SOCIETY Durch metabolische Materialien wird Architektur Teil der Biosphäre. Sci-Fi? Nein. V LIVING ARCHITECTURE Rachel Armstrong ist ein Universalgenie: Die Ärztin, Multimediaproduzentin und Sci-Fi-Autorin entwickelt seit Juni 2009 „Biolime“, eine Art künstlichen Kalkstein, der die Luft von Kohlenstoffdioxid säubern, unsere Städte in wachsende Kristallpaläste verwandeln und Venedig vor dem Untergang retten soll. TEXT HANNA KLIMPE Venedig geht unter – von Jahr zu Jahr kriecht das Hochwasser ein Stück weiter die einzigartigen Prachtbauten der Lagunenstadt hinauf. Der stetig ansteigende Meeresspiegel ist schuld, dass die auf über hundert Inseln gebaute Stadt zu versinken droht. Die unteren Geschosse der meisten Wohnhäuser sind bereits jetzt schon feucht und vermodert. Ende 2004 begann die Stadt zwar, im Zuge des gigantischen M.O.S.E.-Bauprojekts 78 Schleusen auf dem Meeresgrund zu errichten, unter Ökologen ist das Projekt jedoch höchst umstritten – schon allein deswegen, weil der Meeresspiegel im Zuge der globalen Erwärmung in den nächsten Jahren definitiv weiter steigen wird. Glaubt man der britischen Wissenschaftlerin Rachel Armstrong, könnte Venedig durch ein künstliches Riff unter der Wasseroberfläche auch ohne Schaden für die Natur gerettet werden und Venedig könnte in zwanzig Jahren wieder vollständig bewohnbar sein. Dieses Riff könnte durch einen chemischen Prozess hergestellt werden, der nicht komplizierter ist als der der Seifenherstellung, entsprechend Armstrongs „Living Architecture Manifesto“: We want to change the world with almost nothing. Rachel Armstrong, eine zierliche Blondine mit kräftiger Stimme, ist eigentlich Ärztin. „Aber ich fand es frustrierend, Menschen zu behandeln und sie dann in eine Umwelt zu entlassen, die sie krank macht. Wir haben eine Menge Technologien entwickelt, um Menschen zu heilen, aber kaum welche für die Umwelt.“ Die Architektur von Häusern und Städten ist für sie der Ort, an dem der Mensch und seine Umwelt aufeinandertreffen: „Ich betrachte Architektur als ökologische Technologie, die dazu beitragen soll, dass wir uns in unserer Umwelt wohlfühlen.“ Dazu gehört die Kreation von „metabolischen Materialien“: Mrs. Armstrong arbeitet an der Entwicklung eines künstlichen Kalksteins, der die 245 Eigenschaften von lebenden Systemen aufweist, wie die Fähigkeit, mit der Umwelt zu interagieren oder sich zu reproduzieren. Das hört sich wahrhaftig nach Science-Fiction an – Armstrong nennt es „bottom-up-science“: Durch simple Prozesse werden Substanzen produziert, die zu komplexen Reaktionen fähig sind. „Metabolismus ist eine einfache chemische Reaktion, die durch Aufnahme oder Abgabe von Energie eine Gruppe von Substanzen in eine andere verwandelt. Es ist die physische Art und Weise, eine Unterhaltung zu führen. Durch metabolische Materialien wird Architektur Teil der Biosphäre“, erklärt Armstrong. Sie arbeitet mit einer bestimmten Art von Protozellen, kleinen Fettzellen, die Kohlenstoffdioxid aus der Luft aufnehmen und ihn in Kalkkristalle, den Biolime, verwandeln. „Diese Protozellen wurden 2007 entwickelt, und ich arbeite seit eineinhalb Jahren damit“, erklärt Armstrong. „Das Schwierige war dabei nicht die Protozelle und ihre Reaktionen selbst – im Prinzip ist es derselbe Prozess, durch den Seife hergestellt wird. Die Herausforderung liegt in der Interdisziplinarität, darin, die Infrastruktur zwischen Chemie und Architektur aufzubauen, damit die Protozellen auf Hauswände gesprüht und aus dem Kohlenstoffdioxid in der Luft Biolime produzieren können.