9.4.2006 Soziale Evolution: Über das Selektionsprinzip hinaus Ewald Walterskirchen Niemand kann heute ernstlich daran zweifeln, dass es eine Evolution der Lebewesen im Darwinschen Sinne gibt. Mutation und Selektion spielen eine entscheidende Rolle für die biologische Evolution, insbesondere für den Artenwandel. Jeder kritische Mensch sollte jedoch daran zweifeln, - dass dies die einzige Erklärung für die Evolutionsprozesse seit dem Beginn der Welt sein muss und - dass Mutation und Selektion auch die entscheidenden und einzigen Mechanismen für die Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaft sind. Die Biologie steht heute in ihrer Hochblüte, sie erzielt die größten Fortschritte unter allen Wissenschaften. Ihr Weltbild strahlt deshalb auf alle Bereiche aus 1 ähnlich wie früher die mechanistische Weltsicht der Physik. Der Einfluss der neodarwinistischen Evolutionstheorie zeigt sich in der Soziobiologie, der Ökonomie, der funktionalistischen Soziologie und der evolutionären Psychologie. 1 siehe dazu den Beitrag von Ulrich Krohs in diesem Buch –2– Die Gefahr des Fortschritts in der Genetik liegt darin, dass ihre Mechanismen zur Weltanschauung gemacht werden. Dogmatische Neodarwinisten vertreten heute ein Weltbild, das nur auf Zufall und Selektion im Mikrobereich beruht. Sie machen sich über jeden Gottesbegriff lustig, da in ihrer Weltsicht für einen Plan, einen Sinn und eine Richtung kein Platz ist. Ihr britischer Wortführer Richard Dawkins, ein militanter Atheist, spricht vom „blinden Uhrmacher“. Extreme Neodarwinisten sehen im Leben überhaupt nichts anderes als einen „Kampf egoistischer Gene“ ums Überleben. Der Körper diene den Genen nur als Vermehrungsmaschine. Das klingt nicht nur zynisch und menschenverachtend, sondern überschreitet auch die Grenzen der Wissenschaft. Der auf die Gene zentrierte, gradualistische Neodarwinismus vernachlässigt die Bedeutung des Phänotyps (Organismus) und die großen Evolutionsschritte 2. Als Kardinal Christoph Schönborn im Sommer 2005 den dogmatischen Neodarwinismus, wie er vor allem in den USA grassiert, scharf angriff, war der Aufschrei der Wissenschafter unüberhörbar: Die Kirche mische sich da in wissenschaftliche Fragen ein – wie vor der Aufklärung. Mischen sich etwa die Neodarwinisten nicht in weltanschauliche Fragen ein? Die von Kardinal Schönborn ausgelöste Diskussion läuft auf die Frage hinaus, ob die Welt, das Leben auf der Erde und der Mensch durch puren Zufall entstanden sind oder ob hinter dieser Entwicklung ein Sinn und ein Plan steckt. Darüber streiten Kirche und Wissenschaft schon seit Jahrhunderten, und auch unter den Wissenschaftern besteht darüber keine Einigkeit. 2 siehe dazu den Beitrag von Gerd B. Müller in diesem Buch –3– Neodarwinismus - Geburtsstätte des Neoliberalismus Für unser wirtschaftliches und soziales Leben ist diese Diskussion deshalb bedeutsam, weil der heute weit verbreitete Neoliberalismus nichts anderes ist als eine Spielart des neodarwinistischen Denkens. Beide sehen das Heil ausschließlich in zufälliger Variation und Marktselektion. Die Idee einer sozialen Marktwirtschaft, einer menschengerechten Ökonomie, befindet seit einigen Jahrzehnten in einem Rückzugsgefecht. In ihren Anfängen lehnte sich die ökonomische Theorie an die Physik an. Die Ökonomen wollten ein Gleichgewichtsmodell der Wirtschaft (in Analogie zur Himmelsmechanik) entwerfen. Die Gesetze des Tausches wurden als Parallele zu den Hebelgesetzen gesehen. Heute zeigt sich in der Ökonomie der Einfluss der Biologie besonders in den Arbeiten Hayeks, der als einer der Väter des Neoliberalismus gilt. Friedrich von Hayek, der Spross einer Biologenfamilie, sprach explizit von „Aussiebung“ durch den Markt. Er hielt eine hohe Arbeitslosenquote - ähnlich wie einen Populationsüberschuss in der Tierwelt - für ökonomisch wünschenswert, damit die natürliche Selektion greifen kann. Hayek warnte 1944 in seinem Buch „Weg zur Knechtschaft“ vor allem, was die persönliche Freiheit einschränkt. Er nannte den Wohlfahrtsstaat in einem Atemzug mit Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Schon im 19. Jahrhundert versuchten die Sozialdarwinisten, das Prinzip der natürlichen Auslese auf den Menschen anzuwenden. Das „Überleben der Fittesten“ garantiere kontinuierlichen Fortschritt. Diese Ideen der Sozialdarwinisten waren höchst umstritten. Sie wurden als Begründung