Jan Turowski Sozialdemokratische Reformdiskurse Jan Turowski Sozialdemokratische Reformdiskurse Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17307-8 VORWORT Im Sommer 2003 begann meine Mitarbeit in dem DFG-finanzierten Forschungsprojekt „Theorie der Sozialen Demokratie“ an der Universität Dortmund unter der Leitung von Prof. Thomas Meyer. Die Forschungsergebnisse wurden in den Büchern „Theorie der Sozialen Demokratie“ 2005 und „Praxis der Sozialen Demokratie“ 2006 veröffentlicht. In dem Forschungsprojekt ging es zum einen darum, eine normativ fundierte Theorie der Sozialen Demokratie zu erarbeiten, und zum anderen darum, unterschiedliche politische Handlungsstrategien, die sich aus eben diesen normativen Grundlagen ableiten, empirisch zu vergleichen. Wir arbeiteten damals klar heraus, dass jenseits einiger normativer Grundbedingungen, die Ziele Sozialer Demokratie über sehr unterschiedliche wirtschaftliche und sozialpolitische Strategien realisiert werden können, und dass die Strategien immer wieder einer sich verändernden Umwelt angepasst werden müssen. Ebenso eindeutig formulierten wir, dass Reformen, die die Selbstbehauptung und Nachhaltigkeit der Wirtschaftssysteme und Sozialstaaten gewährleisten, sich aus den Normen Sozialer Demokratie selbst ergeben. In jener Zeit leitete die Schröder-Regierung mit ihrer ‚Agenda 2010’ grundlegende Wohlfahrtsstaatsreformen ein, die – trotz aller Unterschiede der sozialstaatlichen Modelle – in die gleiche Richtung wiesen wie die Wohlfahrtsstaatsreformen anderer europäischer Länder. Dennoch schien der Umbau der Sozialsysteme in Deutschland massivere Gegenreaktionen auszulösen als in den anderen Ländern. Der Schröder-Regierung gelang es kaum, die Reformkommunikation unter Kontrolle zu halten. Zudem zwangen die Reformen der Regierungspartei SPD einen Programmdiskurs auf, der die Partei in ihren Grundfesten erschütterte und von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat. In diesen Jahren setzte sich auch in der Politikwissenschaft verstärkt die Erkenntnis durch, dass – jenseits nationaler Institutionen und Akteurskonstellationen – der öffentliche Diskurs eine zentrale Ressource im Machtbildungsprozess und bei der Implementierung von Reformprogrammen darstellt. Zwischen den Grundwerten der Sozialen Demokratie und den Reformpolitiken schien also der öffentliche Reformdiskurs zu stehen, der die Spannungen zwischen beiden moderierend und erklärend auflöst, Legitimation politischen Handelns erzeugt und somit die Durchsetzung von Reformprogrammen ermöglicht. In Deutschland litt der öffentliche Reformdiskurs hingegen vor allem darunter, dass es ihm nicht gelang, die Reformen auch in die Regierungspartei SPD hinein normativ kohärent zu kommunizieren. Reformdiskurse müssen offensichtlich vor dem Hintergrund der Parteienkonkurrenz und Parteienidentität betrachtet werden. Dies war die Ausgangssituation, die mich zu einer tiefer gehenden Untersuchung motivierte: die systematische Herausarbeitung unterschiedlicher Diskurskontexte, in denen öffentliche Reformdiskurse sehr unterschiedliche normative Werte, historisch gewachsene Identitäten und ideologische Leitmotive kommunizieren müssen, um erfolgreich zu sein. 6 Vorwort Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Juni 2009 von der Fakultät (14) Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund angenommen wurde. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei meinem Dissertationsbetreuer Herrn Prof. Dr. Thomas Meyer, der mich zur Dissertation ermuntert und die Arbeit hilfreich und kritisch betreut hat. In den Jahren der produktiven und freundschaftlichen Zusammenarbeit durfte ich viel von ihm lernen. Herrn Prof. Dr. Udo Vorholt danke ich für wesentlich mehr als die Übernahme des Zweitgutachtens. Ein besonderer Dank gilt Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Kulturforum der Sozialdemokratie, Willy-Brandt-Haus, für die vielen konstruktiv-kritischen Anmerkungen in langen persönlichen Diskussionen, die kontinuierliche Einbindung in spannende Debatten sowie für die mir stets entgegengebrachte Hilfe. Manuel Falkenberg möchte ich dafür danken, dass er Teile des Manuskriptes korrekturgelesen hat, und Carolin Friese dafür, dass sie neben dem Korrekturlesen auch bei der Erstellung der Druckfassung geholfen hat. Ganz besonders möchte vor allem meiner Familie, meinen Eltern Erika und Peter Turowski und meiner Schwester Ines Turowski, danken. Dass ich die Arbeit zu einem Abschluss bringen konnte, habe ich wesentlich ihrer kontinuierlichen Unterstützung, ideellen wie materiellen Rückendeckung und umfassenden Solidarität zu verdanken. Berlin im Februar 2010 Jan Turowski Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung: Reform und Diskurs Die besondere Herausforderung sozialdemokratischer Diskurse - Dimensionen des sozialdemokratischen Reformdiskurses - Input- und Output-Bedingungen sozialdemokratischer Reformdiskurse 1.1 Fragestellung 1.2 Methode und Aufbau Die analytische Bedeutung des öffentlichen Diskurses - Qualitativ-vergleichende Methode - Die Auswahl der Vergleichsländer - Aufbau der Arbeit 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlichkonzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung Diskurs und Diskursforschung: Ein kurzer Abriss der Diskursverwendungen Der öffentliche Diskurs: Inhaltliche und methodische Abgrenzung Was ist ein öffentlicher Reformdiskurs? Der nach Hegemonie strebende Diskurs - Institutioneller Kontext und Akteurskonstellationen Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses Die ideenbasierte Dimension: kognitive und normative Funktion - Die interaktive Dimension: kommunikative und koordinierte Funktion - Einfache und komplexe Politiksysteme Der sozialdemokratische Grundwertediskurs: Ziele und Politikinstrumente in neuen Spannungsfeldern 3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz: Die Notwendigkeit der richtungspolitischen Einordnung von Reformdiskursen Ungleicher programmatischer Anpassungsdruck 3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse: Programmatische Veränderungsprozesse und inhaltliche Neujustierungen 3.2.1 Gründe und Motivationen der programmatischen Revision: Veränderte Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik Wirtschaftspolitische Handlungszwänge der Globalisierung - Sozialpolitische Handlungszwänge im Zuge der Veränderungen von Arbeits- und Lebenswelten Elektorale Handlungszwänge 3.2.2 Anthony Giddens’ Idee und Konzept des ‚Dritten Weges’ Neue Politik jenseits alter Fundamentalalternativen - Lösungsansätze 3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung Die US-amerikanischen Ursprünge - New Labour - Professionalisierung des Parteien- und Kommunikationsmanagements - Britische und amerikanische Besonderheiten 13 27 29 37 37 41 44 47 51 51 59 62 69 74 8 Inhaltsverzeichnis 3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen sozialdemokratischer Standortbestimmung Das ‚Dritte’: Bruch, Überwindung, Erneuerung und Kontinuität - Pragmatismus als Dreh- und Angelpunkt 3.5 Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischem Diskurs Demokratische Wohlfahrtsstaaten und Gerechtigkeit 4 Nationale Input- und Output-Filter öffentlicher Reformdiskurse 4.1 Input-Filter: Das politische System 4.1.1 Großbritannien 4.1.2 Deutschland 4.1.3 Schweden 4.2 Input-Filter: Die wohlfahrtsstaatliche und politisch-ökonomische Ausgangssituation Typen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und politisch-ökonomischer Organisation 4.2.1 Schweden: Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime und national koordinierte Marktwirtschaft Das schwedische Modell unter Globalisierungsdruck 4.2.2 Großbritannien: liberaler Wohlfahrtsstaat und unkoordinierte Marktwirtschaft Wohlfahrtsstaatsreformen: Politische und ideologische Richtungsänderungen 4.2.3 Deutschland: konservativer Wohlfahrtsstaat und koordinierte Marktwirtschaft Das konservativ-korporative deutsche Wohlfahrtsmodell: Arbeitslosigkeit, die Herausforderungen der neuen Frauenrolle, neue Soziale Risken 4.2.4 Unterschiedliche Wohlfahrtsregime, unterschiedliche Reformdiskurse 4.3 Output-Filter: Politische Kultur 4.3.1 Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs 4.3.2 Postmaterialismus, Individualisierung, Subjektivierung und postmoderner Wertewandel Erlebnis-, Risiko- und Kontrollgesellschaft - Die politisch-kulturelle Verortung sozialdemokratischer Reformdiskurse: normative und kommunikative Herausforderungssituation 4.3.3 Differenzen nationaler politischer Kulturen: Unterschiedliche Vorstellungen, Einstellungen und Erwartungen, unterschiedliche Diskurskontexte Gesellschaftskultur vs. Staatskultur, Wettbewerb vs. Solidarität 4.3.4 Schweden 4.3.5 Deutschland 4.3.6 Großbritannien Margaret Thatchers Kulturrevolution - New Labours kulturalisierter PostThatcherismus 4.4 Output-Filter: Mediensysteme 4.4.1 Medien und politische Öffentlichkeiten im Wandel 87 95 102 104 108 111 113 117 120 122 125 127 129 130 132 143 146 152 155 160 162 Inhaltsverzeichnis Mediokratie - Amerikanisierung, Globalisierung Modernisierung, Säkularisierung 4.4.2 Der politische Diskurs in zersplitterten Medienwelten und antihegemonialen Öffentlichkeiten Normative Voraussetzungen vs. mediale Begrenzungen des Diskurses Normative Voraussetzungen und sozialdemokratische Diskurse 4.4.3 Reformdiskurse in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen Typologisierender Mediensystemvergleich - Rahmenwerk zur Unterscheidung von Mediensystemen - Drei Modelle von Mediensystemen - Nationale Mediensysteme und ihr Verhältnis zum Idealmodell 4.4.4 Großbritannien 4.4.5 Schweden 4.4.6 Deutschland Strukturwandel des deutschen Mediensystems 4.4.7 Unterschiedliche Diskursbedingungen unterschiedlicher Mediensysteme? 4.5 Nationale Diskurskontexte 9 166 173 182 186 190 198 200 5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse: Inhaltlich-strategische, kommunikative und normative Positionierung sozialdemokratischer Diskurse Vergleich nationaler sozialdemokratischer Reformdiskurse 5.1 Großbritannien: Der idealtypische sozialdemokratische Reformdiskurs? 