MEISTER DER ILLUSION Das Jahr 2011 steht ganz im Zeichen von Franz Liszt. Am 22. Oktober wäre der Klaviervirtuose und Komponist 200 Jahre alt geworden. Ein besonderes Geschenk kommt dabei von einem Künstlerpaar, das gleich in mehrfacher Hinsicht ganz und gar außergewöhnlich ist. Da ist zum einen der Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der mit Le marteau sans maître eines der zentralen Werke des 20. Jahrhunderts schuf und preisgekrönte Aufnahmen u.a. mit Werken von Bartók, Wagner und Mahler vorgelegt hat. Mit Liszt jedoch betritt er ein für ihn neues Terrain. Zum anderen ist da aber auch der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim, der sich als begnadeter Beethoven- und Mozart-Interpret einen Namen gemacht hat, und nach einem umjubelten LisztRecital im Mai 2007 in der Mailänder Scala nun seine erste Aufnahme der beiden Klavierkonzerte von Franz Liszt präsentiert. Im Rahmen einer Fünf-Städte-Tournee ließen sich die beiden Musiker auf das besondere Wagnis ein. Ein Kraftakt sondergleichen, denn beide Werke zählen zu den Schlachtrössern der Klavierliteratur und fordern von ihrem Interpreten nicht nur höchstes technisches Vermögen, sondern auch enorme physische Kraft. Begleitet von »seinem« Orchester, der Staatskapelle Berlin, tauschte Daniel Barenboim den Taktstock mit dem Flügel, den Platz am Pult nahm der 86jährige Pierre Boulez ein. Die Verbindung dieser beiden Namen war ein Versprechen, dass im Zusammenspiel der beiden Ausnahmekünstler auf einzigartige Weise eingelöst wurde, und die Kombination aus dem avantgardistischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, der für sein analytisches Denken und sein schnörkelloses Dirigat bekannt ist, und dem expressiven, poetischen Pianisten Daniel Barenboim, die sich beide bedingungslos in den Dienst der Musik stellen, sichert der Aufnahme ihren besonderen Reiz. Die Entscheidung, beide Werke miteinander zu kombinieren, begründet Daniel Barenboim mit zwei Argumenten: »Ich wollte beide Konzerte zusammen machen, weil sie so unterschiedlich sind. Das zweite Klavierkonzert ist, obwohl es nicht so oft gespielt wird wie das erste, ebenfalls ein Meisterwerk. Der Anfang erinnert mich mit seinen Farben im Orchester sehr an Wagners Lohengrin, nicht nur weil beide in A-dur anfangen. Außerdem war Liszt, ebenso wie Wagner, ein Meister des Chromatismus – und Chromatismus bedeutet Ambiguität. Bei einem Menschen würde man Ambiguität nicht sehr schätzen, aber in der Klangwelt wirkt sie bereichernd und eröffnet eine Fülle von Möglichkeiten.« Liszts Klavierkonzerte, das erste in Es-dur mehr noch als das zweite in A-dur, bestechen mit rauschhafter Brillanz und einem hochvirtuosen Klavierpart, doch beide sind mehr als reine Virtuosenkonzerte. Sie verlangen von ihrem Interpreten den Offenbarungseid: ob ein Pianist lediglich ein brillanter Techniker oder auch ein empfindsamer Poet ist. Denn immer wieder durchbrechen schwärmerische Gedanken und lyrische Melodien das pianistische Feuerwerk. An reinem Virtuosentum ist Daniel Barenboim ohnehin nicht interessiert, der seelische Ausdruck ist ihm wichtiger als der pianistische Trapezseilakt: »Erst einmal muss man sich mit dem Begriff beschäftigen. Virtuosität heißt nicht nur Fingerfertigkeit, wie wir es heute oft verstehen. Das ist nur ein Aspekt des Begriffs. Virtuosität heißt auch, die gesamte Farbpalette, die zum Klavierspiel gehört, auszuschöpfen. Diese jedoch ist sehr eng verbunden mit der Natur des Klaviers, das primär eigentlich ein uninteressantes Instrument ist – was die Farbpalette angeht. Man kann mit einem Aschenbecher auf einer Taste einen Klang produzieren – nicht interessant, nicht schön, aber ein Klang. Die Kunst des Klavierspielens ist also eine Illusion. Die Neutralität des Klaviers ist genau das, was die Illusion von Farben erlaubt. Und das ist für mich die wahre Vir- tuosität, nicht nur die Kontrolle über Tempo und Dynamik, sondern auch die Millionen von Farben, die man auf dem Klavier als Illusion schaffen kann.« Die Tournee war ein riesiger Erfolg. Allein beim Konzert des Klavier-Festival Ruhr in der Essener Philharmonie, das für diese Live-Aufnahme mitgeschnitten wurde, zwang der tosende Applaus der Zuschauer die Interpreten wieder und wieder auf die Bühne. Und auch die Kritiker waren begeistert von dem Gespann Boulez und Barenboim, über dessen Berliner Auftritte es im Tagesspiegel hieß: »Entgegen allen Klischees entfalten sie die Eigenart der Werke und verleihen dem Abend eine außergewöhnliche Spannung. Sowohl im A-dur als auch im Es-dur-Konzert kehrte Barenboim überzeugend das Lyrische nach außen. Er verschreibt sich ganz der gesanglichen Linie und stellt im Chopin’schen Sinne alles Virtuose in den Dienst dieser Linie. Und Boulez spiegelt diesen rhapsodischen Gestus am Pult der Staatskapelle mit einem perfekt ausbalancierten Wechselspiel zwischen monumentalen und poetischen Momenten.« Das Wagnis wurde so nicht nur zu einem Triumph für den Komponisten Franz Liszt, sondern auch zum Zeugnis für die Meisterschaft von Pierre Boulez und Daniel Barenboim – nicht nur als Dirigent und Pianist, sondern vor allem als Musiker. Tristan Wagner 8/2011