Psychische Gesundheit: Geschlechterspezifische Unterschiede

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PrimaryCARE Academy – Thun, 03. März 2016
Psychische Gesundheit:
Geschlechterspezifische Unterschiede
Josef Hättenschwiler
ZADZ ∙ Zentrum für Angst- und
Depressionsbehandlung Zürich
Riesbachstr. 61
CH-8008 Zürich
www.zadz.ch
Geschlechtsspezifische Sicht auf Erkrankungen hielt
spät Einzug in die Psychiatrie


Aspekte bei Frauen
 Hormonelle Veränderungen können bei Disposition zur
Erstmanifestation oder dem Wiederauftreten psychischer
Erkrankungen führen
Prämenstruelle Zeit, Schwangerschaft, Wochenbett,
Wechseljahre
 andere Belastungen im Leben, Doppelbelastung Familie
und Beruf, «Working Poor»
 Medikamentenforschung und Geschlecht
Aspekte bei Männern
 Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen hat beim
männlichen Geschlecht eine hohe Priorität
 besseres Verständnis für hormonelle Zusammenhänge
beim Mann gefordert
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Männer: das starke Geschlecht…! oder?
Männer habens`s schwer, nehmen`s leicht, aussen hart und innen ganz
weich, werden als Kind schon auf Mann geeicht.
Wann ist ein Mann ein Mann?
Herbert Grönemeyer
Männer gesundheitspolitisch das schwache Geschlecht
 Sterblichkeit von Knaben/Männern in jeder Lebensphase
höher
 sie besuchen seltener den Arzt
 sie sind häufiger krank
 sie setzen sich mehr gesundheitlichen Risiken aus
 sie haben ein geringeres Gesundheitswissen
 sie geben weniger Geld für Fitness aus
BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2016
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
«Es gibt keine frauen- oder männerspezifischen
psychischen Erkrankungen»
Es gibt aber: …….
 andere Häufungen
 andere Lebenskonstellationen
 andere Symptome der jeweiligen Erkrankung
Dies verlangt:
 einerseits eine individuelle Behandlung für Männer und
Frauen,
 andererseits eine geschlechterspezifische Anpassung
psychotherapeutischer wie auch pharmakologischer
Strategien!
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Erste geschlechtsspezifische Beschreibung der
Melancholie, Hildegard von Bingen 1098-1179
Hildegard von Bingen stellte schon vor
900 Jahren fest:
Männer und Frauen leiden unterschiedlich.
Feurige Augen wie eine Viper, schwarzes Blut
und ein ungezügeltes Verhalten wie Tiere:
das sind melancholische Männer.
Schwermütige Frauen hingegen hätten ein
wenig widerstandsfähiges Naturell, klagten
über Kopfleiden und Rückenschmerzen.
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Strategy for Integrating Gender Analysis and Actions into the
Work of WHO 1997/2
«…..In order to ensure that women and men of all ages
have equal access to opportunities for achieving their
full health potential and health equity, the health
sector needs to recognize that they differ in terms both
of sex and gender. Because of social (gender) and
biological (sex) differences, women and men face
different health risks, experience different responses
from health systems, and their health-seeing behaviour,
and health outcomes differ…..»
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Geschlecht als Oberbegriff für Gender und Sex

«Sex» ist das genetische oder biologische, «Gender» das soziale, nämlich
erlernte Geschlecht

«Gender-Konstruktion»
 Nach der Geschlechtszuordnung bei der Geburt setzt ein
fortwährender «Differenzierungsvorgang» ein
 Eltern projizieren ihre Rollenvorstellungen auf die Kinder
 Verhaltensweisen u. potentielle Fähigkeiten von Töchtern u. Söhnen
werden geschlechtstypisch unterstützt oder unterbunden
 Gender beeinflusst die Gesundheit...
 Körperbewusstsein
 Gesundheitsverhalten
 Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste, einschliesslich
Vorsorgeuntersuchungen
 Krankheit und Tod
 Segregation bei den Gesundheitsberufen
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Häufigste psychische Störungen bei Frauen und
Männern
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Prävalenzen: Zusammenfassung
 Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen insgesamt gleich
 Jedoch Prävalenzunterschiede bei einzelnen psychischen
Störungen:

Depressionen, Angst- u. Essstörungen, somatoforme Störungen
Frauen : Männer = 2 : 1
 Medikamentenabhängigkeit
Frauen : Männer = 3 : 1
 Bipolare Störungen, Psychosen, Zwangsstörungen
Frauen : Männer = 1 : 1
 Alkohol-/Drogenabhängigkeit, dissoz. Persönlichkeitsstörungen
Frauen : Männer = 1 : 2
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Beispiel: Schizophrenie & Gender
Prävalenz 1%
 Frauen erkranken 4-5 Jahre später mit 2. Gipfel nach
dem 40. Lebensjahr:
 Frühe Pubertät, frühe Menarche: späterer onset der
Schizophrenie
 Frauen haben tendenziell günstigeren Verlauf: sind
kürzer und seltener hospitalisiert, scheinen besser auf
antipsychotische Therapien anzusprechen, geringere
Dosierungen, stärkere Positiv-Symptomatik
 Bei Männern: höhere Komorbidität – vor allem mit
Alkohol und Drogenmissbrauch, geringere Compliance

