12gliedrige Kette

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Die zwölfgliedrige Kette des Entstehens und ihre Einordnung in
das Denken des Mahāyāna
Vortrag von Marc Nottelmann-Feil zum Frühlingstreffen der EKO Gemeinschaft, April 2013
1
Als ich neulich einen Vortrag hielt, der eine ganz grobe Einführung in die Gedankenwelt des
Großen Sūtras geben sollte, kam ich auf die zwölfgliedrige Kette des Entstehens zu sprechen,
und ich versprach, diese einmal ausführlicher anhand der tibetischen Lebensrad-Darstellungen
(Sanskrit: bhava-cakra, Tib. Srid pa.hi .hkhor lo, Jap. Shōjirin ) zu behandeln. Obwohl diese
Darstellung in Japan wohl kaum eine Rolle gespielt hat, 1 ist sie indischen Ursprungs.2 Es gibt
ein Sūtra, in welchem der Buddha die Mönche auffordert, eine solche Darstellung neben das
Tempeltor zu malen. 3 Offenbar sind hier ganz allgemein buddhistische Lehren
veranschaulicht, weshalb sich die Erklärung lohnt.
Der Hintergrund des Bildes zeigt eine ideale Landschaft, wo wir in der Luft schwebend einen
Buddha und einen Bodhisattva erkennen können. Sie deutet sicherlich eine Art Nirvana-Welt
an.
Eingeschrieben in der Bildmitte ist ein großer Kreis, der von einem zähnefletschenden
Dämonen gehalten wird. Der Dämon wird als der Totengott Yama.h gedeutet, oder als Kāla.h,
die Zeit. Ewigkeit und Zeitlichkeit stoßen in dem Bild also aufeinander.
Yama.h trägt als Kopfschmuck eine Art Kette, bestehend aus fünf Totenköpfen: dies sind die
sogenannten fünf Skandhas. Darunter versteht man die fünf Dimensionen, die zusammen ein
fühlendes Wesen ausmachen:
1. Die Körperlichkeit (rūpa) –die fünf Sinneswahrnehmungen plus das Denken, das diese
sozusagen erweitert
2. Die Gefühle (vedanā)
3. Die Gegenstandswahrnehmung (sa.mj~nā)
4. Die Geistesformationen (sa.mskāra) – dazu gehören vor allem der Wille und die
Tatabsichten
5. Die Bewusstseingruppe (vij~nāna), die alles zu einer Einheit verbindet.
1
Nakamura Hajime erwähnt im Bildband zum Bukkyōgo daijiten 1998 nur, dass diese Bilder in tibetischen
Klöstern vorzufinden sind. Von japanischen oder theravadabuddhistischen Lebensrad-Bildern spricht er nicht.
2
In Ajānta Höhle Nr.17 findet sich eine solche Darstellung aus der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts. Aus
dem 10.Jahrhundert stammt die Darstellung aus Höhle Nr. 19 in 安西楡林. Hazuike/Yamabe 2010 蓮池利隆
山部能宜 「仏教信仰と社会」 『文明文化の交差点』 (新アジア仏教史 5) 佼成出版
Eine umfangreiche Beschreibung der Darstellung von Ajānta findet sich in: Zin, Monika Schlingloff, Dieter:
Saṃsāracakra: Das Rad der Wiedergeburten in der indischen Überlieferung (Buddhismus-Studien: EKŌ-Haus,
Düsseldorf 2007). Gerade den Höhlentempeln in Ajānta wird immer eine Nähe zum Mahāyāna-Buddhismus
nachgesagt. Die äußeren Bereiche dieses Bhavacakra zeigen aber nicht die Nirvana-Welt und alle die Dinge, die
ich am Ende erkläre. Man sieht rechts oben offenbar den Angriff des Mara. Auch alles andere im äußeren
Bereich verbleibt im samsarischen.
3
Nach Hazuike/Yamabe 2010 im Vinaya der Mulasarvastivadim Nr.34 (T. Bd.23, S.811). Vgl, Dīva avadāna
Nr.21
2
Wenn wir die geistige Welt, mit der wir uns identifizieren, einmal untersuchen, so ist klar,
dass wir darin unsere augenblicklichen Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Willensregungen
usw. vorfinden. Auch dass wir mit der Sinneswahrnehmung etwas tun, dass wir einen
Gegenstand erst erfassen müssen, weil wir dieselbe Sinneswahrnehmung für eine Schlange
oder ein Seil halten können, ist einleuchtend. Denn wir sehen ja – vielleicht irrtümlich – schon
im ersten Augenblick eine Schlange und nicht isolierte Farbpunkte. Also sind die etwas
abstrakteren Skandhas wie „Gegenstandswahrnehmung“ auch leicht einzusehen. Wenn man
also fragt: „Wer bin ich?“ Oder „Was ist meine geistige Welt?“ – so kann man darauf
antworten, dass die fünf Skandhas alles enthalten, was „wir“ sind.
Hier entsteht aber ein Problem: die fünf Skandhas verändern sich ständig, sie sind vergänglich
– darum ihre Darstellung als Totenkopf. Ständig kommen neue Sinneswahrnehmungen auf
uns zu, unsere Gefühlswelt ist äußerst veränderlich und labil, und selbst unsere
Charaktereigenschaften, die wir unter den Geistesformationen zu suchen hätten, ändern sich
im Lauf eines Lebens. Wir beobachten, dass einige Menschen sich zum Positiven und einige
sich zum Negativen hin entwickeln. Wenn das Ich etwas Unveränderliches sein soll, das sogar
im Tod gleichbleibt, so kann es nicht mit den fünf Skandas identifiziert werden. Die fünf
Skandhas gibt es, aber das ich ist – wohlmöglich – nur eine Illusion. – Dies ist ein wichtiges
klassisches Argument der buddhistischen Philosophie.
Nun interessieren sich gute Buddhisten in der Regel nicht für Philosophie, sondern sie
interessieren sich für die Überwindung des Leidens. Was macht diese Welt – d.h. den Inhalt
der fünf Skandhas - eigentlich so leidvoll?
