Politische Theorien des 19. Jahrhunderts I

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Politische Theorien des 19. Jahrhunderts
I. Konservatismus
Politische Theorien
des 19. Jahrhunderts
I. Konservatismus
Herausgegeben von Bernd Heidenreich
mit Beiträgen von
Gerhard Göhler
Hans-Christof Kraus
Heinz-Joachim Müllenbrock
Jean-Jacques Langendorf
Günther Kronenbitter
Peter Paul Müller-Schmid
Dieter J. Weiß
Wilhelm Füßl
Heinz-Siegfried Strelow
Hessische Landeszentrale für politische Bildung
Impressum
Herausgeber:
Dr. Bernd Heidenreich
Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 1999
Redaktion und Bildauswahl:
Beate Halfpaap, Wiesbaden
Titelfoto:
Edmund Burke, Betrachtungen über die französische Revolution,
Übers. Friedrich Gentz, Berlin 1793
Satz und Druck:
Georg Aug. Walter’s Druckerei GmbH, 65343 Eltville im Rheingau
ISBN 3-927127-27-2
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Bernd Heidenreich
Konservatismus im 19. Jahrhundert - ein Überblick . . . . . . . . . . . . . 11
Gerhard Göhler
Politisches Denken der deutschen Spätromantik . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Hans-Christof Kraus
Edmund Burke (1729-1797) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Heinz-Joachim Müllenbrock
Joseph de Maistre (1753-1821) und L.G.A. de Bonald (1754-1840)
– zwei Vertreter der Gegenrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Jean-Jacques Langendorf
Friedrich von Gentz (1764-1832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Günther Kronenbitter
Adam Müller (1779-1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Peter Paul Müller-Schmid
Joseph von Görres (1776-1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Dieter J. Weiß
Leopold (1790-1861) und
Ernst Ludwig (1795-1877) von Gerlach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Hans-Christof Kraus
Friedrich Julius Stahl (1802-1861) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Wilhelm Füßl
Wilhelm Heinrich von Riehl (1823-1897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Heinz-Siegfried Strelow
Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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Vorwort
Mit einer Publikationsreihe zu den politischen Theorien des 19. Jahrhunderts wendet sich die politische Bildung einer originären Aufgabe
zu. Denn die politischen Diskussionen der Gegenwart können ohne
Kenntnis ihrer Vorgeschichte, ohne Analyse der politischen Theorien
der Vergangenheit und ohne die Rezeption des politischen Denkens
nicht beurteilt werden. Politische Ideengeschichte leistet daher einen
notwendigen Beitrag zum Verständnis der zentralen Begrifflichkeiten
der politischen Diskussionen, spiegelt die Probleme des politischen
Handelns und Denkens und regt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den politischen Theorien der Gegenwart an.
Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus kommen im Rahmen
dieser Ideengeschichte besondere Bedeutung zu. Denn sie bleiben in
ihrem Kern auch im 20. Jahrhundert die dominanten und repräsentativen politischen Theorien, die die programmatischen Grundlagen der
demokratischen Parteien bis heute maßgeblich beeinflußt haben.
„Was ist Konservativismus?“, so hat Abraham Lincoln einmal gefragt.
„Ist er nicht Festhalten am Alten und Erprobten gegenüber dem
Neuen und Unerprobten?“ Diese rhetorische Frage zielt auf eine richtige Antwort, ist doch das Grundprinzip des Konservatismus stets das
Bewahren. Dennoch erschöpft er sich keineswegs im Bedeutungsgehalt des lateinischen Verbums „conservare“.
Historisch entstand der Konservatismus als Reaktion und Gegenbewegung auf die französische Revolution von 1789, ihr Menschenbild
und ihr Ideengut.
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In den Augen ihrer Kritiker stand diese Revolution
- für ein aufklärerisches, individualistisches Denken, das die abstrakte, autonome menschliche Vernunft zum Maßstab aller gesellschaftlichen Ordnung machte,
- für eine radikale Säkularisierung, die die göttliche Ordnung der Welt
durch eine rein diesseitige, vom Mensch geschaffene und von ihm verantwortete Ordnung ersetzte und
- für einen völligen Bruch mit der Geschichte und den gewachsenen
Institutionen und Autoritäten, einschließlich der Abkehr von Staat,
Kirche und Familie.
