Echo Online - Bürgerbeteiligung auf großer Bühne

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MUSIKTHEATER
21. Mai 2011 | Von Christian Knatz |
Bürgerbeteiligung auf großer Bühne
Oper: Im Juni hat „Gilgamesch“ in Wiesbaden Premiere – Libretto und Partitur sind von
hunderten Laien geschrieben
WIESBADEN „Kein Schritt weiter, vergiss nicht, wer ich bin“, rappt Humbaba, der Wächter
des Waldes, seine Gegner an. „Ich klatsch euch an die Wand, das krieg’ ich ...
„Kein Schritt weiter, vergiss nicht, wer ich
bin“, rappt Humbaba, der Wächter des
Waldes, seine Gegner an. „Ich klatsch euch
an die Wand, das krieg’ ich ehrlich hin.“
Kriegt er eben nicht. Gilgamesch und sein
Freund Enkidu werden ihn gleich erschlagen
und sich das Holz holen.
Das Staatstheater Wiesbaden aber will mit
der Oper „Gilgamesch“ etwas hinkriegen,
was ziemlich einmalig erscheint. 70 Bürger
aus Wiesbaden und Umgebung haben das
Libretto zum Jahrtausende alten Epos auf
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der Grundlage von Raoul Schrotts deutscher Probenarbeit: Mitglieder der „Freien Gruppe Gilgamesch“
bereiten einen Auftritt für die Oper vor. Foto: Michael
Übersetzung geschrieben, 50 Bürger haben
die Musik dazu komponiert; und gemeinsam Kretzer
mit Solisten, Chor und Orchester des
Termine
Staatstheaters stehen am 10. und 11. Juni
(19 Uhr) Bürger auf der Bühne in Tanz- und Die Vorstellungen am 10. (Freitag) und 11. Juni
beginnen um 19 Uhr. Karten können unter 0611
Sprechrollen.
132325 bestellt werden.
Seit Frühjahr 2009 arbeitet die „Freie Gruppe
Gilgamesch“ am Projekt; dann stießen
Schulklassen dazu, so dass insgesamt 210 Laien an dem vor allem von Profis aufgeführten
Stück mitwirken. „Wer sich gemeldet hat, war dabei“, sagt Günter Nebel, Maler und Lackierer
im Ruhestand, über die Kerngruppe; dagegen wurden die Schulen sorgfältig ausgewählt, wie
Regisseurin Priska Janssens (47) darlegt. Vor allem habe man behinderte und lernschwache
Schüler oder Schulen mit hohem Ausländeranteil einbezogen. „Es geht darum, Randgruppen
zu integrieren, Selbstwertgefühl als Bürger der Stadt zu vermitteln“, sagt die
Theaterpädagogin.
Mit Bedacht wurde für die Verquickung von
Sozialarbeit und Kunst der auf zwölf
Tontafeln überlieferte Gilgamesch-Epos
gewählt. Es ist die Geschichte des
titelgebenden Herrschers der Stadt Uruk vor
rund 5000 Jahren, der zusammen mit
seinem Freund Enkidu nach Ruhm trachtet.
Die Göttin Ishtar begehrt ihn, er verweigert
sich, tötet ihren Himmelsstier und muss
dafür das Ende seines Freundes mitansehen.
Gilgamesch fordert erst Unsterblichkeit,
macht sich dann aber lieber nützlich für die
Bewohner seiner Stadt. „Gilgamesch wird
vom selbstherrlichen Patriarchen zum
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Menschen, der etwas für die Stadt tut“,
Drei Helfer und ein Bürger: Die Komponisten Ernst August
Klötzke und Cornelius Hummel (von links) sowie
erläutert Janssens. Am Ende wächst die
Regisseurin Priska Janssens und Günter Nebel, der an der
Bürgerschaft von Uruk zusammen.
Oper mitgeschrieben hat. Foto: Christian Knatz
Vorsichtshalber hat man das Wort
„Wiesbaden“ in den Text eingearbeitet,
damit keinem entgeht, was die Stadt am Rhein mit der antiken Stadt im Zweistromland
verbinden könnte. Bühnenbild und Kostüme sind weder an Ort noch Zeit gebunden.
Mit Ausnahme des Stoffs war im gemeinsamen Projekt des Staatstheaters und des
städtischen Amts für Soziale Arbeit nichts vorgegeben, und so stand am Anfang des Stücks
über Einheit die Vielfalt: Unmittelbar vor dem Humbaba-Rap, den ein 19 Jahre alter
Berufsschüler der Friedrich-List-Schule verfasst hat und auch aufführen wird, ist eine ZedernArie zu hören. Dem Auftritt einer Schul-Rockband folgt ein weihnachtlich anmutender Gesang.
Zu Beginn löst das Orchester eine Improvisation von Schülern ab.