5.1.1 New Labours interaktiver Diskurs Kommunikativer Diskurs - Koordinierter Diskurs 5.1.2 Die ideenbegründete Diskursdimension: New Labours Diskurs der Modernisierung Modernisierung und Modernisierungszwang - Die normative Vergewisserung der Modernisierung: Der Sprung in die Zukunft über die Betonung einer Vor-Vergangenheit - Diskurskontextuelle Gründe für New Labours Erneuerungsnarrativ Das normativ-kognitive ‚Framing’ der Chancengerechtigkeit - Die wettbewerbliche Konzeption der Chancengerechtigkeit 5.1.3 New Labours öffentlicher Reformdiskurs im britischen Diskurskontext Neoliberaler Diskurs, sozialdemokratische Politik? 5.1.4 Verschiebung des nationalen Diskurskontexts. Die Labour Party Zurück zum Ausgangspunkt 5.2 Schweden: Die diskursive Neubestimmung des schwedischen Modells Der schwedische ‚Dritte Weg’: Programmatische Neubestimmung in den 1980er Jahren 5.2.1 SAPs interaktiver Diskurs Die Handlungsfreiheit des koordinierten Diskurses - Der kommunikative Reformdiskus 5.2.2 Der ideenbegründete Diskurs: Bewahrung im Angesicht der Zukunft „Derjenige, der Schulden hat, ist nicht frei“ - Der normative Diskurs: Anpassungsreformen als Bewahrung - ‚Volksheim’: Das Schwedische in den Stürmen der Globalisierung - Diskurskontextuelle Gründe für SAPs 206 210 211 218 228 230 238 242 247 Inhaltsverzeichnis 10 Bewahrungsnarrativ - ‚Zurück in die Zukunft’: Die Modernisierung des universalistischen Wohlfahrtsstaats - Universalität oder Chancengerechtigkeit? Die Risiken der Wissensökonomie 5.2.3 Die Stabilisierung des schwedischen Diskurskontexts Diskurskontext und Parteidiskurs - Opfer des eigenen Erfolgs? Die Wahlniederlage von 2006 5.3 Deutschland: Der unentschlossene, geliehene und verspätete Reformdiskurs Modernisierung: Aufbruch oder Zwang 5.3.1 Der Interaktive Diskurs Kommunikative Diskursdimension - Programmatischer Dualismus: Die halbherzige Modernisierung der SPD - Zick-Zack-Diskurs - ‚Agenda 2010’: Der nachgereichte Reformdiskurs 5.3.2 Koordinierte Diskursdimension 5.3.3 Der ideenbegründete Diskurs Der kognitive Diskurs - Der normative Diskurs - Schröder-Blair-Papier - Der normative ‚Agenda 2010’-Diskurs: ‚Mut zur Modernisierung’ und Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs - Diskurskontexuelle Diskrepanzen 5.3.4 Verschiebung des deutschen Diskurskontextes 6 Schlussbetrachtung und Ausblick 6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen? Forschungsperspektive - Populismusherausforderung 6.2 Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie Das Verschwinden des sozialdemokratischen Narrativs - Sozialdemokratische Modernisierung, modernisierte Sozialdemokratie 7 Literatur 256 261 266 281 284 299 308 310 319 327 Tabellen und Abbildungen 11 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Diskursdimensionen Verschiebungen der Werteparadigmen im „Dritten Weg“-Diskurs Politisch-institutionelle Struktur und Diskurs Problemlösungsverantwortung und Interaktionsformen politischer Kulturen Tabelle 5: Medieninfrastruktur Tabelle 6: Modelle nationaler Diskurskontexte Tabelle 7: „Linke“ Einstellungen in Großbritannien 1990-2005 47 100 108 146 200 204 232 Abbildungen Abbildung.1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Nationale Input- und Output-Filter sozialdemokratischer Reformdiskurse Verhältnis der nationalen Mediensysteme zu Idealmodellen Diskurskontextverschiebung Diskurskontextverschiebung Großbritannien Diskurskontextverschiebung Schweden Diskurskontextverschiebung Deutschland 26 181 208 234 260 304 12 Abkürzungen Abkürzungsverzeichnis ALG II AQTIV ARD ATP attac BBC BR CDU CSU DLC FDP DGB DNVP DVU EWS EU GmbH IBA IT ITV LO NPD NRW PDS PES PPI PPP PR PSOE SACO SAP SPD SR SVT TCO Ufa USA VW WASG WDR ZDF Arbeitslosengeld II Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands allmän tilläggspension association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens British Broadcasting Corporation Bayerischer Rundfunk Christlich Demokratische Union Christlich Soziale Union Democratic Leadership Council Freie Demokratische Partei Deutscher Gewerkschaftsbund Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volksunion Europäische Währungssystem Europäische Union Gesellschaft mit beschränkter Haftung Independent Broadcasting Authority Information Technology Independent Television Landsorganisationen Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen Partei des Demokratischen Sozialismus Party of European Socialists Progressive Policy Institute Public-Private-Partnership Public Relation Partido Socialista Obrero Español Sveriges Akademikers Centralorganisation Socialdemokratiska arbetareparti Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sverige Radio Sveriges Television Tjänstemäns Central Organisationen Universum-Film AG United States of America Volkswagen Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit Westdeutscher Rundfunk Zweites Deutsches Fernsehen 1 Einleitung: Reform und Diskurs Die sozioökonomischen und soziokulturellen Grundlagen und Rahmenbedingungen westlicher Wohlfahrtsstaaten haben sich in den letzten 20 Jahren derart radikal verändert, dass die meisten ihrer sozialstaatlichen Arrangements, auf denen sie seit den 1950er Jahren maßgeblich basierten und die ihre bisherige demokratische Leistungsfähigkeit wie ihren ökonomischen Erfolg garantierten, einem massivem, bis heute nicht abgeschlossenen Reformdruck ausgesetzt sind. Die neuartigen Herausforderungen, mit denen sich entwickelte Wohlfahrtssysteme konfrontiert sehen, sind sowohl interner wie auch externer Natur1: Die externen Herausforderungen entstehen aus der Globalisierung2 in Form eines rapiden Wachstums transnationaler Finanzströme, einer zunehmenden Integration der Güter- und Dienstleistungsmärkte und der damit einhergehenden Verschärfung der Standortkonkurrenz, so dass herkömmliche Steuerungskapazitäten der Nationalstaaten zunehmend untergraben werden. Der Nationalstaat wird somit immer weniger als ‚umfassender Schicksalsraum’ oder als ‚gesellschaftlicher Horizont’ erfahren3. Die internen Herausforderungen ergeben sich aus dem demographischen Wandel aufgrund wachsender Lebenserwartung und geringer Geburtenzahlen, der zunehmenden Pluralisierung der Lebensweisen und Wertevorstellungen4, einer neuen Frauenrolle und einer erhöhten Frauenerwerbstätigkeit5 und schließlich den tief greifenden Veränderungen der Arbeitswelt und der wachsenden Beschäftigungsprobleme gering Qualifizierter im Zuge der Transformation von einer fordistischen, industriellen Massenproduktion hin zur einer wissensbasierten Dienstleistungsökonomie6. Diese vielfach in einem engen, sich wechselseitig bedingenden Beziehungszusammenhang stehenden Herausforderungen erzeugen zwar in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedliche Problemlagen, die unterschiedliche Lösungen verlangen7, gleichwohl verändern sie für alle westlichen Wohlfahrtsstaaten spätestens seit den 1980er Jahren die 1 F.X. Kaufmann 1997 Mit dem Begriff ‚Globalisierung’ wird im Folgenden ein Prozess „der zunehmenden Ausdehnung und Intensität ökonomischer Austauschbeziehungen“ verstanden (Vgl. T. Bernauer 2000: 28), durch den sich der institutionelle und organisatorische Rahmen nationaler Policies grundlegend verändert (D. Held/ A. McGrew 1993: 275), so dass sich dadurch die faktische Handlungsfähigkeit der Regierungen massiv verringert, ohne dass dabei ihre formelle Souveränität eingeschränkt ist. Zum Forschungsstand und einer Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Globalisierungsdimensionen vgl. u. a. D. Held 1995; U. Beck 1998; E. Altvater/ B. Mahnkopf 2002; P. Genschel 2003. Für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vollzieht sich zudem ein nationalstaatlicher Autonomie- teilweise auch Souveränitätsverlust durch die europäische Integration. Die damit verbundenen grundsätzlichen Einschränkungen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Handlungsspielräume nationaler Regierungen werden der Einfachheit halber im Folgenden in dem Oberbegriff ‚Globalisierung’ gebündelt; von ‚Europäisierung’ hingegen wird nur dann gesprochen, wenn spezifisch Maßnahmen, Gesetze und Beschränkungen explizit auf Beschlüsse und Verträge der Europäischen Union gründen. 3 F.X Kaufmann 1997: 11 4 U. Beck 1994; R. Ingelhart 1997 5 G. Esping-Andersen 2003; K.L Brewster/ R.R. Rindfuss 2000 6 R. Rowthorn/ R. Ramaswamy 1997 7 F.W. Scharpf 2000b; A. Hemerijck/ M. Schludi 2000. Vgl. Kapitel 3 2 14 1 Einleitung: Reform und Diskurs sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen erheblich und machen somit – trotz unterschiedlich geartetem Anpassungsdruck – überall tiefgreifende Anpassungsreaktionen notwendig. Dies vor allem, weil die meisten wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die vielfach noch soziopolitische und ökonomische Makrokonstellationen ebenso wie Beschäftigungs-, Familien- und Risikostrukturen ihrer Gründungs- und frühen Expansionsphase widerspiegeln, weder konzeptionell noch strukturell auf die Veränderung der Rahmenbedingungen eingestellt sind. Regierungen müssen auf diese Entwicklungen mit teilweise enormen Umbaumaßnahmen der wohlfahrtsstaatlichen Leistungs- und Finanzierungsstrukturen reagieren und in allen Ländern stehen diese ‚intensiven Renovierungen’8 der Wohlfahrtssysteme im Zentrum der politischen Auseinandersetzung und des gesellschaftlichen Konflikts, in dem sich – im Extremfall – bereits die Wahrnehmung von Handlungszwängen sowie die Einsicht zu Anpassungsreaktionen einem Beharrungspopulismus und radikalisierter Wirklichkeitsverleugnung gegenüberstehen. Die verschiedenen nationalen Anpassungsstrategien und Neujustierungen der wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen, Praktiken und Programme, aber auch die jeweiligen institutionellen Ressourcen und Restriktionen sowie Akteurskonstellationen in den jeweiligen Reformprozessen sind in den letzten Jahren in der politikwissenschaftlichen Forschung ausgiebig und in vergleichender Perspektive untersucht worden9. Dabei konzentrierten sich die Untersuchungen der Reformen vor allem auf die Policy-Ebene: je nach analytischem Schwerpunkt entweder auf eine entsprechende Übersetzung der Herausforderungen in Policies, auf Inhalt und Leistungsfähigkeit der jeweiligen Policy-Programme oder auf die unterschiedlichen Rollen von Policy-Akteuren und in welchem Ausmaß ihre