Die Kritik an der Revolution war damit zugleich die Geburtsstunde
des modernen Konservatismus. Mit Edmund Burkes „Reflections on
the Revolution in France“ (1790) begann sich die Opposition der europäischen Konservativen gegen die französische Revolution zu formieren, noch bevor sich die Revolution selbst durch den Terror Robespierres und die Verbrechen der Jakobinerdiktatur (1793/94) diskreditiert hatte. In einer doppelten Wendung gegen den Absolutismus und
die Ideen von 1789 setzte der Konservatismus auf - wie es Karl Mannheim formuliert - „eine historisch und soziologisch erfaßbare Kontinuität, die in einer bestimmten historischen und soziologischen Situation entstanden ist und in unmittelbarem Konnex mit dem historisch
Lebendigen sich entwickelt.“ Konservatives Denken hält daher am
Konkreten fest. Es versucht, sich der Tradition zu vergewissern und
die gesellschaftliche Wirklichkeit pragmatisch zu reformieren.
Sieht man einmal von den französischen Traditionalisten (de Maistre,
de Bonald) ab, so beschränkten sich die konservativen Denker des 19.
Jahrhunderts keineswegs auf bloße Antirevolutionsrhetorik. Vielmehr
lassen sich aus der konservativen Staatstheorie jener Zeit eine Reihe
von Grundsätzen herausdestillieren, die in der politischen Diskussion
der Gegenwart noch immer eine wichtige Rolle spielen.
Einige dieser Grundsätze seien bespielhaft genannt:
- der Glaube, daß eine göttliche Absicht die Gesellschaft und das
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menschliche Gewissen lenkt, vor der sich der einzelne, aber auch die
Politik zu verantworten haben,
- der Respekt vor der Würde des Menschen und vor dem Leben, dem
geborenen, dem ungeborenen und dem sterbenden,
- die Achtung vor der Natur als göttliche Schöpfungsordnung, die
dem Menschen anvertraut ist - nicht nur um sie zu beherrschen, sondern auch um sie zu bewahren und zu schützen,
- die Gewißheit, daß Eigentum und Freiheit zusammengehören, daß
wirtschaftliche Nivellierung keinen ökonomischen Fortschritt mit sich
bringt und daß die Aufhebung des Privateigentums zum Ende der
Freiheit führt,
- die Hochschätzung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, als Empfindungs- und Wirtschaftsgemeinschaft, die die Generationen umfaßt,
- das Vertrauen in das überlieferte Recht, die Tradition und die Erfahrung; die Achtung und der Respekt vor der Geschichte und den Leistungen der Vorfahren,
- die Einsicht, daß Veränderung und Reform nicht identisch sind und
schließlich die Skepsis gegenüber dem Zeitgeist und einer eilfertigen
Neuerungssucht sowie die Überzeugung, daß Veränderungen notwendig bleiben, aber langsam und mit Augenmaß erfolgen müssen.
Diese Grundsätze sind nicht nur Theorie geblieben, sondern haben
Eingang in die konkrete Politik gefunden. Die preußischen Konservativen sind ohne sie ebensowenig denkbar wie die Gründung der Zentrumspartei. Auch in den politischen Parteien der Gegenwart finden
sich ihre Spuren: So versteht sich die CSU in ihrem Programm auch als
konservative Partei. Die CDU betont ebenfalls, daß neben dem liberalen und sozialen auch das konservative Element zu ihren geistigen
Wurzeln zählt. Schließlich bekennen sich auch die Grünen mit ihren
Forderungen nach der Bewahrung der Natur und dem Schutz der
Umwelt zu wertkonservativen Positionen.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Wer sich mit den politischen
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Theorien des 19. Jahrhunderts befaßt, gerät unversehens in die politische Diskussion der Gegenwart. Der vorliegende Sammelband, der
aus einer gemeinsamen Tagung mit der Thüringer Landeszentrale für
politische Bildung hervorgegegangen ist, soll deshalb dazu ermutigen, sich auf den Spuren der wichtigsten konservativen Theoretiker
des 19. Jahrhunderts mit den Grundlagen unseres politischen Denkens zu beschäftigen und dabei hinter die Kulissen des aktuellen politischen Geschehens unserer Zeit zu schauen.
