„Einführung in die Geschichte der Neuzeit“ Vorlesung BA Sitzung 12 Zeitalter der Ideologien 1789-1918 a. Anders als Ideen vor 1789 werden die des "langen 19. Jahrhunderts" nicht nur allgemein theologisch oder philosophisch begründet, sondern auch durch historische Erfahrungen und Ereignisse geprägt (und interpretieren diese). b. Ideologien des 19. Jahrhunderts begründen politische Massenbewegungen (Parteien). Liberalismus Begriff Partei der "Liberales" (= die Freiheitlichen) in Spanien 1814 Liberalismus und Gesellschaft • • • gegen adlige und kirchliche Privilegien für Gleichheit vor dem Gesetz nicht für totale Gleichheit Liberalismus und Staat • • gegen absolute Monarchie für Verfassung zur Garantie von: a. individuellen Freiheitsrechten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit b. Kontrolle des Staates: Rechtsstaat, Gewaltenteilung durch Föderalismus und Parlament – wobei dessen Rekrutierung (allgemeines gleiches Wahlrecht oder Privilegierung von Bildung/+Besitz?) und Kompetenzen (nur Etatbewilligung oder auch Mitwirkung bei Gesetzen oder sogar Wahl der Exekutive?) unter Liberalen strittig Liberalismus und Wirtschaft • • • "Manchesterliberalismus" und "laissez-faire": Gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ("die Welt läuft von alleine", dadurch werde das "größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" erreicht) Forderung nach Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit Freihandel gegen Zölle innerhalb und zwischen Territorien, im Interesse der Mehrung des Wohlstands und der Verbreitung technischen Fortschritts 2 Liberales Menschenbild und liberale Utopie • • • Erbe der Aufklärung: Unabhängigkeit/Autonomie des Individuums Bildung als Voraussetzung geistiger Selbständigkeit und Unabhängigkeit Besitz als Voraussetzung materieller Selbständigkeit und Unabhängigkeit Æ Erwartung der Entwicklung zur "klassenlosen Bürgergesellschaft" aus geistig und materiell selbständigen und unabhängigen "mittelständischen Existenzen". Dadurch würde sich auch das Problem der Diskrepanz zwischen Rechtsgleichheit und sozialer Ungleichheit sowie die Wahlrechtsfrage (s.o.) lösen. Industrialisierung und Spaltung des Liberalismus • • • Die Zunahme abhängig Beschäftigter durch die Industrialisierung untergräbt die Erwartung einer "klassenlosen Bürgergesellschaft". Soziale Frage: Wirtschaftsliberalismus führt nicht zu gleichmäßigerer Verteilung des Wohlstands, ja während der Frühindustrialisierung sogar zur Verschärfung sozialer Gegensätze und Massenverelendung Æ Spaltung in am "laissez-faire"-Prinzip festhaltende Wirtschaftsliberale und soziale Aktivität des Staates bejahende Sozialliberale. Wahlrechts- und Verfassungsfrage: Spaltung in Liberale/Konstitutionelle (Privilegierung von Besitz und Bildung in einem Parlament, das nur beschränkte Befugnisse hat) und Demokraten/Radikale (für demokratisches Wahlrecht und parlamentarisches Regierungssystem) "Victory in Defeat": Sieg und Niedergang des Liberalismus am Ende des langen 19. Jahrhunderts • • • • Überwindung von Absolutismus und Privilegien: in West- und Mitteleuropa weitgehend schon 1848/49, in Osteuropa bis 1918 Demokratisierung und Parlamentarisierung in fast ganz Europa bis 1918 Beginn von Zerfall und Niedergang liberaler Parteien seit 1870er Jahren, beschleunigt seit 1918 Aber Diffusion liberaler Werte in andere Parteien und Ideologien Konservatismus Begriff Von Chateaubriands Zeitung "Le Conservateur" 1818: Konservierung/Bewahrung des alten Systems Grundsätzliche Reaktion auf den Liberalismus • • • Gesellschaft wichtiger als das Individuum Ordnung (statt Freiheit). Bezug auf 1789, das nach konservativer Interpretation unweigerlich zum "Terreur" der Jakobinerherrschaft 1793/94 führen mußte Autorität (statt Majorität in allen Lebensbereichen) 3 Konkrete Ziele • • • Religion und Kirche (Ablehnung der Trennung von Staat und Kirche sowie der Privatisierung von Religion; "christlicher Staat"; "Bündnis von Thron und Altar") Verteidigung der Stellung der Monarchie als Bollwerk des Alten Bewahrung der