Eine Antwort auf die Frage gibt der eingeschriebene Kreis: und es ist wohl sinnvoll, mit der
zweiten Bahn von Außen zu beginnen. Sie gibt Anwort, in welcher Weise uns das Leiden
begegnet.
Dargestellt sind die sechs Daseinsbereiche, in denen sich ein fühlendes Wesen befinden kann.
Zwei Bereiche kennen wir aus der unmittelbaren Anschauung, nämlich
1. die Welt der Menschen
2. die Welt der Tiere.
Die anderen drei sind „unsichtbar“, aber der Buddhismus teilt sie mehr oder weniger mit den
anderen Religionen. Es ist der
3. der Bereich der Höllenwesen
4. der Bereich der Hungergeister, die nirgenwo ihre Begierden stillen können
5. der Bereich der Halbgötter oder streitenden Götter (Asura)
6. der Bereich der Götter
Götter und Halbgötter streiten sich um den Baum des Lebens
3
Im Großen und Ganzen gibt es also drei Bereiche, die man als positiv bezeichnen kann,
nämlich den Bereich der Menschen, der Halbgötter und der Götter, und drei Bereiche, die
eher negativ zu werten sind: den Bereich der Tiere, der Hungergeister und Höllenwesen.
Dies entspricht der buddhistischen Sichtweise, dass es gutes und schlechtes Karma gibt.
Dementsprechend sehen wir weiter innen eine Bande, die zweigeteilt ist: sie zeigt einen
schwarzen und einen weißen Weg.
Wenn man darüber nachdenkt, sind die sechs Existenzbereiche nichts anderes als
Extremsituationen, die wir aus dem menschlichen Leben auch schon irgendwie kennen.
Einem zuviel von Hass, entspricht die Hölle, einem zu viel von Gier entspricht die Welt der
Hungergeister, die nie zufrieden gestellt werden können. Die Tiere kommen in der Liste
natürlich schlecht weg, aber nicht weil sie nicht liebenswert wären, sondern weil sie dumm
sind und darum in vieler Hinsicht hilflos. Wer einmal ein kleines Vögelchen gesehen hat, das
sich in ein Zimmer verflogen hat und in Panik gerät. Obwohl das Fenster sperrangelweit
geöffnet ist, weiß wovon ich spreche.
Die drei Wurzelübel als Tiere,
der weiße und der schwarze Pfad
Gier, Hass und Verblendung (Dummheit) – dies sind die Dinge, deren Mehr oder Weniger das
Verweilen in einem der Existenzbereiche bedingen. Der menschliche Geist besitzt aus
buddhistischer Sicht zahlreicheVerunreinungen (wie z.B. Neid, Eifersucht, Arroganz usw.),
aber diese drei sind die Wurzeln, auf die sich alle anderen zurückführen lassen. In der Mitte
des Bildes sehen wir darum drei Tiere einen Hahn, eine Schlange und ein Wildschwein. Der
Hahn steht für die Gier, die Schlange für den Hass und das Wildschwein für die Verblendung.
Es scheint, dass sie sich in den Schwanz beißen und so gegenseitig jagen. Wer gierig ist, wird
diejenigen hassen, die ihn bei der Befriedigung der Gier im Wege stehen. Und wer von Gier
und Hass getrieben ist, der kann die Welt unmöglich sehen, wie sie ist. Darum setzen Gier,
Hass und Verblendung auf der Achse des Lebensrades den Existenzkreislauf gleichsam in
Bewegung (obwohl die Wiedergeburt natürlich nicht im Urzeigersinn stattfindet, sondern je
nach Umständen).
Der Grund des Leidens
Nun sind wir erst beim eigentlichen Thema: dem bedingten Entstehen. Buddha sagt in der
ersten Wahrheit für Edlen: Die fünf Skandhas sind leidvoll, d.h. irgendwo in der Welt, die wir
erfahren steckt immer der Wurm. Wer geboren wird, begegnet auf jeden Fall dem Leiden.
4
Wie ein Arzt suchte der Buddha nach dem Grund des Leidens und fand ihn in der Gier: das ist
die zweite Wahrheit für Edle. So gesehen ist in unserer Darstellung der eigentliche Dreh- und
Angelpunkt des Samsara-Rades der Hahn in der Mitte.
Gier, Hass und Verblendung sind menschliche Unzulänglichkeiten und Fehler. Sie zeigen
schon, wo der Mensch den Hebel ansetzen kann, wenn er das Leiden überwinden will. In
diesem Sinne sind es Dinge, die den Menschen in seinem Tun und Lassen, d.h. praktisch
bewegen.
In unserem Schaubild gibt es noch eine Darstellung, die die Ursache des Leidens von einem
eher theoretischen (beinahe möchte man sagen erkenntnistheortischen) Standpunkt aus
analysiert. Es ist die zwölfgliedrige Kette des Entstehens, die in den zwölf Bildern des
äußeren Kreises dargestellt ist, die fast wie die Zifferblätter einer Uhr angeordnet sind und
auch im Uhrzeigersinn gelesen werden müssen.
Ich möchte mit den letzten fünf Bildern beginnen.
Das letzte Bild – sozusagen das Resultat – befindet sich rechts unten und zeigt zwei Männer,
die einen Leichnam auf der Bahre davontragen. Dies ist eine Darstellung des Todes, der hier
für alles Leiden stehen soll.
Alle anderen Glieder der Kette sind so zu lesen, dass jedes Glied im vorhergehende Glied eine
notwendige Bedingung hat. Das folgende Glied kann nur bestehen, wenn das vorhergehende
schon gegeben ist. Wäre das vorhergehende nicht, so wäre das folgende auch nicht.
Die notwendige Voraussetzung des Todes ist, dass man geboren wurde. Also zeigt das elfte
Bild eine Geburt.
Die notwendige Voraussetzung für die Geburt ist, das schon etwas herangewachsen ist: das
Werden. Unser Bild zeigt eine schwangere Frau. (Dieses Werden bhava gibt übrigens der
ganzen Darstellung seinen korrekten Namen. Ich spreche von Rad des Lebens, aber auf
Sanskrit ist es das Rad des Werdens, bhavacakra.)