Dr. Bernd Heidenreich
Hessische Landeszentrale für politische Bildung
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Konservatismus im 19. Jahrhundert - ein Überblick
Gerhard Göhler
1 Das Phänomen des Konservatismus
Der Konservatismus ist nicht tot, und er ist auch nicht einfach reaktionär. Zweifellos ist konservatives Denken vor allem rückwärts gewandt, aber wer nach rückwärts schaut, muß nicht von vornherein
den Blick auf die Zukunft verschließen. Nur wer auch nach rückwärts
schaut, kann Erfahrungen einbringen und für die Zukunft geltend
machen. Das Rad muß nicht immer wieder neu erfunden werden. Andererseits - so ist immer wieder zu konstatieren - kann der Blick nach
rückwärts die Zukunft auch verstellen. In diesem Spannungsverhältnis sollten wir den Konservatismus diskutieren. Dabei verstehe ich
Konservatismus neben Liberalismus und Sozialismus als eine der
„Ideologien“ sozialer und politischer Bewegungen, die vornehmlich
im 19. Jahrhundert entstanden sind und die unser politisches Denken
bis in die Gegenwart beeinflussen.
Geht es dem Liberalismus um die freie Entfaltung des Individuums
gegenüber aller politischen und gesellschaftlichen Bevormundung,
dem Sozialismus um die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit in
einer selbstbestimmten Gemeinschaft, so dem Konservatismus um die
Bewahrung des Bewahrenswerten in einem vorgegebenen Ordnungsgefüge. Das lateinische Wort „conservare“, von dem sich „Konservatismus“ ableitet, hat bekanntlich den Sinn von aufbewahren, instandhalten, retten. „Konservatismus“ ist - ebenso wie „Liberalismus“ und
„Sozialismus“ - ein im 19. Jahrhundert entstandenes Kunstwort. Die
Wortgeschichte ist ein wenig pikant (Vierhaus 1982: 537ff): Der Ausdruck „conservateur/conservatrice“ diente als politischer Begriff ursprünglich der Erhaltung der Errungenschaften der Französischen Revolution - und zwar sowohl gegen ihre Radikalisierung als auch gegen
ihre Rücknahme. In der Restaurationszeit galt es dagegen anderes zu
erhalten. „Le Conservateur“ war 1818-20 die Wochenzeitschrift Chateaubriands und ein Organ der Royalisten; sie stand im Gegensatz
zum Liberalismus, allerdings nicht für die Rückkehr zu vorkonstitu11
tionellen Zeiten. In Deutschland hat sich der Begriff „Konservatismus“ zur Bezeichnung einer politischen Richtung erst ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich durchgesetzt: als Signalwort für
die Bewahrung der anti-liberalen und erst recht der anti-demokratischen politischen Ordnung.
Welches Denken und welche sozialen und politischen Bewegungen
lassen sich als „konservativ“ kennzeichnen, und wie ist ihr „Konservatismus“ zu bestimmen? Darüber werden in der Literatur heftige Auseinandersetzungen geführt, die klare, brauchbare Verortungen fast schon unmöglich erscheinen lassen. Aber so hoffnungslos ist die Lage nicht, wenn
man sich die unleugbare Vielfalt ein wenig systematisch ansieht.
Ich unternehme daher hier zwei Durchgänge. Zunächst bestimme
ich, ausgehend von Mannheims grundlegendem Werk, den Konservatismus als eine Denkstruktur, also als eine bestimmte Art und Weise,
wie gedacht wird - sodann als historisches Phänomen, nämlich in der
Abfolge von historischen Etappen.
1.1 Konservatismus als Denkstruktur
Was heißt „konservatives Denken“? Das Fundamentalprinzip ist das
Bewahren. Zu erhalten sind also grundsätzlich sowohl die Lebensprinzipien des Einzelnen in der Gesellschaft als auch die Ordnungsprinzipien der Gesellschaft und des Gemeinwesens selbst als auch schließlich die Prinzipien der Bindung des Einzelnen an das Ganze. Maßstab
ist stets, daß alles erhalten werden soll, was sich bewährt hat - sei es
von Gott oder der Natur vorgegeben, sei es als geschichtlicher Erfahrungsgehalt erworben.
Bereits in dieser allgemeinen Bestimmung liegt die entscheidende
Abgrenzung gegenüber Liberalismus und Sozialismus, weil diese beiden vielmehr von konstruktiven Prinzipien und ihrer Absicherung ausgehen. Wenn der Liberalismus die freie Entfaltung des Individuums
propagiert, so beruft er sich auf die Vernunft des autonomen Ich; sie
ist die Grundlage und der Maßstab für jede Verfassungskonstruktion.