“ Architektur gegen die globale Erwärmung – dabei gilt diese Disziplin bislang als Klimasünder: Zurzeit werden allein in den USA 76 Prozent der aus Kohlekraftwerken gewonnenen Energie in der Bauwirtschaft verpulvert. Laut Armstrong ist sie für 40 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. In circa drei bis fünf Jahren, schätzt sie, kann Biolime auf den Markt gebracht werden. „Der chemische Prozess funktioniert. Die Technologie muss nur noch verfeinert werden, sodass die produzierten Materialien strapazierfähig genug sind, um für architektonische Zwecke verwendet werden zu können.“ Armstrong plädiert für eine gleichermaßen pragmatische wie innovative Herangehensweise an Wissenschaft und Technik. „Wir müssen zurück zur Basis gehen und mit unverbrauchtem Blick auf altbekannte Phänomene sehen“, sagt sie. „Man muss sich nur 246 Könnte die Kontrolle über die Zukunft zurückbringen: der künstliche Kalkstein Biolime FOTO R ACHEL ARMSTRONG (2) ”BOTTOM-UPSCIENCE“: MRS. RACHEL ARMSTRONG ENTWICKELT ARCHITEKTUR GEGEN DIE GLOBALE ERWA RMUNG ansehen, wie Korallenriffe mit dem sie umgebenden Wasser interagieren: Sie produzieren Muscheln aus Fossilien. Dieser Metabolismus kann auf Architektur übertragen und entsprechend manipuliert werden – durch Biolime, der im Prinzip so programmiert werden kann, dass er jede Form von Substanz aufnehmen kann, nicht nur Kohlenstoffdioxid.“ Dieses kreative wissenschaftliche Denken, ihre Offenheit für ungewöhnliche Formen von Interdisziplinarität, macht die Faszination von Armstrongs Ideen aus. An der Londoner Bartlett School of Architecture arbeitet sie mit Neil Spillers Avatar-Group (Advanced Virtual and Technological Architecture Research) zusammen, wo Experten für synthetische Biologie, komplexe Chemie und Designer zusammenkommen, um an der Entwicklung einer neuen Nachhaltigkeit in der Architektur zu arbeiten. „Bei traditioneller Nachhaltigkeit geht es um Recycling und Upcycling, aber das löst das Grundproblem nicht. Wir brauchen eine Nachhaltigkeit, die die Dinge grundsätzlich ändert!“ Der Entwurf eines künstlichen Riffs unter der Wasseroberfläche von Venedig führt die Technologie der metabolischen Materialien wieder an ihre Inspirationsquelle, die marinen Korallenriffe, zurück. Aber die Rettung Venedigs wäre nur eine der vielen Verwendungszwecke metabolischer Materialien. Wenn es nach Armstrong geht, könnten sich unsere Städte mit Hilfe von Biolime sogar in Lebenswelten à la Gaudí verwandeln, in denen Mensch, Natur und Technik zum Vorteil aller miteinander verbunden sind. Auf ihrer Website hat Armstrong eine Science-Fiction-Kurzgeschichte veröffentlicht, in der sie ihre Vision einer lebenden Stadt entfaltet. In dieser Stadt sind die Fassaden mit Biolime überzogen, dessen Kristalle im Sonnenlicht glitzern, während die Jogger bei ihren morgendlichen Runden die saubere Luft genießen. Die Kristalle wachsen in unterschiedliche Richtungen, sodass aus Häusern wachsende Skulpturen werden, die in unendlichen Variationen designt werden können. „Die Architektur des 20. Jahrhunderts war glatt und streng, es gab fast gar keine Verzierungen. Lebende Städte sind ein viel spielerischerer Ort für Designer. Wir könnten den wachsenden Biolime dreimal im Jahr von den Gebäuden entfernen, wir könnten ihn zu Spazierwegen zwischen den Dächern der einzelnen Häuser wachsen lassen. Es wäre eine botanische Stadt, Architektur wäre wie Gärtnern. Die Trennlinie zwischen der Stadt und der sie umgebenden Landschaft würde zunehmend verschwinden. Hoffentlich wird es ein bisschen aussehen wie die Entwürfe von Antoni Gaudí!