Die notwendige Bedingung für das Werden ist das Ergreifen. Das ist etwas schwer zu
verstehen, aber es bezieht sich zweifellos auf den Wiedergeburtsprozess. Dass ein Wesen
dieses oder jenes Wesen geworden ist, bedeutet dass es dieses oder jenes
„Schicksal“ angenommen hat. Nicht-Buddhisten machen sich darüber normalerweise keine
Gedanken, oder halten diesen Gedanken für abwegig. Sie sagen vielleicht: „Ich bin dieser
Mensch – Mann/Frau, schön/hässlich, behindert/gesund“ weil ich es von meinen Eltern geerbt
habe. Aber sie fragen nicht: „Warum habe gerade ich dies geerbt und nicht ein
anderer?““Warum stehe ich nicht von vorneherein an einer anderen Stelle in der Welt?“ –
Diese Frage verstehen die meisten Menschen heutzutage gar nicht mehr. (Christen würden das
vielleicht als göttliche Gabe bezeichnen.) Auf dem Bild sehen wir einen Affen, der nach einer
Frucht greift. Das, was ergriffen werden kann, ist also eine Frucht – nämlich des vergangenen
Karma. Auf unser Version des Bildes steht neben dem Baum noch eine Frau, was wohl
andeuten soll, dass dieses Ergreifenim Augenblick der Empfängnis geschieht.
Die notwendigeVoraussetzung für ein Ergreifen ist, dass man etwas haben will. Dies ist die
Gier, genauer Sanskrit t.r.sna (Pali tanha), ein Wort das sprachgeschichtlich mit dem
deutschen Wort Durst verwandt ist und auch so übersetzt werden kann. Dargestellt werden
Menschen, die sich dem Genuss des Gerstenbieres hingeben.
Die zwei Säufer: Sinnbild für Durst (Gier)-
5
(Stellt der Künstler ironischerweise einen
tibetischen Lama und seinen Schüler dar?)
An dieser Stelle ist eigentlich – nach der zweiten Wahrheit für Edle- der Grund des Leidens
erreicht. In der Tat scheint die älteste Form der Kette des Entstehens diese fünfgliedrige Kette
gewesen zu sein. Später wurde sie von Mönchen aufgrund von anderen Aufzählungen
erweitert, zunächst zu einer neungliedrigen, zehngliedrigen und schließlich zur
zwölfgliedrigen Kette, die in der ganzen buddhistischen Welt heute die fast ausschließlich
bekannte ist.4
Die Erweiterung beginnt beim „Unwissen“ –Sanskrit avidhyā: wörtlich das Nicht-Sehen (das
eigentlich ein anderes Glied der drei Wurzelübel ist, welches auf unserem Bild, wie erwähnt
durch das Wildschwein dargestellt wird.) Dies wird auf dem Bild links unten dargestellt: wir
sehen eine blinde Greisin, die mit einem Stock durch eine sicherlich nicht ungefährliche
Gebirgslandschaft geht.
Aber ich möchte wiederum lieber den Prozess von seinem Resultat her erklären, weil dies
eher dem Erkenntnisprozess entspricht:
Wir waren bis zur Gier – dem Durst gelangt:
Die notwendige Bedingung für Gier ist, dass wir ein Objekt attraktiv finden. Also ist eine
Empfindung (vedana) nötig, die uns ein Objekt als begehrenswert oder abstoßend darstellt.
In unserem Bild trifft ein Pfeil das Auge. Diesen dürfen wir uns wahrscheinlich wirklich wie
den Pfeil des Eros vorfindet, der einen unvermittelt und ohne eigenes Zutun trifft.
Die notwendige Bedingung aber, dass wir überhaupt ein Objekt als attraktiv oder abstoßend
empfinden kommen ist, dass wir ihm überhaupt begegenen. Dieses Glied der Kette des
bedingten Entstehens ist also der Kontakt : hier dargestellt durch einen Mann und eine Frau
die sich gegenseitig umarmen.
Wir würden aber nicht zu einem Objekt in Kontakt kommen, hätten wir nicht unsere Sinne:
Sehen, Hören, Riechen usw. Diese werden dargestellt durch ein Haus mit sechs Fenstern. Es
überrascht westliche Menschen immer, dass der Buddhismus von sechs Sinnen spricht und
nicht nur von fünf, dass er also das Denken als sechste „Sinneswurzel“ hinzunimmt. Hier
macht es aber einmal Sinn, denn natürlich kann man auch mit Objekten in Kontakt kommen,
die man sich nur ausdenkt. Den Satz des Pythagoras kann man nicht sinnlich wahrnehmen,
aber man kann ihn dennoch lieben oder hassen.)
Die Voraussetzung für den Kontakt ist nun nāma-rūpa „Name und Form“. Nāman ist nach
Nakamura Hajime die „individuelle seelische Komponente“ und rūpa die materielle: wir
können also durchaus mit „Geist und Körper“ übersetzen. Die umfasst (ebenfalls nach
Nakamura Hajime) die „Gesamheit der fünf Skandha. Die Körperlichkeit (rūpa) entspricht
dem ersten, der fünf Skandha, wie ich sie oben erklärt habe, und nama, das Geistige, den
anderen vier Skandha, die darum auch als Gruppe zusammengefasst werden. Der Gefühle,
Gegenstandsbildung, Tatabsichten, und die Einheit des Bewusstseins sind natürlich etwas
Geistiges. Auf unserem Bild sehen wir zwei Menschen in einem Boot, der eine gibt
Anweisungen und der andere rudert. Der Geist ist der Fahrgast (Er hat das Sagen!) und der
Körper der Ruderer.