Ganz entsprechend geht der Sozialismus zur Verwirklichung sozialer
Gerechtigkeit von der Prämisse aus, daß der Mensch als soziales Vernunftwesen nur in einer selbstbestimmten Gemeinschaft seine Erfüllung findet. Für Liberalismus wie Sozialismus ist die Ordnung des
menschlichen Zusammenlebens nach Vernunftprinzipien, aus rationaler Begründung zu erstellen oder entsprechend zu verändern.
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Dagegen richtet sich das konservative „Bewahren“ auf das Vorhandene, auf die überkommene Ordnung. Weil sie normativ oder historisch vorgegeben ist, stellt sich die Frage, ob sie bewahrenswert ist, eigentlich erst dann, wenn sie von anderer Seite infrage gestellt wird; sie
ist virulent, theoretisch wie praktisch, vornehmlich in Umbruchzeiten.
Sonst wäre keine Reflexion erforderlich, und erst mit einer solchen Reflexion setzt eigentlich der Konservatismus ein. Im Zeitalter der sozialen und politischen Bewegungen ist Konservatismus deshalb in erster Linie eine Gegenbewegung gegen die Französische Revolution
und ihre Wirkungen (dies wird im zweiten Teil näher ausgeführt).
Auch theoretisch definiert sich der Konservatismus prinzipiell reaktiv:
durch seine Gegnerschaft gegen Rationalismus und Aufklärung. Um
der abgelehnten politischen Konsequenzen willen ist er anti-aufklärerisch, gegen die Verengung des rationalistischen, vom Ich ausgehenden Denkens macht er das Gefühl, das Irrationale, das Metaphysische,
die Religion stark, und er wehrt sich gegen Vernunftkonstruktionen
im menschlichen Zusammenleben. Demgegenüber setzen Liberalismus und Sozialmus aus eben diesen Gründen auf den aktiven Entwurf einer vernunftbegründeten Ordnung.
Daß konservatives Denken prinzipiell reaktiv ist, bedeutet nicht
zwangsläufig, daß es zugleich defensiv ist, wie immer wieder behauptet wird. Bewahren als Gegenstrategie kann defensiv, aber ebenso
auch offensiv sein. Offensives Bewahren ist kein Widerspruch in sich,
zumindest treffen wir diese Verbindung im konservativen Denken
immer wieder an - entsprechend der Alltagserfahrung „Angriff ist die
beste Verteidigung“. Offensiv wird konservatives Denken dann, wenn
bestehende Verhältnisse nicht nur als solche bewahrt werden sollen,
sondern wenn es primär darum geht, bewährte Prinzipien zu bewahren. Wenn sie in den bestehenden Verhältnissen keinen angemessenen
Ausdruck mehr finden, sind diese entsprechend zu ändern - so ein
Anliegen der Politischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Oder nach historischen Fehlentwicklungen müssen überhaupt erst
wieder Verhältnisse geschaffen werden, in denen die einstmals bewährten Prinzipien realisiert werden können - das ist der Ansatz der
Konservativen Revolution in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Liberalismus geht es allerdings auch in der
offensiven Variante des Konservatismus stets um das Bewährte, nicht
um Konstruktionen aus dem Vernunftgebrauch. Auf jeden Fall sind
für die konservative Denkstruktur sowohl Defensive als auch Offen13
sive möglich und gleichermaßen anzutreffen. Es wäre eine unnötige
Verengung, den Konservatismus als lediglich defensiv zu bestimmen;
viele Elemente würden herausfallen, die wir aus gutem Grund dem
Konservatismus zurechnen.
1.2 Konservatismus als historisches Phänomen
Ähnlich komplex stellt sich der Konservatismus bei dem Versuch
einer historischen Verortung.
Aber das ist wiederum kein Grund, ihn historisch unnötig einzuengen.
Kondylis (1986) sieht den Konservatismus als historisches Phänomen beschränkt auf Adel, der in der alteuropäischen Gesellschaft
seine Vorherrschaft und Privilegien gegen das sich emanzipierende
Bürgertum behaupten will und damit historisch scheitert. Damit
findet der Konservatismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. sein Ende - es gibt also im 20. Jahrhundert im präzisen Sinne
des Wortes keinen „Konservatismus“ mehr. Diese rigide Lösung ist
für die historische Verortung und theoretische Diskussion des Konservatismus sehr unbefriedigend, und sie ist, weil letztlich doch nur
ein Definitionsproblem, auch unnötig. Tatsächlich haben wir es lediglich mit einer Verlagerung der sozialen Trägerschichten zu tun.
