Einführung in die Angewandte Ethik - ReadingSample - Beck-Shop

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Einführung in die Angewandte Ethik
Bearbeitet von
Dagmar Fenner
1. Auflage 2010. Taschenbuch. 454 S. Paperback
ISBN 978 3 8252 3364 8
Format (B x L): 15 x 21,5 cm
Gewicht: 680 g
Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >
Angewandte Ethik & Soziale Verantwortung
Zu Inhaltsverzeichnis
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Dagmar Fenner
Einführung in die
Angewandte Ethik
A. Francke
UTB 3364
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Dagmar Fenner
Einführung in die
Angewandte Ethik
Dagmar Fenner ist Titularprofessorin für Philosophie in Basel und unterrichtet Ethik
an den Universitäten Tübingen und Basel.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de>
abrufbar.
© 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
ISBN 978-3-7720-8347-1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt
Druck und Bindung: fgb – freiburger graphische betriebe
Printed in Germany
ISBN 978-3-8252-3364-8 (UTB-Bestellnummer)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1
1.2
1.3
1.4
Ethik und Angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bereichsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
15
36
46
2
Medizinethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Sterbehilfe und Suizidbeihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Schwangeschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . 78
Organtransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3
Naturethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
3.1 Anthropozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Instrumenteller Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2 Ästhetischer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3 Moralpädagogischer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Physiozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 Pathozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Biozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Holismus (Ökozentrismus). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
121
128
132
135
139
159
167
4
Wissenschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
4.1
4.2
4.3
4.4
Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Externe Verantwortung: Neutralitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anwendungsfall 1: Humanexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anwendungsfall 2: Stammzellenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
182
197
204
VI
Inhalt
5
Technikethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
5.1
5.2
5.3
5.4
Neutralitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verantwortungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Techniksteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anwendungsfall: Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
6.1 Produzentenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.1 Nachrichten und Meinungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.2 Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.3 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Rezipientenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2.1 Individualethische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2.2 Sozialethische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2.3 Internetethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
271
276
289
307
310
314
318
320
Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1.1 Wirtschaftsliberalismus: Freie Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . .
7.1.2 Planwirtschaftlicher Sozialismus: Zentralverwaltungswirtschaft
7.1.3 Bürgerliberalismus: Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Mesoebene: Unternehmensethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3 Mikroebene: Mitarbeiter-, Führungs- und Konsumentenethik . . . .
8
223
233
240
246
351
353
384
389
396
410
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Vorwort
Vorliegende Einführung in die anwendungsorientierte oder „Angewandte
Ethik“ versucht einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Diskussionen
und die in ihnen verwendeten Begriffe, Argumente und Positionen zu geben. Grundkenntnisse in der begründungsorientierten, normbegründenden
„Allgemeinen Ethik“ sind für die Lektüre von Vorteil, aber nicht Voraussetzung. Oft wird in Klammern auf ein Kapitel meiner im gleichen Verlag
erschienenen Einführung Ethik. Wie soll ich handeln? (UTBbasics) verwiesen,
die einen systematischen Überblick über die wichtigsten ethischen Theorien
und Begründungsmethoden bietet (im Text abgekürzt als Ethik). Die Kapitel
zu den einzelnen Themenfeldern oder „Bereichsethiken“ sind so konzipiert,
dass sie je nach Interessenlage auch einzeln gelesen werden können.
Eine Einführung in die Angewandte Ethik ist deswegen ein äußerst
schwieriges Unterfangen, weil ein kompetentes ethisches Urteil in den verschiedensten Handlungsbereichen jeweils ein erhebliches Fach- und Faktenwissen erfordert. Zudem gibt es in den meisten Teilbereichen der Angewandten Ethik eine Fülle detaillierter wissenschaftlicher Literatur, die von einer
einzelnen Person kaum mehr überblickt und aufgearbeitet werden kann. Daher war ich auf den Austausch mit Spezialisten in den einzelnen Disziplinen
wie Medizin-, Wissenschafts- oder Wirtschaftsethik angewiesen. Mein großer Dank gilt folgenden namhaften Professoren, die sich die Zeit genommen
haben, eine frühere Fassung des Manuskripts durchzusehen und mit ihren
Kommentaren und Anregungen die Korrektheit und Aktualität des Dargelegten zu befördern:
Medizinethik:
(Kapitel 2)
Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH (Institut für Ethik
und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen)
Naturethik:
(Kapitel 3)
Prof. Dr. phil. Dieter Birnbacher (Universität Düsseldorf)
Wissenschaftsethik:
(Kapitel 4)
Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Hans Lenk (Universität
Karlsruhe)
Technikethik:
(Kapitel 5)
Prof. em. Dr. Ing. Günter Ropohl (Universität Frankfurt)
Medienethik:
(Kapitel 6)
Prof. em. Dr. Rüdiger Funiok (Institut für Kommunikationswissenschaft und Erwachsenenpädagogik der Hochschule
für Philosophie in München)
Wirtschaftsethik:
(Kapitel 7)
Prof. em. Dr. rer. pol. Peter Ulrich (Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen)
VIII Vorwort
Nicht zuletzt möchte ich meinem Partner Horst Hermas (Dipl.-Ing., MBA)
danken, der verschiedene Fassungen kritisch las und das ambitionierte Projekt mit viel Geduld und einem grandiosen Catering unterstützte.
1 Einleitung
Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik eröffnet
uns viele neue Handlungsmöglichkeiten. Sie sind teilweise mit erheblichen
ethischen Schwierigkeiten und Konflikten verknüpft, die durch die bestehenden Rechtsnormen und traditionellen moralischen Normen nicht geregelt werden. Viele neue ethische Fragestellungen beziehen sich auf Handlungsbereiche, die uns erst seit wenigen Jahren oder Jahrzehnten offen
stehen oder die erst jetzt als ethisch relevant betrachtet werden: Sollen die
neuen Biotechnologien wie das Klonen oder die Gentechnik angewendet
werden, obgleich gewisse Risiken bestehen und die Würde von Menschen
und Tieren auf dem Spiel steht? Darf ein Sterbeprozess mit den immer besseren medizintechnischen Mitteln immer länger verzögert werden, auch wenn
das Weiterleben dem Patienten zu einer unerträglichen Qual geworden ist?
Können wir weiterhin Autoabgase und Kohlendioxide aus der Verbrennung
fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre entlassen, die zu einem Klimawandel
mit verheerenden Folgen beitragen? Sind die sich infolge der Technisierung
drastisch verschlechternden Lebensbedingungen der Tiere in der industriellen Massentierhaltung noch zu verantworten? Wie sollen wir damit umgehen, dass die Medien mit ihren Strukturen und Inhalten dank der ständigen
Erweiterungen der technischen Möglichkeiten immer mehr Lebensbereiche
prägen und aus unserem Leben zunehmend ein Leben aus zweiter Hand machen? Ist es richtig, im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft die Handelsware Tausende von Kilometern weit von einem Land ins andere zu transportieren, nur um höhere Gewinne zu erzielen?
Alle diese gegenwartsdringlichen Fragen zeigen akute Probleme oder Konflikte im Bereich menschlichen Handelns auf. Sie lassen sich letztlich alle
auf die Grundfrage der philosophischen Ethik schlechthin zurückführen:
Wie soll ich bzw. wie sollen wir handeln? Gerade angesichts der hohen Risiken der in Frage stehenden Handlungsweisen müssen oft rasch konkrete
Lösungen und Regelungen gefunden werden. Es herrscht also ein gesteigerter praktischer Orientierungsbedarf. In der Politik und in der Öffentlichkeit
setzen viele ihre Hoffnung auf die philosophische Ethik und insbesondere
die noch junge Angewandte Ethik, die in Kommissionen, Räten und Gremien institutionalisiert wird. Nur wenige der zur Diskussion stehenden Probleme sind dabei ausschließlich eine Sache der privaten Lebensführung, des
persönlichen guten Lebens. Es geht also nicht oder nicht allein darum, dass
die Handlungssubjekte selbst mittels bestimmter Handlungs- oder Lebens-
2
1 Einleitung
weisen glücklich werden. Gefahndet wird vielmehr nach Handlungsorientierungen für eine ganze Gemeinschaft, für das kollektive Handeln. Weil
nicht ausschließlich das Wohl Einzelner, sondern das Wohl der Gemeinschaft
und oft sogar die natürliche Lebensgrundlage aller Lebewesen auf dem Spiel
steht, sprengen die neuartigen Probleme den privaten Entscheidungsbereich
von Individuen. Es handelt sich größtenteils um öffentliche Angelegenheiten. Daher entfachen sie breite und lebhafte öffentliche Debatten, die leider allzu oft sehr emotional geführt werden. Das vorliegende Buch möchte
einen Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussionen leisten, indem es die
Standpunkte und Argumentationen bezüglich der verschiedenen Streitfragen nüchtern analysiert. Die Argumente werden auf ihre Voraussetzungen
oder Hintergrundannahmen hin geprüft und auf bestimmte Argumentationstypen oder Begründungsformen zurückgeführt. Es soll gezeigt werden, wie
sich die Stichhaltigkeit von Argumenten und Positionen kritisch hinterfragen
lässt und wie eine eigene klare und begründete Stellungnahme zu den aktuellen Problemen entwickelt werden kann. Ziel ist es letztlich, die Leser für die
drängenden ethischen Probleme unserer Gesellschaft zu sensibilisieren und
ihr ethisches Urteilsvermögen zu schärfen.
