SALZBURGER FESTSPIELE 2010 Festrede Festrede von Daniel Barenboim beim Festakt zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2010 Montag, 26. Juli 2010, um 11.00 Uhr, im Großen Festspielhaus Daniel Barenboim Neun Jahre war ich alt, als ich im Sommer 1952 zum ersten Mal nach Salzburg kam. Es war überhaupt mein erster Aufenthalt außerhalb von Buenos Aires, meine erste Europareise und meine erste Begegnung mit dem so außerordentlich reichen musikalischen Leben der Salzburger Festspiele. In den Tagen vor Anbruch des Jet-Zeitalters dauerte die Reise nach Europa entsetzlich lange. Wir waren drei Tage lang unterwegs, erst mit dem Flugzeug – einer Propellermaschine natürlich – dann mit der Eisenbahn, und als wir endlich in Salzburg eintrafen, war ich völlig erschöpft. Dennoch fiel mir, als wir am Festspielhaus – dem heutigen Haus für Mozart – vorbeikamen, ein Plakat auf, das eine Aufführung der Zauberflöte ankündigte. Ich fragte meine Eltern, worum es sich dabei handele, und sie erklärten mir, dass es eine Oper von Mozart sei. Natürlich gab es keine Karten mehr, doch meine Mutter, die eine sehr unternehmungslustige Frau ohne den geringsten Anflug von Schüchtern- 3 heit war, meinte, ich sollte doch auf eigene Faust versuchen, irgendwie ins Festspielhaus reinzukommen. Als der kleine Knabe, der ich war, schaffte ich es tatsächlich, mich unbemerkt hineinzuschleichen. Ich entdeckte eine leere Loge, in der ich wie ein kleiner Prinz Platz nahm. Die Musiker stimmten ihre Instrumente, Karl Böhm schritt ans Dirigentenpult – und ich schlief prompt in der dunklen, gemütlichen Loge ein. Einige Zeit später wurde ich wieder wach und da ich nicht wusste, wo ich mich befand und wo meine Eltern waren, fing ich in meiner Verwirrung zu weinen an. Ein Logenschließer eilte herbei und beförderte mich umgehend nach draußen – und damit war mein kleines Abenteuer zu Ende. Als ich Jahre später mit den Wiener Philharmonikern unter Karl Böhm auftrat, erzählte ich ihm diese Anekdote aus meiner Kindheit, was vielleicht nicht klug war, denn er war alles andere als erfreut darüber, dass jemand es fertig gebracht hatte, bei einem seiner Auftritte einzuschlafen. Mein jugendliches Alter war für ihn keine Entschuldigung. Natürlich traf ich nach diesem Anfangserlebnis damals, 1952, wie auch in späteren Jahren, in Salzburg mit einigen der führenden Musiker der Welt zusammen. Es war ein Ort, an dem man Leuten begegnen konnte, die Brahms noch persönlich gekannt hatten; die geistigen Nachfolger der größten Musiker der Vergangenheit waren anwesend, Zeugen einer anderen Ära. Ich lernte Edwin Fischer kennen und hörte ihn – ein Pianist, der bis zum heutigen Tag inspirierend auf mich wirkt – und ich selbst spielte bei jenem ersten Aufenthalt im Jahr 1952 im Rahmen des Abschlusskonzerts von Igor Markevitchs Dirigierklasse ein Konzert von Bach. 1954 traf ich mit Furtwängler zusammen und spielte für ihn; er ließ mich im Orchestergraben neben dem Cembalo sitzen und von dort aus nicht nur Proben zu Don Giovanni verfolgen, sondern auch Aufführungen der Oper beiwohnen. Es war alles ungeheuer bereichernd für einen Jungen meines Alters, und der Geist, der in jenen Tagen in Salzburg herrschte, hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei mir. Dieser besondere Geist war unter anderem auch der engen 4 Kooperation zwischen den Vorstellungen der Festspiele und den Kursen am Mozarteum zu verdanken. So wurde Markevitch