Empathie - thiemo breyer

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Empathie
Thiemo Breyer & Shumon T. Hussain
Zusammenfassung
Empathie kann in einem weitesten Sinne als die Erfahrung von Fremdpsychischem bestimmt werden. Sie bildet die anthropologische Grundlage
dafür, dass sich komplexe soziale Strukturen und kulturelle Interaktionsformen entwickeln konnten. Um den Anderen als intentionalen Agenten
(Tomasello, 1999) auffassen zu können, muss das Subjekt von seinem egozentrischen Standpunkt abstrahieren und sich auf die Tatsache einstellen
können, dass der Andere eine Perspektive auf die Welt hat, die von der
eigenen abweicht. Im Folgenden gehen wir von der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel als notwendiger Bedingung von Empathie (vgl. Breyer,
2013) aus und fragen nach möglichen prähistorischen Szenarien, die besonders förderlich für die Herausbildung dieser Bedingung gewesen sein
könnten. Die kooperative Aufzucht des Nachwuchses wird als ein solches
Szenario identifiziert (vgl. Hussain 2013). Mit Blick auf eine „Integrative
Humanwissenschaft“ scheint uns die Kombination aus sozial-kognitiver
und paläoanthropologischer Dimension hilfreich, um zentrale geistige Fähigkeiten des Menschen in ihrer Entwicklung nachvollziehen zu können.
Einleitung
Fragt man nach den Ursprüngen mentaler Fähigkeiten, so kann man
Vergleiche in unterschiedliche Richtungen anstellen. Man kann horizontal in der Gegenwart Menschen mit anderen aktuell lebenden Lebewesen vergleichen, wie es die evolutionäre Anthropologie im Hinblick
auf die differentielle ontogenetische Entwicklung von Menschen und
Menschenaffen unternimmt. Oder man kann vertikal in die historische
und prähistorische Tiefe gehen und einen Vergleich zwischen unterschiedlichen Stadien der menschlichen Speziesentwicklung anstreben.
Was die Quellenlage im zweiten Fall, der uns hier besonders interessiert,
also die Paläoanthropologie, betrifft, so bezieht sie sich naturgemäß auf
die materiellen Überreste vor- und frühmenschlichen Verhaltens. Die
Herausforderung besteht darin, das Verhältnis zwischen Materialität
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und Mentalität jeweils zu spezifizieren. Welche materiellen Spuren hinterlassen bestimmte psychische Dispositionen und Fähigkeiten? Es liegt
auf der Hand, dass sozial-kognitive Vermögen wie die Empathie hier
nicht direkt, sondern nur über Umwege rekonstruiert werden können.
Um dies zu leisten, wird das betreffende Vermögen idealerweise auf die
Gruppenebene gehoben und somit dem archäologischen Diskursniveau
zugänglich gemacht.
Sozialität, Empathie und Traditionsbildung
Wie ist Sozialität zwischen geistbegabten Individuen möglich? Das Konzept der Empathie verspricht hierauf eine Antwort zu geben. Der empathische Zugang erlaubt das Erschließen mentaler Alteritäten. Der Andere
wird dabei nicht nur als eigenständiges Subjekt anerkannt, dieses Subjekt soll zudem in seiner mentalen Aktivität und Reichhaltigkeit erfasst
werden können: Emotionen, Intentionen, Wünsche und Einstellungen
sollen erkannt werden können, wodurch sie überhaupt erst als soziale
Variablen auf den Plan treten. Im Angesicht mentaler Perspektiven, die
sich von der eigenen unterscheiden können, kann soziale Koordination,
die beim Menschen ein wesentlicher Baustein sozialer Organisation ist,
eine ganz neue Qualität annehmen. Hierzu gehört etwa auch die Verpflichtungsdimension einer empathischen Vernetzung sozialer Akteure
(Breithaupt, 2009, S. 109 ff.), die motiviert sind, auf Andere einzugehen.
Auch wenn das Verstehen fremdpsychischer Zustände zu egoistischen
Zwecken eingesetzt werden kann, sehen viele Autoren in der grundlegenden empathischen Fähigkeit eine nicht zu unterschätzende Disposition zu Altruismus und kooperativem Verhalten (Bischof-Köhler, 2009;
Hublin, 2009; Keysers, 2011).
In jüngerer Zeit hat vor allem Frans de Waal (2009; 2013) immer
wieder betont, dass ein erheblicher Anteil der menschlich anmutenden Fähigkeiten von Menschenaffen auf deren häufig unterschätzten
Empathieleistungen beruhen könnte. Dagegen haben neuere Untersuchungen jedoch vermehrt gezeigt, dass vor allem die sozial-kognitiven
Vermögen sich in der menschlichen Entwicklungslinie auf spezifische
Weise entwickelt haben und eine deutliche Lücke zu unseren Verwandten aufreißen lassen (Herrmann et al., 2010; Wobber et al., 2013). Ein
genauerer Blick auf die Verfasstheit sozialer Systeme bei nichtmenschlichen Primaten ist nichtsdestoweniger fruchtbar, da er Kontinuitäten
und Diskontinuitäten aufzudecken vermag, die potentiell für das Verständnis der zugrundeliegenden sozial-kognitiven Vermögen überhaupt
relevant sind.