Die historische Entwicklung des Konservatismus ist geprägt durch
wechselnde Koalitionen, eine Verlagerung in den sozialen Trägerschichten und veränderte Problemkonstellationen; aber die konservative Denkstruktur - zu bewahren, was bewahrenswert ist - bleibt wirksam erhalten. Ich möchte deshalb bezogen auf Deutschland drei Etappen in der historischen Entwicklung des Konservatismus unterscheiden:
(1) Im 18. und 19. Jahrhundert, vornehmlich in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts, ist Konservatismus eine „Anti-Haltung“ insbesondere des Adels: einerseits gerichtet gegen den fürstlichen Absolutismus mit seinem Versuch einer umfassenden Durchsetzung
und Organisation seiner Herrschaft im neuzeitlichen Staat - andererseits gerichtet gegen den Liberalismus mit seinem revolutionär
erscheinenden Prinzip der Volkssouveränität und allen Bestrebungen zur Freisetzung ökonomischer Aktivitäten gegenüber bestehenden ständischen Beschränkungen. Im ersten Fall steht der Konservatismus in Koalition mit dem liberalen Bürgertum gegen abso14
lutistische Ansprüche der Krone, im zweiten Fall in Koalition mit
der Krone gegen das liberale Bürgertum und auch den liberalen Teil
der staatlichen Bürokratie. Das Ergebnis sind - je nach Interessenlage - wechselnde Koalitionen zwischen Adel, Krone und Bürgertum.
(2) Vom 19. zum 20. Jahrhundert, abschließend nach dem Ende des
1. Weltkriegs, hat sich das Bürgertum mit seinen liberalen Prinzipien weitgehend durchgesetzt, z.T. sogar in Koalition mit den Konservativen. Damit wechselt die soziale Trägerschaft des Konservatismus: Das arrivierte Bürgertum wird mehr und mehr konservativ,
und auch das Kleinbürgertum kommt hinzu, welches nun etwas zu
verlieren hat oder zu verlieren fürchtet. So erhält der Konservatismus in der Zwischenkriegszeit da, wo er besonders dynamisch ist,
eine bemerkenswerte Wendung. Da sich liberale und teilweise sozialistische Prinzipien nach dem 1. Weltkrieg historisch durchgesetzt haben, ist die gesellschaftliche und politische Ordnung, die
nun entstanden ist, nicht wert, daß sie erhalten wird. Vielmehr muß
auf die bewährten Prinzipien einer staatlichen und völkischen Gemeinschaft zurückgegriffen werden, und diese sind gegen das Bestehende durchzusetzen und überhaupt erst wieder zu realisieren.
Diese konservative Aufbruchstimmung bezeichnet sich selbst in
einem scheinbar paradoxen Ausdruck als „konservative Revolution“. Sie hat viele Affinitäten zum Nationalsozialismus.
(3) Nach dem 2. Weltkrieg ist die Konstellation für den Konservatismus in Deutschland noch komplizierter; sie bietet der Konservatismusforschung den Anreiz, auf eine durchgehende Verortung des
Konservatismus lieber ganz zu verzichten oder jetzt plakativ von
„Neo-Konservatismus“ zu sprechen. Tatsächlich haben wir jetzt
mindestens drei grundsätzlich verschiedene Richtungen:
a) die fortgeführte Betonung des „starken Staates“ (z.B. Forsthoff);
b) den „technokratischen Konservatismus“ (Schelsky, Lothar
Späth), der auf die Sachgesetzlichkeit der technischen Entwicklung
setzt. In beiden Fällen ist wieder das Gegebene zu bewahren, einerseits vermittels staatsfördernder Tugenden, andererseits vermittels
der stabilisierenden Macht der Technik.
c) Angesichts der Bedrohung des Bestehenden, nämlich sowohl der
Natur als auch der Gesellschaft, durch Wachstumsplanung und
technische Umgestaltung der Welt wird weit über den politischen
Konservatismus hinaus die Erhaltung des Bestehenden zu einem
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zentralen Problem unserer Gesellschaft. Es geht um die „Umwelt“,
um die Sicherung vor Selbstzerstörung der Menschheit und um die
Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Gemeinschaftsformen dies ist offensichtlich eine durchaus konservative Position, für die
Erhard Eppler die Bezeichnung Wertkonservatismus prägt, um sie
dem „Strukturkonservatismus“ gegenüberzustellen.