zum Beispiel 1955 einmal krank und konnte die Dirigierklasse nicht selbst leiten; wir Schüler hatten aber das Glück, dass George Szell, Karl Böhm und Dimitri Mitropoulos zugegen waren, von denen jeder den Unterricht für einen Tag übernahm. Hier in Salzburg durfte ich auch die ersten Konzerte und Opernaufführungen mit den Wiener Philharmonikern miterleben. Es war das erste große Orchester, das ich jemals spielen hörte, und sein einzigartiger Klang und das außergewöhnlich musikalische Gespür seiner Mitglieder hat seitdem niemals aufgehört, mich zu faszinieren und zu inspirieren. Von Mozart lernte ich genauso viel wie von Furtwängler und den Konzerten und Aufführungen, die ich damals bei den Salzburger Festspielen besuchte. Kein anderer Komponist lässt Stimmungslagen so deutlich werden, auch indem er sie mit den ihnen jeweils entgegengesetzten kombiniert, und das macht die von Mozart zusammen mit da Ponte geschriebenen Opern zu solchen Meisterwerken. Don Giovanni ist das perfekte Beispiel dafür; Mozart und da Ponte haben das Werk als drama giocoso bezeichnet, und dieser Terminus impliziert schon, dass eine Situation von einem subjektiven Standpunkt aus – in diesem Fall dem Donna Elviras – als tragisch empfunden, objektiv aber komisch sein kann und umgekehrt. Bei Mozart ist das Komische immer von einem düsteren, unangenehmen Unterton begleitet, während das Tragische immer einen komischen oder gar lächerlichen Aspekt besitzt. Salzburg vermittelte mir nicht nur musikalische Entdeckungen, sondern es war auch der Ort, an dem mein Bewusstsein für die Geschichte des jüdischen Volks in Europa erwachte. Mit neun hatte ich noch nie etwas vom Holocaust gehört. Zu der Zeit, als ich Furtwängler und Fischer kennenlernte, erfuhr ich auch erstmals, was während des Zweiten Weltkriegs in Europa geschehen war. Mein Vater lehnte sogar 1954 eine Einladung Furtwänglers an mich, mit den Berliner Philharmonikern 5 aufzutreten, mit der Begründung ab, für einen jüdischen Jungen sei es – neun Jahre nach dem Krieg – noch zu früh, um nach Deutschland zu reisen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, dass ich nicht begriff, was für ein Unterschied in dieser Hinsicht zwischen Deutschland und Österreich bestehen sollte, und mich später wunderte, dass der Staat Israel es als statthaft ansah, diplomatische Beziehungen zu Österreich zu unterhalten, nicht aber zu Deutschland. Ich fragte meinen Vater danach, erhielt aber nie eine zufriedenstellende Antwort. Meine Begeisterung über so viel wundervolle Musik und mein Entsetzen über das Schicksal der europäischen Juden standen in einem so scharfen Gegensatz zueinander wie kontrapunktische Stimmen in einer Mozartoper, und wenn ich einen Blick auf jene Zeit zurückwerfe, stelle ich fest, dass meine Erinnerungen an beide Arten des „Erwachens” untrennbar voneinander sind. Genau wie bei Mozart mischte sich Trauer in die Freude, während das Entsetzen von Fröhlichkeit ein wenig abgemildert wurde. Dass ich gleichzeitig tief gehende musikalische Erfahrungen machte und mit einer Periode der Unmenschlichkeit konfrontiert wurde, ließ mir etwas bewusst werden, das in der Folge beinahe die Züge einer idée fixe bei mir annahm. Es öffnete mir nämlich die Augen für das Paradox, dass Musik uns sowohl die Möglichkeit bietet, die Hässlichkeit der Welt zu vergessen, als auch die Fähigkeit verleiht, die Welt und ihre Gräuel zu verstehen und zu transzendieren. Mit