Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion:
Volker Bernius
Wissenswert
Zahlen und Töne: Musik und Mathematik
(5) Musik, die errechnet ist
Von Niels Kaiser
12.12.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecher/in:
Sprecher/in:
Niels Kaiser
08-166
COPYRIGHT:
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Jean-Claude Risset: The Fall
Im Jahr 1969, vor vierzig Jahren, ging ein merkwürdiger Klang durch die Musikwelt. Eine
unaufhörliche Abwärtsbewegung, die aber nie an ein Ziel gelangt. Eine akustische Täuschung. So wie
die Zeichnungen von Treppen, die immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückführen. Eine solche
Klangillusion ist nur mit dem Computer realisierbar. Sie entsteht durch mathematische Operationen
am Rechner. Für den sind Klänge nichts weiter als ein binärer Zahlencode, ein mathematisches
Erkennungsmuster, das sich aus Ziffern zusammensetzt.
GRÄF:
Auch höchstwahrscheinlich dieses Mikro, was Sie mir gerade vor die Nase halten mit
wahrscheinlich einer Mini-Disc, also ohne diese grundsätzlichen Verfahren, die ab den 50ern
erarbeitet worden sind zur Digitalisierung von Klängen, gäb’s das alles heute nicht.
Das sagt Albert Gräf, Leiter der Abteilung Musikinformatik am Musikwissenschaftlichen Institut der
Universität Mainz.
GRÄF:
Und ein guter Teil dabei, wie auch zum Beispiel MP3-Verfahren ist digitale Signalverarbeitung,
und die wurde zunächst bei den AT&T-Bell-Labs entwickelt für musikalische Anwendungen,
interessanterweise.
In den Ball Laboratories in der Nähe von New York konstruierte der Physiker Jean Claude Risset
Klänge wie den eben gehörten, die dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheinen.
Hier entstanden auch die ersten Computermusiksprachen, die der Informatiker Max Mathews
entwickelte.
FINNENDAHL:
Und eines der entwickelten Verfahren, das nennt sich LPC. Das ist die Abkürzung für Linear
Productive Coding, das ist ein mathematisch relativ kompliziertes und avanciertes Verfahren.
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Orm Finnendahl ist Leiter des Studios für elektronische Musik an der Freiburger Musikhochschule.
FINNENDAHL: Dieses Verfahren versucht eine Sprachnachricht zu analysieren, und dann diese
Analysedaten über eine Leitung zum Empfänger zu übermitteln, wo sie dann wieder
resynthetisiert werden. Und wenn man nun einen Ton oder ein Rauschen durch diesen Filter
schickt, dann fängt dieser Filter an zu klingen, so als würde ein Mensch sprechen.
Mathews: Daisy Bell
(über Musik:)
1961 synthetisierte Max Mathews zum ersten Mal eine menschliche Stimme mit dem Computer, die
Stimme seiner Frau, die das Kinderlied „Daisy Bell“ eingesungen hatte.
FINNENDAHL:
Sie hat dieses Lied gesungen, und dieses Tonband wurde dann analysiert. Es wurden
sozusagen die Zahlen, die eine Extraktion dieser Stimme sind, daraus errechnet mit diesem
Verfahren LPC. Und diese Zahlen wurden dann wieder verwendet, um einen synthetischen
Klang herzustellen. Es war insofern eines der frühesten Beispiele für, ich sage mal,
Klangresynthese.
Musik hoch und Schluss
heutige Computermusik (Madonna)
(gleich drüber:)
Digital errechnete Klangsynthesen gehören heute zu unserem Lebensalltag. Wir sind von Klängen
umgeben, die Computer aus binären Zahlenreihen errechnen. Auch die Datenreduzierung, die ein
MP3-Player vornimmt, beruht auf einer Klangsynthese.
GRÄF:
Da stecken natürlich sehr ausgefuchste mathematische Verfahren dahinter. Bei MP3 ist es die
Methode, dass man erst mal eine Frequenzanalyse eines Signals macht. Das ist eine
mathematische Analysemethode, wo dann auch noch gewisse psychoakustische Kenntnisse
drin stecken. Hinterher baut man das in einer Art Synthesizer wieder zusammen.
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Auch die Stimme von Musikinformatiker Albert Gräf, so wie sie gerade erklang, ist eigentlich gar nicht
seine, sondern eine vom Computer errechnete Synthese. Die Frequenz- oder Fourier-Analyse, mit der
das möglich wird, geht zurück auf den französischen Mathematiker Jean Baptiste Fourier, der bereits
am Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte, dass jeder Ton in einzelne Bestandteile zerlegt werden kann:
die Sinusschwingungen. Ihre Anteile sind charakteristisch für die jeweiligen Klangfarbe eines Tons,
erläutert der Berliner Mathematiker Ehrhard Behrends.
