Vielfalt, soziale Interaktion und Solidarität - Max-Planck

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Vielfalt, soziale Interaktion
und Solidarität
NEUE ASPEKTE HEUTIGER SOZIALFORSCHUNG
E
in Spaziergang durch die Fußgängerzone einer deutschen Stadt
macht schnell deutlich: Unsere
Gesellschaft setzt sich aus vielen
verschiedenen Individuen zusammen – und diese Heterogenität nimmt weiter zu. Migration ist nur ein Grund hierfür,
auch weniger eindeutige Geschlechterrollen sowie die Individualisierung tragen
zu einem breiteren Spektrum an Lebensformen und -stilen, an Wertesystemen und
Erfahrungswelten bei1.
RISIKEN UND CHANCEN
Diese Diversität hat Konsequenzen für die
sozialen Interaktionen, für das Selbstverständnis und die innere Integration von
Gesellschaften. Bezogen auf die Konsequenzen von Einwanderungsprozessen
heißt es meist, Vielfalt sei eine Chance,
aber auch eine Herausforderung für die
Gesellschaft. Was dies genau bedeutet, ist
nicht immer klar, und es hängt auch von
politischen Konjunkturen und Ereignissen
(städtischen Unruhen, terroristischen Anschlägen) ab, ob die Potenziale oder aber
die Risiken der Diversität in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gerückt
werden.
Sozialwissenschaftler sind sich heute
keineswegs einig darüber, wie die neue
Vielfalt zu bewerten sei. Einige bezweifeln,
dass stark individualisierte, ethnisch wie
kulturell heterogene Gesellschaften überhaupt noch integrierbar sind2. Empirische
Studien aus den USA etwa kommen zu
dem Schluss, dass mit wachsender Vielfalt
in einer Stadt oder Gemeinde das Vertrauen der Bürger untereinander schwindet.
Auch die gesellschaftlichen Institutionen
würden an Autorität verlieren3.
Andere Autoren weisen dagegen auf
eine ausgeprägte wirtschaftliche Dynamik
gerade in Regionen mit heterogener Bevölkerungsstruktur hin – vorausgesetzt dort
herrscht ein Klima der Toleranz4,5. Dann
nämlich profitieren die Menschen von
den vielfältigen Anregungen, der Offenheit und Lebendigkeit ihres Umfelds.
Diese gegensätzlichen Positionen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Einschätzung der Fähigkeit von Gesellschaften, das Potenzial wachsender Vielfalt
konstruktiv zu nutzen. Wovon genau diese Fähigkeit abhängt, ist noch unzureichend erforscht. So wissen wir relativ wenig über soziale Interaktionen in multikulturellen Milieus oder darüber, wie diese
vom Einzelnen erlebt werden und sich auf
das Denken und Handeln auswirken. Systematische, vergleichende Studien, die unterschiedliche Konstellationen und Kontexte berücksichtigen, sind nach wie vor
Mangelware: Unter welchen Bedingungen
spielen Migrationshintergründe und ethnische Zuschreibungen eine Rolle für das
gesellschaftliche Miteinander? Was sind
die Mechanismen, durch die Heterogenität und etwa Vertrauen oder Kooperationsbereitschaft miteinander verknüpft sind?
Laut der Konflikttheorie nehmen Menschen ihnen fremd oder anders erscheinende Gruppen zunächst als Bedrohung
wahr. Im Unterschied dazu sehen andere
Forschungsansätze die Präsenz von Menschen mit verschiedenen Erfahrungshintergründen zunächst einmal als Chance
zur Begegnung. Dem direkten zwischenmenschlichen Kontakt kommt dabei wohl
eine zentrale Bedeutung für die produktive Nutzung dieser Chance zu.
Noch wissen wir zu wenig über die Mechanismen, welche die soziale Diversität
mit bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen verknüpfen.
Selbst scheinbar auf der Hand Liegendes
müssen wir hinterfragen: Wenn Studien
»D
iversity and Contact« (DivCon) ist ein Projekt am MaxPlanck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Es geht um die Auswirkungen
von Diversität auf soziale Interaktionen und bestimmte Einstellun-
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Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+
etwa zu dem Schluss kommen, in Gebieten mit besonders heterogener Bevölkerungsstruktur herrsche allgemein wenig
Vertrauen in staatliche Institutionen, so
bleibt doch fraglich, ob das eine mit dem
anderen in einem ursächlichen Zusammenhang steht – und falls ja, worauf dieser gründet.