1.1
Ethik und Angewandte Ethik
Die Ethik versucht ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Menschen handeln sollen. Anders als die theologische Ethik setzt die philosophische Ethik bei der Beantwortung dieser Frage keinen Glauben an eine
bestimmte Religion voraus und verzichtet grundsätzlich auf einen Rückgriff
auf heilige Texte oder den göttlichen Willen. Philosophische Ethik lässt
sich daher folgendermaßen definieren: Sie ist eine Disziplin der praktischen
Philosophie, die allgemeine Prinzipen oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen Handeln zu begründen sucht. Im
Unterschied zur theoretischen Philosophie, die sich mit dem „Sein“ und den
faktischen Gegebenheiten beschäftigt, widmet sich die praktische Philosophie dem „Sollen“ im Rahmen der menschlichen Praxis. Sie zielt nicht wie
jene auf theoretisches Wissen und auf das Ideal der Wahrheit ab, sondern
auf praktische Orientierung und die Idee des Guten oder normativ Richtigen.
Ihre Grundfrage lautet nicht „Was kann ich wissen?“ oder „Was kann ich
erkennen?“, sondern „Was soll ich tun?“ bzw. „Warum ist es gut, dies oder
jenes zu tun?“. Man kann sich die ethische Grundfrage entweder mit Blick
auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen der handelnden
Person stellen (prudentielle Perspektive) oder aber hinsichtlich dessen, was
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
für die ganze Gemeinschaft das Beste wäre (moralische Perspektive). Wo es
um das für das Individuum Gute, um sein persönliches Glück oder gutes Leben geht, spricht man von Individual- oder Strebensethik oder auch Ethik
des guten Lebens. Steht hingegen das für die Gemeinschaft Gute oder das
gerechte Zusammenleben der Menschen in Frage, nimmt man die Perspektive der Sozialethik, Sollensethik oder Moralphilosophie ein. Es haben sich
für diese beiden grundlegenden Perspektiven oder Dimensionen in der Ethik
auch die Attribute „prudentiell“ und „moralisch“ eingebürgert.
Es soll noch angemerkt werden, dass mit dieser Ethik-Definition genau
genommen die normative Ethik bestimmt worden ist. Neben einer „normativen Ethik“ gibt es nämlich auch noch die „deskriptive“ und die „Metaethik“: Die deskriptive Ethik beschreibt lediglich, welche Wertvorstellungen
und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich gelten.
Man stellt also beispielsweise fest, dass in christlichen Gemeinschaften die
Selbsttötung verboten ist oder bei gewissen Eskimovölkern alte, schwache
Menschen in den Tod geschickt wurden. Solch deskriptive Aussagen gehören eher zum Aufgabenbereich eines empirisch arbeitenden Soziologen oder
Ethnologen als eines Philosophen. Demgegenüber analysiert die Metaethik
als Wissenschaftstheorie der Ethik die ethischen Grundbegriffe und Begründungsmethoden, etwa die Termini „sollen“, „gut“ oder „gerecht“. Wer normative Ethik betreibt, kommt um wenigstens rudimentäre metaethische Erwägungen nicht herum. Denn die Klärung der sprachlichen Grundlagen und
der Möglichkeiten ethischer Begründung ist für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ethik unverzichtbar. Wenn im Folgenden von Ethik die Rede
ist, soll aber in erster Linie die normative Ethik als Kernbereich dieser Disziplin gemeint sein.
Unter Moral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der Normen zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten
oder gelten sollen (vgl. Steigleder 2006, 16). Normen sind Handlungsregeln
in Form von Geboten oder Verboten wie etwa „Du sollst nicht Lügen!“, „Du
sollst Notleidenden helfen!“ oder „Du sollst nicht töten!“. Anspruch einer
Moral ist es, die Interessen der potentiell vom Handeln Betroffenen zu schützen und eine gerechte Form des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft zu
ermöglichen. Sie teilt mit der Sozialethik also das „moralische“ Anliegen des
richtigen oder verantwortungsvollen Umgangs miteinander. Im Unterschied
zu solchen situationsspezifischen Normen der Moral gibt die Sozialethik keine direkten Handlungsanleitungen für konkrete Einzelhandlungen vor. Sie
entwickelt vielmehr auf einer allgemeineren Ebene Prinzipien oder Kriterien, um konkrete Handlungen zu beurteilen oder faktisch anerkannte Nor-
3
4
1 Einleitung
men zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren und zu korrigieren.
Auf dieser abstrakten Ebene geht es etwa um die Begründung von Prinzipien wie „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Wohltun“ oder „Gerechtigkeit“. Neben solchen inhaltlichen Prinzipien suchte man in der Philosophiegeschichte
stets auch nach methodischen Prinzipien oder höchsten Moralprinzipien, aus
denen man sämtliche Prinzipien und Normen für das menschliche Handeln
ableiten kann. Man denke an Kants kategorischen Imperativ oder an das diskursethische Moralprinzip (vgl. unten). Die Sozialethik prüft mit ihrer Hilfe,
welche moralischen Normen zu Recht den Anspruch auf normative Richtigkeit
erheben. Andererseits basieren auch die tradierten moralische Normen auf
mehr oder weniger bewussten und fundierten Überzeugungen, dass die geltenden Normen die bestmögliche Form des menschlichen Zusammenlebens
garantieren. Der Unterschied zwischen Ethik und Moral wäre so gesehen nur
ein gradueller, nicht ein struktureller. Wie die Bezeichnung „Moralphilosophie“ schon deutlich macht, kann man die „Sozialethik“ aber aufgrund ihres
höheren methodischen Anspruchs durchaus die „Wissenschaft der Moral“
nennen. Da die „Ethik“ insgesamt allerdings neben der gelebten Moral auch
noch die vorhandenen Vorstellungen vom Glück oder guten Leben systematisch reflektiert, ist Ethik mehr als Wissenschaft von der Moral, nämlich auch
noch Wissenschaft vom Glück oder guten Leben.
Ethik: Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage zu begründen sucht, wie man handeln soll
Individual-/Strebensethik/Ethik des
guten Lebens
Sozial-/Sollensethik/Moralphilosophie
Theorie des Glücks bzw. des guten
Lebens der Einzelindividuen
Theorie der Moral bzw. des gerechten
Zusammenlebens in der Gemeinschaft
prudentielle Perspektive:
gut für das handelnde Individuum
moralische Perspektive:
gut für die Gemeinschaft als Ganze bzw.
für alle Betroffenen
Ratschläge und Empfehlungen für die je
eigene Lebensgestaltung
allgemeine Sollensforderungen (Gebote,
Verbote) zum Schutz der potentiell vom
Handeln Betroffenen
z. B. Wenn Du glücklich sein willst,
kümmere Dich um Deine Gesundheit!
z. B. Du sollst in der Gegenwart von
Nichtrauchern nicht rauchen!
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
Wie bei den einleitenden Fragen deutlich wurde, betreffen die meisten Probleme der Angewandten Ethik das Wohl der menschlichen Gemeinschaft oder
die Intaktheit der Natur. Von besonderer Relevanz zur Beantwortung dieser
Fragen ist daher die soeben erläuterte moralische Perspektive. Anders als
die prudentiellen Ratschläge mit empfehlendem Charakter bezüglich des individuellen Wollens, erheben die moralischen Prinzipien und Normen einen
Anspruch auf allgemeine Gültigkeit und geben den Einzelnen unabhängig
von ihrem Eigen-Wollen ein verpflichtendes Sollen vor. Vom „prudentiellen“
Denken und Handeln grenzt sich „moralisches“ Denken und Handeln also
zunächst durch das formale Kriterium der Allgemeinheit und kategorischen
Gültigkeit ab. Dieses formale Kennzeichen universeller Gültigkeit lässt sich
auch als formales Universalisierungsprinzip oder Gleichheitsgebot formulieren: Was in einer bestimmten Situation geboten oder verboten ist, muss für
jede Person in einer vergleichbaren Situation unter ähnlichen Umständen
geboten oder verboten sein. Als materiales Kennzeichen moralischen Denkens und Handelns fungiert die Einnahme des typischen „objektiven“ oder
„unparteiischen Standpunktes der Moral“: Während aus der prudentiellen
Perspektive nur die eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wünsche ins Blickfeld treten, gilt es beim objektiven Standpunkt diesen subejektiven Standpunkt des privaten Glücksstrebens gerade zu transzendieren. Der objektive
moralische Standpunkt verlangt, alle berechtigten, d. h. argumentativ rechtfertigbaren Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln Betroffenen gleich
und unparteiisch zu berücksichtigen. Keine Beachtung finden dabei rein
egoistische und asoziale Interessen, etwa der Wunsch nach dem Tod des
persönlichen Erzfeindes oder nach dem Eigentum des wohlhabenden Nachbarn. Ungeachtet dessen, wer welche Interessen vertritt, sucht man nach
einer Handlungsalternative, bei der man auf alle Betroffenen gleichermaßen
Rücksicht nimmt. Eine Handlung oder Norm wäre also moralisch richtig,
wenn die legitimen Interessen oder das Wohl aller Betroffenen von einem
unparteiischen Standpunkt aus angemessen berücksichtigt wurden. Wie im
Rahmen der Naturethik gezeigt wird, kann die moralisch geforderte Rücksichtnahme sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere oder die
gesamte Natur erstrecken, so dass „Moral“ und „Sozial“-Ethik in einem erweiterten Sinn zu verstehen wären (vgl. Kap. 3).