BEHRENDS:
Fourier-Analyse ist ja, wenn ich’s mal auf die Atomtheorie übertrage, der Versuch allgemeine
Töne aus einfachen Tönen zusammenzusetzen. In der Atomtheorie: Jedes Molekül ist aus
einfachen Bausteinen, den Atomen zusammengesetzt. Aber die Fourier-Theorie ist auch
konstruktiv in dem Sinne, dass sie es gestattet, wenn ich diese Schwingungsform sehe, dass
sie dann die Anteile der einzelnen Schwingungen sofort ausrechenbar macht. Das wäre
ungefähr so, als ob man aus dem Geschmack eines Kuchens sofort analysieren, was die
Anteile an Zucker, Mehl, Ei usw. gewesen sind.
Sinusschwingungen
Die Fourier-Analyse macht es möglich, akustische Signale in ihre Bestandteile zu zerlegen. Das
umgekehrte Verfahren ist die Fourier-Synthese, die Erzeugung beliebiger Signale.
BEHRENDS:
Das ist also genau der Punkt, dass man, wenn man ein Instrument möglichst gut nachmachen
möchte, dass man sich dann das Fourierspektrum dieses Instruments ansieht und das dann
synthetisiert, indem man die Fourierteile wieder zusammensetzt.
Sinusschwingungen Variante
Cope: Bach-Invention
(über Musik:)
Ein Musikcomputer ist heutzutage nicht nur in der Lage, mit ausgeklügelten Rechenprogrammen
synthetische Klänge zu erzeugen, die realen Vorbildern entsprechen, er kann sie auch eigenständig zu
Musik formen, zu Musik etwa, die wie Bach klingt. Um das zu erreichen, muss der Computer dem
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originalen Bach erst einmal mit jeder Menge mathematischer Methoden zu Leibe rücken, um ihn zu
verstehen, erklärt Musikinformatiker Albert Gräf.
GRÄF:
Die Musik lebt ja aus dem Wechselspiel zwischen dem, was man erwartet und dem, was dann
tatsächlich kommt. Und auf der Basis kann man Analysen beispielsweise mit stochastischen
Methoden, also Wahrscheinlichkeitsrechnung machen. Gerade bei Bach hat man das gemacht,
und da sind auch verschiedene Ansätze verfolgt worden, wie man Strukturen in der Musik erst
mal entdecken kann, und das dann einsetzen kann, um im Umkehrschluss wiederum Musik
daraus zu erzeugen, entweder damit sie zum Beispiel ähnlich wie Bach klingt oder damit sie
auch ganz anders hinterher klingt. Aber man versucht eben auf die Art zu verstehen, welche
Strukturen sinntragend sind in der Musik.
Musik hoch, endet unter nächster Mod.
Wir hören hier zwar einen leibhaftigen Pianisten. Die wie Bach klingende Musik aber, die er spielt, hat
der Computer errechnet. Der amerikanische Komponist David Cope entwickelt Computerprogramme,
die musikalische Stilanalysen anfertigen und in diesem Stil dann selbst komponieren können. Eine
solche Analyse kann auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung erfolgen, mit Hilfe der so genannten
Markov-Ketten. Auch Orm Finnendahl verwendet sie in seinen Kompositionen.
FINNENDAHL:
Markow-Ketten sind spezielle stochastische Prozesse, die sich beschäftigen mit der
Abfolgeeigenschaft von Ereignissen, das heißt: Ich nehme als Beispiel mehrere Musikstücke
und schaue mir an bei diesen Musikstücken, welche Akkorde folgen auf welche anderen
Akkorde, und kann darüber eine bestimmte statistische Auswertung machen und kann diese
statistische Auswertung umgekehrt dazu nutzen, selber Akkordfolgen zu generieren, die
ähnliche statistische Eigenschaften enthalten. Das heißt, ich schau mir an: Wie oft taucht der
Akkord A nach einem Akkord B nach einem Akkord C auf, und entsprechend generiere ich
dann einen Satz, der entsprechende strukturelle Eigenschaften hat. Und diese Ergebnisse sind
für den Laien zumindest vollkommen verblüffend, weil man das Gefühl hat, dass das richtige
musikalische Werke sind.
Finnendahl: Josquinimitation
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Diese Musik im Stil des Renaissancekomponisten Josquin Desprez hat Orm Finnendahl mit Hilfe von
Markov-Ketten erstellt. Aus den ermittelten Wahrscheinlichkeiten verschiedener JosquinKompositionen baut der Computer per Zufallsverfahren neue Renaissancemusik.
FINNENDAHL:
Der Computer könnte also endlos in dieser Art von Stil weiterschreiben, und Sie werden auch
sehr viele Zitate hören, weil er dann natürlich auch auf die Dinge kommt, auf die Josquin
selber auch gekommen ist. Es ist keineswegs so, dass das, was der Computer dann liefert,
perfekte Renaissancemusik ist, aber es ist sicherlich möglich, heutzutage mit einem sehr sehr
intelligenten Algorithmus und sehr guten Vorlagen etwas zu erzeugen, was dann im Ergebnis
sehr überzeugend ist.