anderen Worten: Musik ist alles andere als ein Elfenbeinturm. Max Reinhardt schrieb in seinem Festspielkonzept aus dem Juli 1918, dass Salzburg den idealen Veranstaltungsort für die Festspiele abgäbe, die er ins Leben rufen wollte. Ihm zufolge war die Stadt geradezu dazu berufen, „ein Wallfahrtsort zu werden für die zahllosen Menschen, die sich aus dem blutigen Greuel dieser Zeit nach den Erlösungen der Kunst sehnen.” Die Uraufführung des Jedermann drohte von antisemitischen Kundgebungen unterbrochen zu werden, und nur siebzehn Jahre nach den er- 6 sten Festspielen sah Reinhardt sich gezwungen, vor einem blutigen Grauen anderer Art zu fliehen. Heute, neunzig Jahre nach den ersten Festspielen und fünfundsechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erinnern seine Worte uns an die Ideale, die ihn zur Gründung der Festspiele anregten. Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal strebten nach nichts anderem, als Österreichs nationale und kulturelle Identität nach dem großen Krieg durch die Kunst neu zu bestimmen, den Weg von blutiger Zerstörung zu künstlerischem Schaffen zu weisen, als einem Mittel, das eigene Land und vielleicht ganz Europa zu einen. Sie glaubten inbrünstig an die umwandelnde Kraft von Kunst, vor allem von Musik und von Theater. Während der Kriegsjahre mühten sie sich unablässig, Unterstützung für ihr Projekt zu erhalten, als ob die Geburt der Festspiele unerlässlich für die Geburt von Frieden sei. Jeder, der einen Funken Anstand besitzt, wird heute sagen, dass er Frieden auf der Welt will. Doch wie kann man sagen, dass man Frieden wünscht und gleichzeitig aktiv Schritte unternehmen, die Aggression auslösen, wenn nicht gar zu einem ausgewachsenen Krieg führen müssen? Wie kann man verkünden, dass man Frieden will, ohne allen Menschen die gleichen Grundrechte einzuräumen? Wie ist es möglich zu erklären, man wünsche Frieden, und gleichzeitig zuzulassen, dass fremdenfeindliche politische Bewegungen überall in Europa immer mehr Zulauf bekommen? Der neunzigste Jahrestag von Festspielen, die als ein Gegenmittel zum Krieg ersonnen wurden, scheint mir der gegebene Anlass, um darüber nachzudenken, warum wir de facto keinen Frieden haben. Es ist der Anlass, über das Ziel dieser Festspiele nachzudenken und darüber, welcher Natur die Verbindung zwischen Kultur und den existentiellen Problemen der Welt ist. Es ist der richtige Zeitpunkt, sich des Einflusses bewusst zu werden, den ein internationales Festival von dieser Bedeu- 7 tung, von solch hohem künstlerischem Niveau und mit solch einer illustren Geschichte hat. Und vor allem ist es der richtige Zeitpunkt, einmal zu überlegen, welche Verantwortung sich aus einem solchen Einfluss ableitet. Diese Verantwortung besteht nämlich darin, eine Quelle der Stärke und der moralischen Autorität darzustellen, mit deren Hilfe man extremistische, fundamentalistische Ideologien de-radikalisieren oder ihnen entgegenwirken kann. Und sie besteht auch darin, ein Forum für Gespräche über die notwendigen Voraussetzungen für Frieden abzugeben. Wie oft hören wir von „Friedensprozessen” reden, von „Friedensgesprächen”, „Friedensverhandlungen” und Ähnlichem! Jedermann, von Präsident Ahmadinedschad bis Präsident Obama, redet heutzutage über Frieden. Doch wenn jedermann Frieden will, warum sind wir dann noch so weit davon entfernt, ihn wirklich herbeizuführen? Richard von Weizsäcker näherte sich einer Antwort auf