Diese Unterscheidung ist nicht unumstritten. Sie macht aber deutlich, daß konservatives Denken heute nicht allein in der Rückwendung zum „starken Staat“ oder im Vertrauen auf die Sachzwänge
der „Technokratie“ in der Nachfolge der früheren Konservativen
aufgeht. „Wertkonservatismus“ bedeutet ebenfalls den Rückgriff
auf oder die Affinität zu ursprünglichem konservativem Gedankengut, ohne allerdings dessen ausgeprägte politische Zielsetzung
mit übernehmen zu müssen oder auch nur zu wollen. Hier handelt
es sich vielmehr um Zielsetzungen, die wir vor allem mit den
Neuen Sozialen Bewegungen in Verbindung bringen. Der Konservatismus ist daher nach dem 2. Weltkrieg letztlich auf zwei Stränge
gewissermaßen „neuverteilt“, wobei nur der erste i.e.S. als „konservativ“ identifizierbar ist, der zweite aber doch genuin konservative Vorstellungen mit aufnimmt.
In diesem Problemhorizont sollte der Konservatismus des 19. Jahrhunderts gesehen werden, und er gewinnt dadurch besonderes Interesse, weil in ihm die Ursprünge des konservativen Denkens liegen.
Diesen Ursprüngen wende ich mich nun in zwei Annäherungen zu.
2 Zur Kennzeichnung des Konservatismus im 19. Jahrhundert:
zwei Annäherungen
2.1 Konservatismus und Revolution
Was ist das Neue an diesem Konservatismus des 19. Jahrhunderts?
Seine Grundintention ist es, das Bestehende, soweit es überkommen
ist und sich dadurch bewährt hat, zu bewahren. Nun ist traditionelles,
auf historische Kontinuität bedachtes Denken kein neuartiges Phänomen des 19. Jahrhunderts; es gibt den altständischen Konservatismus
im 18. Jahrhundert (Justus Möser), und auch der patriarchalische
Schweizer Konservatismus Carl Ludwig von Hallers ist diesem Kontinuitätsdenken zuzurechnen; es wirkt nach der Französischen Revolution nur etwas bemühter und ideologischer. Aber die Französische
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Revolution ist der eigentliche Anstoß für den Konservatismus, sie provoziert die Reaktion auf die Infragestellung aller überkommenen Ordnung in Europa und die Reflexion auf das Überkommene und Bewährte. So hat der Konservatismus seine moderne, bis heute weiterreichende Ausprägung erst als antirevolutionäre Gegenbewegung erhalten, vornehmlich und zuallererst gegenüber der Französischen Revolution von 1789. Diese Revolution, so wurde es von konservativer Seite
aus gesehen, war die letzte praktische Konsequenz eines aufklärerischen, individualistischen Denkens, welches die autonome menschliche Vernunft zum Maßstab aller gesellschaftlichen Ordnung hob und
sich anheischig machte, Verfassungen nach diesem Vernunftpostulat
zu konstruieren. Damit verbunden brachte die Säkularisierung den
Verfall aller gemeinschaftstragenden religiösen und sittlichen Bindungen.
Es ist die Bedeutung von Edmund Burke, daß er in umittelbarer
Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution das Prinzip der
historischen Kontinuität verfocht und die historisch gewachsenen Institutionen verteidigte. Damit gab er, ohne selbst reaktionär, vielleicht
nicht einmal „konservativ“ zu sein, den Anstoß für die theoretischen
Begründungen der Reaktion gegen die revolutionären Umwälzungen
sowie der Restauration, d. h. der Wiederherstellung jener vorrevolutionären Verhältnisse, die noch restaurierbar erschienen. Das war eine
konstitutionell nicht oder nur möglichst wenig eingebundene Monarchie und - in teilweise widerstreitender Interessenlage - das zugrunde
liegende Geflecht altständischer, insbesondere adliger Freiheiten und
Privilegien. Zunehmend war es auch der Versuch, gegenüber den sich
durchsetzenden modernen Arbeits- und Wirtschaftsformen den sozialen Abstieg der althergebrachten Subsistenzweise aufzuhalten. Insofern erscheint der Konservatismus in besonderem Maße als „Ideologie“, als Theorie gesellschaftlicher Ordnung zum Zweck der Durchsetzung der eigenen Interessen. Am Bestehenden, soweit es überkommen war, hatten neben der Monarchie vor allem der Adel, Teile der
bäuerlichen Bevölkerung, vom sozialen Abstieg bedrohte Handwerker und schließlich die Geistlichkeit ein ebenso materielles wie ideelles Interesse; konservative Theoriegebäude laufen immer wieder auf
deren Rechtfertigung hinaus. Aber es würde zu kurz greifen, konservatives Denken nur als den durchsichtigen Versuch einer Rationalisierung handfester Interessen zu entlarven, was er zweifellos auch war.