verschiedenen Interessen die Policy-Ergebnisse beeinflussten. Der politische Prozess der Willensbildung und Aushandlung, der zu unterschiedlichen Anpassungsreaktionen führte, ist bislang weitgehend vernachlässigt worden. Doch zwischen der Identifizierung sozialpolitischer Kernprobleme und Anpassungsnotwendigkeiten auf der einen Seite und der effektiven Umsetzung von Policy-Lösungen auf der anderen befindet sich ein politisch-institutioneller Zwischenraum, in dem politische Ideen und Handlungen auf einer komplexen kognitiven und normativen Weise interagieren. In diesem Zwischenraum werden Handlungszwänge und Policy-Ideen durch argumentative Verweise, durch Einbettung in kognitive Kontexte und durch Verbindungen zu allgemein akzeptierten Werten in einer spezifischen Weise gerahmt, die es Personen ermöglicht, Handlungen und Dinge identifizieren und komplexe Sachverhalte mitunter auf einen Begriff bringen zu können10. Diese Rahmung von Ideen und Themen vollzieht und artikuliert sich in Demokratien immer in einem öffentlichen Diskurs, der wiederum die Legitimation und letztlich die Durchsetzung von Reformprogrammen beeinflusst11. Vivien A. Schmidt hat zu Recht bemerkt, dass in den verschiedenen Forschungen zu Reformfähigkeit und -dynamik in unterschiedlichen Ländern diese prozessuale Dimension der kognitiven und normativen Ideenvermittlung und darin vor allem die Rolle des öffentlichen Diskurses auffallend wenig berücksichtigt wurde. Ohne eine genaue Analyse der politics-Dimension im Allgemeinen und des Reformdiskurses im Besonderen, also die öffentli8 G. Bonoli/ B. Palier 2000 Vgl. zum Beispiel C. Crouch 1999; G Esping-Andersen 1999; M. Ferrera/ M. Rhodes 2000; E. Huber/ J.D. Stephans 2001; F.W. Scharpf/ V.A. Schmidt 2000; Leibfried 2001; F.W. Scharpf 2003 10 E. Goffman 1977 11 D. Beetham 1991 9 1 Einleitung: Reform und Diskurs 15 che Kommunikation der Notwendigkeit einer Reform und ihre Einbindung in die zentralen politischen Werte der Gesellschaft, ist jedoch nicht zu verstehen, wie die jeweiligen Regierungen in einem kommunikativen Prozess Zustimmung für ihre Anpassungspolitik gewinnen, wie sie institutionelle Hürden überwinden und organisierte Interessen einbinden konnten oder darin scheiterten. Der öffentliche Diskurs ist zudem nicht nur wichtig, um politische Unterstützung für eine bestimmte Politik zu erlangen, sondern vor allem auch, um öffentliche Unterstützung für eine Reformpolitik zu erhalten12. Öffentliche Diskurse spielen eine zentrale Rolle im Machbildungs- und Durchsetzungsprozess politischer Agenden. Inhalt und Form des öffentlichen Diskurses, den Regierungen führen, um der Öffentlichkeit die Notwendigkeit politischer Maßnahmen zu erklären und eine Zustimmung für Reformprojekte insgesamt zu gewinnen, unterscheiden sich entsprechend der unterschiedlichen institutionellen Strukturen des politischen Systems und der jeweiligen Akteurskonstellationen in den politischen Arenen von Land zu Land. Das Diskursfeld, auf dem öffentliche Akteure entweder vorwiegend miteinander oder eher direkt mit der Öffentlichkeit sprechen, um Policy-Ideen zu generieren und zu legitimieren, ist also entscheidend durch nationale institutionelle Hintergrundfaktoren, wie beispielsweise Gesetzgebungsverfahren, die Anzahl der Veto-Spieler13 oder traditionelle Lösungspräferenzen determiniert. Doch auch wenn die kommunikative Ausgestaltung nationaler Reformdiskurse durch eine Vielzahl institutioneller Grenzen und Vorgaben in einer spezifischen Weise vorgeprägt ist, können Regierungen das jeweilige Diskursfeld entweder in ihrem Sinne optimal ausschöpfen oder gerade daran scheitern, einen ihrem nationalen Diskurskontext entsprechenden Diskurs erfolgreich zu führen14. Ein analytisch vergleichender Ansatz, der sich auf Form und Inhalt der Reformdiskurse von Regierungen in einem gegebenen nationalspezifischen Diskurskontext konzentriert, setzt allerdings voraus, dass die Stoßrichtung der Wohlfahrtsstaatsreformen und folglich der sie legitimierenden Diskurse in allen Ländern ähnlich ist. Eine solche Sichtweise ist bis zu einem gewissen Grad dann plausibel, wenn man unter Wohlfahrtsstaatsreformen ausschließlich die grundlegende Veränderung lange gültiger und eingespielter politischer Verfahren und sozialpolitischer Verteilungsmechanismen oder gar die Abkehr von bestehenden Politikinstrumenten oder -zielen versteht, die zwangsläufig den Widerstand ‚verschanzter’ Interessen oder gar der Mehrheit der Bevölkerung hervorrufen. Wenn man Reformen allein auf ähnlich ausgerichtete Policy-Veränderungen reduziert, dann können unterschiedliche Reformdiskurse in ihren jeweiligen institutionellen Diskurskontexten tatsächlich dahin gehend vergleichend untersucht werden, inwieweit sie durch überzeugende und kohärente Argumentation institutionelle Blockaden aufzulösen und kollektive Interessen einzubinden imstande sind und somit eine breite Zustimmung für Reformprojekte herstellen können. Ein solcher Ansatz ist aber unterkomplex, weil er die von Regierungen geführten Reformdiskurse auf diese Weise von dem Parteienwettbewerb entkoppelt. Regierungen werden in repräsentativen Demokratien jedoch von Parteien gestellt und von der parlamentarischen Mehrheitsfraktion getragen und die Forschung hat mit empirischer Evidenz gezeigt, dass es deutliche Unterschiede nicht nur in den Wahlaussagen konkurrierender Parteien 12 V.A. Schmidt 2002 Vgl. G. Tsebelis 1995, 2002. Siehe auch Tab. 7: ‚Institutionelle Barrieren der zentralstaatlichen Exekutive in 36 Demokratien am Ende des 20. Jahrhunderts’, M. G. Schmidt 2000: 352 14 V.A. Schmidt 2000a, 2002. Vgl. Kap.2: ‚Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlichkonzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung’ 13 16 1 Einleitung: Reform und Diskurs gibt, sondern auch, dass diese programmatischen Unterschiede in aller Regel in Policies umgesetzt werden15. Parteien sind von Grundwerten und -überzeugungen sowie von soziostrukturellen ‚Cleavages’ geprägt, sie sind ‚historische Wesen’16, deren politische Orientierungen und Handlungsprogramme maßgeblich durch ihre Tradition und Vergangenheit bestimmt sind. Mit welchem Reformprogramm die jeweiligen Regierungen auf die neuen Herausforderungen des Wohlfahrtsstaats reagieren, ist also auch abhängig davon, welche Partei die Regierung stellt. Doch selbst wenn man von der These ausgehen würde, dass durch äußere und innere Anpassungszwänge der sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Gestaltungskorridor für Regierungen jedweder Couleur so eng geworden ist, dass die Policies linker und rechter Regierungen letztlich konvergieren, müsste man dennoch davon ausgehen, dass der politikwissenschaftliche ‚Parties do matter’-Ansatz zumindest auf der Ebene der Regierungsdiskurse weiterhin deutlich zum Ausdruck kommt, da die jeweiligen Diskurse auf unterschiedliche Parteimitglieder und Stammwähler zielen, durch eine gewisse ‚parteiprogrammatische Pfadabhängigkeit’ normativ begrenzt sind und ein unterschiedliches elektorales Risiko bergen. Das hieße, dass Regierungen ihrer programmatischen Ausrichtung und Grundwerteorientiertung entsprechend gleiche Reformprogramme mittels eines sehr unterschiedlichen öffentlichen Diskurses legitimieren müssten. Die besondere Herausforderung sozialdemokratischer Diskurse Öffentliche Reformdiskurse unterscheiden sich folglich nicht nur durch einen länderspezifisch institutionellen Diskurskontext, sondern entscheidend auch dadurch, ob eine sozialdemokratisch oder bürgerlich geführte Regierung Policy-Veränderungen kommunizieren und diskursiv legitimieren muss. In der parteipolitisch differenzierten Betrachtung öffentlicher Reformdiskurse und ihrer unterschiedlichen Wirkungsweisen erweisen sich speziell sozialdemokratische Parteiund Regierungsdiskurse im Hinblick auf die hier vorgenommene politikwissenschaftliche Fragestellung in dreifacher Weise als besonders ergiebig und aufschlussreich17: Erstens stellen die Wohlfahrtsstaaten als Verwirklichung wichtiger sozialdemokratischer Ziele selbst den normativen Kern sozialdemokratischer Programmatik und Ausdruck politischen Selbstbewusstseins und historischen Erfolgs dar. Deshalb gestalten sich Anpassungsreaktionen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik für Sozialdemokraten problematischer und vor allem ihre diskursive Legitimation schwieriger als für bürgerliche Parteien, da durch Reformen (z. B. steuerliche Entlastung von Unternehmen und hohen Einkommen, Umbau des Wohlfahrtsstaats, Deregulierung) vielfach genau die ehemals hart erkämpften wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften des ‚goldenen Zeitalters’ betroffen sind, die traditionell sozialdemokratische Wertevorstellungen und Identitäten berühren. Sozialdemokratische Parteien müssen auf die Herausforderungssituation mit stärkeren programmatischen Veränderungen reagieren und vor allem die Revision ihrer Politikziele 15 I. Budge/ H. Keman 1990 H.D. Klingemann/ R. Hofferbert / I. Budge 1994: 24 17 Aus denselben Gründen galt der Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratischen Parteienfamilie in der Politikwissenschaft stets größte Aufmerksamkeit. Herbert Kitschelt verweist auf die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten weit mehr politik- und sozialwissenschaftliche Studien zur Sozialdemokratie publiziert wurden als zu anderen politischen Parteien. H. Kitschelt 1994: 1 16 1 Einleitung: Reform und Diskurs 17 und -instrumente mit einem grundsätzlich anderen Diskurs legitimieren als ihre bürgerliche Konkurrenz. Zweitens ist die Sozialdemokratie in ihrer langen Geschichte – von der revolutionären Arbeiterbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur modernen Volkspartei in einem liberaldemokratischen System in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – enormen Veränderungen unterworfen gewesen, die einerseits Selbstbewusstsein, Tradition und Stolz, andererseits politische, kulturelle und symbolische Spannungen und Widersprüche innerhalb sozialdemokratischer Parteien bis heute prägen. Gegen Ende der 1980er Jahre führte das Ende des Industrialismus und der damit verbundenen Veränderungen der Arbeitswelt erneut zu massiven politischen wie elektoralen Anpassungszwängen sozialdemokratischer Parteien. Drittens ist in der Sozialdemokratie das Spannungsverhältnis zwischen politischem Gestaltungsanspruch und realistischen Gestaltungsmöglichkeiten traditionell ausgeprägter als bei bürgerlichen Parteien. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen ist die Untersuchung der Leistungsfähigkeit der politischen Machtressource ‚Diskurs’ bei sozialdemokratischen Parteien und sozialdemokratisch geführten Regierungen theoretisch besonders interessant, da diese gleich mehrere Spannungsverhältnisse und Hürden normativ wie kommunikativ überwinden muss. Gelingt es hingegen dem öffentlichen Diskurs, diese Spannungen und scheinbar unüberwindbare Interessenswidersprüche produktiv zu kommunizieren, wird deutlich, welche machtvolle Ressource der Diskurs im Reformprozess insbesondere für sozialdemokratische Regierungen sein kann. Aber nicht nur die parteipolitische Herkunft der handelnden Akteure prägt Form und Inhalt der von ihnen kommunizierten Reformdiskurse, sondern notwendigerweise auch die unterschiedliche Ausrichtung der Reformprogramme. So lassen sich auch innerhalb der europäischen Sozialdemokratie höchst unterschiedliche Reformprofile und -strategien identifizieren, die sich aufgrund unterschiedlicher nationaler Problemlagen, kultureller Traditionen und variierender institutioneller Handlungskontexte ausgebildet haben und jeweils unterschiedlich diskursiv legitimiert werden müssen. Selbst wenn man annehmen würde, dass sozialdemokratische Parteien ihre Reformpolitik nicht nur vor dem Hintergrund gleicher Grundwerte, sondern auch gleicher Zielpräferenzen ähnlich kommunizieren müssten (was aufgrund sehr unterschiedlicher Parteiengeschichten und -kulturen ohnehin kaum möglich ist), so verlangt doch beispielsweise die marktorientierte Reformstrategie von New Labour einen inhaltlich-normativ anders ausgerichteten Reformdiskurs als die reformiertwohlfahrtsstaatliche der schwedischen Sozialdemokraten18. Bezieht man also die Parteiendifferenzthese in die analytische Betrachtung öffentlicher Reformdiskurse mit ein, dann wird deutlich, dass Reformdiskurse von Regierungen immer auch an vorgelagerte Diskurse politischer Leitideen und Grundwerte anknüpfen. Dennoch sind trotz vielfältiger Überschneidungen und Verschränkungen die jeweiligen Reformdiskurse einer Regierung und einer sie tragen Regierungspartei notwendig zu unterscheiden und differenziert zu analysieren, da Regierungen wegen einer Vielzahl formeller und informeller Vetospieler oder makroökonomischer Handlungszwänge nicht nur auf der 18 W. Merkel 2000b. In seiner Untersuchung unterschiedlicher Reformstrategien der Sozialdemokratie unterscheidet Merkel neben diesen beiden Reformwegen zudem noch den konsensorientierten Weg der Partij van de Arbeid (PvdA) im „holländischen Polder-Modell“ und den etatistischen Weg der französischen Parti Socialiste (PS). 18 1 Einleitung: Reform und Diskurs Policy-Ebene vielfach zu Kompromissen gezwungen sind, sondern gerade auch auf der Ebene der politischen Meinungsbildung und der gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Politikvermittlung auf vielfältige Einflussfaktoren, wie konkurrierende Sprecher und Diskurse, nationale Wertvorstellungen oder institutionelle und mediale Diskursfilter Rücksicht nehmen müssen. Parteiendiskurse hingegen zielen, egal ob nach innen, auf die Mitglieder hin gerichtet oder nach außen, auf die Wähler, funktional eher auf politische Abgrenzung und auf Wahrung einer eigenen programmatischen Identität und sind somit eher puristisch und grundsätzlich als pragmatisch. Das bedeutet, dass Regierungen in ihren Bemühungen, eine praktische Reformpolitik zu legitimieren, zwar häufig Diskurse der sie tragenden Parteien und die darin entfalteten Werte und Normen als argumentative Ressource nutzen können, dieselben Parteiendiskurse aber gleichzeitig, wegen ihrer meist identitären Ausrichtung und ihrer eher statischen Prinzipien, in Widerspruch zu gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Regierungsdiskursen geraten können. Ein solch dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Partei- und Regierungsdiskursen steht gewissermaßen für den Konflikt zwischen der Übersetzung von Ideen in umsetzungsfähige Politik einerseits und der in der Geschichte sozialdemokratischer Parteien immerwährenden Anschuldigungen des Verrats an eben diesen Ideen andererseits19. Politikwissenschaftlich besonders interessant sind die sozialdemokratischen Reformdiskurse der letzten 10 Jahre auch, wenn man sie gewissermaßen von ihrem ‚Ende’ aus betrachtet. Befanden sich die Sozialdemokraten in vielen europäischen Ländern ab Mitte der 1990er Jahre im Aufschwung und strahlten Modernität wie Selbstbewusstsein aus, so erlebt die Sozialdemokratie heute in ganz Europa einen dramatischen Niedergang. Bei der Europawahl im Juni 2009 konnte die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament nur noch 22,1% der Sitze gewinnen. Der Absturz wird umso deutlicher, wenn man die Wahlergebnisse einiger Mitgliedsländer gesondert betrachtet. In Frankreich beispielsweise kam die PS nur noch auf knapp 17%, in den Niederlanden die PvdA auf 12%, die österreichische SPÖ und die deutsche SPD fuhren mit knapp 24 bzw. 20% ihr jeweils schlechtestes Ergebnis bei einer landesweiten Wahl seit 1945 ein und die britische Labour-Party kam nur noch auf knapp 16% und landete gar hinter den Konservativen und der europafeindlichen Unabhängigkeitspartei UKIP auf dem dritten Platz. Dass diese ehemals großen Parteien so viele Wähler verloren haben, lässt sich allein mit ihren Reformpolitiken, die in den jeweiligen Ländern ohnehin recht unterschiedliche Ausprägungen hatten, nur unzureichend erklären; die Parteien sind wohl auch daran gescheitert, ihre Politik durch einen klaren und überzeugenden Diskurs abzusichern. Nach einem Jahrzehnt sozialdemokratischer Reformpolitik scheinen die Parteien sich selbst deartikuliert zu haben. Die Sozialdemokratie befindet sich in einer Überzeugungskrise, weil ihrem Politikdiskurs der identitärer Kern verloren gegangen ist. Dieses gegenwärtige Diskursvakuum lässt sich nur mit einem analytischen Blick zurück auf die sozialdemokratischen Reformdiskurse der letzten anderthalb Jahrzehnte ergründen. 19 Vgl. A. Gamble/ T. Wright 1999 1 Einleitung: Reform und Diskurs 19 Dimensionen des sozialdemokratischen Reformdiskurses Vor dem Hintergrund dieses komplexen Spannungsverhältnisses zwischen politischen Grundwerten und ihrer zeitgemäßen Interpretation, traditionellen Zielen und wohlfahrtsstaatlichen Reformzwängen, normativen Ideen und kognitiven Argumenten sowie Regierungs- und Parteidiskursen untersucht die vorliegende Arbeit sozialdemokratische Reformdiskurse. Welche Möglichkeiten haben sozialdemokratisch geführte Regierungen, ihre Reformprogramme im jeweiligen nationalen Diskurskontext überzeugend kommunizieren und legitimieren zu können? Wie verknüpfen sie eine gezielte und strategisch koordinierte Präsentation ihrer Reformprogramme mit einem sozialdemokratischen Wertesystem und wie prägen traditionelle Grundwerte und Identitäten wiederum Inhalt und Form des Reformdiskurses sozialdemokratischer Regierungen? Doch auch die sozialdemokratischen Grundwerte selbst sind nie statisch, sondern immer Teil der politischen Auseinandersetzung: In veränderten Umwelten müssen sie mit neuen erstrebenswerten Zielen ausgefüllt werden, ebenso wie die Instrumente zur Erlangung dieser Ziele im Einklang mit den Grundwerten immer neu justiert werden müssen. Die Neubestimmung sozialdemokratischer Grundwerte ist demzufolge ein logischer Bestandteil jedes sozialdemokratischen Reformdiskurses; dabei ist an dieser Stelle erst einmal unerheblich, ob sie durch einen machterstrebenden Modernisierungsdiskurs von Parteistrategen oder einen machterhaltenden Regierungsdiskurs aufgrund von Handlungszwängen ausgelöst wurde, also zeitlich nachfolgte, oder ob die Revision der Grundwerte diesen Diskursen vorausging und sie somit erst ermöglichte. Wie sehr sich diese unterschiedlichen Dimensionen eines sozialdemokratischen Reformdiskurses strategisch überlagern und inhaltlich bedingen, wurde in der heftigen und kontroversen Modernisierungsdebatte über die zeitgemäße Füllung grundwerteorientierter Leitziele und politischer Instrumente deutlich, die alle europäischen sozialdemokratischen Parteien20 in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erfasste. Anlass und Ausgangspunkt dieser sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformdiskurse war die allgemeine Erkenntnis, dass einerseits unter dem Druck der Zwänge der Globalisierung und Wissensökonomie die klassischen sozialdemokratischen Instrumente der Finanz-, Sozial- und Beschäftigungspolitik ganz oder teilweise ihre Wirkung verloren hatten, so wie sich andererseits durch die Veränderung gesellschaftlicher Lebensweisen die Wertehorizonte und politischen Erwartungsrahmen fundamental verändert hatten. Hinzu kam, dass aufgrund dieser Entwicklungen die Sozialdemokratie in einem elektoralen Dilemma – dem Wegbrechen klassischer Wählergruppen oder Zielkonflikten zwischen neuen, postmaterialistischen Themen und alten, traditionellen Verteilungsfragen – gefangen zu sein schien, durch das sich ihre Position an den Wahlurnen und im Parteienwettbewerb systematisch verschlechtern würde21. Die Vielzahl sozialdemokratischer Modernisierungsdiskurse summierten und verdichteten sich in den späten 1990er Jahre in der Debatte um einen ‚Dritten Weg’. Obwohl der Impuls zu dieser Debatte ursprünglich von der britischen Labour Party im Zuge ihrer Par20 Unter der Bezeichnung „sozialdemokratische Parteien“ werden hier und im Folgenden alle Parteien zusammengefasst, die aus der freiheitlichen demokratischen Arbeiterbewegung zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind und die sich, sozialdemokratische, sozialistische, Arbeits- oder Arbeiterpartei genannt, auf die gleichen Grundwerte gestützt haben. 