diese Frage an, als er in einer Rede vor dem deutschen Bundestag vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sagte: „Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen.” Das ist eine Erkenntnis, die auf die unbequeme Wahrheit hinweist, dass das Wort „Friede” mehr als einen Zustand der Nicht-Aggression bedeutet. Die Wurzel des hebräischen Wortes für Friede, shalom, ist auch die Wurzel des Wortes für Perfektion, shlemut, und das Wissen um die linguistische Verwandtschaft der beiden Wörter könnte uns zu der Erkenntnis verhelfen, welches die wirklichen Voraussetzungen für Frieden – vor allem im Nahen Osten – sind. Friede verlangt Perfektion, nämlich die Perfektion von Gerechtigkeit, Strategie und Moral. Man könnte leicht annehmen, dass Gerechtigkeit, Strategie und Moral nicht miteinander kompatibel sind. Man kann versucht sein, Moral zugunsten von Strategie zu opfern, oder glauben, dass Festhalten an Gerechtigkeit nur hinderlich für strategisches Denken ist. Das muss aber nicht so sein; tatsächlich kann man sich Gerechtigkeit, 8 Moral und Strategie als drei Äste von ein und demselben Baum vorstellen. Friede kann nur erreicht werden, wenn eine für alle Beteiligten günstige Lösung gefunden werden kann, eine Lösung, die für alle gerecht, in strategischer Hinsicht für alle von Vorteil und in Bezug auf alle moralisch vertretbar ist. Zu warten stellt in keinem Fall eine Option dar, denn wenn man wartet, gestattet man es bloß ungeduldigen, militanten Elementen, die Oberhand zu gewinnen. Ich habe schon so oft über das Schicksal des israelischen und des palästinensischen Volkes gesprochen, dass ich beinahe das Gefühl habe, in einer Art von endlosem Rondo zu Problemen des Nahen Ostens Stellung zu nehmen und dabei immer wieder auf jene nach wie vor nicht begriffene Tatsache zurückzukommen, dass die Geschicke dieser beiden Völker unlösbar miteinander verwoben sind und die Möglichkeit, ihrer Region Frieden zu bringen, einzig und allein in ihren eigenen Händen liegt und nicht in denen irgendwelcher externer Mächte, wie einflussreich diese auch sein mögen. Es ist ein Konflikt, der mit keinem anderen vergleichbar ist. Er unterscheidet sich von anderen politischen Konflikten, bei denen es meistens um Grenzziehungen geht oder um unentbehrliche Rohstoffe wie Erdöl oder Wasser, und die entweder auf diplomatischem Weg oder mit militärischen Mitteln beendet werden können. Es ist ein menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die beide felsenfest von ihrem Recht überzeugt sind, ein und dasselbe winzige Stückchen Land bewohnen zu dürfen. Es ist ein regionaler Konflikt, welcher aber die Stabilität der Machtstrukturen, wie sie zurzeit weltweit bestehen, bedroht. „Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen.” Wie kann man auf den anderen, in diesem Fall das andere Land zugehen, wenn man nicht auf die Gesamtheit der dort existierenden politischen und anderweitigen Gruppierungen zugeht? Wie kann man das tun, ohne den anderen als 9 gleichgestellt anzusehen und ihn gerecht zu behandeln? Wenn Israel aufrichtig nach Frieden verlangt – nach einem echten, dauerhaften Frieden und nicht einfach nur nach einem oberflächlichen, der eine Plattform für vage Verhandlungen schafft –, dann wird es, um auf Palästina zugehen zu können, alle dort existierenden Fraktionen anerkennen müssen. Die wirklich brennende Frage ist nicht die, ob die Lösung in der Erschaffung eines