5
6
1 Einleitung
Moral: Gesamtheit der geltenden Normen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens bzw. zum Schutz aller potentiell vom Handeln Betroffenen
formales Kennzeichen moralischer Normen: Allgemeinheit, Universalisierbarkeit
Was für eine Person moralisch richtig ist, muss für jede andere Person in einer vergleichbaren Situation moralisch richtig sein.
materiales Kennzeichen moralischer Normen: unparteiischer, objektiver Standpunkt
Moralisch richtig ist eine Handlung oder eine Norm, wenn dabei von einem unparteiischen Standpunkt aus die berechtigten Interessen oder das Wohl aller Betroffenen
gleichermaßen berücksichtigt wurden.
Das Begriffspaar „Individual-“ und „Sozialethik“ wird nicht immer in dem
von mir erläuterten Sinn gebraucht. In einigen Beiträgen zur Angewandten Ethik wird damit inhaltlich der Gegensatz einer „Personen-“ oder „Akteursethik“ und einer „Institutionenethik“ bezeichnet: Bei der individualethischen Betrachtungsweise werde das Handeln, die ethische Grundhaltung
oder das Berufsethos einzelner Personen untersucht (vgl. Funiok 2002, 47).
Demgegenüber soll die sozialethische Perspektive die organisatorischen bzw.
institutionellen Zusammenhänge und das Phänomen der korporativen oder
kollektiven Verantwortung in den Blick nehmen. Zur Vermeidung einer Begriffsverwirrung werde ich für diese beiden Ebenen der Ethik nicht das Begriffspaar „Individual-“ und „Sozialethik“ verwenden, sondern dasjenige von
Akteurs- und Institutionenethik (vgl. Dicke/Weber, 26). Zweifellos steht das
Handeln des einzelnen Akteurs nicht mehr in seiner alleinigen Verantwortung, sobald er in Institutionen oder gesellschaftliche Systeme eingebunden
ist. Denn der Einzelne kann unmöglich für die Konsequenzen aus dem
kollektiven Handeln tausender Akteure verantwortlich gemacht werden.
Bei den meisten aktuellen ethischen Streitfragen steht wie gesehen nicht
nur die Handlungsweise von Individuen, sondern meist ein hochkomplexes
kollektives, institutionalisiertes oder doch ein kumuliertes, nicht koordiniertes Handeln vieler einzelner Akteure zur Diskussion. Typische Beispiele für
kollektives und institutionalisiertes Handeln wären wirtschaftliche Unternehmen oder wissenschaftliche Forschungsprojekte, wohingegen besonders
im Umweltbereich die Folgen nichtkoordinierter umweltschädigender Handlungen zu sogenannten Kumulationsproblemen führen. Ins Untersuchungsgebiet der Institutionenethik fällt damit das Problem einer kollektiven oder
institutionellen Verantwortung. Dabei gilt zu beachten, dass die Institutionen
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
das moralische Denken und Handeln der beteiligten Akteure nicht ersetzen
können oder obsolet machen (vgl. Dicke/Weber, 27). Die Verantwortung
des einzelnen Handelnden löst sich keineswegs dadurch auf, dass auch eine
Institution Verantwortung für die Folgen kollektiven Handelns übernehmen
kann und muss. Vielmehr trägt jeder Einzelne weiterhin die Verantwortung
für seine persönliche Handlungsabsicht. Hinzu tritt aber noch die Mitverantwortung für wünschbare Institutionen.
Eine wichtige Aufgabe der Institutionenethik ist die Klärung, welche gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen Institutionen
ethisch wünschbar sind. Ethisch wünschbar sind Institutionen prinzipiell
dann, wenn sie das moralische Handeln der beteiligten Akteure begünstigen
und der Verwirklichung des moralischen Ideals eines gerechten Zusammenlebens dienen. Da die menschlichen Handlungsverflechtungen im Zuge der
Globalisierung immer vielfältiger und weit reichender geworden sind, brauchen wir in vielen Handlungsbereichen weltweit agierende Institutionen.
Die meisten gegenwartsdringlichen moralischen Konflikte lassen sich nicht
allein auf der Akteursebene lösen, sondern erfordern insbesondere politische
und rechtliche Maßnahmen. Politische Institutionen und internationale Beziehungen werden traditionell von der politischen Philosophie, Institutionen des Rechts von der Rechtsphilosophie reflektiert. Zusammen mit der
Ethik bilden sie die drei Hauptdisziplinen der „praktischen Philosophie“. Im
Idealfall ergänzen sich moralische Normen und rechtliche Normen, also Moral und Recht. Der grundlegendste Unterschied zwischen moralischen und
rechtlichen Regeln besteht darin, dass die Gesetze primär das äußere Verhalten der Menschen steuern. Wer sich an die Gesetze hält und beispielsweise fremdes Eigentum unangetastet lässt, handelt juristisch betrachtet richtig.
Gleichgültig ist hingegen, welche Gesinnung hinter seinem Verhalten steht,
ob er es also beispielsweise zähneknirschend oder aus Überzeugung tut (vgl.
Thurnherr 2000, 87f.). Die rechtlichen Normen sind schriftlich in einem Gesetzestext fixiert, der prinzipiell für alle einsehbar ist. Anders verhält es sich
bei moralischen Normen, die nur insofern gelten, als sie von einer Gruppe
von Menschen anerkannt werden. Sie stellen grundsätzlich innere Regulierungsformen dar, die auf die Einsicht der Menschen, auf ihre Selbstbindung
und Selbstverpflichtung zählen. Sie sind nicht schriftlich fixiert und können
selbst innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft divergieren. Im Gegensatz
zu Rechtsverletzungen sind sie nicht einklagbar und Verstöße werden nicht
mit institutionalisierten juristischen Sanktionen wie Buße und Gefängnisstrafen geahndet. Neben den inneren Sanktionen wie Scham oder schlechtes
Gewissen stehen ihnen lediglich noch soziale Sanktionsmöglichkeiten wie
7
8
1 Einleitung
Verachtung, Tadel oder Ausgrenzung zur Verfügung. Aufgrund ihres Angewiesenseins auf Einsicht und Freiwilligkeit sind in vielen Handlungsbereichen moralische Normen zu schwach und müssen durch rechtliche Regulierungen unterstützt werden. Andererseits können sie im Unterschied zum
schriftlich fixierten Recht viel flexibler auf gesellschaftliche Veränderungen
oder neue moralische Probleme reagieren.
Akteursethik
Institutionenethik
Handlungssubjekte
Institutionen (Unternehmen, Forschungsgruppen, etc.)
Verantwortung für die Folgen des individuellen Handelns und die persönliche
Handlungsabsicht beim kollektiven Handeln
individuelle Verantwortung
Institutionen sind ethisch wünschbar,
wenn sie:
– das moralische Handeln der Einzelnen
begünstigen
– dem Ideal des gerechten Zusammenlebens dienen
kollektive/institutionelle Verantwortung
Politische Philosophie/
Rechtsphilosophie
Politische Institutionen und
internationale Beziehungen/
Institution des Rechts
Sozialethik
Institution der Moral
rechtliche Normen:
moralische Normen:
– schriftlich fixiert
– Steuerung des äußeren Verhaltens
– juristische Sanktionen wie
Bußen oder Gefängnisstrafen
– Geltung durch Anerkennung
– Steuerung der inneren Gesinnung
– moralische Sanktionen wie
Scham, schlechtes Gewissen,
Tadel, Ausgrenzung
Die Bezeichnung Angewande Ethik ist nicht unumstritten. Wenn Ethik
eine Disziplin der praktischen Philosophie darstellt und „angewandt“ soviel
wie „praktisch“ bedeutet, wäre die „angewandte Ethik“ eine „praktische
praktische Philosophie“, was natürlich tautologisch klingt (vgl. Vieth, 19).
Denn im Unterschied zur theoretischen Philosophie bemüht sich die praktische Philosophie insgesamt nicht nur um theoretisches Wissen, sondern
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
um die Orientierung der Menschen im Handeln. Seit ihren Anfängen in
der griechischen Antike zielt sie auf die Optimierung der Gestaltung des
persönlichen und gemeinsamen Lebens ab. Im ethischen Hauptwerk von
Aristoteles etwa liest man, es gehe bei seiner Untersuchung nicht darum zu
wissen, was gut ist, sondern darum, gute Menschen zu werden (vgl. Aristoteles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension scheint also gleichsam ein
Zielpunkt jeder ethischen Reflexion zu sein, und nicht nur ein nachträglich
der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. Düwell 2002, 243). Ein genaueres Studium der neuzeitlichen Ethik zeigt jedoch nicht nur, dass seit Kant
die sozialethische Perspektive die individualethische fast vollständig aus der
normativen Ethik verdrängt hat (vgl. Fenner 2007, 22 f.). Bedeutsamer für
unseren Zusammenhang ist die fast ausschließliche Konzentration der neuzeitlichen Ethik auf die rationale Begründung allgemeiner Moralprinzipien
sowie die Klärung ethischer Grundbegriffe (vgl. Ethik, 206 f.). Während im
deutschsprachigen Raum v. a. durch den Kantianismus der Begründungsgedanke radikalisiert wurde, übte in den angelsächsischen Ländern die Metaethik großen Einfluss aus. Insgesamt beschäftigte sich die akademische
Ethik damit hauptsächlich mit Grundsatzfragen der praktischen Philosophie.