21 H. Kitschelt 1994; W. Merkel 1993 20 1 Einleitung: Reform und Diskurs tei- und Politik-Modernisierung und dem daraus abgeleiteten Versuch ausging, New Labour in eine kohärente politische Philosophie oder gar eigenständige Ideologie einzubetten22, wurde der ‚Dritte Weg’ schnell zu einem internationalen und öffentlich wirksamen Schlagwort, um das sich vielschichtige Debatten der theoretischen und programmatischen Erneuerungen und Transformationen der europäischen Sozialdemokratie gruppierten und sich dabei vielfach vom ursprünglich britischen Kontext entgrenzten23. Der ‚Dritte Weg’ war der Versuch der Sozialdemokratie, neue politische Positionen voranzutreiben, die zu den Rahmenbedingungen einer modernen Gesellschaft und zu einer globalen Ökonomie passen, ohne dabei die Kernprinzipen ihrer politischen Identität, nämlich der Solidarität, Freiheit und sozialen Gerechtigkeit preiszugeben. Zur Erlangung dieses Zieles müsste, so die Forderung der ‚Dritte Weg’-Akteure, eine den veränderten Umständen angepasste sozialdemokratische Reformpolitik einen neuen, einen dritten Weg beschreiten und sich dabei in doppelter Weise abgrenzen: zum einen von einer alten Sozialdemokratie des keynesianistischen ‚goldenen Zeitalters’ und ihrem Vertrauen in die omnipotente Rolle des Staates und umfassender wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung, zum anderen von der neoliberalen Ideologie des Marktfundamentalismus mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Staates als Marktregulierer und als sozialpolitischer Kompensierer von marktbedingten Ungleichheiten24. Stattdessen wurde im ‚Dritten Weg’ eine Neuordnung der fixierten Alternativen Markt und Staat betont. Zivilgesellschaft, Regierung und Wirtschaft wurden als von einander abhängige und gleichberechtigte Partner bei der Bereitstellung von Wohlfahrtsleistungen definiert und die Rolle des Staates sollte sein, ein Gleichgewicht zwischen diesen Säulen herzustellen und die Leistungsgewährung zu garantieren. Entgegen den traditionellen Vorstellungen von Einkommensgleichheit wurde in diesem Diskurs bei der Bestimmung und Ausgestaltung der beiden sozialdemokratischen Grundwerte ‚Gerechtigkeit’ und ‚Gleichheit’ der gestaltungspolitische Fokus in Richtung gesellschaftliche Inklusion verschoben und die Chancengleichheit betont. Diese sollte über den ‚aktivierenden Staat’25 bzw. den ‚Sozialinvestitionsstaat’26 hergestellt werden, der dem Individuum mehr Freiraum zur unabhängigen und aktiven Selbstbestimmung überlässt, aber auch mehr Verantwortung zur Selbsthilfe überträgt27. Auch wenn der Begriff ‚Dritter Weg’ in den politischen Auseinandersetzung der 1990er Jahre häufig sehr allgemein und vielfach sogar assoziativ verwendet wurde und eine Vielzahl höchst unterschiedlicher politischer Phänomene zu bezeichnen schien (von der Blair-Revolution und New Labour über das Schröder-Blair-Papier und verschiedene nationale sozialdemokratische Reformpolitiken bis hin zu Parteimodernisierungen und modernen Wahlkampf- und Kommunikationstechniken), fungierte er als kommunikativer wie 22 Die Labour Party bezog sich ihrerseits stark auf amerikanische Quellen der New Democrats und der Regierung Clinton. Vgl. hierzu Kap. 3.3: ‚Der Dritte Weg: Partei- und Kommunikationsmodernisierung’ 23 In Großbritannien wurde mit dem Schlagwort „Dritter Weg“ nach 1997 öffentlich weniger ein politisches Konzept der Linken verbunden, sondern eher eine gleichzeitige Anpassung an sowohl rechte als auch linke Themen. Während in Europa der „Dritte Weg“ – im Sinne Tony Blairs und Anthony Giddens’ – immer als Begriff einer modernen Sozialdemokratie und nicht eines politischen Zentrismus verstanden wurde, war die Begriffsrezeption in Großbritannien in dieser Hinsicht weniger eindeutig und eher konfus. Vgl. P. Mandelson 2002: XXVIII 24 A. Giddens 1999: 18 25 B. Hombach 1998 26 T. Blair 1998a; A. Giddens 1999; Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD 1999; G. Schröder/ T. Blair 1999 27 Vgl. Kap. 3.2.2: ‚Anthony Giddens’ Idee und Konzept des „Dritten Weges’ und Kap. 3.5 ‚Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischem Diskurs’ 1 Einleitung: Reform und Diskurs 21 auch ideeller Bezugspunkt, nach dem sich alle nach innen und außen gerichteten Reformdiskurse im Spannungsfeld der ‚neuen Sozialdemokratie’28 ausrichteten. Dabei fand die Debatte gleichermaßen auf drei Ebenen statt: erstens auf der politsch-theoretischen Ebene der politischen Prinzipien und langfristigen Ziele, zweitens auf der Ebene politischer Projekte, also Ziel und Richtung von Policy-Veränderungen und drittens auf der Ebene praktischer Politik-Umsetzung29. Als Diskurs erzeugte der ‚Dritte Weg’ zudem dadurch einen nachhaltigen politischen Reflexionsraum, dass er gleichermaßen in drei Arenen, der politischen, der wissenschaftlichen und der journalistischen, verhandelt wurde. Um einen Modernisierungsdiskurs wie den ‚Dritten Weg’ in seiner Komplexität systematisch erfassen und seine Wirkungen bewerten zu können, ist es notwendig, ihn über seine unterschiedlichen Erscheinungsformen und zeitlichen Wandlungen zu analysieren. Dabei ist eine historische Distanz zum Forschungsobjekt überaus hilfreich. Den sozialdemokratischen Revisionismus-Diskurs der 1990er und frühen 2000er von seinem Ende her kritisch zu betrachten, öffnet erst die adäquate analytische Perspektive, den inhaltlichen Gehalt des ‚Dritten Weges’, die programmatischen Veränderungen, die durch ihn ausgelöst wurden, oder die richtige oder falsche politische Kommunikation seiner Ideen zu betrachten. In der Rückschau fällt vor allem auf, dass eine Vielzahl der Modernisierungsvokabeln des ‚Dritten Weges’, die in den 1990er Jahren noch als Inbegriff einer Renaissance der europäischen Sozialdemokratie gefeiert wurden, heute weitgehend aus der politischen Debatte verschwunden sind. Der Blick auf die heterogenen Modernisierungsdebatten der späten 1990er Jahre verdeutlicht vor allem: In sozialdemokratischen Reformdiskursen überlagern und verschränken sich notwendig die Dimensionen der politisch-ideologischen Neubestimmungen von Begrifflichkeiten und Werten und die der politischen Gestaltung sowie konkretpragmatischen Inhalte sozialdemokratischer Regierungspolitik substanziell. Zudem müssen verschiedene Teildiskurse in der Untersuchung sozialdemokratischer Reformdiskurse analytisch unterschieden werden. Erstens: Der nach innen gerichtete Reformdiskurs als programmatische Parteimodernisierung. Dieser Diskurs ist primär in die Parteien hinein gerichtet, bestimmt Grundwerte und Programmatik neu und soll bei Mitgliedern und Sympathisanten Zustimmung für die, von Parteiführung (bzw. Regierung) angestrebte, politische Richtungsänderung gewinnen. Der Parteidiskurs geht häufig einher mit einer organisatorischen Modernisierung und Professionalisierung von Parteistrukturen, um beispielsweise auf neue Anforderungen der politischen Kommunikation in einer grundlegend veränderten Medienlandschaft30 angemessen reagieren zu können. Zweitens: Der nach außen gerichtete, Macht erstrebende Reformdiskurs als politische Kommunikation, Marketing- und Wahlkampftechnik. Dieser Diskurs dient dem Ziel, die Partei programmatisch und kommunikativ so auszurichten, dass sie Wahlkämpfe führen und Wahlen gewinnen kann. Neue Politikinhalte und -angebote ebenso wie professionelle Politikinszenierung und Kommunikation zielen auf neue parteipolitisch ungebundene Mittelschichten in einem zunehmend heterogenen Wählermarkt. Drittens: Der nach außen gerichtete, Macht erhaltende Reformdiskurs als legitimierender Regierungsdiskurs. Dieser Diskurs sozialdemokratischer Regierungen richtet sich an 28 29 30 A. Gamble/ T. Wright 1999 R. Cuperus/ K. Duffek/ J. Kandel 2001b: 245f. Vgl. u. a. P. Maier/ W.C. Müller/ F. Plasser 1999 22 1 Einleitung: Reform und Diskurs die gesamte Bevölkerung und soll öffentliche Zustimmung für ihre Anpassungspolitik befördern. In Regierungsverantwortung und somit in einem Dialog mit der gesamten nationalen Öffentlichkeit müssen sozialdemokratische Regierungen ihren Reformdiskurs durch Anrufung allgemein akzeptierter Werte und durch die Einbindung national tief verwurzelter Anschauungen und Meinungen normativ untermauern und argumentativ kommunizieren. In einigen (nationalen oder zeithistorischen) Fällen mit spezifischen Handlungs- und Kommunikationsrestriktionen scheint es für sozialdemokratische Regierungen sogar angemessener, auf bestimmte politische Rhetoriken des nach innen gerichteten Diskurses bzw. die Anrufung sozialdemokratischer Werte ganz zu verzichten. Viertens: Der kontextualisierte Diskurs als Reaktion, Teil- oder Schnittmenge anderer Diskurse (neoliberaler Diskurs, Anti-Globalisierungsdiskurs, neobürgerlicher oder postmaterialistischer Diskurs etc.). Dieser Diskurs unterscheidet sich von den drei anderen Diskursen insofern, dass er ihnen – als deren eigentliche Ursprungsmotivation – vorgeordnet ist und diese umfasst, da sich die verschiedenen Dimensionen eines sozialdemokratischen Reformdiskurses nicht aus sich selbst generieren, sondern vielmehr eine Reaktion auf konkurrierende ideologische Positionen sind. Sie sind somit immer auch in eine komplexe Diskurslandschaft inhaltlich eingebettet und mit anderen Diskursen dialektisch verschränkt. Auch der kontextualisierte Diskurs bleibt ein spezifischer Reformdiskurs, der sich in der Kontinuität der sozialdemokratischen Grundwerte verortet und sich auf diese Weise von neoliberalen, konservativen, aber auch von linkspopulistischen Reformdiskursen sowohl in seinen Inhalten als auch in seiner kommunikativen Argumentation und Rhetorik unterscheidet und von diesen notwendig abgrenzen muss. Auch wenn der sozialdemokratische Modernisierungsdiskurs um den ‚Dritten Weg’ „am Ende des 20. Jahrhunderts (...) zum wichtigsten politischen Reformdiskurs in der europäischen Parteienlandschaft“31 geworden war, bleibt er insgesamt ebenso wie seine grundlegenden Ideen und Argumente nur ein parteipolitisches Angebot unter vielen im Feld der Parteienkonkurrenz. Input- und Output-Bedingungen sozialdemokratischer Reformdiskurse Auch wenn sozialdemokratische Regierungen in ihren jeweiligen nationalen Diskurskontexten mit spezifischen institutionellen Hintergrundbedingungen konfrontiert sind und demzufolge die interaktive Dimension ihres Diskurses mit der Öffentlichkeit höchst unterschiedlich koordinieren und kommunizieren müssen, sollte angesichts ähnlicher wohlfahrtsstaatlicher Herausforderungen und gleicher Grundwerte zumindest die IdeenDimension