In seiner Reaktion auf die Französische Revolution hat er Ordnungs17
prinzipien formuliert, die hinausgehend über zeitgebundene Interessenlagen in das politische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts eingegangen sind und die - wenn auch umstrittene - Antworten auf Problemlagen geben, mit denen wir es immer noch zu tun haben. Dabei
muß man allerdings genauer hinsehen, welche der Positionen hierzu
überhaupt gehören. Es bleibt das gute Recht des Ideengeschichtlers, in
dem geläufigen Spektrum von konservativen Ursprüngen solche Positionen beiseite zu lassen, denen über die zeitgebundene Interessenlage hinaus eine wirkungsgeschichtliche oder theoretische Bedeutung
nicht zugesprochen werden kann; und es ist andererseits zu prüfen,
welche der verbleibenden Positionen überhaupt noch genuin dem
konservativen Spektrum zuzurechnen sind.
Zu diesem Zweck betrachte ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit,
vier idealtypische Reaktionen („Antworten“) auf die Französische Revolution, die in der politischen Ideengeschichte als im weitesten Sinne
„konservativ“ gehandelt werden:
(1) Die gegenrevolutionäre Antwort vereint die Protagonisten der
Konterrevolution: de Maistre, de Bonald, Donoso Cortes. Sie wollen
das Rad der Geschichte zurückdrehen oder geschichtliche Entwicklungen zumindest stillstellen. Die Menschen sind angesichts ihrer
Unvollkommenheit und Schlechtigkeit politisch nur durch ein hierarchisches Ordnungssystem mit einem König oder einem Diktator
an der Spitze und geistig/geistlich nur durch die Institution der katholischen Kirche zu beherrschen. Eine solche, rein negatorische Reaktion auf die Französische Revolution oder ihre Folgegeschichte
ist naheliegend - als ein politisches Ordnungskonzept ist sie jedoch
nicht weiterführend, weil schlicht reaktionär (und damit, weil ausschließlich zeitgebunden, auch historisch überholt). Deshalb ist gerade die umgekehrte, wenn auch ebenfalls kritische Reaktion besonders wirkungsvoll und bedenkenswert:
(2) Die nachrevolutionäre Antwort. Burke und Hegel versuchen, im
Gegensatz zum gegenrevolutionären Denken, in der Kritik an der
Französischen Revolution zugleich über die Revolution hinauszudenken. Diese nachrevolutionäre Antwort ist ambivalent. Einerseits werden als Reaktion auf die negativen Erfahrungen der Revolution mit ihrer, aus konservativer Sicht, „abstrakten Verfassungskonstruktion“ die historischen Kontinuitäten geltend gemacht,
weil sie zugleich die eigentlichen Entwicklungspotentiale darstellen. Andererseits wird die Modernität und neue Qualität des revo18
lutionären politischen Denkens nicht grundsätzlich verdammt,
sondern produktiv gewendet. Daher ist es schwierig (bei Hegel
noch mehr als Burke), die nachrevolutionäre Antwort auf die Französische Revolution in die Galerie des konservativen Denkens im
19. Jahrhundert einzugliedern. Burke wurde auch von den preußischen Reformern aufgenommen (Frhr. v. Stein), sein Denken wurde
weitergeführt vor allem vom historisch-organischen Liberalismus
(Dahlmann). Hegel hat eine beeindruckende und sowohl nach
„rechts“ wie nach „links“ weiterführende Synthese aus liberalem
und konservativem Denken entfaltet. Genuin „konservative“ Konzepte, die als solche theoretische und praktische Bedeutung gewonnen haben und doch jeweils über eine schlichte Anti-Haltung
zur Revolution hinausführen, finden wir lediglich in der romantischen und der konstitutionellen Antwort auf die Französische Revolution.
(3) Die romantische Antwort. Die Politische Romantik (Novalis, A.