“ Natur und Technik, so Armstrong, müssen zusammengeführt werden, um die Herausforderungen der Zivilisation zu meistern – mit dem Klimawandel als dringlichstem Problem. „Ein Gegensatz zwischen Natur und Technik besteht nur, wenn wir in den mechanischen, industriellen Strukturen des 20. Jahrhunderts denken. Technik muss differenzierter und komplexer werden, sie muss in physischen Dialog mit ihrer Umwelt treten.“ Diese Ausdifferenzierung verlangt ein neues Wissenschaftsverständnis und eine neue Weltauffassung. „Wir durchlaufen zurzeit eine kulturelle Renaissance. Im letzten Jahrhundert wurden enorme Erkenntnisfortschritte gemacht, aber die Wissenschaft selbst war enorm reduktionistisch: Jeder hat auf sehr spezialisierten, individualistischen Gebieten an einem kleinen Nischenproblem gearbeitet. Jetzt müssen wir herausfinden, welche Entdeckungen miteinander kombiniert werden können. Wir müssen quer durch die Disziplinen und Kulturen forschen, um unser Wissen neu zu gestalten und anzuwenden; wir müssen herausfinden, wozu die ganzen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts überhaupt gut sind.“ Armstrong fordert eine synthetische Form des Denkens jenseits von akademischen Traditionen. „Dies ist eine ziemlich aufregende Zeit, um auf der Welt zu sein, und es ist aufregend, bei der Entwicklung einer Technologie an einem derart frühen Entwicklungsstadium beteiligt zu sein!“ Dieser ungebrochene Enthusiasmus wendet sich auch gegen die „zynische Wissenschaft der Neunziger“ und ihre Tendenz, das Leben in der realen Welt gegen eine digitale Existenz einzutauschen. „Wir haben zu viel Zeit im Cyberspace verbracht“, sagt sie. „Es war wie eine Flucht, nach dem Motto: Wir haben diese Welt in den Sand gesetzt, also ziehen wir in eine neue um.“ Dabei stellt sich Armstrong nicht grundsätzlich gegen die Computertechnologie, sondern sucht nach sinnvollen Formen der digitalen Programmierung. „Programmieren ist spannend, und eine Pflanze oder eine Zelle sind schließlich auch kleine Computer, die manipuliert werden können.“ Nur sollte Technologie kein Selbstzweck sein, sondern für die Bedürfnisse von Mensch und Natur eingesetzt werden. „Computersimulationen sind zum Beispiel toll, um wissenschaftliche Ideen zu visualisieren und anderen zugänglich zu machen. Aber diese ganzen Simulationen, die uns einreden wollen, dass die Welt untergeht – auf welcher Basis kommen die zu dieser deprimierenden Schlussfolgerung? Computer haben keine Lebenserfahrung.“ Natürliche Prozesse, so Armstrong, seien noch nie unwiderruflich vorhersagbar gewesen. „Uns wird erzählt, dass wir zum Aussterben verdammt sind und dass wir uns schuldig fühlen müssen wegen des Schadens, den die Industrialisierung angerichtet hat. Aber sollen wir uns deswegen auf die Rolle des Müllentsorgers reduzieren lassen, so wie kleine Wall-Es? Wir sollten uns lieber die Kontrolle über die Zukunft zurückholen.“ rachelarmstrong.me, futurevenice.org 247