Zweivölkerstaats oder in der eines legitimen und souveränen palästinensischen Staats besteht. Die wirklich aktuelle Frage ist die, ob beide Parteien willens sind, aufeinander zuzugehen. „Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen.” Sich dem anderen anzunähern ist eine langfristige Strategie, eine, die sich in der Zukunft auszahlen kann; zu warten, bis der andere zu einem kommt, ist eine kurzsichtige Taktik, eine, die seit mehr als sechzig Jahren erfolglos geblieben ist. Man hat oft gesagt, dass Gerechtigkeit Opfer verlangt, aber was für ein Opfer stellt die Aufhebung der Besetzung palästinensischen Gebiets und der Abriss jüdischer Siedlungen dar? Die Musik hat mir viele Einsichten vermittelt, die man auch auf das Leben anwenden kann. Eine davon ist die, dass das zeitweise totale Vereinnahmtwerden durch etwas, das ungeheuer schön oder absolut unentbehrlich zu sein scheint, einem im nächsten Augenblick schon übertrieben oder sogar verkehrt vorkommen kann. Es ist in der Tat möglich, unmittelbares Verlangen und eine langfristige Strategie miteinander zu vereinen. Der Musiker muss zu dem in der Lage sein, was Furtwängler „fernhören” genannt hat. Häufig ist es erforderlich, auf das, was einem in einem bestimmten Moment ganz und gar unentbehrlich zu sein scheint, zu verzichten, um die lange Linie der Musik aufrechtzuerhalten. Mit anderem Worten: Man muss ein unmittelbar empfundenes Verlangen mit Blick auf die Zukunft aufgeben, muss es opfern. Die Musik hat mich gelehrt, an meiner eigenen subjektiven Sicht der Gegenwart festzuhalten, gleichzeitig aber nicht in dieser 10 Sichtweise befangen zu sein, sondern gewissermaßen aus ihr herauszutreten und die objektiven, weitreichenden Folgen zu bedenken, die mein spontanes, einem Impuls folgendes Handeln haben könnte. Es braucht wohl nicht eigens gesagt zu werden, dass die Folgen, welche sich daraus ergeben, dass man bei einem Musikstück einen besonders schönen Augenblick zu sehr in die Länge zieht, nicht mit den Konsequenzen verglichen werden können, die entstehen, wenn man die Gelegenheit versäumt, einen Weg zum Frieden zu eröffnen. Doch was die Musik einen lehrt, kann auch auf den politischen Bereich angewandt werden: Verzicht von Israels Seite aus auf das, was im Augenblick unentbehrlich zu sein scheint, wird am Ende zu seiner eigenen Rettung beitragen. Die Alternative ist überhaupt keine; es gibt keine andere Lösung, wenn der Staat Israel eine Zukunft haben will und wenn die Palästinenser irgendwann in den Besitz ihrer Grundrechte gelangen sollen. Im Lauf seiner gesamten Geschichte ist das jüdische Volk wegen seiner hohen Moral, seines Gerechtigkeitsempfindens und seiner Intelligenz sowohl bewundert, als auch verachtet worden. Jetzt ist es an der Zeit, diese Eigenschaften wieder zu entdecken, sich um eine universelle Moral zu bemühen, eine Moral, die wir nicht nur auf uns selbst anwenden, sondern auf alle Völker, einschließlich des palästinensischen. Spinoza, Maimonides und Moses Mendelsohn interpretierten die jüdische Moral immer in einem universellen Kontext. Das sind die Denker, die jetzt unsere Vorbilder sein müssten. Frieden ist teuer. Doch keinen Frieden zu haben, kommt noch teurer und führt in vielerlei Beziehung zu großer sinnloser Vergeudung. Bis beide Parteien dies erkannt haben, werden sie den unvergleichlich höheren Preis des Kriegs zahlen – unvergleichlich höher, weil sie ihn in einer Währung, die völlig unakzeptabel ist, zahlen: in Menschenleben. 