Ein wichtiges Stichwort in dieser Hinsicht ist Tradition. Entscheidend für die zeitliche Stabilität sozialer Organisation ebenso wie für die
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Reproduktion bestimmter Verhaltensparameter ist eine zuverlässige
intergenerationelle Informationsübertragung – Imitation, Lernen und
Lehren sind die Eckpfeiler soziokultureller Kontinuität (Detrain et al.,
1999; Whiten, 2000). Ausschlaggebend ist dabei der sozialisatorische
Rahmen, in dem diese Informationsweitergabe praktiziert und sichergestellt wird. Klassischerweise unterscheidet man zwischen Emulation
bei Menschenaffen und Imitation bei Menschen, wenn es um das Lernen von Handlungsabläufen geht (Tomasello et al., 1987; Whiten et al.,
2009). Beim Emulationslernen wird das Ergebnis einer Operationskette
erkannt und mit eigenen Mitteln in zuweilen mühsamen Trial-and-ErrorVerfahren reproduziert (Call & Tomasello, 1994). Das Imitationslernen
hingegen erlaubt das Erstellen einer Kopie des „mentalen Projekts“ des
Anderen, d.h. intentionale Schritte und Zwischenschritte werden übernommen, was in einem detaillierten Nachvollzug der Planungs- und
Handlungsabfolge resultiert. Anhand des Spiegelneuronensystems wird
seit geraumer Zeit versucht, ein mögliches neuronales Korrelat dieses
Lernverhaltens zu bestimmen (vgl. Rizzolatti & Sinigaglia, 2008). Imitation besteht diesem Ansatz zufolge in einer neuronalen Mimesis beobachteter sensomotorischer Prozesse, die ein Verstehen der Ziele und
Zwischenziele von Handlungen ermöglichen können (Iacoboni et al.,
1999). Imitation und Empathie teilen sich, vereinfachend gesprochen,
ein neuronales System, weshalb zu vermuten ist, dass Empathie auch
als globaler Mechanismus der Lernoptimierung fungiert (Hussain, 2013,
S. 28 ff.). Menschliche Kinder gelten – was vor diesem Hintergrund nicht
weiter überrascht – unter Sozialpsychologen als einzigartige „Überimitierer“ (Whiten et al., 2009). Gerade wenn es um das angeleitete Lehren
geht, entfaltet Empathie eine besonders starke Wirkung. Lehrer und
Lernender können nur dann sinnvoll kooperieren, wenn die Asymmetrie der Lernsituation durch Perspektivenwechsel ausgeglichen werden
kann (vgl. Arnold, 2005).
Kooperative Aufzucht und Perspektivenflexibilität
Neben dem kognitiv voraussetzungsreichen Imitationslernen erlaubt die
Analyse der Aufzuchtbedingungen des Nachwuchses einen Zugang zu einem elementareren empathischen Substrat vor- und frühmenschlicher
Gemeinschaften. Besonders einschlägig ist hier das Verfahren der kooperativen Aufzucht (cooperative breeding) (Kramer, 2010). Menschliche
Kinder wachsen hier in Gemeinschaften auf, in denen die Mutter in der
Regel zwar die Hauptlast der Nachwuchsinvestition trägt, andere Gruppenmitglieder sie jedoch unterstützen (Kokko et al., 2001; Hrdy, 2010).
Diese Alloeltern-Rolle können je nach sozialer Organisation Väter, Verwandte, die Großeltern oder auch andere Gruppenmitglieder einneh235
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men (vgl. Hawkes et al., 1998). Evolutionär ist diese Aufzuchtstrategie an
die spezifische Konfiguration der menschlichen Lebensgeschichte (life
history) gekoppelt (Kuzawa & Bragg, 2012). Da Menschen einen erheblichen Teil ihrer Entwicklung außerhalb des Mutterleibes durchlaufen,
weisen sie ein stark zerdehntes Entwicklungsprofil auf. Die Entwicklung
des Gehirns und anderer zentraler physiologischer, aber auch sozialer
Parameter ist wesentlich eine postnatale (Isler & Van Schaik, 2012). Dies
impliziert eine besondere Relevanz von Entwicklungsstadien, die nicht
direkt an Reproduktivität und somit Arterhaltung gekoppelt sind (Hussain, 2013, S. 15 ff.).
