Marketing optimal auf
die Zielgruppe abzustimmen, wird sicher ein differenzierender Faktor sein. Aber das wird die Marktforscher nicht
überflüssig machen. Datenanalytik ist sehr komplex und
erfordert sehr spezifisches Wissen. Ich denke, in bestimmten
Bereichen werden Unternehmen auf ihre eigene Expertise
zurückgreifen, wie sie es heute schon tun. Aber wir werden viele Bereiche sehen, in denen Unternehmen auf externe
Analytikexperten zurückgreifen wollen. Gerade, was neue
Fragestellungen angeht, neue Indikationen oder Märkte,
profitieren die Unternehmen davon, dass das Dienstleistungsunternehmen vergleichbare Fragestellungen bereits
beantwortet hat und über die gefragte Expertise verfügt.
HEALTHCARE MARKETING: Wie bewerten Sie den Datenschutz im Vergleich zu anderen Ländern?
WARTENBERG: Deutschland hat einen besonders hohen
Datenschutzstandard und bewährte gesetzliche Regelungen,
die klare Grenzen aufzeigen. IMS legt diese sogar oft noch
strikter aus als gesetzlich vorgeschrieben. Im Vergleich dazu
gibt es in den USA sehr viel mehr Freiheiten, mit Daten zu arbeiten. Ich bin ein absoluter Verfechter des Datenschutzes, er
bildet die Basis unseres Handelns, wenn es um personenbezogene Gesundheitsdaten geht. Es ist aber auch Teil der Wahrheit, dass über die Analyse großer Mengen pseudonymisierter
Gesundheitsdaten eine Verbesserung der Versorgung erreicht
werden kann. Ist das nicht mehr möglich, werden neue Erkenntnisse nicht mehr hieraus gewonnen werden und es wird
letztlich zu Schädigungen von Patienten kommen. Als Beispiel hierfür seien Pharmakovigilanzstudien auf Basis solcher
Daten genannt, die etwa die Europäische Zulassungsbehörde
durchführt. Die Nutzung von pseudonymen Gesundheitsdaten für breite Wissenschaft und Forschung muss weiterhin
möglich sein. Die im Moment diskutierte Datenschutzgrundverordnung auf EU-Ebene könnte hier zu stark einschränkend wirken, als Kollateralschaden bei der Abwehr von Fehlentwicklungen in der Internetwirtschaft.
Interview: Birte Schäffler
Healthcare Marketing 12/2015
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