03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Beispiel: Sucht und Gender

Unterschiedliche Ursachen und Verlaufsformen
Sucht bei Frauen und Männern
 Alkohol / Drogen: M > F
 Medikamente: F > M

Grösseres Risiko bei Alkoholkonsum für Frauen:
 weniger Körperflüssigkeit
 weniger gastrische Alkohol-Dehydrogenase, deshalb
höhere Resorptionsrate
 mittleres Intervall von Erstkonsum zur Abhängigkeit
ist 3.0 Jahre für Frauen und 3.6 Jahre für Männer
 gehen seltener in Behandlung (Pull 2006)
 Barrieren sind offenbar das soziale Stigma
 Motivation – meist durch Kinder und Eltern
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Dawson et al. 1996
Depression: Symptomvariationen nach
Geschlechtern (I)
Frauen…
 berichten mehr Symptome,
erinnern sich an mehr Episoden
und subjektiv höhere Belastung1
 mehr emotionale Symptome
und Weinen2
 mehr somatische Symptome3,
hatten weniger Energie2
 mehr «atypische» Symptome5
wie Hypersomnie, psychomotorische Verlangsamung.
Appetit- und Gewichtszunahme
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Männer…
 berichten weniger
Symptome, weniger Episoden
 mehr psychomotorische
Unruhe und Suizidgedanken4
 mehr Alkohol- und
Drogenkonsum4
 mehr Schlaflosigkeit,
Agitation5
 Ärger, Wut6
 Aggressivität, Feindseligkeit7
Depression: Symptomvariationen nach
Geschlechtern (II)
Frauen…
internalisieren eher
(z.B. ruhig werden, in ihr Zimmer
gehen, weinen)
Männer…
externalisieren eher
(z.B. Ärger, Wut, Aggression
zeigen, mehr Alkohol trinken)1
Komorbiditäten
 mehr Angststörungen (v.a.
Panik/phobische Symptome)2
 somatoforme Störungen3
 Essstörungen (Bulimie)3
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 Mehr Alkohol- und anderer
Substanzmissbrauch4
Das «männliche» depressive Syndrom
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Geringe Stresstoleranz
Ausagierende Verhaltensweisen
Geringe Impulskontrolle
Irritabilität, Ruhelosigkeit, Unzufriedenheit
Substanzmissbrauch
Antisoziales Verhalten
Depressive Verstimmung
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Männer töten sich viel öfter als Frauen
Daten BAG/Tagesanzeiger 27.02.2016
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
«Geschlechterparadox»
«Geschlechterparadox» bei suizidalem Verhalten
 2/3 der Suizidversuche durch Frauen
 2/3 bis 3/4 der Suizide durch Männer
eine hohe Suizidrate bei niedriger Depressionsrate,
lässt eine hohe Dunkelziffer von Depressionen bei
Männern vermuten
Dringlichkeit einer rechtzeitigen Diagnostik u.
Therapie insbesondere bei Männern
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Störungen in den verschiedenen
Lebensphasen der Frau
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Prämenstruell dysphorisches Syndrom
Postpartum-Blues
Postpartale Depression
Postpartale Psychose
Postpartale Anpassungsstörung
Perimenopausale Depression
Depression in der Menopause
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS) (I)

3/4 aller Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter leiden
nach dem Eisprung unter gewissen körperlichen und
psychischen Symptomen:
Reizbarkeit, Müdigkeit, Niedergeschlagenheit,
Spannungsschmerzen, Wassereinlagerungen

Besserung nach Einsetzen der Menstruation
(«On-Off-Phänomen»)
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS) (II)


3-8% der Frauen erfüllen Diagnosekriterien nach DSM-5
 Symptome in mehreren aufeinanderfolgenden Zyklen
 nicht im Zusammenhang mit anderen psychischen
Störungen
 Klinisch bedeutsames Leiden und/oder psychosoziale
Beeinträchtigung
Behandlung
 Hormonelle Therapie in Zusammenarbeit mit
Gynäkologen
 Serotoninwiederaufnahmehemmer (kontinuierlich
oder intermittierend)
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Erkrankungen im Wochenbett (I)
Postpartum-blues («Heultage»)
 Erhöhte Empfindsamkeit 2-14 Tage nach Geburt
 Starke Stimmungsschwankungen
 Rapide hormonelle Veränderungen
 Keine Depression, keine Therapie
 Wochenbettdepression = Postpartale Depression
 Ca. 15% der Frauen betroffen
 Postpartum-Blues länger als 14 Tage
 + typische Depressionssymptome
 Sehr häufig mit Zwangsgedanken/-handlungen
(bis 50% der Fälle)

03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Erkrankungen im Wochenbett (II)
Zwangssymptome bei Wochenbettdepression