4
Baba Norihisa 馬場紀寿
史 3) 佼成出版社 2010
「初期経典と実践」 90 項
in: 『仏典からみた仏教世界』
(新アジア仏教
6
Schmächtiger Fahrgast und
starker Ruderer
Die notwendige Voraussetzung von nāma-rūpa , d.h. aller fünf Skandhas ist nun das
Bewusstsein (vijñāna). Dies ist auch streng logisch so, da vijñāna, die Einheit des
Bewusstseins, schon in den fünf Skandha enthalten ist. (Natürlich ist das Vorhandenseín des
Teils eine notwendige Voraussetzung für das ganze). Dennoch ist es nicht ganz trivial,
sondern zeigt die Perspektive der Betrachtung. Gegenstand der Betrachtung ist eine wirklich
„individuelle“ Welt, die in der Einheit eines Bewusstseins stattfindet, und nicht mehr! In
unserem Bild klammert sich ein Affe an einen Baum voller Früchte, ein anderer sitzt
unabhängig davon daneben. Der Baum voller Früchte lässt sich kaum anders deuten als das,
was aus der Gesamtheit des individuellen Karma heranreift, und hier hat jeder gleichsam sein
eigenes Bäumchen.
Die notwendige Bedingung für das Bewusstsein ist nun sa.mskāra, ein Wort das der große
Buddhismus-Forscher Friedrich Weller niemals übersetzt hat, weil er es nach seinem eigenen
Angaben nicht verstand. Ich würde es am liebsten auch tun, aber ich habe es schon übersetzt,
nämlich als Geistesformationen, die in der obigen Liste das vierte der Skandha sind. Nach
Nakamura Hajime sind es die Formbildungskräfte (形勢力) und auch die so geformten Dinge
(形成されたもの), die mit den sogenannten Sa.msk.rta, den zusammengesetzten Dingen
identisch sind. Wahrscheinlich müssen wir uns das folgenderweise vorstellen: alle Dinge
werden durch eine Formbildekraft vereinigt. Was hält denn einen zusammengesetzten
Gegenstand wie einen materiellen Gegenstand, oder meinen Körper, oder auch meinen
„geistigen Körper“ den Charakter usw. zusammen? Man könnte vielleicht von der Kraft der
karmischen Bedingungen sprechen. Der Topf, der aus Lehm, Arbeit, Einwirkung von Feuer
usw. zustande gekommen ist, ist in gewisserweise der Zusammenfluss all dieser gestaltenden
Kräfte. Und das Bewusstsein, das ein individuelles fühlendes Wesen bildet, ist ebenfalls etwas
aus unterschiedlichen Elementendurch den Karmaprozess geformtes. Auf unserem Bild sehen
wir darum einen Töpfer, der verschiedene Gefäße macht. Ein anderer sitzt untätig daneben:
ihn scheinen diese Gefäße nichts anzugehen.
Die notwendige Bedingung der Geistesformationen ist nun das Nicht-Wissen, das NichtSehen. Angenommen man würde sehen, dass am Ende der ganzen Kette das Leiden steht, so
würde man sich auf dieses Spiel, das man nur verlieren kann, niemals einlassen.
Das Interesse der ganzen Argumentation liegt in der umgekehrten Richtung, in der ich sie
dargestellt habe. Wenn man nämlich das Nicht-Wissen beseitigt, so entzieht man der ganzen
restlichen Kette und damit letztendlich dem Leiden die Grundlage.
Exkurs: Von der Schwierigkeit, die zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entstehens als
Ganzes zu verstehen
Über die Kette des Bedingten Entstehens ist viel philosophiert worden. Im Großen und
Ganzen hat niemand mit der Erklärung der Abhängigkeitskette als solche, wie ich sie Euch
eben vorgeführt habe, Schwierigkeiten gehabt. Es gibt eine Diskussion darüber, ob die Kette
7
nur in eine Richtung lesbar ist (uni-directional) oder ob sie umkehrbar ist (reciprocal
mediation). Außerdem hat es die Interpreten verwirrt, dass sich einige Dinge im dargestellten
Ablauf wiederholen.
Das Ergreifen z.B. entspricht der Empfängnis eines neuen Lebewesens, hier beginnt also ein
neues Leben. Aber dasselbe könnte man auch von den Karmaformationen sagen, denn sie
resultieren in einem Bewusstsein, das einem Einzelwesen entspricht. Darum besagt eine
klassische Analyse dieser zwölfgliedirgen Kette, dass hier nicht von der Bedingungskette in
einem einigen Leben die Rede ist, sondern von einer Bedingungskette die sich über drei
Leben erstreckt. Diese Leben stehen im Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Man
kann die Ursache und Wirkung noch weiter analysieren, indem man in der Ursachen noch
zwischen dem menschlichen Fehler, der einem Handeln zugrundeliegt, und dem Handeln
selbst.
Wenn man das zweite Leben als das gegenwärtige definiert, erhält man folgende Liste:
Analyse nach Ursache und Wirkung in den drei Leben
(uni-directional)
Verg. Urs. 過去因→Geg.
Res.現在果
現在果
過去因
惑
Unwissen 無明
Fehler
Ursache 因
業
Karmaformation 行
Karma
Bewusstsein 識
Wirkung
苦 名色・六処・触・受
果
Leiden Name-Form, 6 Sinne, Kontakt,
Empfindung
Geg. Urs.現在因
現在因→Zuk.
Res.未
未
現在因
来果
Gier 愛・Ergreifen 取
Werden 有
Geburt 生
Alter und Tod 老死
Die Tafel habe ich der japanischen Wikipedia übernommen. Sie ist aber allgemein bekannt. Vergleiche
auch: Nyanatilokas Buddhistisches Wörterbuch „Pa.ticasamuppāda!
Die Liste erklärt einigermaßen gut, wo der Mensch etwas machen kann, um aus dem Prozess,
der unweigerlich zum Leiden führt zu befreien: er kann nämlich seine Fehler minimieren.
Wenn er die Unwissenheit beseitigt, die Gier minimiert und nicht gleich nach jedem
Gegenstand greift, den er begehrt, dann macht er spirituellen Fortschritt.