„Das sind krasse Gegensätze“, sagt der freischaffende Komponist Cornelius Hummel (53);
und Ernst August Klötzke erläutert: „Jeder wurde bei seiner Lieblingsmusik abgeholt.“
Zusammen mit Hummel ist der 47 Jahre alte Leiter der Musiktheaterwerkstatt Betreuer der
Komponistengruppe, die Menschen mit denkbar verschiedenen Hörgewohnheiten vereinte.
Beide sehen sich eher als Dienstleister denn als Instruktoren. „Cornelius Hummel und ich
komponieren sonst in ganz andere Richtungen“, sagt Klötzke. Hier sei es um Sammeln und
Ermöglichen gegangen.
Einige kamen zu den wöchentlichen Treffen mit selbstgeschriebenen Noten, andere mit
Aufnahmen auf dem Kassettenrekorder, wieder andere hatte Melodien und Ideen nur im
Kopf, die dann aufs Klavier gebracht werden mussten.
Recht früh stieß auch einmal das Theater-Orchester dazu, um bereits Fertiges zu spielen.
„Wir haben die gefragt: War das schlimm?“, erzählt Opernfreund und Hobbyakteur Günter
Nebel, mit 79 Jahren der älteste der Gilgamesch-Autoren. War es nicht, und auch die beiden
Profi-Komponisten hätten die Laien ernstgenommen. „Sie haben nicht gesagt: Ihr habt ja
keine Ahnung, wir zeigen euch, wie das geht.“
Kritik wurde laut Nebel eher innerhalb der Gruppen-Mitglieder angebracht. Alles sei friedlich
geblieben, berichtet Hummel; einmal freilich sei eine salomonische Lösung nötig gewesen:
Auf das Motiv für Enkidu habe man sich nicht einigen können, Gruppen hätten sich gebildet.
Hummel: „Es ging plötzlich um die Frage: Wer ist hier der Superstar?“ Kurzerhand habe man
alle fünf Vorschläge genommen und zu einem Kontrapunkt verarbeitet.
Wiedererkennbare Motive zu den Personen des 181 Partiturseiten umfassenden Stücks waren
auch dessen Keimzellen – „fast wie Wagner“ (Klötzke), der mit Leitmotiven seinen riesigen
„Ring“-Zyklus ordnete. „Wir haben die Figuren befragt“, sagt der Musiker. Zudem wurde in
Kleingruppen erarbeitet, wie es klingen könnte, wenn Gilgamesch von herabfallenden
Felsbrocken träumt oder wie die Elemente hörbar gemacht werden.
Herausgekommen ist mitunter ganz Konventionelles, etwa Wellenbewegungen für das
Wasser. Gilgameschs punktiertes Motiv mit einer im Fortissimo aufspringenden Quinte könnte
auch von Bruckner sein. Die Solisten singen Arien, und vom gewohnten Dur und Moll wollten
die Bürger auch nicht lassen.
Cornelius Hummel und Ernst August Klötzke ließen sie gewähren, gaben nur Grundsätzliches
für die 90 Minuten dauernde Oper mit: wie man Stimmen führt zum Beispiel oder dass ein
ewig langes Harfensolo zu wenig mehr führt als zu blutigen Fingern. Das ändert für
Moderator Klötzke nichts daran: „Es waren die Bürger, die diese Oper erfunden, komponiert
und instrumentiert haben.“ Diese wiederum waren offenbar selbstbewusst bei der Sache: „Nie
hat einer gezweifelt, dass das gut wird“, sagt Günter Nebel.
Ihm, der aus der Zeitung von dem Projekt erfahren hat, machte nicht nur die Arbeit am
Libretto Freude. Gerade die Treffen mit behinderten Kindern seien „eine wunderbare Sache“.
So war die Sache auch gedacht, wie Priska Janssens sagt: als Stätte der Begegnung, wo der
Rentner auf den Schüler, der Akademiker auf den Arbeitslosen trifft – mit durchaus
erwünschten Nebenwirkungen. Janssens: „Es gibt etwa konkrete Kontakte zu einem Arzt, der
sonst zu teuer ist.“ Allein dafür seien die Mittel gut angelegt, zu denen neben Sponsoren das
Sozialamt mit 50 000 Euro beigetragen habe.
Die beiden von Wolfgang Ott dirigierten Vorstellungen sind nahezu ausverkauft; eine
Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit sei denkbar. Obwohl „Gilgamesch“ deutliche
Parallelen zum „Prinz von Jemen“ aufweist, einer von Kindern und Jugendlichen
geschriebenen Oper, die im April im Staatstheater Darmstadt Premiere hatte, sei ein auf
Kooperation zielender Brief aus Wiesbaden an die dortige Theaterpädagogik bislang ohne
Antwort geblieben.
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