Privilegien des Adels als wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Elite Reformkonservative Variante Bereitwilligkeit zu Zugeständnissen (etwa konstitutionelle Monarchie), um adlige Interessen gegen die egalisierende Politik des Absolutismus zu wahren, um Anhang in anderen sozialen Gruppen zu gewinnen, und weil Bereitschaft zu behutsamer Weiterentwicklung des Alten bei Ablehnung revolutionären Wandels Wandlungen und Metamorphosen • • • Wie der Liberalismus ist auch der Konservatismus in den meisten Ländern Europas eine vorindustrielle Ideologie. Ablehnung von Industrie und Kapitalismus, weil: a) das Industriebürgertum die wirtschaftliche Vormachtstellung des Adels bedroht; b) dadurch Gewinnung einer Massenbasis in der (allerdings abnehmenden) bäuerlichen Bevölkerung möglich; c) zumindest vorübergehend dadurch auch Anziehungskraft für industrielle Arbeiterschaft (Beispiel die Beziehungen zwischen Bismarck und Ferdinand Lassalle). Antisozialismus wegen Ablehnung von Egalisierung und um Bürgertum anzuziehen Ursprünglich in Deutschland wegen Festhalten an Tradition der Einzelstaaten antinational, nach 1871 jedoch zunehmend nationalistisch Æ Paradoxe Metamorphose zur antidemokratischen Massenbewegung Sozialismus Grundlagen • • Begriff in 1820ern geprägt, seit 1840ern allgemein verbreitet – zunächst synonym mit Kommunismus – im weiteren Sinn Gemeinschaft von Gleichen, im engeren Sinn Überwindung von Privateigentum durch Schaffung von Gemeineigentum Hintergrund nicht Ausbeutung und Verelendung, sondern Unsicherheit durch Herauslösen aus traditionellen Gemeinschaften (darin Analogie zum Nationalismus), die auch konkrete materielle Hilfe bei Alter, Krankheit und Invalidität boten. Mehr als Liberalismus und Konservatismus auch starke Elemente einer politischen Religion. 4 Frühsozialistische Strömungen • • • • • Christlicher Sozialismus (Claude de Saint-Simon, Wilhelm Weitling) Genossenschaftsgedanke (Robert Owen, Charles Fourier): Zusammenschlüsse der Arbeiter zum gemeinsamen Wirtschaften auf eigene Rechnung; eine Hilfskonstruktion zum Erreichen der liberalen "klassenlosen Bürgergesellschaft" im Industriezeitalter; trotz chronischer Erfolglosigkeit lange populär Staatssozialismus (Louis Blanc): Staatliche Hilfe für Genossenschaftsidee (französische Nationalwerkstätten 1848); in 1860ern von Ferdinand Lassalle in Deutschland propagiert; später staatliche Sozialversicherungspolitik Anarchismus (Pierre Proudhon): Freiheit von Herrschaft - Erweiterung des Genossenschaftsgedankens auf den politischen Bereich; ursprünglich als gewaltfrei verstanden Gewerkschaften / "Trade-Unionism": nicht sozialistisch im engeren Sinn, aber erfolgreichster Teil der Arbeiterbewegung Marxistische Theorie "Das kommunistische Manifest" (1848); "Das Kapital" (1. Band 1867) • • • • • Geschichte "die Geschichte von Klassenkämpfen" Bourgeoisie und Proletariat Verelendung -> proletarisches Klassenbewußtsein Machtübernahme und Diktatur des Proletariats Enteignung + Sozialisierung der Produktionsmittel Æ Ende der Klassengegensätze und –kämpfe Sozialistische Parteien in Europa Wachstum seit 1860ern • • • England: Gewerkschaften, vor 1900 gar keine sozialistische Partei Frankreich und Italien: alle Gruppen mit Ausnahme der seit 1848 praktisch überall verschwundenen christlichen Sozialisten vertreten Deutschland: Um 1900 SPD weltweit stärkste sozialistische Partei; marxistischer Einfluß während Verbot 1878-1890 gewachsen, aber nach 1900 Spaltung in gewerkschaftlich-reformistische Mehrheit und marxistisch-revolutionäre Minderheit Literatur: • • • • • Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1983, S. 286-300, 313-320, 718-749. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, München 1992, S. 311-358, 531-541, 554-576. Handbuch der europäischen Geschichte, Hg. Theodor Schieder, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 67-127; und Bd. 6, Stuttgart 1968, S. 35-53. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988. Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland, München 1998.