Doch hier sieht man auch, wie wackelig die ganze Kontruktion ist. In der Praxis verlangt der
Buddhismus oft, dass man den Kontakt mit dem Gegenstand aufgibt, um Gier usw. zu
überwinden. Das ist die Idee des gesamten Mönchtums und wird mit dem Austrocknen eines
auf trockenes Land gelegten Treibholzes verglichen. Also beginnt hier schon das Machbare:
die Ursache ist, dass man sich dem Kontakt aussetzt. Überhaupt ist es unbefriedigend zu
sagen, der Buddha habe von drei Leben gesprochen, und von jedes Leben eine andere
Ursachenkette aufgestellt. Warum?
Vielleicht aus diesem Moment des Zweifels gibt es noch eine andere Deutung, die meines
Wissens relativ spät, nämlich erst Anfang des 20.Jahrhunderts, aufgekommen ist: Es ist die
Auffassung, die zwölfgliedrige Kette finde in einem Augenblick statt (j. setsuna engi 刹那縁
起)5. In Deutschland hat der große Querdenker Paul Dahlke (1865-1928) diesen Standpunkt
vertreten. Möglicherweise hat Ui Hakuju (1882-1962) auf irgendwelchen direkten oder
indirekten Wegen hierdurch eine Anregung erfahren. Jedenfalls ist Ui wohl zum
Hauptvertreter der These geworden, dass man die Verursachung in beiderlei Richtung lesen
5
Sōgō bukkyō daijiten I S. 641
8
könne, was natürlich eine zeitliche
Augenblickstheorie zumindest ähnelt.6
Deutung
unterminiert
und
somit
Dahlkes
Analyse als logische Äquivalenz in einem Augenblick:
Unwissen 無明⇆Karmaformation 行⇆Bewusstsein 識⇆Name-Form 名色⇆6 Sinne 六処⇆
Kontakt 触⇆Empfindung 受⇆Gier 愛⇆Ergreifen 取⇆Werden 有⇆Geburt 生⇆Alter und Tod
老死
Wenn man die zwölfgliedrige Kette strikt als logische Äquivalenz fasst, ist die
Gleichzeitigkeit am deutlichsten. Bei näherem Hinsehen geht durch diese Deutung noch mehr
verloren als durch die Analyse in drei Leben. Alles, was in der Zeit ablaufen muss, z.B. das
Altern oder das Ergreifen, wird dadurch unklar. Schon die These, dass aus dem Leiden die
Unwissenheit folgen sollte, also die Gegenschlussrichtung ist fragwürdig. Noch fragwürdiger
ist die Äquivalenz, wenn man sie anhand der einzelnen Glieder prüft: Folgt wirklich aus dem
Ergreifen die Gier? Die Gier ist eine notwendige Bedingung für das Ergreifen, aber
umgekehrt ist das Ergreifen für die Gier doch nicht relevant (es sei denn, in einem sehr
abstrakten, noch zu definierenden Sinne). Das Vorhandensein von Bewusstsein ist eine
notwendige Bedingung für das Vorhandensein von Name-Form (Körper und Geist), weil das
Vorhandensein des Teils die notwendige Bedingung für das Ganze ist. Umgekehrt ist das aber
nicht der Fall: ein blühender Kirschbaum kann nur sein, wo blühende Zweige sind. Aber wo
blühende Zweige sind, muss nicht unbedingt ein ganzer blühender Kirschbaum sein.
Was die zwölfgliedrige Kette so unbefriedigend für unser modern programmiertes Gehirn
macht, ist, dass vollkommen verschiedene Formen der Aufeinanderfolge wild durcheinander
gewirbelt werden. Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Name-Form ist logischer Natur,
aber die Beziehung zwischen Werden und Geburt zeitlicher. Selbst mit diesen beiden
Ursache-Wirkungs-Begriffen, an den wir uns in der Neuzeit so schön gewöhnt haben, kann
man diese Kette schlecht nachvollziehen. Eine ganze Reihe von Bedingungsbegriffen scheint
nebeneinander zu existieren, was durch unser simples Pfeilschema in keiner Weise
ausgedrückt wird. So zitiert Nyanatiloka in seinem Buddhistischen Wörterbuch z.B. einen
siamesischen Abhidhamma-Text (Pa.t.hāna), der 24 Bedingungsverhältnisse nennt (wie z.B.
Karma-Bedingung, Nährstoffbedingung, Pfadbedingung usw). Zwischen dem Körper (rūpa)
und dem Bewusstsein besteht diesem Text zufolge die „NachherentstehungsBedingung“ (pacchājāta-paccaya), denn das Bewusstsein entsteht erst, wenn ein Körper schon
vorhanden ist. In diesem Sinne kann man dann einen Umkehrpfeil von Name-Form zum
Bewusstsein setzen.
Wenn man bereit ist anzuerkennen, dass die Pfeile ganz Unterschiedliches bedeuten, wenn
man sie etwa mit Zahlen zwischen 1 und 24 indiziert, mag es möglich sein, die Kette in
beiderlei Richtung zu lesen. Nur auf diese Weise ist die These der Umkehrbarkeit vertretbar,
dann hat sie aber mit Gleichzeitigkeit nichts mehr zu tun.
Die Anhänger der Umkehrungstheorie müssen sich die Frage gefallen lassen, was sie mit
ihren Lehren überhaupt bezwecken. In Paul Dahlkes Form einer Augenblickstheorie
entspricht sie dem religiösen Bedürfnis eines sehr rational denkenden Arztes und
bekennenden Buddhisten, der sich bei Vorträgen die Notwendigkeit ersparte, die
Wiedergeburtslehre rechtfertigen zu müssen. In der abgemilderten Form erhält man einen
höchst wackeligen Bedingungsentwicklung vom Leiden zur Unwissenheit hin. Wozu soll das
gut sein? Mir scheint, dass hier eine alte buddhistische Tradition zu einer Art westlicher
Erkenntnistheorie umfunktioniert wird.