Müller) ist der Versuch, einen lebendigen, vielfältig in sich vermittelten Staat als Organismus gegen die mechanische Konstruktion
der Aufklärung und der Französischen Revolution zu entfalten.
Entscheidend ist gegenüber alldem, was bloß „tot“ ist, die Idee des
Lebens, die durch dynamische Weiterentwicklung eine organische
Ganzheitsvorstellung für Individuum, Gesellschaft und Staat erbringt. In Einheit mit einer verklärten katholischen Religion und
der Rückwendung zu den ebenfalls verklärten Institutionen des
Mittelalters wird eine neue ständisch-hierarchische Ordnung begründet.
Die Politische Romantik, insbesondere A. Müller, wird außerordentlich kontrovers interpretiert. Während Carl Schmitt ihr einen
„subjektivierten Occasionalismus“ vorwirft und bei A. Müller nur
ein haltloses ästhetisches Spiel des opportunistischen Intellektuellen ohne Substanz und Entscheidung zu sehen vermag, betont Karl
Mannheim ihre außerordentliche theoretische und politische Bedeutung: Sie habe die altständische Position auf die fortgeschrittenste Denkstruktur ihrer Zeit erhoben: Ihr gelinge die wissenschaftliche Bemächtigung der irrationalen, von der Aufklärung verdrängten Lebensmächte. Tatsächlich verbindet A. Müller eine fortgeschrittene Denkweise (Denken in Gegensätzen und Analogien)
mit dynamischem, offensivem Elan: Er sieht nach den revolutionären Veränderungen jetzt v.a. in Naturwissenschaften und
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Kunst ein neues Zeitalter heraufziehen, welches es ermöglicht, die
Welt als lebendige zu gestalten. Sein zentrales Anliegen ist lebendige Einheit - die Einheit von Mensch und Natur, in der das Individuum nicht vernichtet, sondern organisch eingefügt und somit
alles in ästhetischer Schönheit lebendig ist. Konkret resultiert daraus das Plädoyer für eine ständisch gegliederte, hierarchisch organisierte Feudalgesellschaft mit einem unumschränkten Monarchen
an der Spitze.
(4) Die konstitutionelle Antwort. Friedrich Julius Stahl gibt, obwohl
nur wenig später, ein völlig anderes Bild: Er argumentiert defensiv
und rationalistisch; statt Aufbruchstimmung zu verbreiten, sieht er
sich gezwungen, die historisch unvermeidlichen Entwicklungen
seit der Französischen Revolution anzuerkennen. Ihm kommt es
nun vor allem darauf an, sie in ihrer Dynamik stillzustellen. Daraus
resultiert allerdings auch seine entscheidende Leistung: Er begründet die Geltung des konstitutionellen Prinzips auch für den deutschen Konservatismus.
Stahl wird heute häufig belacht, weil er seine gesamte politische
Philosophie vom persönlichen Gott ableitet. Ungeachtet der Beurteilung dieser Position stehen dahinter höchst moderne Überlegungen. Da alles philosophische Denken der Neuzeit, wie Stahl mit
aller Gründlichkeit bis zu Schelling und Hegel nachweist, in der
Suche nach einem letzten Fundament nicht tragfähig geworden ist,
bleibt jede Letztbegründung ein vorausgesetzter Glaube, eine
„Weltanschauung“ (!), und sie kann sich nur an der Erfahrung des
Gegenstandes selbst bewähren. Diese Erfahrung expliziert Stahl
nun ausgehend vom christlichen protestantischen (lutherischen)
Glauben, und so fundiert er seine konservative Staatslehre auf dem
Prinzip des persönlichen Gottes. Er leitet daraus einerseits personale Herrrschaft und sittliche gesellschaftliche Ordnung ab, sieht
diese aber andererseits - angesichts der Sündhaftigkeit dieser Welt
- durch die historische Entwicklung eingegrenzt. Und diese hat mit
der Französischen Revolution dazu geführt, daß der Staat nur mehr
Rechtsstaat sein kann und nicht in die Lebensführung der Individuen eingreift. Mit der Durchsetzung des konstitutionellen Prinzips wird die konservative Staatsauffassung für Liberale anschlußfähig, bleibt allerdings scharf von Demokratie abgegrenzt.
Blicken wir zurück: Das nachrevolutionäre Denken eines Burke und
eines Hegel haben mögliche Synthesen von Liberalismus und Konser20
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