Auf diese Weise hat man aber nicht nur die anwendungsbezogenen Überlegungen vernachlässigt, sondern man kann mit Bayertz von einer damit
einhergehenden „Abwertung des Anwendungsproblems“ sprechen (Bayertz
1991, 13).
Als Paradebeispiel für diese Vernachlässigung der Anwendungsdimension
kann die Ethik Kants dienen (vgl. Ethik, 4.2.3a): Um moralisch zu handeln,
hat man nach Kant seinen Willen oder die praktische Vernunft von allen
subjektiven empirischen Bestimmungsgründen wie Trieben und Neigungen
zu reinigen. Denn moralisch wertvoll können in seinen Augen nur Handlungsforderungen sein, die für alle Menschen unabhängig von ihren subjektiven Zielen und zufälligen Lebensbedingungen gelten. Als Unterscheidungskriterium zwischen moralischen und unmoralischen Handlungsregeln
kommen daher keine Inhalte, sondern allein die Form der Allgemeinheit einer Handlungsregel in Frage. Daraus ergibt sich das höchste Moralprinzip
des kategorischen Imperativs, der als Test für die Verallgemeinerbarkeit fungiert: Handle nach derjenigen Handlungsregel, die ein allgemeines Gesetz der
Menschheit sein könnte. Obgleich Kant selbst dieses Universalisierungsprinzip an vier Anschauungsbeispielen erläutert hat (vgl. GMS, A/B 53–56), ist
deren Interpretation bis heute so umstritten, dass die genaue Anwendungsweise weiterhin unklar bleibt. Auf jeden Fall werden nicht einzelne Handlungsweisen aus der alltäglichen Praxis einem Universalisierungstest unter-
9
10
1 Einleitung
zogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu
anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen
Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle
spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der
Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren
unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Betroffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich
beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein allgemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle
Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Versprechen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Gebote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rücksicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant
auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem
Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes gefragt wird (vgl. Ethik, 5.1).
Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Abwertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in
der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des Anwendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu
begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bieten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten
Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrichtung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen
Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Probleme „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik
wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass
man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzipien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise
ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos
einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die
Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Geschäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) unter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint
sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert
nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu maximieren (vgl. unten, S. 34). Definiert wird die Angewandte Ethik also bei
dieser Deutungsweise als „philosophische Disziplin“, die eine „systemati-
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
sche Anwendung normativ-ethischer Prinzipien auf Handlungsräume, Berufsfelder und Sachgebiete“ leistet (Thurnherr 2000, 14). Entsprechend der
anwendungsspezifischen Handlungsfelder kann sie nochmals in „Medizinethik“, „Naturethik“, „Medienethik“ etc. untergliedert werden. Es handle
sich um eine „angewandte Wissenschaft“ (Pieper 2007, 92), die genauso wie
die begründungsorientierte normative Ethik von akademischen Philosophen
betrieben wird. Von dieser soll sie sich lediglich durch ihre Spezialisierung
auf medizinische, ökologische, medienspezifische o. ä. Probleme unterscheiden.
Gegen dieses Top-down-Modell Angewandter Ethik wird eingewendet,
dass in der Allgemeinen Ethik vielfältige und sich teilweise widersprechende Moralprinzipien und Begründungsverfahren vorliegen (vgl. Kapitel 1.2).
Auch abgesehen davon seien die klassischen Ansätze der philosophischen
Ethik prinzipiell für Problemlösungen in der moralischen Alltagspraxis „hinderlich“ oder „irrelevant“ (vgl. Vieth, 45). Bevorzugt werden aufgrund dessen Bottom-up-Modelle Angewandter Ethik, bei denen man generelle Prinzipien nicht ableitet, sondern aus den gesammelten und systematisierten
Erfahrungen mit ähnlichen Problemfällen herzuleiten, d. h. zu „induzieren“
versucht. Umgekehrt zum deduktiven Modell sind die kontextgebundenen
Einzelurteile und fallbezogenen Erfahrungen hier das Primäre, die allgemeinen Regeln oder Prinzipien hingegen das hergeleitete Sekundäre. Aus dieser
Warte plädiert man für einen Typus einer Angewandten Ethik, der gerade als
„Gegenmodell zu bestimmten Traditionslinien der modernen philosophischen
Ethik“ auftritt (ebd., 14). Ausgangspunkt der Angewandten Ethik wären
dann nicht Grundsatzfragen der praktischen Orientierung, sondern „relativ
kleinräumige, bisweilen auch recht spezielle Probleme“ (Bayertz 2004, 53).
Ein durch akute Schwierigkeiten ausgelöstes Klärungsbedürfnis spreche keineswegs die Ethik als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie an, da diese
vielmehr selbst Gegenstand der Kritik sei (vgl. Kaminsky, 144). Folglich ließe
sich Angewandte Ethik weder als philosophische Disziplin noch über ihren
Anwendungscharakter definieren. Sie wäre statt als „reine Wissenschaft“ als
Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens aufzufassen, die zwischen Wissenschaft und Politik vermittelt (vgl. ebd., 149/Kettner 2000, 398). Ihr ausdrückliches Ziel sei es, auf die öffentlichen Entscheidungsprozesse bezüglich
drängender Zeitfragen Einfluss zu nehmen.
11
12
1 Einleitung
Top-down-Modell: deduktives Verfahren
Definition (1) Angewandter Ethik
Disziplin der normativen Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche
anwendet
Handlungsanweisungen werden aus
universellen Prinzipien abgeleitet
(„deduziert“)
Bottom-up-Modell: induktives Verfahren
Definition (2) Angewandter Ethik
Tätigkeit des öffentlichen Sich-Beratens
mit dem Ziel, Probleme in konkreten
Situationen zu lösen
Allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien werden aus praktischen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen hergeleitet („induziert“)
primär: ethische Theorie
Begründung allgemeiner Moralprinzipien
z. B.: Kants Kategorischer Imperativ
ethische Theorie: fehlt
daraus abgeleitete Prinzipien
z. B.: Verbot des falschen Versprechens
sekundär: daraus hergeleitete Prinzipien
z. B.: Verbot des falschen Versprechens
sekundär: daraus abgeleitete moralische
Einzelurteile für konkrete Handlungssituationen
z. B.: Du sollst in dieser Situation kein falsches Versprechen ablegen!
primär: Erfahrungen, persönliche Wertvorstellungen und moralische Einzelurteile in Einzelfällen des praktischen Alltags
z. B.: Falsches Versprechen wird von den
meisten Menschen verurteilt.
Im Zuge dieser Skepsis gegenüber dem Anwendungscharakter Angewandter
Ethik und einem deduktiven Vorgehen wird auch Kritik an der Bezeichnung
„Angewandte Ethik“ laut. Denn wo man sich polemisch gegen theoretisch
begründete universelle Prinzipien und ethische Theorien wendet und stattdessen die Bedeutung von Einzelurteilen und konkreten Erfahrungen hervorkehrt, hätte man ja nichts mehr, das „angewendet“ werden könnte. Aus
diesem Grund plädieren viele für den Ausdruck „anwendungsorientierte
Ethik“, der lediglich die starke Orientierung auf den Anwendungskontext
betont (vgl. dazu Düwell 2002, 243). Erst im nächsten Kapitel soll das Verhältnis von Theorie und Praxis systematisch reflektiert und der mögliche
Sinn einer „Anwendung“ theoretischer Prinzipien auf die konkrete Praxis
geklärt werden. Grundsätzlich abwegig erscheinen mir die Begriffsfügungen
„praxisbezogene Ethik“ (vgl. Rehmann-Sutter, 3) und „praktische Ethik“
(vgl. Kettner 1992, 9) bzw. das englische „practical ethics“, das in den USA
gebräuchlich ist (vgl. Beauchamp/Childress, 4). Da wie gesehen bereits die
ethischen Grundlagenreflexionen auf die Veränderung menschlicher Praxis
abzielen, sind „praxisbezogene praktische Philosophie“ und „praktische praktische Philosophie“ irreführende Ausdrücke. Genauso halte ich auch „theoretische“ oder „reine Ethik“ als Gegenbegriffe zu einer solchen „praxisbezo-
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
genen“ oder „praktischen Ethik“ für problematisch. Um den Unterschied
zwischen einer „begründungsorientierten“ und einer „anwendungsorientierten normativen Ethik“ deutlich zu machen, bieten sich hingegen die Ausdrücke „begründungsorientierte“ und „problembezogene Ethik“ an (vgl. Bayertz
1991, 23). Der Einfachheit halber und weil sich dieser Begriff mittlerweile
durchzusetzen vermochte, nenne ich die anwendungsorientierte oder problembezogene Ethik schlicht Angewandte Ethik. Alle anderen Bereiche der
Ethik, also die begründungsorientierte normative Ethik, die Metaethik und
deskriptive Ethik, ließen sich unter dem Kontrastbegriff Allgemeine Ethik
zusammenfassen. Mit Blick auf die verschiedenen Praxisfelder der Angewandten Ethik wie Wirtschafts-, Medien- oder Wissenschaftsethik bietet sich
des Weiteren die Bezeichnung Bereichsethiken an (vgl. Nida-Rümelin) 2005,
63). Obwohl ich den Terminus „Bereichsethiken“ grundsätzlich gutheiße
und im Folgenden auch verwenden will, wird dadurch derjenige der „Angewandten Ethik“ als Sammelbezeichnung für die verschiedenen Bereichsethiken keineswegs überflüssig (vgl. Kap. 1.4).