6
Auch Takeuchi Yoshinori vertritt die Inversions-Deutung. Er zitiert einen Text im Zusammenhang mit
Dhammapada Vers 146, der Abhängigkeitsverhältnisse innehalb von Nama-Rupa mit einem Strohbündel
vergleicht, bei dem sich die zwei Seiten gegenseitig abstützen. Der Zusammenbruck´h von Nāma-rūpa führt
dann zum Verschwinden der anderen Glieder. Takeuchi, Yoshinori: The Heart of Buddhism New York:
Crossroad 1983 S. 88
9
Ich habe dazu eine eigene Meinung, die Ihr mit Vorsicht genießen solltet, da Sie noch nicht
von Wissenschaftlern geprüft ist.7 Trotzdem möchte ich sie hier mitteilen:
Mir scheint, beide Deutungen versagen, weil sie im Nachhinein etwas als Einheit begreifen
wollen, was vielleicht am Anfang vielleicht gar keine Einheit war und aus ganz anderen als
philosophischen Gründen zu einer Einheit zusammengestellt wurde. Die interessante Frage ist
eher, warum nicht die Fünfer-, Neuner- oder Zehner-Kette zum klassischen Modell geworden
ist obwohl eine kürzere Kette uns Wiederholungen ersparen würde und somit irgendwie
logischer wäre. Warum lehrt die zwölfgliedrige Kette eine Art Spiralbewegung?
Meine Hypothese ist, dass die Zahl zwölf deswegen eine so wichtige Zahl ist, weil sie einer
dreifachen Umrundung eines Stupa entspricht. Wie Ihr wisst, war die Stūpa-Verehrung, d.h.
die Verehrung der Asche des verstorbenen Buddha, von Anfang an eine universale Bewegung
im Buddhismus, noch lange bevor es irgendeine Unterscheidung zwischen Theravada und
Mahāyāna gab.
Ein Stupa hat einen quadratischen Umlauf, der nach den vier Himmelrichtungen orientiert ist,
und man umrundet ihn in der Regel dreimal, gegebenenfalls auf drei verschiedenen Ebenen.
Die Stupas scheinen als eine Art buddhistischer Themenpark genutzt worden zu sein. Wenn
man umwandelte, kam man an Bildern vorbei, die z.B. das Leben des Buddha erklärten. Bei
einer dreifachen Umwandlung passierte man also zwölf Hauptaltäre, die auf den
Zentralachsen der vier Himmelsrichtungen lagen. Dementsprechend bot es sich an, den Stupa
als Kontemplationsweg über Zwölfheiten zu gestalten.
Wenn man einmal hypothetisch davon ausgeht, dass der Ausgangspunkt des Rundgangs eine
Kontemplation über den letzten Grund des Leidens, nämlich die Unwissenheit, war, die man
besten durch den lichtlosen Norden symbolisiert wird, und dass der Endpunkt eine
Kontemplation über den Tod war, der meistens dem Westen zugeordnet wird, so erhält man
folgende Liste.
1.Ebene:
2. Ebene:
3. Ebene:
Herkunft
der Herkunft
der Herkunft
individuellen
Ursache
des Leidens
Existenz
Leidens (=Gier)
(Skandha)
des
Die
Ursachen Erfahrung des Die Folge des
der
Augenblicks
Augenblicks
augenblicklichen
Situation:
Norden
Osten
Süden
Westen
Vergangenheit
Unwissen 無明
Karmaformation
行
Bewusstsein 識
Gegenwart
Zukunft
Sechs Sinne 六 Ergreifen 取
処
Kontakt 触
Werden 有
Empfindung 受
Name-Form 名 Gier 愛
色・
Ursache
Reifung
(unbewusst)
Geburt 生
Reifung
(bewusst)
Alter und Tod Resultat
老死
Man sieht – meine ich- recht deutlich, dass sich die zwölfgliedrige Kette ziemlich gut in drei
Vierer-Segmente gliedern lässt, die in sich eine gewisse Entwicklung zeigen. Die
Kontemplation geschieht auf drei Ebenen: Die erste, die man grob mit der Vergangenheit
identifizieren kann, erklärt, warum ich gegenwärtige in dieser materiell-geistigen Verfassung
bin. An ihrem Ende stehen die fünf Skandhas und diese sind die Grundlage (Ursache 因), auf
der ich stehen und an der ich nichts mehr ändern kann. Die zweite Ebene schildert den
gegenwärtigen Augenblick, es sind die Bedingungen (縁) meines Handelns, bis hinzu Gier.
7
Insbesondere weiß ich nicht, ob es schon eine ähnliche Analyse, wie ich sie vorschlage, gibt. Hier muss ich
weiter recherichieren.
10
Hier findet die eigentliche spirituelle Arbeit statt: Man kann die Augen schließen, den
Kontakt abbrechen, sich für ein anderes Muster der Empfindung konditionieren usw. Die
dritte Ebene kann man mit der Zukunft in Zusammenhang bringen. Es sind die Folgen (果)
meines Handelns - bis hin zum Tod.
Das Ganze ähnelt einer Ein-Augenblicks-Deutung, und es lässt durchaus Raum für eine
agnostische Haltung in Bezug auf die Wiedergeburt. Die Drei-Leben-Theorie erklärt die
„dritte Ebene“ ziemlich gut, nämlich als ein Leben von der Empfängnis bis zur Bahre, aber
die erste Ebene ziemlich schlecht. Dahingegen erklärt die „erkenntnistheoretische“ Theorie
die erste Ebene ziemlich gut, aber die dritte Ebene ziemlich schlecht. Meine Hypothese bietet
aber einen Kompromiss an.
Ich gebe zu: das ist alles Spekulation. Ihre Überzeugungskraft gewinnt die Hypothese allein
aus der Strukturanalyse der Kette selbst. Aber sind die alternativen Ansätze eigentlich
weniger spekulativ? Was verleitet uns zu der Annahme, dass die zwölfgliedrige Kette jünger
ist als die fünfgliedrige? Ist es nicht allein das Prinzip, dass das einfache auch das ältere sein
muss? Trifft das zu? Könnten nicht alle möglichen äußeren Umstände der Grund sein, warum
in einem Sutra eine verkürzte Version der Kette gelehrt wird? Solange wir für jedes einzelne
Sutra den „Sitz im Leben“ nicht kennen (und davon sind wir in der Tat weit entfernt), kann
man nur sehr wenig über die relative Datierung sagen. Warum soll die rein philoisophische
Rekonstruktion effektiver sein als ein Nachdenken, das den Sitz im Leben eines Textes
einbezieht?