europäischer sozialdemokratischer Reformdiskurse eine starke Kohärenz aufweisen32. Doch da die verschiedenen Länder aufgrund ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen keineswegs in gleicher Weise verletzlich sind, und verschiedene Wohlfahrtsstaatsregime33 oder unterschiedliche Strukturen ihrer politischen Ökonomien34 sehr unterschiedliche Problemlagen erzeugen, die wiederum unterschiedliche Lösungen verlangen, führen ähnliche Herausforderungen nicht nur auf der Policy-Ebene zu 31 W. Merkel 2000c V.A. Schmidt 2002. Vgl. Kap. 2.5: ‚Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses’ 33 G. Esping-Andersen 1990 34 P.A. Hall/ D. Soskice 2001; P.A. Hall 2002 32 1 Einleitung: Reform und Diskurs 23 divergierenden Anpassungsreaktionen35, sondern auch dazu, dass sich sozialdemokratische Reformdiskurse in den jeweiligen Ländern entlang sehr unterschiedlicher Kernprobleme und primärer Reformfelder inhaltlich, normativ und kommunikativ strukturieren. Zudem ist die Wahl der politischen wie kommunikativen Strategien sozialdemokratischer Parteien und Regierungen maßgeblich abhängig von ihrer jeweiligen politischen Verortung im nationalen Parteienwettbewerb. Das bedeutet, dass Art und Inhalt sozialdemokratischer Reformdiskurse durch die Wahrnehmung bestimmter Kernprobleme und einem daraus abgeleiteten Anpassungsdruck sowie durch die Konkurrenzsituation in den jeweiligen wahlpolitischen Arenen länderspezifisch determiniert sind. Während also institutionelle Faktoren bestimmen, wie sozialdemokratische Regierungen ihre Reformen argumentativ kommunizieren, sind es die jeweiligen nationalen Kernprobleme und die Bedingungen der nationalen Parteienlandschaft, die vorgeben, was inhaltlich kommuniziert wird. Ähnliche sozial- und wirtschaftspolitische Reformzwänge sowie gleiche Grundwerte setzen also für sozialdemokratische Regierungs- wie Parteidiskurse den gleichen ideellen Diskursrahmen, der aber durch eine Vielzahl von nationalen Input-Bedingungen gefiltert wird, so dass die konkrete inhaltliche Ausgestaltung dieses Rahmens in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich ist. Wie ein sozialdemokratischer Reformdiskurs geführt wird und mit welchen Schlüsselthemen, Begriffen und Rhetoriken, kognitiven Argumenten und normativen Werten er ausgestaltet wird, ist also entscheidend von länderspezifischen Input-Filtern bestimmt. Doch wie und ob die Ideen und Argumente, die in diesem (auch strategischen) Diskurs formuliert und in einer bestimmten Weise kommuniziert werden, in der Öffentlichkeit ankommen, ob die Reformprojekte und ihre normative Legitimation bei der Bevölkerung als angemessen, relevant und kohärent wahrgenommen werden, ist wiederum maßgeblich von Bedingungen abhängig, die das im Diskurs Gesagte in einer spezifischen Weise filtern. Diese Output-Filter prägen den ‚Klang’ der formulierten Reformideen, positionieren sie in einem allgemeinen Satz politischer Ideen, paralleler Diskurse und in einer Hierarchie von Werten und bestimmen somit entscheidend, wie diese in der Öffentlichkeit wahrgenommen und rezipiert werden. Die Output-Filter filtern im Diskurs formulierte Positionen in länderspezifischer Weise. Erstens: Ein entscheidender Output-Filter, der die Resonanz bestimmter politischer Ideen in der Bevölkerung nachhaltig determiniert, ist die politische Kultur eines Landes. Ebenso wie politische Konstellationen und wohlfahrtsstaatliche Institutionen immer bestimmte kulturelle Rahmenbedingungen voraussetzen und das Ergebnis kollektive Lernprozesse sind36, ist auch bereits Art und Inhalt des Diskurses über den Wohlfahrtsstaat in einem kulturellen und historisch gewachsenen System von Werten, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen verwurzelt. Politische Kultur filtert als ‚subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme’37 Reformdiskurse dadurch, dass sie durch spezifische kollektive Legitimations-, Werte- und Funktionsverständnisse einen höchst unterschiedlichen nationalen Rahmen vorgibt, in dem die im Diskurs entwickelten Ideen, Begriffe und Werte ihre kommunikative Wirkung entfalten müssen. In gewisser Hinsicht kann man die politische Kultur eines Landes auch als einen verdichteten, historisch gewachsenen und tief verwurzelten hegemonialen Diskurs beschreiben, der die Entstehung 35 36 37 F.W. Scharpf 2000b Vgl. u. a.: A. De Swaan 1988; D. Rüschemeyer/ T. Skocpol 1996 D. Berg-Schlosser 2002: 389 24 1 Einleitung: Reform und Diskurs und Form von Institutionen unterstützt, die seiner Logik entsprechen und die Dominanz dieses Diskurses wiederum verstärken38. In einem hegemonialen Diskurs werden kollektive Definitionen von z. B. Solidarität, Gerechtigkeit oder Gemeinwohl festgelegt und mögliche politische Krisenreaktionen auf jene begrenzt, die diesen Definitionen kognitiv, normativ und instrumentell entsprechen. Der hegemoniale Diskurs erzeugt förmlich seine eigenen Beschränkungen, so dass „bestimmte Argumente in >einem bestimmten@ politischen Kontext einfach nicht öffentlich ausgesprochen werden ...“39. Hat ein solcher Diskurs Hegemonie erlangt, verhindert er entweder die Entstehung alternativer Diskurse oder absorbiert sie. Für die Analyse sozialdemokratischer Diskurse ist also von Bedeutung, in welcher (auch historischen) Relation sie zu diesen hegemonialen Diskursen stehen: Haben Sozialdemokraten seine Wahrnehmungen, Normen und Regeln entscheidend geprägt (so wie die schwedische SAP den hegemonialen Diskurs eines ‚Folkhem’ maßgeblich bestimmte) oder haben sie sich letztendlich in ihn integriert und als kognitive wie normative Grundlage des eigenen Diskurses angenommen (so wie die deutsche SPD nach 1945 ihren eigenen Diskurs in den hegemonialen Diskurs der ‚Sozialen Marktwirtschaft’ einfügte). Zweitens: In entwickelten Demokratien sind öffentliche Diskurse heute vor allem durch Medien vermittelte oder gar erst erzeugte Diskurse. In den letzten zwanzig Jahren hat sich das Ausmaß der medialen Kommunikation derart vergrößert und nahezu alle gesellschaftlichen Sphären in einer Weise durchdrungen, dass sich politische Kommunikationsformen und demokratische Verfahrensweisen so weit Medienlogiken anpassen müssen, dass in der Politikwissenschaft gar eine weitreichende Veränderung der Qualität und Substanz der liberalen Demokratie selbst festgestellt wurde40. Die Tatsache, dass Massenmedien zunehmend ins Zentrum des politischen Systems rücken und sich Institutionen und Praktiken der Politik in ihren Versuchen, komplexe Ideen und Politikziele überhaupt in der Öffentlichkeit kommunizieren zu können, an die zentrale Rolle der Medien anpassen müssen, gilt gleichermaßen für alle westlichen Massendemokratien. Dennoch unterscheiden sich – trotz aller Konvergenztendenzen der letzten Jahre – die Mediensysteme in den jeweiligen Ländern; unterschiedliche Mediengesetze und staatliche Regulierungen, unterschiedliche historische Entwicklungsprozesse der nationalen Medienlandschaft, der Grad der Kommerzialisierung und Fragmentierung der Informationskanäle oder unterschiedliche journalistische Selbstverständnisse erzeugen höchst unterschiedliche mediale Diskursfilter, die Inhalte, Argumente und Werte eines sozialdemokratischen Reformdiskurses in länderspezifischer Weise brechen. Das jeweilige nationale Mediensystem kann sozialdemokratische Diskurse in zweifacher Hinsicht entscheidend filtern. Zum einen, wenn die Medien einen eigenen Reformdiskurs ausbilden und eine Reformagenda und Reformrichtung einklagen, die den Werten und Inhalten des sozialdemokratischen Diskurse entgegenstehen. Auf eine derart medial erzeugte, eigenwillige Diskursdynamik können Regierungen und politische Akteure meist nur noch defensiv reagieren. Zum anderen – entscheidender noch – unterscheiden sich nationale Mediensysteme in dem Ausmaß, wie viel Raum sie für anspruchsvolle, gesamtgesellschaftliche Debatten im Sinne der diskursiven Validierung von rationalen Argumenten bereitstellen. In dem Maße, wie sich moderne Demokratien in medienzentrierte Demokra38 G. Lehmbruch, Gerhard 2001. Vgl. auch Kap. 4.3.1: ‚Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs’ 39 J. Elster 1983: 35 40 Vgl. u. a. T. Meyer 2001c 1 Einleitung: Reform und Diskurs 25 tien verwandeln und profitorientierte und auf hohe Massenattraktivität zielende private Medienanbieter, Infotainment, Theatralisierung und Dramatisierung41 die politischen Kommunikationsformen zunehmend bestimmen, gewinnt die Bestimmung medialer und journalistischer ‚Qualität’42 der jeweiligen nationalen Mediensysteme zunehmend an diskursanalytischer Bedeutung. Auch wenn ein idealtypischer freier und rationalisierender Diskurs im strengen Habermas’schen Sinne unter den Bedingungen moderner Massenmedien grundsätzlich nicht möglich ist, da Medien (zumal im Zuge ihrer verstärkten Kommerzialisierung) in allen Ländern spezifische Handlungslogiken, funktional-ästhetischen Eigensinn und vor allem eigene (ökonomische) Interessen entwickeln und sie deshalb keinen neutralen ‚Verhandlungsraum’ für rationale, einzig an der Wahrheit orientierten Diskurse darstellen43, sind nationale Mediensysteme dennoch dahin gehend unterscheidbar, wie weit sie sich den theoretischen Idealbedindungen zumindest annähern (z. B. Verhältnis und Bedeutung von Qualitätsmedien gegenüber Boulevardmedien, öffentlich-rechtlicher Rundfunk o. ä.), die in den Konzepten der ‚deliberativen Demokratie’ postuliert werden. Regierungssystem, politische Kultur und Mediensystem verdichten sich zu politischen Kommunikationskulturen44. Diese prägen einerseits die Einstellungen, Interaktionsmuster und Rollenverständnisse der am politischen Kommunikationsprozess beteiligten Akteure und bestimmen auf diese Weise andererseits die Art und Weise, wie Politik und Regierung mit den Medien kommunizieren und wie Regierungen ihre Reformprogramme kognitiv formulieren müssen, um Medien in einen Reformdiskurs gezielt einzubinden. So wichtig es ist, die verschiedenen Input- und Output-Filter eines sozialdemokratischen Reformdiskurses im Ländervergleich analytisch zu unterscheiden, so klar ist auch, dass sich diese Filterfaktoren in der politischen Realwelt auf sehr vielfältige Weise überschneiden und wechselseitig bedingen. Da beispielsweise die Output-Filter von den politischen Akteuren bereits antizipiert werden, passen sie Form und Inhalt ihrer Diskursführung, also wie und was gesagt wird, an die Output-Bedingungen an, so dass diese wiederum auf gewisse Weise als Input-Filter fungieren. Ebenso sind die Bedingungen und Voraussetzungen für die jeweiligen Input- und Output-Filter komplementär verschränkt: Die institutionelle Struktur eines Wohlfahrtsregimes, seine Problemlagen sowie Akteurskonstellationen sind eng mit der politischen Kultur verknüpft und in diese eingebettet, während wiederum die Routinen, Normensysteme und Regeln, die sich in einem bestimmten Wohlfahrtsregime ausbilden, die kulturellen Einstellungen und Werte, verstärken, die sich letztendlich auch in einem nationalen Mediensystem sedimentieren. Der Grad der Personalisierung in der politischen Berichterstattung oder die Struktur der nationalen Parteienlandschaft sind abhängig vom politischen System und vor allem vom Wahlsystem. 