Ethik
normative
Ethik
begründungsorientierte
Ethik
Metaethik
deskriptive
Ethik
anwendungsorientierte/
problembezogene Ethik
= Angewandte Ethik
Bevor ich das komplexe Theorie-Praxis-Problem der Angewandten Ethik
näher zu erhellen versuche, soll noch kurz auf die historische Entwicklung der Angewandten Ethik eingegangen werden: Wenn behauptet wird,
Angewandte Ethik sei eine sehr junge Disziplin, legt man offenkundig die
Definition (1) zugrunde. Dass die Ethik als wissenschaftliche Teildisziplin
der Philosophie sich ganz explizit konkreten Problemen aus spezifischen
Handlungsfeldern widmet, ist tatsächlich ein neueres Phänomen. Erst zu
Beginn des 21. Jahrhunderts wurden an deutschen Universitäten die ersten
Lehrstühle für Angewandte Ethik eingerichtet, und es werden immer mehr
weiterbildende Masterstudiengänge zur Erlangung eines „Master of Advanced Studies in Applied Ethics“ angeboten. Zusammen mit der Gründung
von Fachvereinigungen und Fachzeitschriften wie etwa „Ethik in der Medizin“ (Berlin/Heidelberg) oder „Ethics and the Environment“ (Bloomington)
13
14
1 Einleitung
sind mit diesem Platz im Lehrplan der Universitäten die Bedingungen für
ein neues wissenschaftliches Paradigma erfüllt. Geht man demgegenüber
von Definition (2) aus, können die anwendungsbezogenen Reflexionen in
vielen Bereichsethiken wie der Medizin oder Politik auf eine lange Tradition zurückblicken. So kann etwa die Medizinethik das Erbe des „ärztlichen
Ethos“ antreten, das bis auf den antiken Arzt Hippokrates zurückdatiert. Als
Vorläufer der Angewandten Ethik kann daneben auch die „Kasuistik“ gelten
(vgl. Düwell, 244). Kasuistik von lateinisch „casus“; „Fall, Vorkommen“,
meint die Erörterung der Anwendung allgemeiner juristischer oder moralischer Normen auf konkrete Handlungssituationen. In der Moraltheologie des
17. Jahrhunderts versuchte man umfassende Zusammenstellungen verbindlicher Verhaltensweisen für alle möglichen Einzelfälle zu liefern. Schließlich
gilt daran zu erinnern, dass praktische Philosophie in der Antike Lebenskunst
oder Lebensform war und auf der Idee von Seelenleitung und Selbstsorge
basierte (vgl. Horn 1998, 12–18). Aufgrund dessen wäre es vielleicht besser,
von einer „Wiederbelebung eines vernachlässigten und in den Hintergrund gedrängten Typus ethischer Reflexion“ zu sprechen (Bayertz 1991, 8).
Vorläufig kann hinsichtlich der Begriffsbestimmung von Angewandter
Ethik festgehalten werden: Auf der einen Seite hat sich die Angewandte
Ethik im Sinne von Definition (1) als eine immer einflussreichere philosophische Teildisziplin an den Universitäten etablieren können. Da sie mit Detailproblemen aus der konkreten Lebenswelt konfrontiert wird, muss sie dabei notwendig interdisziplinär verfahren: Sie ist auf empirisches Fachwissen
der einzelnen Bereiche wie Medizin, Wirtschaft oder Medien angewiesen,
um zu befriedigenden Problemlösungen zu gelangen. Die interdisziplinäre Methode kann damit als Charakteristikum der neuen wissenschaftlichen
Disziplin und zugleich als Abgrenzungskriterium gegenüber ihren Vorformen
gelten. Denn von „Interdisziplinarität“ kann erst nach der neuzeitlichen Ausdifferenzierung in spezialisierte Wissenschaften, also nicht in der Antike die
Rede sein. Gleichzeitig werden auf der anderen Seite die Themen der Angewandten Ethik in immer breiteren Kreisen der Öffentlichkeit diskutiert und
in politischen oder halbpolitischen Beratungsgremien institutionalisiert. Insbesondere in den USA erlebt die Angewandte Ethik als „practical ethics“ seit
den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einen spektakulären Boom, der dann
mit der üblichen Verspätung auch auf die Alte Welt überschwappte (vgl.
Kettner 1992, 9). Hier wird Angewandte Ethik keineswegs als exklusives
Betätigungsfeld von Philosophen und Theologen verstanden, sondern gemäß Definition (2) als „Aktivität auf der Grenze zwischen Wissenschaft und
Gesellschaft“ (Düwell 2002, 245). Es ist also gerade in den USA eine star-
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
ke Tendenz der Angewandten Ethik zu konstatieren, sich institutionell und
professionell von der philosophischen Ethik abzukoppeln (vgl. Friesen/Berr,
19). Als zweites Charakteristikum Angewandter Ethik tritt somit das über
die Grenzen der akademischen Philosophie hinaustreibende transakademische Engagement in Ethikkommissionen, Gremien und in der Politikberatung hinzu (vgl. Bayertz 2004, 54). Dieser faktischen Tendenz zum transakademischen Engagement zum Trotz können philosophische Ethiker natürlich
weiterhin auf die erste Bedeutung als wahre Zielsetzung Angewandter Ethik
pochen. Wie das besonders in den USA zu beobachtende Auseinanderdriften
von Wissenschaft und Engagement bewertet werden muss, soll anlässlich der
Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis im folgenden Kapitel geklärt
werden.
1.2
Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
Wie beim Versuch einer Begriffsbestimmung von Angewandter Ethik bereits
zutage trat, wird das Theorie-Praxis-Verhältnis von den Verfechtern einer Angewandten Ethik sehr unterschiedlich beurteilt. Der Boom der Angewandten
Ethik verdankt sich aber zu einem großen Teil einer breiten Unzufriedenheit
mit der akademischen Ethik, die angesichts radikalisierter Begründungsansprüche seit der Neuzeit die Anwendungsproblematik vernachlässigte. Gerade bei den transakademisch engagierten Anhängern des Bottom-up-Modells
Angewandter Ethik ist bisweilen eine beträchtliche Theoriefeindlichkeit zu
konstatieren. Das Pendel zwischen den beiden Polen Theorie und Praxis droht
dann deutlich auf die andere Seite auszuschlagen. Weil eine einheitliche,
allgemein akzeptierte ethische Theorie fehle, seien die meisten (oder alle)
ethischen Theorien als solche unhaltbar oder verlören ihre Glaubwürdigkeit. Selbst wenn es eine allgemein als richtig und verbindlich anerkannte
Theorie gäbe, soll eine solche spätestens bei ihrer Anwendung auf die Praxis
zum Scheitern verurteilt sein (vgl. Vieth, 9). Denn das Lösen moralischer
Probleme in konkreten Einzelfällen sei durch Bezugnahme auf allgemeine
Prinzipien nicht zu leisten (vgl. dazu Bayertz 1991, 14 f.). Abstraktes ethisches
Wissen verhindere vielmehr jede Lösungsfindung, weil es von den konkreten
Erfahrungen, moralischen Überzeugungen, Ansprüchen und Interessen der
Beteiligten ablenke (vgl. Vieth, 45). Die moralphilosophische Perspektive der
Universalität und Unparteilichkeit wie etwa beim Kategorischen Imperativ sei
der kontextsensiblen Situationswahrnehmungen hinderlich und werde den
praktischen Alltagserfahrungen und persönlichen Wertvorstellungen der vom
Handeln Betroffenen nicht gerecht (vgl. ebd., 47). Je größer die Distanz zur
15
16
1 Einleitung
Praxis sei, desto weniger wahrscheinlich werde die Lösungsfindung bezüglich
eines akuten Konfliktfalls (vgl. Kaminsky, 145 f.).
Anhand der Abtreibungsproblematik versuchen Johnson und Toulmin
die Unfruchtbarkeit der „Tyrannei der Prinzipien“ zu dokumentieren (vgl.
Johnson/Toulmin, 5). Auf der Ebene abstrakter Prinzipien wie „Recht auf
Leben“ des Embryos versus „Recht auf Selbstbestimmung“ der Frau gerate
man nämlich zwangsläufig in eine Sackgasse. Wie die anhaltende Diskussion
über Abtreibung zeige, lasse sich auf diese Weise niemals ein Konsens finden.