Sehr quälende, absurde Gedanken, die nicht kontrolliert werden
können und sehr schamhaft besetzt sind, sodass sie niemandem
mitgeteilt werden können, wie……
 das Kind zu verletzen, es zu ertränken, zu erstechen,
 in die Mikrowelle zu stecken, es sexuell zu missbrauchen
 jemand könnte Kind stehlen, sei bei der Geburt verwechselt
worden

Um die quälenden Gedanken zu neutralisieren, oder Angst, diese
könnten umgesetzt werden, können Zwangshandlungen auftreten:
 Kind übermässig oder gar nicht waschen
 ständige Kontrolle der Vitalzeichen
 keine Treppen mit dem Kind zu gehen
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Erkrankungen im Wochenbett (III)


Postpartale Psychose
 Ca. 3/1000 Geburten
 Rasche Symptomentwicklung innerhalb 24-72 Stunden
nach Geburt
 Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, Euphorie,
Gereiztheit
 Notfall: akute Gefahr für Mutter und Kind
Anpassungsstörung
 Ca. 20% der Frauen
 Schwierigkeiten der Anpassung an neue Situation /Rolle
 Gehäuft bei zwanghaften, ängstlichen und
perfektionistischen Frauen
 Psychotherapeutische Interventionen meist ausreichend
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Therapie der Wochenbettdepression
Zur Behandlung depressiver Erkrankungen in SS und Stillzeit
prinzipiell die gleichen Prinzipien wie sonst für die
Depressionsbehandlung
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Berücksichtigung der Risiken für das Ungeborene resp. gestillte Kind
Bei leichteren/mittelschweren Episoden primär Versuch mit nichtpharmakologischen Massnahmen
 allgemein unterstützenden Massnahmen
 Psychotherapie Behandlungsmethode 1. Wahl
Wichtig der Einbezug des werdenden Vaters
Weitere Empfehlungen
 Zusammenarbeit mit PsychiaterIn u. GynäkologIn
 Spezialsprechstunde
Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit
Psychiatrische Dienste Aargau AG
www.pdag.ch
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Erkrankungen in der Menopause (I)
Perimenopause
 Oft Verschlechterung des
psychischen Befindens mit
erhöhter Stimmungslabilität
in Korrelation mit hormonellen
Schwankungen
 spricht für eine starke biologische
Mitverursachung!
 Erhöhtes Risiko für schwere Depressionen,
Psychosen, Angsterkrankungen
 Postmenopause
 Inzidenz/Prävalenz stabil oder gar abnehmend

03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Psychische Erkrankungen in der Menopause (II)

Einfluss der Östrogene (Estradiol-17ß)
 Zahlreiche neuro- und psychoprotektive Effekte
 Stimuliert neuronales Wachstum u. Myelinisierung
 Modulieren für psychisches Befinden wichtige
Neurotransmittersysteme (serotonerge,
noradrenerge, dopaminerge, glutamerge,
cholinerge)
 «Psychoschutz der Natur» (Fink et al, 1996)
 Gute therapeutische Wirksamkeit v.a. bei leichten
Depressionen in der Perimenopause
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Therapie der Depression in der Menopause


Berücksichtigung verschiedener psychosozialer,
biologischer und hormoneller Aspekte!
Estradiolsubstitution?
 Perimenopause: Keine Zulassung für diese Indikation
• Bei zusätzlichen Indikationen wie Hitzewallungen,
Osteoporoserisiko
• Depression als zusätzliches Argument für HRT
• Kontraindikationen beachten


Ansonsten normale antidepressive Behandlung
 Psychotherapie, Pharmakotherapie
 Hinweise, dass SSRI unter HRT besser wirken
 Östrogene erhöhen serotonerge Aktivität im Gehirn
Antidepressiva wirksam gegen Hitzewallungen ohne
Depression (Riecher-Rössler A, 2006/2007)
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Partielles Androgendefizit des Alternden Mannes
PADAM – Late onset Hypogonadism – Andropause (I)

Abnahme der Testosteronproduktion mit dem Alter
 Hypothalamische Dysregulation +
Leydigzellinsuffizienz + andere Faktoren
 Sexual-Hormon-Bindendes Globulin (SHBG) steigt,
senkt Konzentration des freien Testosteron

Prävalenz
 Bis zu 30% der Männer über
50 Jahre
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
Partielles Androgendefizit des Alternden Mannes
PADAM – Late onset Hypogonadism – Andropause (II)
Symptomatik
 Allgemeine Lustlosigkeit, Libido ↓, Erektionsstörungen ↑↑
 verminderte morgendliche u. nächtliche Erektionen
 Schlafstörungen
 Antriebsschwäche, verminderte Muskelleistungen
 Gedächtnisstörungen (Merkfähigkeit)
 Osteoporose
 Anämien
 Ängstlichkeit
 depressive Verstimmungen
 Gewichtszunahme, Metabolisches Syndrom
03. März 2016 I Dr. med. Josef Hättenschwiler
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