Der Musikcomputer ist heutzutage ein omnipotentes Musikinstrument, und das nicht nur in der
avancierten Musik. In der Unterhaltungskunst und für den Laienmusiker ist er ebenfalls eine
universale Musikmaschine.
GRÄF:
Der Computer gibt einem da Freiheiten, weil er einen bei vielen Sachen unterstützt, die man
sonst nicht machen könnte. Man kann als Hobbymusiker sich zum Beispiel behelfen, wenn
man alleine spielen muss, dass man ein Computerprogramm hat, das einem mit diesen
aleatorischen Methoden ein sehr überzeugendes Arrangement für die ganze Begleitband
liefert, so dass man eine Band hat, mit der man spielen kann.
Lydia Daher
(über Musik:)
Die Münchner Songwriterin Lydia Daher hat eine CD ganz alleine mit dem Arrangementprogramm
Garage aufgenommen. Garage setzt einzeln eingespielte Töne oder Motive zu Begleitfiguren
zusammen und erstellt so komplette Song-Arrangements.
Musik endet
Die Möglichkeiten, Musik mit Rechnerprogrammen zu analysieren, haben auch auf
musiktheoretischem Gebiet zu neuen Entwicklungen geführt. Mittlerweile gibt es den Zweig der
mathematischen Musiktheorie. Die herkömmliche Musiktheorie, die mit Hilfe von Funktionsharmonik
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oder Stufentheorie Musik zu verstehen versucht, ist aus der Sicht des Mathematikers für eine
computergesteuerte Musikanalyse viel zu ungenau.
GRÄF:
Es geht darum, mit exakteren Methoden heranzugehen, um formale Strukturen an Musik
erkennen zu können, das ist das eine. Zum anderen: Wenn Sie solche
Kompositionsalgorithmen entwickeln, dann brauchen Sie die mathematische Musiktheorie
eigentlich als Grundlage, um zu verstehen, was Sie da tun. Wir versuchen nicht der Musik ihre
Magie zu nehmen, sondern Musik auf eine neue Art beschreibbar und auch komponierbar zu
machen.
Vorreiter der mathematischen Musiktheorie ist der Schweizer Mathematiker Guerino Mazzola. Er
analysiert Musik mit Hilfe räumlich-geometrischer Denkmodelle und versucht, musikalische
Naturgesetze mathematisch nachzuweisen, wie zum Beispiel die besondere Bedeutung der Dur- und
Molltonleitern. Die Musikwissenschaft reagiert bislang noch eher verschnupft auf die mathematische
Offensive. Auch der Musikphysiologie Eckart Altenmüller hält die Kalkulationen der mathematischen
Musiktheorie für etwas zu spitzfindig, obwohl er mit neurologischen Untersuchungen zu ähnlichen
Ergebnissen kommt wie Mazzola.
ALTENMÜLLER:
Man kann mit völlig unterschiedlichen Mitteln zu dem ähnlichen durch die Realität gegebenen
Verhältnis kommen. Das ist halt ein Faktum, dass Dur und Moll bevorzugt gehört werden.
Mazzola versucht das Ganze jetzt eben, wie übrigens schon viele Mathematiker vor ihm, in eine
Formel zu bringen. Und das, was diese Formeln auszeichnet, ist, dass sie in einem bestimmten
Rahmen funktionieren, aber das, was eben das Großartige ausmacht, nicht erreichen können.
Der komplexeste Computer ist eben doch noch unser eigenes privates Gehirn. Und deswegen
glaube ich, dass wir die Musik mit Sicherheit nicht auf einen irgendwie gearteten Algorithmus
zurückführen können.
Vielleicht steckt hinter dem Versuch, die Musik auf eine möglichst einfache und allgemein gültige
Formel zu bringen, auch ganz einfach der romantische Wunsch, die Welt zu verstehen. Das Phänomen
Musik mit Hilfe der Mathematik restlos zu entschlüsseln, hält aber auch der Mathematiker Ehrhard
Behrends für eine vergebliche Hoffnung.
BEHRENDS:
Sie kann vieles über die Struktur aussagen, sie kann interessante Zusammenhänge
aufzeigen, aber das, was das Allerwichtigste an Musik ist, dass man sich von der
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Stimmung her stark beeinflussen kann, da ist die Mathematik sicher nicht die richtige
Wissenschaft dafür. Für Mathematiker spannender sind eigentlich Sachverhalte, die
das Akustische an sich betreffen, Mathematik, die etwas zu tun hat mit akustischen
Wahrnehmungen.
GRÄF:
Der Rest, der hat nichts mit Mathematik zu tun. Es wäre schlimm, wenn die ganze Welt nur aus
Mathematik bestünde.
Glass: Einstein on the beach
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