Stattdessen müsse man in der jeweiligen konkreten Situation ein gerechtes
Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Rechten, Ansprüchen und Verantwortlichkeiten aller Beteiligten herzustellen versuchen (vgl. ebd., 4). Beliebt ist auch der exemplarische Verweis auf Kants Rigorismus, den er bezüglich des kategorischen Imperativs „Du sollst nicht lügen“ an den Tag legt: So
soll ich auch dann unbedingt zur Wahrheit verpflichtet sein, wenn ein Mörder nach dem in meinem Haus versteckten Freund fragt (vgl. Kant 1997).
Da der Freund aber in Lebensgefahr schwebt, würde eine kontextsensible
Abwägung wohl eine zeitweilige Aufhebung des Lügeverbots nahe legen. In
Viets Worten interessiert Kants universelles und gut begründetes Lügeverbot
ohnehin niemanden, „weil jeder weiß, dass man, wenn man lügt, verantwortungsvoll lügen muss“ (Vieth, 9)! Eine große Herausforderung für die
noch junge Disziplin der Angewandten Ethik ist offenkundig die grundlegende Verhältnisbestimmung von Allgemeinem und Einzelnen, abstrakter Theorie und konkreter Praxis, Grundlagen- und Anwendungsdiskurs. Bevor die
hier kurz skizzierten Einwände gegen eine ethische Theorie kritisch geprüft
werden, soll die Frage aufgeworfen werden, was bei einem Verzicht auf eine
einheitliche ethische Theorie überhaupt als normative Orientierungsgrundlage für die Praxis übrig bliebe.
In Opposition zum Top-down-Modell rückt eine große Zahl Angewandter Ethiker die Perspektive der betroffenen Personen ins Blickfeld: Was bei
der radikalen Theorie-Skepsis übrig bleibt, sind im Bottom-up-Modell die
Situationswahrnehmungen und -deutungen, Befürchtungen und Interessen,
Wertvorstellungen und -intuitionen der Betroffenen (vgl. Vieth, 8 und 20).
„Moral ernstnehmen heißt zuallererst, Menschen ernstnehmen“, lautet das
Programm (Kymlicka 2000, 205). Die Betroffenen erkenne man dabei leicht
im öffentlichen Beratungsprozess, weil sie sich selbst im öffentlichen Diskurs
äußerten oder sich indirekt über Anwälte zu Wort meldeten. Zentral seien
also die praktischen Erfahrungen, die Menschen in bestimmten Problemsituationen gemacht haben, und die Werte und Prinzipien, auf die sie sich
in diesem Zusammenhang berufen. Andreas Vieth hat diese praxisnahe Ba-
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
sis ethischen Wissens unter dem Schlagwort „evaluative Erfahrung“ zusammengefasst. Gemeint ist „die Weise, wie Personen sich und Situationen bewertend erfahren: In der Ethikberatung beschreibt und bewertet man eine
Situation, einen Fall oder auch mehr generelle Aspekte des Handelns. Beschreibung und Bewertung gehen Hand in Hand und folgen zunächst keinen anderen Regeln als denen, nach denen Personen gewohnt sind, sich und
ihr Umfeld wertend (also evaluativ) zu erfahren“ (51). Doch kann man mit
solchen individuellen Erfahrungen und Wertungsweisen wirklich moralische
Probleme oder Konflikte lösen? Was passiert, wenn gegensätzliche Situationsdeutungen, Erfahrungen und Wertintuitionen aufeinanderprallen, wie
es im praktischen Alltag zumeist der Fall sein dürfte?
Eine theoriefreie, rein praxisbezogene Angewandte Ethik kämpft mit einigen konzeptuellen Schwierigkeiten: Hinsichtlich der Situationswahrnehmungen und Erfahrungen mit ähnlichen Einzelfällen mag es zwar noch
größtenteils gelingen, durch das Einbringen zusätzlicher Informationen über
die faktischen Verhältnisse zu einer einheitlichen Deutung zu gelangen.
Denn solche empirischen Daten sind mehr oder weniger leicht intersubjektiv überprüfbar durch direkte Erfahrungen voneinander unabhängiger Beobachter oder durch indirekte Erfahrungen über zuverlässige Quellen. Aus
solchen bloßen Beschreibungen von Handlungssituationen ergeben sich aber
keinerlei Hinweise auf normative Handlungsorientierungen. Schließt man
nämlich von Tatsachenaussagen auf normative Aussagen, läge ein in der Philosophie verpönter Sein-Sollen-Fehlschluss vor (vgl. Ethik, 4.2.1). Vom faktischen Sein, d. h. den Wahrnehmungen und Beschreibungen einzelner Fälle,
gibt es keinen Weg zu einem normativen Sollen. So lässt sich von der Erfahrung unsäglicher Qualen einer künstlich am Leben gehaltenen nahe stehenden Person nicht darauf schließen, dass passive Sterbehilfe (in ähnlichen Fällen) geboten ist. Der Schluss wäre nur gültig unter zusätzlichen normativen
Prämissen wie etwa derjenigen, dass Schmerzen um jeden Preis zu vermeiden oder eine wie auch immer definierte „menschliche Würde“ zu bewahren
seien. Deskriptive Aussagen allein sagen also nichts aus über die normative
Richtigkeit oder Falschheit eines ethischen Urteils oder einer Norm wie beispielsweise des Gebots passiver Sterbehilfe. Im Gegensatz zu feststellbaren
Tatsachen muss die Geltung von normativen Urteilen oder Normen begründet werden (vgl. Ott 2005a, 63 ff.). Daher sollten deskriptive und normative Aussageformen auch in der Angewandten Ethik klar voneinander unterschieden werden. Bei der Rede von evaluativen Erfahrungen drohen diese
Differenzen aber zu verwischen: „Beschreibung und Bewertung gehen Hand
in Hand“ (Vieth, 51).
17
18
1 Einleitung
Im Unterschied zu sinnlichen Erfahrungen oder Situationsbeschreibungen
kann man evaluative Erfahrungen oder Wertintuitionen nicht im Rekurs
auf Fakten intersubjektiv überprüfen und gegebenenfalls korrigieren: Wenn
die Enkelin das Ableben der Großmutter als menschenunwürdig erlebt, für
den behandelnden Arzt aber jedes biologische Am-Leben-Sein lebenswert
ist, kann keine Einigung erzielt werden. Wie solche unterschiedlichen Werthaltungen miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden können, lässt sich
auch nach Vieth nicht exakt angeben. Jedenfalls zähle dabei weniger logische Schlüssigkeit als vielmehr die „Stimmigkeit“ im Sinne einer kohärentistischen Begründung: „Man stellt eine Balance her zwischen relevanten
Gesichtspunkten und gewichtet alle Faktoren so lange immer wieder neu,
bis sich ein klares Bild ergibt“ (Vieth, 51). Über das Problem eines Pluralismus der Intuitionen und Wertvorstellungen und damit möglicher Wertkollisionen hinaus ist aber noch grundsätzlicher zu fragen, ob alle persönlichen
Intuitionen und Werturteile gleichberechtigt sind. Kann es im normativen
Bereich nicht wie im Bereich der Wahrnehmungen und theoretischen Meinungen Irrtümer geben? Man denke etwa an die moralischen Intuitionen
von Rassisten oder an die lange Zeit für gut befundenen Intuitionen zur
Sklavenhaltung (vgl. dazu Düwell 2008, 44). In Frage steht dabei nicht der
Geltungsanspruch auf Wahrheit wie bei deskriptiven Tatsachenaussagen,
sondern der Geltungsanspruch auf normative Richtigkeit. Auch hinsichtlich
der Interessen, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, könnte
man kritisch zu bedenken geben: Müssen alle Interessen der beteiligten Personen gleich berücksichtigt werden oder gibt es auch illegitime Interessen?
Ein Extrembeispiel moralisch illegitimer Wünsche wäre sicherlich das Interesse einer Krankenkasse an einer möglichst weitgehenden Legalisierung
der Sterbehilfe, weil dadurch erhebliche Kosten eingespart werden könnten.
Offenkundig brauchen wir normative Kriterien, um berechtigte von nicht
berechtigten Interessen unterscheiden und die eigenen Intuitionen auf ihre
Güte hin prüfen zu können (vgl. Thurnherr 2000, 40).