Die Konsequenz einer solchen Konfiguration der life history ist die
Abhängigkeit des Individuums von sozialen Auffangmechanismen. Insofern der menschliche Nachwuchs behavioral „unfertig“ auf die Welt
kommt, muss die soziale Gruppe erhebliche Anstrengungen unternehmen, um sein Überleben zu sichern (Kaplan et al., 2005). Eine aus populationsdynamischer Perspektive zentrale Folge dieser Aufwendung von
individuellen und sozialen Ressourcen ist eine begrenzte Reproduktionsrate. Kooperative Aufzucht muss in diesem Szenario als evolvierte
Qualität verstanden werden, die Viabilität der Population auch dann
sicherzustellen, wenn die Geburtenrate gering ist. Wenn sich nicht nur
die Eltern, sondern auch andere Gruppenmitglieder um bestimmte
Aspekte der Nachwuchspflege kümmern, sinkt das Risiko einer hohen
Investition in nur ein Individuum und Mütter können einfacher mehrere
Kinder gleichzeitig großziehen.
In einem Kontext hoher Kooperativität (vgl. Warneken, 2013; Tomasello, 2014) ist entscheidend, dass eine solche soziale Koordination
nicht nur auf individueller und wesentlich durch Erfahrung gesteuerter
Ebene gelingt (Burkart et al., 2009). Soziale Akteure müssen unmittelbar erfasst, eingeordnet und in ihrem Handeln verständlich gemacht
werden können. Das flexible Wechseln der Perspektiven, das Hin-undHerspringen zwischen unterschiedlichen Handlungshorizonten, gehört
deshalb ebenso zur kooperativen Aufzucht wie zum sozialen Lernen.
Zusätzlich zu der intergenerationellen Interaktion wird Perspektivenflexibilität intragenerationell durch gemeinsames Spielen erprobt (Nielsen,
2012).
Wann tritt nun kooperative Aufzucht und ausgedehntes soziales
Lernen in der Menschheitsgeschichte erstmals auf? Hinweise auf eine
Zerdehnung der Lebensgeschichte, die einem „modernen“ Life-HistoryProfil entspricht, finden sich im Fossilbestand unserer Vorfahren
(Crews & Gerber, 2003; Schwartz, 2012). Es herrscht große Übereinstimmung, dass kooperative Aufzucht in der menschlichen Linie spätestens
mit Homo erectus sensu lato (~ 1,8 mya BP) auftritt und seitdem als
wesentliches Merkmal der Hominisation gelten kann (O’Connell et al.,
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1999; Van Schaik & Burkart, 2010). Obwohl grundsätzlich wohl zu konstatieren ist, dass der wesentliche evolutionäre Einschnitt in Lebensgeschichte und sozialem Lernen noch vor der Auftrennung von Homo
sapiens und Neandertaler erfolgt ist (Macchiarelli et al., 2006; Robson
& Wood, 2008), häufen sich die Indizien für einen kleinen, aber nicht
unbedeutenden Unterschied in der Organisation der Entwicklungsstadien zwischen beiden taxonomischen Ordnungen (Ponce de Léon et al.,
2008; Spikins et al. 2014). Vor allem der zeitliche Ablauf der kritischen
Übergänge zwischen den einzelnen frühen Stadien scheint relevant zu
sein (Gunz et al., 2010; Neubauer & Hublin, 2012). Erst jüngst ist auf der
Basis einer Untersuchung des postnatalen Gehirnwachstums von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen dafür argumentiert
worden, dass neugeborene Neandertaler ihr Gehirnvolumen nicht nur
deutlich schneller, sondern auch strukturell unterschiedlich ausbildeten
(Gunz et al., 2012). Das heißt, dass unterschiedliche Hominidenformen
andersartige Life-History-Strategien entwickelt haben (Crews & Gerber,
2003; Kuzawa & Bragg, 2012), die auf eine differentielle Bedeutung von
sozialem Lernen und flexibler Perspektivenübernahme innerhalb allgemeiner Mentalisierungsfähigkeiten verweisen.
Schlussbemerkung
Wie die vorangegangenen Überlegungen veranschaulichen sollten,
lassen sich mit den Mitteln der Paläoanthropologie Szenarien rekonstruieren, die für eine Zunahme an Perspektivenflexibilität bei den
Mitgliedern vor- und frühmenschlicher Gruppen und somit für die Entwicklung von höherstufigen Empathiefähigkeiten besonders zuträglich
gewesen sein könnten. Im Kontext alloparentaler Aufzuchtstrategien
befinden sich Kinder in der Situation, sich immer wieder auf andere
Erwachsene einstellen zu müssen und von ihnen zu lernen. Ebenso
müssen sich die Erwachsenen auf unterschiedliche Kinder einstellen,
um ihren Pflichten als leibliche Eltern oder als Alloeltern angemessen
nachkommen zu können. Perspektivenflexibilität kann hier im Rahmen der Psychogenese des Menschen als Anpassungsleistung an ein
komplexes Gefüge gedeutet werden, in dem soziale Rollen über mehrere Akteure verteilt werden.
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