11 Ich fühle mich geehrt, auf dieser Bühne stehen und die Eröffnungsrede zu diesen großartigen Festspielen halten zu dürfen. Ich bin Jürgen Flimm dankbar dafür, dass er es im Lauf der letzten Jahre immer wieder für angebracht ansah, das West-Eastern Divan Orchestra zu Darbietungen einzuladen, womit er unser Eintreten für einen Dialog zwischen den beiden Völkern unterstützt und eine Rückverbindung zu den pazifistischen Idealen der Gründer des Festspiele herstellt. Er kam und kommt so unserem Wunsch entgegen, zu zeigen, wozu die Menschen des Nahen Ostens fähig sind, wenn sie vereint zusammenstehen. Ich bin für die mir erwiesene Ehre und die erwähnten Gesten der Unterstützung unendlich dankbar. Ich bin dankbar dafür, dass meine Worte und Ideen denselben Leuten, die auch in meine Konzerte kommen, um mich als Dirigent oder Pianist zu erleben, etwas bedeuten. Dennoch empfinde ich Schmerz. Ich fühle mich persönlich zerrissen von jenem Bruch, der zwischen Israelis und Palästinensern besteht, demselben Bruch, der auch Israel daran hindert, eine praktikable Lösung für die Zukunft zu finden. Nichts, was ich sage, kann diesen Bruch heilen, keine Sonate, Symphonie oder Oper kann die tiefe Kluft zwischen zwei Völkern, die nicht willens sind, die notwendigen Schritte zur gegenseitigen Annäherung zu machen, schließen. Jemand muss das Schweigen brechen. Ein Missklang hängt seit Jahrzehnten in der Luft, und es wird mehr als eine Stimme nötig sein, um diese Dissonanz aufzulösen. „Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen.” Wir haben schon viel zu lange gewartet. 12 BIOGRAFIE Daniel Barenboim wurde 1942 in Buenos Aires geboren. Im Alter von fünf Jahren bekam er seinen ersten Klavierunterricht, zunächst von seiner Mutter. Später studierte er bei seinem Vater, der sein einziger Klavierlehrer blieb. Sein erstes öffentliches Konzert gab er mit sieben Jahren in Buenos Aires. 1952 zog er mit seinen Eltern nach Israel. Mit elf Jahren nahm Daniel Barenboim in Salzburg an Dirigierklassen von Igor Markevich teil. Im Sommer 1954 lernte er Wilhelm Furtwängler kennen und spielte ihm vor. Furtwängler schrieb daraufhin: »Der elfjährige Daniel Barenboim ist ein Phänomen.« In den beiden folgenden Jahren studierte Daniel Barenboim Harmonielehre und Komposition bei Nadia Boulanger in Paris. Im Alter von zehn Jahren gab Daniel Barenboim sein internationales Solistendebüt als Pianist in Wien und Rom, anschließend in Paris (1955), in London (1956) und in New York (1957), wo er mit Leopold Stokowski spielte. Seitdem unternahm er regelmäßig Tourneen in Europa und den USA sowie in Südamerika, Australien und Fernost. 1954 begann Daniel Barenboim Schallplattenaufnahmen als Pianist zu machen. In den 1960er Jahren spielte er mit Otto Klemperer die Klavierkonzerte von Beethoven ein, mit Sir John Barbirolli die Klavierkonzerte von Brahms sowie alle Klavierkonzerte von Mozart mit dem English Chamber Orchestra in der Doppelfunktion als Pianist und Dirigent. Seit seinem Dirigierdebüt 1967 in London mit dem Philharmonia Orchestra ist Daniel Barenboim bei allen führenden Orchestern der Welt gefragt, in Europa gleichermaßen wie in den USA. Zwischen 1975 und 1989 war er Chefdirigent des Orchestre de Paris. 13 Häufig brachte er zeitgenössische Werke zur Aufführung, darunter Kompositionen von Lutosławski, Berio, Boulez, Henze, Dutilleux und Takemitsu.Sein Debüt als Operndirigent gab Daniel Barenboim beim Edinburgh Festival 1973, wo er Mozarts Don Giovanni leitete. 