Der unmittelbaren Hinwendung zum Einzelfall und dem Versuch eines
In-Beziehung-Setzens der ungeprüften Erlebnis- und Wertungsweisen der
Betroffenen haftet insgesamt etwas Dezisionistisches, d. h. Willkürliches
an. Solche „stimmigen“ kontextbezogenen Einzelfallentscheidungen wären nur dann nicht willkürlich, wenn sie auf der Basis von Gründen allgemein nachvollziehbar sind. Solche Gründe setzen aber unvermeidlich generelle Gesichtspunkte, allgemeine Werte oder Prinzipien voraus (vgl. Bayertz
1991, 19). Wer sich weigert, auf solch allgemeine Kategorien zurückzugreifen, müsste sich in jedem einzelnen Fall stets situativ neu entscheiden. Er
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
hätte streng genommen auf alle Lösungsmodelle und exemplarischen kasuistischen Einzelfalldarstellungen zu verzichten. Ein solches dezisionistisches
situatives Vorgehen ist aber bei den meisten Problemen der Angewandten
Ethik unzulänglich, weil es nur selten um individuelle Handlungsweisen
geht. Weder das Problem der Abtreibung noch das der Sterbehilfe lässt sich
auf die individualethische Fragestellung reduzieren, ob die Abtreibung für
eine bestimmte schwangere Frau oder der Tod für eine sterbewillige Person
in ihren je spezifischen Lebenssituationen vernünftig und ratsam seien. Sie
weisen vielmehr eine gesellschaftliche und politische Dimension auf: Es geht
um die sozialethische Frage, ob die institutionellen Rahmenbedingungen
für bestimmte Handlungsweisen wie Abtreibung oder Sterbehilfe geschaffen
werden sollen; ob also diese Handlungsweisen als legitime institutionalisierte Praxis zugelassen werden sollen. Da sich Angewandte Ethik in der Regel
mit öffentlichen Institutionen und politischen Handlungsoptionen zu befassen hat, kann sie „sich nicht auf den ‚Einzelfall‘ kaprizieren, sondern muss
den ‚Regelfall‘ zum Gegenstand ihrer Reflexion machen“ (ebd., 23). Ob eine
Handlungsweise im Prinzip zulässig oder unzulässig ist, erfordert eine öffentliche Entscheidung und kann nicht durch Einzelfallabwägungen begründet
werden. Eine „Fall-zu-Fall“-Ethik erweist sich somit als unzureichend.
Kritik am Bottom-up-Modell Angewandter Ethik ohne Theorie-Bezug
kohärentistische Begründung: In-Zusammenhang-Bringen von persönlichen Erfahrungen, Situationsdeutungen, Wertvorstellungen, moralischen Intuitionen und Interessen
der Beteiligten
Kritik 1: Verbindlichkeit des Ergebnisses hängt von ungeprüften Voraussetzungen ab:
Basis ethischer Entscheidungen
Einwände
– Situationswahrnehmungen und -deutungen (Erfahrungen mit Einzelfällen)
– Befürchtungen, Interessen
– Wertvorstellungen und -intuitionen
(evaluative Erfahrungen)
– Sein-Sollen-Fehlschluss (Tatsachenaussagen → normative Aussagen)
– Abwägung in Konfliktfällen unklar
– Kriterien für berechtigte Interessen
und für Güte der Wertvorstellungen
und Intuitionen notwendig
Kritik 2: dezisionistische Fall-zu-Fall-Entscheidungen sind unzureichend:
– Entscheidungen müssen auf der Basis von Gründen allgemein nachvollziehbar sein
– gesellschaftliche Lösungen für institutionalisierte Praxis erforderlich
Damit ist die Unhaltbarkeit einer Einzelfallbetrachtung und eines induktiven
Ausgangs von Erfahrungen und Intuitionen der Betroffenen gemäß dem
Bottom-up-Modell klar zutage getreten: Weder kann von Situationswahr-
19
20
1 Einleitung
nehmungen oder Erfahrungen auf Normen geschlossen werden, noch sind
persönliche Wertüberzeugungen oder Intuitionen per se normativ richtig.
Obgleich die Angewandte Ethik also nicht auf allgemeine Kriterien oder
Prinzipien zur ethischen Beurteilung konkreter strittiger Handlungsweisen
verzichten kann, sind die Vorbehalte der Theorie-Skeptiker gegenüber der
traditionellen Ethik nicht von der Hand zu weisen. Denn die Klassiker der
2000jährigen Philosophiegeschichte haben ganz unterschiedliche allgemeine Kriterien, Normen und Prinzipien aufgestellt und zu begründen versucht. Selbst höchste Moralprinzipien wie exemplarisch Kants kategorischer
Imperativ und das utilitaristische Nutzenkalkül stehen sich unversöhnlich
gegenüber: Während Kant den Einzelnen dazu aufruft, seine Handlungsmaxime einem logischen Verallgemeinerungstest zu unterziehen, verlangen
die Utilitaristen, die größtmögliche Erfüllung der tatsächlich vorhandenen
empirischen Bedürfnisse und Interessen aller Betroffenen zum Maßstab des
Handelns zu machen. Es konkurrieren also die Orientierung an einem abstrakten formalen Verfahren und die Orientierung an konkreten materialen
Wünschen miteinander. Wie soll man mit dieser Pluralität ethischer Theorien und Begründungsformen umgehen, sofern man nicht jede Theorie von
vornherein für irrelevant oder hinderlich erklären will?
Die Vielzahl verschiedener Standpunkte kann definitiv kein Grabgesang
auf ethische Verbindlichkeit sein (vgl. Vieth, 9). Trotz der teilweise gegensätzlichen ethischen Überlegungen muss man keineswegs auf sämtliche Reflexionen, Argumente und Modelle der Philosophiegeschichte verzichten.
Statt einer theoretischen Willkür oder einem Eklektizismus Tür und Tor zu
öffnen, hätte man nach Kriterien für eine gute ethische Theorie zu fragen
und die verschiedenen Argumentationsformen zu prüfen und zu systematisieren (vgl. unten). Für ein adäquates Verständnis des Theorie-Praxis-Verhältnisses ist es zudem hilfreich, verschiedene Abstraktionsgrade ethischer
Argumentationen zu unterscheiden (vgl. Bayertz 1991, 12): Zwischen der
obersten Ebene der allgemeinen und abstrakten ethischen Theorien und der
untersten Ebene der konkreten einzelnen Urteile befinden sich Prinzipien
als Einheit stiftende allgemeine Grundsätze und die Normen als konkrete,
situationsspezifische Handlungsregeln. Normen und Prinzipien können entsprechend eine vermittelnde Funktion zwischen abstrakter Theorie und konkreter Praxis übernehmen. Es ist dann auch leicht zu ersehen, dass man von
einer ethischen Theorie sinnvollerweise keine konkreten Handlungsanweisungen für die Lösung aktueller Konfliktfälle erwarten darf. Hat man dieses
Stufenmodell mit verschiedenen Graduierungen an Abstraktheit und Allgemeinheit normativer Handlungsorientierungen vor Augen, lassen sich viele
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
der oben zitierten unfruchtbaren Polarisierungen zwischen Theoriezentriertheit und Praxisorientierung, zwischen Theorie und Praxis vermeiden.
Abstraktionsgrade normativer Handlungsorientierungen
Ebene der ethischen Theorien: Begründung höchster ethischer Prinzipien (oberste Moralprinzipien)
z. B. Kants Ethik des kategorischen Imperativs, Utilitarismus, Diskursethik
Ebene der ethischen Prinzipien: Einheit stiftende allgemeine Grundsätze
z. B. Prinzip der Autonomie: „Berücksichtige das Recht auf Selbstbestimmung aller
Menschen!
z. B. Prinzip Fürsorge/Wohltun: „Sorge dich um das Wohl deiner Mitmenschen!“
Ebene der ethischen Normen: konkrete, situationsspezifische Handlungsregeln
z. B. bezüglich Suizidbeihilfe: Suizidbeihilfe ist ethisch legitim, wenn der Suizidwunsch
rational ist und eine ausweglose Situation vorliegt, in der das subjektive Leid durch
keine mitmenschlichen Hilfsangebote ein erträgliches Maß erreicht.
Ebene der singulären Urteile: normative Aussagen bezüglich konkreter Handlungsalternativen
z. B. im konkreten Einzelfall: Einem 90-jährigen Mann mit einer unheilbaren Krebserkrankung, der, bewegungslos, unter kaum zu lindernden Schmerzen leidet und
wiederholt seinem freiwilligen Suizidentschluss Ausdruck gegeben hat, darf Beihilfe
geleistet werden.
Entscheidend scheint es nun zu sein, in welcher Richtung der Pfeil zwischen
den beiden Polen ethischer Theoriebildung und singulärer Urteile verläuft.
Ein einsinniges deduktives Vorgehen, wie es das Top-down-Modell suggeriert, wäre in der Angewandten Ethik sicherlich nicht angemessen. Denn
wie die Theorie-Skeptiker richtig kritisieren, besteht bei einem deduktiven Vorgehen die Gefahr, dass man der sorgfältigen Analyse der jeweiligen
Handlungssituation zu wenig Gewicht beimisst. Ausgangspunkt angewandtethischer Reflexionen können aber nicht Theorien über das gute und richtige
Handeln bilden, sondern nur die möglichst detaillierten Beschreibungen der
problematischen Handlungssituationen: Was geht in diesem ganz konkreten
Fall vor sich und welche Konsequenzen der möglichen Handlungsweisen
sind zu erwarten? Welche persönlichen Interessen sind betroffen und welche
ethischen Prinzipien sind dabei relevant? Der Denkprozess Angewandter
Ethik kann daher weder eine deduktive Einbahnstraße von oben nach unten
noch eine induktive Einbahnstraße von unten nach oben darstellen. Es geht
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1 Einleitung
stattdessen um eine typische dialektische Denkbewegung zwischen ethischer Theoriebildung und Erfahrung, die aber ihren Ausgangspunkt in der
Praxis nimmt (vgl. Beauchamp/Childress, 23).