Die Lehre des zwölfgliedrigen Entstehens im Gesamtkontext des Buddhismus
Auf folgenden Aspekt wird selten hingewiesen, obwohl er sehr wichtig ist: Die Lehre des
zwölfgliedrigen Enstehens findet in all ihren Gliedern vollständig innerhalb der fünf Skandhas
statt. Alle Glieder (nidāna) finden sich entweder direkt in den fünf Skandhas (wie z.B.
Bewusstsein) oder sind sehr leicht aus ihnen abzuleiten. Ein Christ wird, wie ich oben schon
erwähnt habe, sagen, dass das Ergreifen, d.h. die Annahme einer individuellen menschlichen
Person, auf einen Schöpfungsakt Gottes zurückzuführen sei. Dabei steht der christliche Gott
ohne Zweifel außerhalb dieser fünf Skandha, er gehört der Ewigkeit an und ist nicht innerhalb
des reißendeden Gebisses des Dämons Kāla.h (Zeit).
Alle Nidāna sind aber innerhalb der fünf Skandha und es ist wenig Zweifel daran, dass sie
hier als individuelle „Persönlichkeit“ gemeint sind. Der tibetischen Maler macht es auch
überdeutlich, indem er immer wieder Unbeteiligte zeigt. Nur der eine Affe umarmt
„seinen“ Früchtebaum, es gibt zwei Säufer und jeder trinkt sein eigenes Bier.
Damit sind wir beim Punkt. Für den tibetischen Buddhismus ist die zwölfgliedrige Kette des
Bedingten Entstehens eine Lehre des Kleinen Fahrzeugs, dem es nur um die eigene Erlösung
geht. Dies ist die allgemeine Lehre aller Mahāyāna-Schulen. Wie der Theravada-Buddhismus
diese Lehre deutet, ist davon ganz unabhängig. Er hat diese Lehrer sicherlich ganz
eigenständig und kreativ aufgegriffen, er sieht sie gewiss in einem anderen Rahmen. Der
nördliche und der südliche Buddhismus haben sich ganz unabhängig entwickelt und zu einem
Dialog kam es wegen der räumlichen Trennung so gut wie nie. Erst heute treffen beide
Richtungen im Westen aufeinander, aber leider kennen wir Westler beide Lehren noch gar
nicht gut. Deshalb möchte ich hier nur erklären, was unsere Tradition, der MahāyānaBuddhismus zur zwölfgliedrigen Kette sagt, mit dem Hinweis und der Bitte, dies nicht in
Zusammenhang mit dem Theravada-Buddhismus zu bringen.
Zum Kleinen Fahrzeug gehören die sogenannten Hörer, die diese Lehre von der
zwölfgliedrigen Kette auf indirektem Weg vom Buddha hören. Aber man kann diese Lehre
auch durch intensives Nachdenken von selber finden. In diesem Falle ist man, wenn man den
Weg der Befreiung durch Überwindung der Ursache zuende gegangen ist, ein UrsachenErkenner, wie man auf Chinesisch übersetzen würde, nämlich ein Selbst-Verwirklicher
(Pratyeka-Buddha).
Was ist so schlecht, so minderwertig (hina) am Kleinen Fahrzeug? – Nun, dass die anderen
Menschen und Wesen in seiner Erlösungslehre eigentlich gar nicht vorkommen. Typische
Lehren des Buddhismus – zum Beispiel die liebende Güte (metta) des Theravada-Buddhismus
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– werden in der Kette des zwölfgliedrigen Entstehens überhaupt nicht erwähnt. Es wird nur
gesagt, dass, wer die Gier überwindet, das Leid überwindet. Wenn es also gelingt, alles
aufzugeben - alle Anhaftung an Familie, Ehre, schöne Kunst, Politik, Wissenschaft, Nahrung
– dann hat man mit dem Leiden Schluss gemacht. Die Skandha lösen sich auf, da schon die
Formbildungskräfte nachlassen und man hat das Nirwana im Sinne einer Auslöschung
(nirodha) erreicht. Vor dieser Auffassung, insbesondere dem Auslöschungsdenken warnen so
gut wie alle mahāyāna-buddhistischen Texte. Ich habe im letzten Vortrag Nāgārjuna zitiert,
der meinte, es sei besser in die Hölle zu fallen, als sich diesem „Kleinen
Fahrzeug“ anzuvertrauen.
Die Lehre der zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens ist außerordentlich wichtig für
das buddhistische Denken, man kann sich leicht vorstellen, dass sie zu einem Weiterdenken in
den verschiedenen buddhistischen Schulen geradezu aufrief. Aber man darf nicht übersehen,
dass sie einen äußerst begrenzten Spezialfall darstellt.
Schon die Bilder innerhalb des Lebensrades enthalten Lehren, die weit darüber hinausgehen,
darunter z.B. die Karmalehre. In den Bildern der 12gliedrigen Kette tauchen zwar oft
Früchtebäume auf, die diese Karmalehre versinnbildlichen, aber was sie bedeuten kann nicht
aus den zwölf Gliedern erklärt werden. Dass guten Werken gute Resultate folgen, schlechten
Werken schlechte wird im zweiten und dritten Kreis klar dargestellt. Aber was gute Werke
bedeuten, ist schwer einzusehen, wenn man die Skandhas bloß als Konstituenten eines
individuellen Wesens versteht. Damit z.B. das Geben einer milden Gabe möglich wird, bedarf
es eines anderen fühlenden Wesens. Einem bewusstlosen Gegenstand wie einem Tisch kann
man nichts schenken. Darum ist das Karmagesetz ein sehr tiefliegendes Gesetz, das man nicht
durch „Innenschau“ erreichen kann. Nach den Schriften des Pālikanons erkannte der Buddha
es erst in der letzten Nachtwache vor der Erleuchtung. Es gehört also zum Buddhawissen
hinzu, nicht aber zum Wissen eines Pratyeka-Buddha (der sich nach meiner obigen
Darstellung sogar agnostisch zur Wiedergeburt verhalten könnte!)