1981 dirigierte er zum ersten Mal in Bayreuth, bis 1999 war er dort jeden Sommer tätig. Während dieser 18 Jahre dirigierte er Tristan und Isolde, den Ring des Nibelungen, Parsifal und Die Meistersinger von Nürnberg. Von 1991 bis Juni 2006 wirkte Daniel Barenboim als Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. 2006 wählten ihn die Musiker des Orchesters zum Ehrendirigenten auf Lebenszeit. Seit 1992 ist Daniel Barenboim Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, von 1992 bis August 2002 war er außerdem deren Künstlerischer Leiter. Im Herbst 2000 wählte ihn die Staatskapelle Berlin zum Chefdirigenten auf Lebenszeit. Sowohl im Opern- wie auch im Konzertrepertoire haben Daniel Barenboim und die Staatskapelle große Zyklen gemeinsam erarbeitet. Weltweite Beachtung fand die zyklische Aufführung aller Opern Richard Wagners an der Staatsoper sowie die Darbietung aller Sinfonien Ludwig van Beethovens und Robert Schumanns, die auch auf CD vorliegen. Anlässlich der FESTTAGE der Staatsoper Unter den Linden 2007 wurde unter der Leitung von Daniel Barenboim und Pierre Boulez in der Berliner Philharmonie ein zehnteiliger Mahler-Zyklus präsentiert. Neben dem großen klassisch-romantischen Repertoire widmen sich Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin verstärkt der zeitgenössischen Musik. So fand die Uraufführung von Elliott Carters einziger Oper What next? an der Lindenoper statt. In den Sinfoniekonzerten erklingen regelmäßig Kompositionen von Boulez, Rihm, Mundry, Carter und Höller. Musiker der Staatskapelle sind aktive Partner in der Gründung eines Musikkindergartens, den Daniel Barenboim im September 2005 in Berlin etablierte. 14 Gemeinsam mit der Staatskapelle und dem Staatsopernchor wurde Daniel Barenboim 2003 für die Einspielung von Wagners Tannhäuser ein Grammy verliehen. Im selben Jahr wurden er und die Staatskapelle mit dem Wilhelm-Furtwängler-Preis ausgezeichnet. 1999 rief Daniel Barenboim gemeinsam mit dem palästinensischen Literaturwissenschafter Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra ins Leben, das junge Musiker aus Israel, Palästina und den arabischen Ländern jeden Sommer zusammenführt. Das Orchester möchte den Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen des Nahen Ostens durch die Erfahrungen gemeinsamen Musizierens ermöglichen. Musiker der Staatskapelle Berlin wirken seit seiner Gründung als Lehrer an diesem Projekt mit. Im Sommer 2005 gab das West-Eastern Divan Orchestra in der palästinensischen Stadt Ramallah ein Konzert von historischer Bedeutung, das vom Fernsehen übertragen und auf DVD aufgenommen wurde. Vor einiger Zeit initiierte Daniel Barenboim ein Projekt für Musikerziehung in den palästinensischen Gebieten, welches die Gründung eines Musikkindergartens sowie den Aufbau eines palästinensischen Jugendorchesters umfasst. 