POSITIVE BEGEGNUNGEN
Solche Fragen kann nur eine interdisziplinäre Forschung klären, die ethnologische,
sozialwissenschaftliche und psychologische Ansätze miteinander vereint. Eine
besondere Rolle spielt dabei die aus der
Sozialpsychologie stammende Kontaktforschung. Sie geht davon aus, dass positive,
kooperative Begegnungen zwischen Individuen, die sich unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zurechnen, die Haltung zur jeweils anderen Gruppe positiv
beeinflussen – und damit auch eine allgemein offenere Grundhaltung in Sachen
Kooperation und Solidarität fördern. Untersuchungen aus Nordirland, den USA
und Kanada stützen dies: Qualitativ hochwertige Kontakte zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen sind demnach ein
Mittel, um eventuelle negative Effekte der
Diversität auszugleichen6,7.
Bezüge gibt es auch zur soziologischen
Netzwerkforschung. Wissenschaftler in
diesem Feld haben Faktoren identifiziert,
die persönliche Netzwerke prägen – beispielsweise eine Bevorzugung ähnlicher
Personen (das so genannte HomophiliePrinzip) oder die Attraktivität von Beziehungen zu Menschen mit höherem gesellschaftlichem Rang.
Ein soziales Netzwerk über ethnische
Grenzen hinweg könnte sich besonders
gut in gemischten Wohnvierteln ausbilden, weil sie Gelegenheit zu Kontakten
gen. Befragungen von zirka 2500 Personen in 50 ausgewählten
Wohnbezirken werden durch qualitative Untersuchungen ergänzt. Es
werden wertvolle Erkenntnisse bezüglich interethnischer Kontakte
und der Auswirkungen von Vielfältigkeit erwartet.
GEISTES-, SOZIAL- UND HUMANWISSENSCHAFTEN
Moderne Gesellschaften kennzeichnet eine zunehmende Vielfalt unter
anderem der kulturellen, religiösen und Geschlechternormen sowie der
Lebensstile.
Die wachsende Diversität hat Auswirkungen auf die sozialen Interaktionen
und die Integration der Gesellschaft.
Die gesellschaftlichen Veränderungen finden großes politisches Interesse,
doch für die Entscheidungsfindung fehlt bislang eine solide wissenschaftliche Basis.
oben: Getty Images / Cate Gillon; links: S. Vertovec, Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften; unten: fotolia / Kate Shephard
»
Vielfalt ist eine Chance
zur Begegnung
bieten. Besetzen Einwanderer oder Angehörige von Minderheiten allerdings vor allem die unteren Ränge einer Hierarchie,
könnten im Status höher angesiedelte
»Alteingesessene« weniger Bereitschaft zur
Kontaktaufnahme mitbringen. Außerdem
kommt es darauf an, wie Menschen die
von ihnen gesuchte Ähnlichkeit in ihrem
sozialen Netzwerk definieren: anhand der
Herkunft, der Religion oder vielmehr auf
Grundlage von Interessen und Lebensformen, die gar nichts mit ethnischen Grenzziehungen zu tun haben?
Die Definition von Gruppen ist sozial
und politisch konstruiert – ob Menschen
also über gesellschaftliche Grenzen hinweg interagieren und auf welche Weise sie
dies tun, ist keine rein individuelle Entscheidung. Wer zur »eigenen« oder zu einer »fremden« Gruppe gehört, wird auch
in politischen Debatten festgelegt. Die Gelegenheit zu Kontakten hängt unter anderem vom jeweiligen Stadtviertel oder von
der besuchten Schule ab. Wie solche strukturellen Gegebenheiten sowie die aktive
politische Einflussnahme das Erleben von
Diversität formen, ist bislang unklar. Wie
können wir die Interaktionen und Vernetzungen zwischen Gruppen beeinflussen?
Auch diese Frage ist keineswegs erschöpfend beantwortet.
In zahlreichen Studien untersuchten
Wissenschaftler in den 1970er Jahren die
Auswirkungen der Urbanisierung. Schon
damals befürchtete man, gesellschaftliche
Veränderungen könnten den Zusammenhalt der Menschen bröckeln lassen. Die Ergebnisse der Forschung geben allerdings
eher Anlass zur Hoffnung, denn auch in
den heterogenen, vermeintlich unpersönlichen Großstädten gibt es nicht weniger
Solidarität als in ländlichen Räumen8.
Ebenso könnte sich herausstellen, dass
Menschen durchaus überraschende Wege
finden, mit der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt konstruktiv umzugehen –
auch dann, wenn sie die zunehmende ethnische Zersplitterung ihres Lebensumfelds
zunächst vielleicht als problematisch empfinden9,10.
➟ Bibliographie siehe Seiten 94 und 95
oben
und
links
Die multiethnische
Gesellschaft ist längst
Realität.
unten
Wie prägen die alltäglichen, flüchtigen Begegnungen
unsere Einstellungen
zueinander?
2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft
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