Insbesondere die Buddhaschaft selbst lässt sich mit der zwölfgliedrigen Kette des Bedingten
Entstehens nicht erklären. Denn der Buddha trifft Aussagen, die für alle fühlenden Wesen
gültig sein sollen, was nur möglich ist, wenn er Einblick in den Geist aller Wesen hat. Dies
kann man mit einer Skandhalehre, wenn man sie so individuell auffasst, nicht beschreiben. –
Hier muss die Sprache um viele Begriffe- wie Mitgefühl, Weisheit, Andersheit und Einheit
usw. - erweitert werden, und genau das ist es, was die buddhistischen Schulen ja alle getan
haben.
Auf den tibetischen Schautafeln sind in der Regel in alle Existenzbereiche Buddhas und
Bodhisattvas hineingemalt, die dort offenbar als Lehrer tätig sind. Trotdem war man sich
bewusst, dass die zwölfgliedrige Kette des bedingten Enstehens das Wesen der Buddhas und
Bodhisatvas wird durch die zwölfgliedrige Kette in keiner Weise beschrieben.
Denn auf allen tibetischen Bildern, die ich im Internet gesehen habe, stehen ein großer
Buddha und ein großer Bodhisttva außerhalb des eigentlichen Lebensrades: auf der rechten
Seite sehen wir auf unserem Bild wohl eine weiße Tara (oder ist es Avalokiteshvara, der
Bodhisattva, der „die Leiden der Wesen hört“?), links ist Buddha Shākamuni zu sehen, der
mit einer Hand auf den wolkenlosen Mond hinweist. Der wolkenlose Mond ist in vielen
Sūtren vor allem im Großen Parinirvana-Sūtra ein Gleichnis für die Buddha-Natur. Im
Lankavara-Sūtra steht das berühmte Gleichnis, dass der Finger, der auf den Mond hinweist,
nicht der Mond selber ist. Shākamuni hat durch seine Predigt also auch nur in dualistischer
Weise auf das eigentliche Ziel hinweisen können.
Kurz zusammengefasst gibt es nach den Lehren des Großen Fahrzeugs eigentlich zwei Ziele:
es gibt das Ziel des Kleinen Fahrzeugs, welches das Nirvana im Sinne der Vernichtung durch
Überwindung der Leid verursachenden Faktoren ist, und es gibt das Ziel des Großen
Fahrzeugs, das in der allumfassenden Erkenntnis eines Buddha besteht (sarvaj~nāna issaichi
一切智), in der Liebe, Mitgefühl usw. natürlich enthalten sind.
Ich möchte mit einem Zitat aus dem Kegon-Sūtra enden, das in ungeheuer schöner poetischer
Sprache diese Zusammenhänge zum Ausdruck bringt, und von Torakazu Doi in diesem
Kapitel (dem 32. ) sehr schön übersetzt wird(Kegon-Sutra III, S.174, T.278, 626b1):
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„Liebe Söhne Buddhas! Lasst uns weiter im Gleichniss reden! Der König der GoldFlügel-Vögel fliegt hoch im blauen Himmel und blickt mit klaren Augen auf den
Meerespalast des großen Drachen-Königs herab. Mit beiden goldenen Flügeln schlägt
er gewaltig das Wasser des großen Meeres mitten entzwei und reißt die männlichen
und weiblichen Drachen aus dem Grunde des großen Meeres heraus, die auf dem
Sterbebett der Hoffnung liegen (wörtl. deren Leben sich erschöpft hat 有命盡). Mit
Buddha, dem Erhellten, dem Unvergleichlichen, dem heiligen Gold-Flügel-VogelKönig, steht es ebenso. Buddha beruht in dem leeren Raum der grenzenlosen Freiheit
(wörtl. friedvoll verweilt er im grenzenlosen Raum 安住無礙虚空之中) und blickt mit
reinem und klarem Auge auf die Lebewesen in den Palästen [und Häusern] des ganzen
Kosmos (wörtl. Dharmawelt) herab. Mit den beiden kräftigen Flügeln, mit den rechten
Flügel „Vernichtung der Leidenschaft“ und dem linken Flügel „Schau der Sache als
solcher“, schlägt der Heilige das im Kreislauf von Geburt und Tod wirbelnde Wasser
des großen „Lieben Meeres“ (wörtl. das Meer der Gier 愛海)gerade mitten entzwei,
um die gereiften Lebewesen aus dem Grunde des tiefen Meeres der Ur-Blindheit
herauszureißen. Die Lebenwesen können also zu dem Bereich der „Tat der
grenzenlosen Freiheit“ gelangen und darin beruhen(wörtl. Friedvoll vollbringen sie die
grenzenlosen Übungen des Tathāgata “ 安立如來無礙之行).
Schlussbemerkung
Die tibetischen Maler haben, wie oben erwähnt, sehr unmittelbar Buddhas und Bodhisattvas
in die Bilder des Existenzkreislaufes hereingemalt. Dies gibt den Bildern eine tibetischen
Note. Auf einer Tafel der Jōdo Shinshū, wenn es so etwas gäbe! - würde man wohl außerhalb
des Lebensrades das Reine Land darstellen (solche Darstellungen gibt es in Tibet gelegentlich
auch!). Aber die Tätigkeit des Buddha würde man wohl auf Lichtstrahlen beschränken, die
vom Buddha Amida im Außenbereich in alle Bereiche des Existenzkreislaufs reichten.
In allen anderen Punkten, die hier dargestellt wurden, ist die Lehre des tibetischen
Buddhismus aber gleich, da sie auf denselben (oder sehr ähnlichen) Sūtren wie der japanische
Buddhismus beruht.
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