2002 wurden Daniel Barenboim und Edward Said im spanischen Oviedo für ihre Friedensbemühungen im Nahen Osten mit dem Preis „Príncipe de Asturias” in der Sparte Völkerverständigung geehrt. Daniel Barenboim ist Träger zahlreicher hoher Preise und Auszeichnungen: So erhielt er u. a. den „Toleranzpreis” der Evangelischen Akademie Tutzing sowie das „Große Verdienstkreuz mit Stern„ der Bundesrepublik Deutschland, die Buber-Rosenzweig-Medaille, den Preis der Wolf Foundation für die Künste in der Knesset in Jerusalem, den Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung in Frankfurt und den Hessischen Friedenspreis. Darüber hinaus wurde Daniel Barenboim mit dem „Kulturgroschen”, der höchsten Auszeichnung des Deutschen Kulturrats, mit dem Internationalen Ernst von Siemens Musikpreis sowie mit der Goethe-Medaille geehrt. Im Frühjahr 2006 hielt 15 Daniel Barenboim die renommierte Vorlesungsreihe der BBC, die Reith Lectures; im Herbst desselben Jahres gab er als Charles Eliot Norton Professor Vorlesungen an der Harvard University. 2007 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, 2007 die Insignien eines Kommandeurs der französischen Ehrenlegion. Im Oktober desselben Jahres ehrte ihn das japanische Kaiserhaus mit dem Kunst- und Kulturpreis „Praemium Imperiale”. Im September 2007 wurde er von UNGeneralsekretär Ban Ki Moon zum Friedensbotschafter der Vereinten Nationen ernannt. Im Mai 2008 erhielt er in Buenos Aires die Auszeichnung „Ciudadano Ilustre”. Im Februar 2009 wurde er für seinen Einsatz für Völkerverständigung mit der Moses Mendelssohn Medaille ausgezeichnet. 2010 erhielt er einen „Honorary Degree in Music” von der Royal Academy of Music in London sowie den Deutschen Kulturpreis der Stiftung Kulturförderung in München. Mit Beginn der Spielzeit 2007/2008 ist Daniel Barenboim als „Maestro Scaligero“ eine enge Zusammenarbeit mit dem Teatro alla Scala in Mailand eingegangen. Er dirigiert dort regelmäßig Opern und Konzerte und wirkt in Kammerkonzerten mit. Daniel Barenboim hat mehrere Bücher veröffentlicht: die Autobiografie Die Musik – Mein Leben und Parallelen und Paradoxien, das er gemeinsam mit Edward Said verfasste. Im Herbst 2007 kam sein Buch La musica sveglia il tempo in Italien heraus, das seit Mitte August 2008 auch auf Deutsch unter dem Titel Klang ist Leben – Die Macht der Musik erhältlich ist. Zusammen mit Patrice Chéreau veröffentlichte er im Dezember 2008 Dialoghi su musica e teatro. Tristano e Isotta. Weitere Informationen auf www.danielbarenboim.com 16 PROGRAMM Bundeshymne Begrüßung Dr. Helga Rabl-Stadler Präsidentin der Salzburger Festspiele Wolfgang Rihm „Brahmsliebewalzer” für Orchester Grußworte Mag. Gabi Burgstaller Landeshauptfrau von Salzburg Dr. Claudia Schmied Bundesministerin für Unterricht, Kunst und Kultur Prof. Jürgen Flimm liest Texte von Max Reinhardt Eröffnung Dr. Heinz Fischer Bundespräsident der Republik Österreich Wolfgang A. Mozart Gloria aus der Messe c-Moll KV 427 Mojca Erdmann, Sopran Stephanie Atanasov, Mezzosopran Joel Prieto, Tenor Festrede Daniel Barenboim Richard Strauss Duett „Mir ist die Ehre widerfahren” aus „Der Rosenkavalier” op. 59 Mojca Erdmann, Sopran Elisabeth Kulman, Mezzosopran Landeshymne Europahymne Mozarteumorchester Salzburg unter der Leitung von Ivor Bolton Salzburger Bachchor (Choreinstudierung: Alois Glaßner) 17 Impressum Herausgeber: Land Salzburg, Präsidialabteilung Bearbeitung und Produktionskoordination: Landespressebüro/Marketing Titelbild: Bae, Bien-U, snm1a-006hc, 2002, 135 x 260 cm, C-print mounted on Plexiglas in artist’s frame, Courtesy of AANDO FINE ART, Berlin Foto innen: photo Rudy Amisano De Lespin Gestaltung: Grafik Land Salzburg Druck: Hausdruckerei Land Salzburg Alle: Postfach 527, 5010 Salzburg Juli 2010 ● ● ● ● ● ● ● 18 Cover: © Cover: Bae, Bien-U, snm1a-006hc, 2002, 135 x 260 cm, C-print mounted on Plexiglas in artist’s frame, Courtesy of AANDO FINE ART, Berlin