41 T. Meyer 2001c Der Begriff ‚Qualität’ kann in journalistischen bzw. medialen Zusammenhängen nicht als absoluter oder statischer Begriff beschrieben werden, da Medium, Genre und Zielgruppen der verschiedenen Medienprodukte notwendigerweise einen je eigenen (handwerklichen) Qualitätsbegriff bestimmen. Sehr allgemein und grundsätzlich wird hier journalistische Qualität bezeichnet als fachliche Kompetenz der Journalisten, Autonomie der Redaktionen (vor allem auch Trennung von Journalismus und Geschäft), Transparenz, Sachlichkeit, Differenzierung und Vielfalt. Negativ lässt sich ein so verstandener Qualitätsbegriff abgrenzen von den Medien-Phänomenen der Neuigkeitsfixierung, des Negativismus, der Personalisierung und der Entgrenzung hin zur Unterhaltung, zu Public Relations und insbesondere zum Marketing. Für eine genauere Beschreibung der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen vgl. Kap. 4.4.1: ‚Der politische Diskurs in zersplitterten Medienwelten und anti-hegemonialen Öffentlichkeiten’. 43 J. Habermas 1981, 1990 44 J.G. Blumler/ M. Gurevitch 1995 42 26 1 Einleitung: Reform und Diskurs Doch obwohl sich die Input- und Output-Filter, die Form und Inhalt der jeweiligen nationalen Reformdiskurse maßgeblich bestimmen, also in ihrer phänotypischen Ausprägung überlagern, sind sie dennoch getrennt zu untersuchen, da ihre Unterscheidung und Trennung ein methodisches Raster begründet, das eine kritisch vergleichende Bewertung der Rahmenbedingungen unterschiedlicher sozialdemokratischer Reformdiskurse in verschiedenen Ländern erlaubt. Abbildung 1: Nationale Input- und Output-Filter sozialdemokratischer Reformdiskurse (eigene Darstellung) 1.1 Fragestellung 27 1.1 Fragestellung Die eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten sozialdemokratische Regierungen unter veränderten Rahmenbedingungen45 nach dem Ende des ‚goldenen Zeitalters’ der Sozialdemokratie Mitte der 1970er Jahre und unterschiedliche, vor allem auch unterschiedlich erfolgreiche sozialdemokratische Reformpolitiken und -strategien46 sind in der Politikwissenschaft ausgiebig und vergleichend untersucht worden. Auch die Frage, wie sozialdemokratische Parteien vor dem Hintergrund des sozialen Wandels, vor allem dem Rückgang der Industriearbeiterschaft als deren klassischer Kernklientel, sich programmatisch erneuern und was diese Neuorientierung für ihren elektoralen Erfolg bedeutet, stand in den letzten 20 Jahren häufig im Fokus politikwissenschaftlicher Analysen47. Während das Spannungsverhältnis zwischen sozialdemokratischer Regierungspolitik unter den Bedingungen der Globalisierung einerseits und der programmatischen und organisatorischen Neubestimmungen sozialdemokratischer Parteien in einem veränderten sozialkulturellen und medialen Kontext andererseits also hinlänglich beschrieben und analysiert wurde, sind die Rahmenbedingungen, wie sozialdemokratische Regierungen bzw. Parteien ihre Ideen, Werte und PolitikProgramme mit der Öffentlichkeit kommunizieren, wie sie die Durchsetzung sozialdemokratischer Ziele, wie sie die diesen zugrunde liegenden Werte sowie die gewählten Politikinstrumente in ihrem jeweiligen nationalen Kontext diskursiv legitimieren, noch weitgehend unerforscht. In der vorliegenden Arbeit werden sozialdemokratische Reformdiskurse der 1990er und 2000er Jahre in vergleichender Perspektive systematisch untersucht. Wie wurden die Reformdiskurse in den unterschiedlichen Ländern geführt? Welche Inhalte, welche Kernargumente und welche kommunikative Form waren bestimmend? Dabei wird die Untersuchung entlang zweier Achsen erfolgen, die sich methodisch immer wieder berühren und inhaltlich ergänzen: Zum einen werden die Ressourcen und Restriktionen der nationalen Diskurskontexte für reformenlegitimierende Diskurse sozialdemokratischer Regierungen verglichen. Welcher sozialdemokratische Regierungsdiskurs ist unter den gegebenen länderspezifischen Bedingungen möglich? Welche nationalen politisch-administrativen, ökonomisch-institutionellen, politisch-kulturellen und medialen Input- und Output-Filter formen den jeweiligen ‚Charakter’ der Reformdiskurse sozialdemokratischer Regierungen? Und was bedeuten diese Filter für die inhaltlich-programmatische wie für die kommunikativ-argumentative Dimension der jeweiligen Diskurse? Zum anderen werden sozialdemokratische Reformdiskurse als parteipolitische Grundwertediskurse betrachtet, die den Regierungsdiskursen und den darin entfalteten Argumenten theoretisch-konzeptionell (jedoch nicht notwendigerweise zeitlich) vorgeordnet sind, weil sie diese normativ herleiten. Wie werden Veränderungen der Instrumente oder gar der Ziele sozialdemokratischer Politik ideologisch begründet und wodurch waren sie motiviert? Welche Rolle spielt ein solcher grundwerteorientierter, normativer Diskurs wiederum für den kommunikativen Reformdiskurs sozialdemokratischer Regierungen? Der öffentliche Diskurs besteht einerseits aus einem Satz von Ideen und andererseits aus einem interaktiven Prozess, der diese Ideen koordiniert und kommuniziert48. Das Ver45 Vgl. u. a. F.W. Scharpf 1987; W. Merkel 1993 Vgl. v. a. als umfassenden Überblick: W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes / T. Ostheim/ A. 2006 47 H. Kitschelt 1994 48 V.A. Schmidt 2000a 46 28 1 Einleitung: Reform und Diskurs hältnis von Form und Inhalt eines Diskurses ist auf komplexe Weise interdependent, da die diskursive Form, indem sie als Technik der Ansprache auf bestimmte inhaltliche Positionen und Argumente verweist, selbst eine inhaltlich-ideologische Qualität erlangt. Dementsprechend sind die Fragestellungen entlang dieser beiden Achsen aufeinander bezogen und integriert und verdichten sich zu einem Untersuchungsfeld, das hier sehr umfassend als ‚sozialdemokratischer Reformdiskurs’ beschrieben wird: einerseits als Ideen, Werte und Argumente, die von innen, von sozialdemokratischen Regierungen und Parteien, nach außen, in die Öffentlichkeit kommuniziert werden, und andererseits als die Bedingungen und Zwänge, die von außen die Generierung oder Neubestimmung eben jener Ideen, Werte und Argumente sowie die Form ihrer Kommunikation vorgeben und prägen. Hier überlagern sich der nach innen, in die Partei hinein und der nach außen gerichtete, Macht erlangende bzw. Macht erhaltende sozialdemokratische Diskurs auf eine sehr spannungsreiche Weise. Wie organisieren die an politischen Mehrheiten in der Gesellschaft orientierten strategischen Führungsspitzen sozialdemokratischer Parteien und/oder Regierungen die Außenkommunikation und wie korrespondiert diese mit den allgemeinen Wertorientierungen ihrer Parteimitglieder? Dieses Spannungsverhältnis hat sich unter dem zunehmenden Kommunikationsdruck der Mediendemokratie in den letzten Jahrzehnten in allen Ländern und allen Parteien massiv verstärkt. Da die Massenmedien ins Zentrum des politischen Systems gerückt sind und die sich daraus ergebende politische Kommunikationsspirale immer weitere Anpassungsleistungen erfordert, haben die Parteien darauf ihrerseits mit der Professionalisierung ihrer politischen Außenkommunikation reagiert, die sich an den kurzen medialen Produktionszeiten ausrichtet. Dadurch werden die inneren Parteidiskurse, die sich ihrem Wesen nach durch langwierige Prozesszeiten kennzeichnen, zwingend an den Rand gedrängt oder gar entmachtet49. So sehr heute öffentliche und strategische Diskursführung und professionelle politische Kommunikation ein inneres Beziehungsgeflecht bilden, so genau müssen beide Phänomene unterschieden werden: Während das eine dem kurzfristigen Präsentismusprinzip der Medienkommunikation folgt, konstruiert das andere einen Rahmen, in dem eine Vielzahl von Einzelfragen in sehr ähnlicher Weise kognitiv und normativ kommuniziert werden können. Für die systematische Analyse sozialdemokratischer Diskurse ist deshalb die Frage bedeutsam, wie die Parteien und Regierungen kurzfristige politische Kommunikation in ihren langfristigen Diskurs integrieren und wie sie das Spannungsverhältnis zwischen professioneller Außenkommunikation und eher grundwerteorientierter Innenkommunikation austarieren. Die komparative Analyse von ‚Reformdiskursen’ in drei unterschiedlichen nationalen Diskurskontexten – Deutschland, Großbritannien, Schweden – öffnet den Blick für die Unterschiede und Ähnlichkeiten der nationalen Diskursausprägungen und ermöglicht somit die Klärung der Wechselwirkungen und Komplementaritäten zwischen den zentralen Filterfaktoren, die die nationalen Diskurskontexte entscheidend bestimmen. Während die Ähnlichkeiten neuerer sozialdemokratischer Diskursstrategien in allen Ländern vor allem auf die ähnlichen Rahmenbedingungen der Mediendemokratie verweisen, in der heute der politische Einfluss der Parteien auf die gesellschaftliche Willensbildung in einem kritischen Ausmaß zurückgeht, heben die Unterschiede methodisch die jeweiligen Aspekte der nationalen Diskursführung hervor, die nicht allein aus eben diesen Rahmenbedingungen erklärt werden können und daher weiterer Erklärung bedürfen. Durch den analytischen Vergleich lassen sich somit nicht nur die jeweiligen spezifischen Bedingungen und Dynamiken 49 T. Meyer 2001b 1.2 Methode und Aufbau 29 unterschiedlicher Reformdiskurse differenzieren, sondern auch die idealen Voraussetzungen herausarbeiten, unter denen sich die normativen und kommunikativen Wirkungen sozialdemokratischer Diskurse optimal entfalten können. An eine derartige Identifizierung von Erfolgsfaktoren schließt sich notwendig die Frage an, ob und in welchem Maße politische Akteure die Rahmenbedingungen und -strukturen für ihre jeweiligen Reformdiskurse positiv beeinflussen oder gar verändern können oder ob sie nur die jeweiligen Ressourcen optimal ausschöpfen können, die ihr nationaler und eher statischer Diskurskontext bereitstellt. 