Bei diesem dialektischen Denkprozess ist die Urteilskraft in ihren beiden
sich ergänzenden Funktionen gefragt: als bestimmende und reflektierende
Urteilskraft (vgl. dazu Thurnherr 2000, 21 ff.). Nach Kant ist es einerseits die
Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft, den besonderen Einzelfall unter
gegebene allgemeine Prinzipien zu subsumieren. Als reflektierende Urteilskraft hat sie andererseits für ein gegebenes Besonderes erst noch eine allgemeine Regel zu finden. Bei Fragen der Angewandten Ethik ist die reflektierende Funktion der Urteilskraft vor allem deswegen von großer Bedeutung,
weil sie das Besondere des Einzelfalls auf ein mögliches Allgemeines hin vorzubereiten hat (vgl. ders. 2004, 39). Denn jede konkrete Handlungssituation weist sowohl einmalige und unvergleichliche als auch allgemeine und
vergleichbare Momente auf. Die Vorarbeit der reflektierenden Urteilskraft
besteht darin, von den einmaligen Momenten zu abstrahieren und die allgemeinen hervorzuheben. Durch die Benennung solcher allgemeiner Kategorien werden nicht unbedingt die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls
ausgeklammert, sondern nur die relevanten Gesichtspunkte für die fallbezogene Abwägung hervorgehoben. Aufgabe der Urteilskraft in ihrer bestimmenden Funktion wäre es, für den besonderen Einzelfall die relevanten allgemeinen ethischen Kriterien oder Prinzipien zu finden und ihn daraufhin
zu beurteilen. Auch bei dieser Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine verliert man die konkrete Situation nicht zwangsläufig aus dem Auge.
Vielmehr macht man auf bestimmte besondere Einzelheiten in der konkreten
Handlungssituation aufmerksam, die für die ethische Entscheidungsfindung
wichtig sind (vgl. Kymlicka 1997, 230 f.). Um beispielsweise die für eine ethische Stellungnahme zur Suizidbeihilfe bei einem sterbewilligen Kranken relevanten Aspekte erkennen zu können, braucht man das Wissen um die allgemeinen ethischen Kriterien der Selbstbestimmtheit des Suizidentschlusses
sowie der Fürsorgepflicht seitens der Mitmenschen. Es ist also der Vorwurf
der Theorie-Skeptiker zurückzuweisen, das Allgemeine verhindere automatisch eine sensible Wahrnehmung des Konkreten.
Hinsichtlich der Tätigkeit der bestimmenden Urteilskraft muss jedoch die
Vorstellung einer rein „technischen Anwendung“ von fest stehenden Prinzipen aufgegeben werden (vgl. Düwell 2002, 243). Die meisten Phänomene
der moralischen Alltagspraxis sind viel zu komplex, als dass sie sich in eine
starre Hierarchie von Prinzipien pressen oder auf ein höchstes Moralprinzip zurückführen lassen. Der Anwendungsbegriff darf also nicht in einem
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
technizistischen Sinn als rein mechanischer Vorgang verstanden werden, wie
das Top-down-Modell es nahe legt. Statt um ein technisches Anwenden geht
es eher um ein „Aktualisieren“ theoretischer philosophischer Erkenntnisse
in verschiedenen lebenspraktischen Kontexten (vgl. Ott 2004, 173). Bayertz
spricht von einer „normbildenden Anwendung“ in der Angewandten Ethik
(vgl. 1991, 36 f.): Vorgegebene Prinzipien müssen mit Blick auf bestimmte
Handlungsfelder neu interpretiert, konkretisiert und weiterentwickelt werden. Wenn sich beispielsweise angesichts des Problems der Suizidbeihilfe die
Prinzipien „Autonomie“ (pro Suizidbeihilfe) und „Fürsorge/Wohltun“ (kontra Suizidbeihilfe) unversöhnlich gegenüber stehen, müsste man beide inhaltlich ergänzen bzw. berichtigen und miteinander vermitteln: das Autonomie-Prinzip zum Konzept „rationaler Selbstbestimmung“ präzisieren, das
Fürsorgeprinzip oder Prinzip des Wohltuns auf Fälle beschränken, bei denen
entweder Urteilsunfähigkeit vorliegt oder die Veränderung der gesellschaftlichen oder medizinischen Rahmenbedingungen zum Verschwinden des Suizidwunsches führen würde. Eine konkrete Norm könnte lauten, Suizidbeihilfe sei nur in hoffnungslosen Lebenssituationen ethisch legitim, sofern der
Suizidwunsch rational ist und alle mitmenschlichen Hilfsangebote ausgeschöpft wurden (vgl. Kap. 2.4).
Um spezifische Normen für die Lösung gegebener praktischer Probleme
formulieren zu können, müssen die Prinzipien also inhaltlich fortgeschrieben
werden. Darüber hinaus gibt es auch eine Vielzahl von aktuellen Problemen,
für die es noch keine angemessenen Prinzipien gibt (vgl. dazu Bayertz 1991,
35 f.). Zu denken wäre an die von der traditionellen Ethik vernachlässigten
Handlungsbereiche wie etwa an den Umgang mit der Natur im Zeichen der
Naturethik oder ökologischen Ethik. Man kann zwar auch im Umweltbereich auf anerkannte ethische Prinzipien wie das „Prinzip des Nichtschadens“
zurückgreifen. Dieses wurde aber traditionellerweise nur auf das zwischenmenschliche Verhalten bezogen, wobei „Nichtschädigung“ das Unterlassen
von Töten, Stehlen und Betrügen meinte. Da man beispielsweise das Ökosystem nicht in diesem Sinne schädigen kann, muss die reflektierende Urteilskraft das Prinzip inhaltlich neu bestimmen und begründen. Insgesamt dürfte
das Auffinden einer geeigneten normativen Handlungsorientierung im Umgang mit konkreten moralischen Problemen hauptsächlich die Arbeit der Urteilskraft in ihrer reflektierenden Funktion sein (vgl. Thurnherr 2000, 23).
Damit ist das kreative und produktive Moment einer nicht-linearen, sondern
dialektischen „Anwendung“ in der Angewandten Ethik deutlich zutage getreten (vgl. Bayertz 1991, 17).
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1 Einleitung
Kritik am Top-down-Modell als Einbahnstraße
1) Vernachlässigung der Situationsanalyse bei einsinnigem Deduzieren
→ dialektische Denkbewegung zwischen den verschiedenen Abstraktionsstufen
notwendig
2) rein technisches Anwenden feststehender Prinzipien
→ normbildende Anwendung notwendig
Angesichts der ungelösten Grundlagenkontroversen in der philosophischen
Ethik gibt es in der Angewandten Ethik zahlreiche Versuche, Prinzipien zu
formulieren, die in der Gesellschaft und den aktuellen Debatten mit einem
weitgehenden Konsens rechnen können (vgl. dazu Düwell 2002, 245 f.). Man
versucht der Auseinandersetzung mit der Pluralität der klassischen ethischen
Theorien dadurch zu entkommen, dass man sich auf die mittlere Ebene der
Prinzipien konzentriert. Man gibt damit den Anspruch einer umfassenden
ethischen Theorie mit einem obersten Moralprinzip auf und bleibt sozusagen
auf der Ebene der Prinzipien stehen. Großen Einfluss insbesondere in der
Bioethik erlangte der von Tom Beauchamp und James Childress begründete Principlism. Wenn der englische Begriff „Principlism“ im Deutschen als
„Prinzipienethik“ übersetzt wird, ist dies äußerst irreführend. Um den „Principlism“ von der traditionellen, um oberste Moralprinzipien bemühten „Prinzipienethik“ wie etwa der kantischen Ethik des kategorischen Imperativs abzugrenzen, müsste man auf Deutsch von einer Theorie mittlerer Prinzipien
sprechen. Denn bei den „principles“ handelt es sich um „Prinzipien mittlerer
Reichweite“ oder „mittlere Prinzipien“, die sich auf einer mittleren Ebene
zwischen den allgemeinen ethischen Grundtheorien mit den obersten Moralprinzipien und den konkreten Handlungsregeln und Urteilen befinden.
Definiert werden sie von den beiden Medizinethikern als „general guides
that leave considerable room for judgement in specific cases“ (Beauchamp/
Childress, 38). Sie müssen also durch situationsspezifische Regeln oder Handlungsanweisungen auf der untersten Ebene konkretisiert werden. In ihrem
Lehrbuch Principles of Biomedical Ethics werden die vier Prinzipien: 1. Autonomie, 2. Nichtschaden, 3. Wohltun, 4. Gerechtigkeit aufgeführt. Sie sollen mit
verschiedenen Moraltheorien vereinbar sein und an die moralischen Alltagsüberzeugungen der Menschen anknüpfen (vgl. dazu Marckmann u. a., 31).
Principlism/Theorie mittlerer Prinzipien: Der ethische Wert einer Handlung bemisst sich
an Prinzipien mittlerer Reichweite.
z. B. vier Prinzipen von Beauchamp/Childress:
Autonomie, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit
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