1.2 Methode und Aufbau Die vorliegende Arbeit ist eine diskurstheoretische, gleichwohl empirisch gestützte Untersuchung ‚sozialdemokratischer Reformdiskurse’, in der es einerseits um die Klärung der Voraussetzungen und Folgen der jeweiligen nationalen Kontextbedingungen für die strategische Ausgestaltung öffentlicher Diskurse und andererseits um die jeweilige inhaltliche und kommunikative Ausformung und Positionierung des Diskurses, also wie ‚gut’ Protagonisten ihren Diskurs unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich führen. Der öffentliche Diskurs ist eine variable und gleichsam höchst voraussetzungsvolle Machtressource in einem dynamischen Politik-Prozess, die, um eine transformative Wirkung effektiv entfalten zu können, von unterschiedlichen Diskursprotagonisten inhaltlich und kommunikationsstrategisch unterschiedlich ausgestaltet werden muss. Dieses dialektische Verhältnis zwischen öffentlichem Diskurs, Diskursbedingungen und -protagonisten wird anhand der Wohlfahrtsstaatsreformdiskurse sozialdemokratisch geführter Regierungen und der sie stützenden sozialdemokratischen Parteien untersucht. Hierzu werden die Diskursbedingungen in drei Ländern und die Diskursformen drei sozialdemokratischer Regierungen und Parteien vergleichend untersucht: Großbritannien und Tony Blairs New Labour-Regierung, Deutschland und Gerhard Schröders SPD geführte Regierung und schließlich Schweden und Göran Perssons SAP. Da es in dieser Arbeit nicht um gesellschaftliche Diskurse per se geht, sondern um öffentliche Reformdiskurse, die ein entscheidender Faktor beim (erfolgreichen) Umbau wohlfahrtsstaatlicher Systeme sein können, wird hier auf die Diskurse fokussiert, die sozialdemokratische Regierungen nutzen oder zu nutzen versuchten, um ihre sozialpolitischen Reformpolitiken in den 1990er und 2000er Jahren jeweils zu legitimieren und durchzusetzen. Öffentliche Reformdiskurse werden hier folglich als politisch-institutionelle Interaktionen zwischen Policy-Akteuren sowie der Öffentlichkeit definiert, in denen die Policy-Ideen entwickelt und kommuniziert werden, die die Wahrnehmungen von Interessen und Werten, Begriffen und Problemen nachhaltig verändern und auf diese Weise die Problemlösungsfähigkeit der Akteure vergrößern50. 50 Zur genaueren definitorischen Bestimmung und Abgrenzung vgl. Kapitel 2: ‚Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlich-konzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung’. 30 1 Einleitung: Reform und Diskurs Die analytische Bedeutung des öffentlichen Diskurses Die politische Durchsetzung von Policy-Veränderungen ist immer von einer Vielzahl von interessengeleiteten, institutionellen und kulturellen Faktoren abhängig. In diesem komplexen Zusammenspiel aufeinander bezogener und interdependenter Kräfte in demokratischen Entscheidungsprozessen ist es analytisch unmöglich, den öffentlichen Diskurs von all den anderen Variablen als einen unabhängigen, eindeutig zu quantifizierenden Faktor zu separieren, dies vor allem, da der nationale Diskurs ebenso wie seine Bedeutung für den politischen Wandel seinerseits wiederum von einem Satz institutioneller und kultureller Faktoren abhängig ist. Aus diesem Grund scheint in der Vergangenheit die Bedeutung des öffentlichen Diskurses für die Reformen des Wohlfahrtsstaats in der Politikwissenschaft eher gering eingeschätzt worden zu sein. Stattdessen konzentrierte sich die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen unterschiedlicher Reformen auf die institutionellen Arrangements und die Interessen spezifischer Akteure. Doch diese politologischen Forschungsansätze stießen an ihre empirischen Grenzen, wenn es darum ging, den dynamischen, prozessualen und argumentativen Aspekt der Wohlfahrtsstaatsreformen zu erklären. So konnten sie zwar meist eindeutig die internen und externen Handlungszwänge für die nationalstaatlichen Wohlfahrtssysteme und die jeweiligen institutionellen Handlungsressourcen der Policy-Akteure ‚objektiv’ ermitteln, warum aber bestimmte Akteure auf die Herausforderung ‚sachgerechter’ reagieren konnten und bei der Durchsetzung bestimmter Policy-Programme erfolgreicher waren als andere und warum die Problemwahrnehmungen und Reformzielsetzungen sich im Laufe der Interaktionen veränderten, blieb meist unbeantwortet. Politische Verhandlungen und Entscheidungen finden immer in einem Handlungskontext einer wahrgenommenen Realität statt, in der bestimmte Sachverhalte allgemein als ‚objektive’ Tatsachen akzeptiert werden51. Diese Realität wiederum wird durch den öffentlichen Diskurs – vor allem in Krisensituationen – neu bestimmt, wodurch sich für PolicyAkteure neue Handlungsoptionen eröffnen, um auf die Herausforderungen zu reagieren. Umgekehrt bedeutet dies, dass dort, wo sich die Regierungen nicht auf einen legitimierenden öffentlichen Diskurs stützen, der Umbau oder partielle Rückbau der Wohlfahrtssysteme sich sehr viel schwieriger gestaltet oder gar unmöglich ist. Berücksichtigt man zudem den normativen Anspruch der Demokratie, dass politische Entscheidungen letztlich vor der Bevölkerung gerechtfertigt und durch sie legitimiert werden müssen, stellen öffentliche Diskurse, also die Fähigkeit, Ideen und Deutungen überzeugend zu kommunizieren, im Reformprozess „eine zentrale Ressource politischen Handelns dar“52. Der öffentliche Diskurs ist also eine wesentliche Quelle, mit der die dynamischen Prozesse von Wohlfahrtsstaatsreformen erklärt werden können. Das Verhältnis von Diskurs und Reformdynamik kann allerdings auf methodisch sehr unterschiedlichem Wege untersucht werden. Vivan A. Schmidts Methode des diskursiven Institutionalismus beispielsweise analysiert den Diskurs als einen mediatisierenden Faktor in unterschiedlichen nationalen Institutionensystemen und Akteurskonstellationen. Sie definiert den Diskurs einerseits als variablen Interaktionsfaktor zwischen kollektiven Akteuren (einschließlich der Öffentlichkeit) in einem gegebenen institutionellen Setting, durch den die historisch gewachsenen, interessengeleiteten und einen Politikwechsel meist blockierenden Interaktionsregeln ver51 52 I. Hacking 1999 M. Seeleib-Kaiser 2001: 34 1.2 Methode und Aufbau 31 ändert werden, und andererseits als von Institutionen gerahmt, die das Repertoire mehr oder weniger akzeptierter diskursiver Interaktionen vorgeben53. Martin Seeleib-Kaiser hingegen betrachtet nationale Diskurse als Wahrnehmungsfilter der Globalisierungsherausforderungen, der seinerseits durch die jeweiligen nationalen Wohlfahrtssysteme gefiltert wird. Öffentliche Diskurse werden hier als kognitive Verdichtung der länderspezifischen Filterungen im Hinblick auf Problemdefinition sowie allgemeine Zielformulierung verstanden, so dass der Diskurs als eine Form gemeinsamer Orientierung je nach Land nur sehr divergente Policy-Instrumente legitimiert und bereitstellt54. In dem vorliegenden Buch werden diese beiden methodischen Forschungsansätze verbunden: Erstens werden sozialdemokratische Reformdiskurse in ihrem spezifischen institutionellen Rahmen untersucht, wobei neben den statischen, strukturellen polity-Bedingungen weitere eher dynamische Input- und Output-Filter identifiziert und in ihrer Bedeutung für die nationalen Diskursausprägungen analysiert werden. In den jeweiligen Diskurskontexten werden sozialdemokratische Regierungsdiskurse als ein politisches Mittel verstanden, vor dem Hintergrund notwendiger, meist schmerzlicher Wohlfahrtsstaatsreformen Legitimation zu organisieren und Interessen strategisch einzubinden. Zweitens werden sozialdemokratische (vor allem Parteien-)Diskurse als spezifische Realitätswahrnehmung analysiert, in der sich ein neues Verständnis von der Natur der Probleme entwickelt, Handlungszwänge akzeptiert und Begriffe und Werte normativ neu bestimmt werden, so dass bestimmte PolicyProgramme in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als notwendig und angemessen, legitim und gerecht empfunden werden. In dem Maße beispielsweise, in dem sich durch den öffentlichen Diskurs kollektive Gerechtigkeitsvorstellungen von einer (distributiven) Verteilungsgerechtigkeit hin zu einer Teilhabegerechtigkeit verlagern, wird auch der politische Gestaltungsspielraum einer wohlfahrtstaatlichen Reformpolitik verschoben. Qualitativ-vergleichende Methode Es ist offensichtlich, dass man den öffentliche Diskurs in einer vergleichenden Untersuchung nicht als unabhängige Variable für die Erklärung politischen Wandels markieren kann, da der Diskurs in seiner nationalen Ausprägung seinerseits einen ‚dichten’ Analyseraum von Kontextfaktoren und unabhängiger wie abhängiger Variablen darstellt. Zudem sind politische Ideen ebenso wie veränderte Deutungsmuster als Indikatoren nicht oder nur sehr unzureichend standardisierbar. Um die Bedeutung öffentlicher Diskurse in der jeweiligen nationalen Reformentwicklung und die spezifischen Diskurskontexte in ihrer Komplexität angemessen zu erfassen, scheidet eine Vergleichsanalyse quantitativer Indikatoren aus. Stattdessen ist die analytische Methode der vorliegenden Arbeit ein diskursanalytisch qualitativer und diskurstheoretisch sowie transdisziplinär abgestützter Vergleich einer begrenzten Zahl von Ländern bzw. Reformdiskursen, um auf diese Weise dem sehr heterogenen Beobachtungsfeld und der mehrdimensionalen Fragestellung gerecht zu werden. Entsprechend der untersuchungsleitenden Grundannahmen, dass Reformdiskurse wichtige politische Machtressourcen im Reformprozess darstellen, dass sie Teil der ideologischen Parteienkonkurrenz sind und schließlich die Diskursinhalte somit gleichermaßen den Reformherausforderungen wie auch der Parteiprogrammatik gerecht werden müssen, 53 54 V.A. Schmidt 2003 M. Seeleib-Kaiser 2001