für –4– Rassismus, Kolonialismus und Laissez-faire-Kapitalismus herangezogen. Jede Art von Aggression und Krieg wurde mit der unabänderlichen Natur des Menschen und dem Selektionsmechanismus begründet. Mit der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft schlug Europa nach dem Zweiten Weltkrieg einen völlig anderen Weg ein, als sich das der extreme Liberalismus vorstellte. Es wurde ein Weg gefunden, der das europäische Menschenbild mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft vereinte. Viele Jahrzehnte später beriefen sich jedoch in den angelsächsischen Ländern Ronald Reagan und Margaret Thatcher zur Begründung ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik auf die sozialphilosophischen Vorstellungen von Hayek. Dieser empfahl beispielsweise der britischen Regierungschefin, die Arbeitslosenquote in England kurzfristig auf 20% zu erhöhen, um den Druck auf die Arbeitnehmer zu steigern und die Gewerkschaftsmacht zu brechen. Heute interpretiert die OECD die wirtschaftliche Krise in Europa einfach als mangelnde Anpassungsfähigkeit an Schocks – ganz ähnlich wie die Neodarwinisten das Aussterben von Tierarten. Die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen sind eindeutig: Die Wirtschaftspolitik brauche nur die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit der Markt als Selektionsmechanismus richtig greifen kann. Ähnlich wie die Neodarwinisten vernachlässigen auch die neoliberalen Ökonomen den Makrobereich (Gesamtnachfrage) und den historisch-institutionellen Wandel. Gravierende Unterschiede zwischen biologischer und sozialer Evolution –5– Die soziale und kulturelle Entwicklung stellt eine neues Kapitel in der Geschichte der Welt dar, sie reicht weit über die rein biologisch-genetische Sphäre hinaus. Es bestehen gravierende Unterschiede zwischen der biologischen und der sozioökonomischen Evolution: - Die soziale und kulturelle Evolution ist durch Lernprozesse, d.h. durch die Übertragung erworbener Eigenschaften (Erfahrung) charakterisiert; sie ist also eher „lamarckistisch“. - Die darwinistische Biologie kennt keinen „Fortschritt“ 3, nur Anpassungen an Umweltveränderungen. In der Ökonomie gibt es dagegen Fortschritte in der Technik, der Produktivität und im Lebensstandard. - Biologische Mutationen sind rein zufällig und meist schädlich. Nach technischen Innovationen - den „wirtschaftlichen Mutationen“ - wird dagegen gezielt geforscht, sie sind vorteilhaft. - Die Menschen können in gewissen Grenzen selbst darüber entscheiden, in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Darwins biologische Evolution hat wenig gemeinsam mit dem Konzept der sozialen Evolution, wie es seit der Aufklärung in den Sozialwissenschaften gebräuchlich ist. Biologische Evolution im Sinne Darwins ist durch zufällige Variation, Selektionsprozesse, graduelle Anpassung, Planlosigkeit und Unvorhersehbarkeit charakterisiert. Soziale Evolution im Sinne der Aufklärer ist dagegen ein stufenförmiger Transformationsprozess, der einem logischen Entwicklungsgesetz 4 folgt und deshalb in einigen groben Zügen voraussehbar 3 siehe dazu den Beitrag von Franz Wuketits in diesem Buch 4 vgl. Günter Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000 –6– ist. Zwischen den großen historischen Phasen gibt es nicht bloß graduelle, sondern grundlegende qualitative Unterschiede. Dieses Phasenkonzept der sozialen und kulturellen Evolution wurde im Laufe des 20.Jahrhunderts durch den Einfluss des Neodarwinismus (Funktionalismus) zurückgedrängt, da sich dieser in der Biologie als außerordentlich erfolgreich erwiesen hatte. Das Konzept historischer Phasen ist und bleibt jedoch ein Wesenszug der sozialen Evolution. Jürgen Habermas baute sein Konzept der sozialen Evolution auf dem ontogenetischen Stufenmodell von Jean Piaget auf. Günter Dux führte diese Ideen weiter aus und entwarf eine historisch-genetische Theorie der Kultur 5. Die Stufen des moralischen Bewusstseins, welche die kognitivistische Entwicklungspsychologie nachwies, kehren in der sozialen Evolution der Rechts- und Moralvorstellungen wieder. Habermas sah die Hauptantriebskraft der sozialen Evolution in reiferen Formen der sozialen Integration. Klaus Eder führte aus, dass in den Hochkulturen das Verwandtschaftsprinzip durch den Staat als vorherrschende Organisationsform ersetzt wurde, im Kapitalismus übernahm dann das Marktprinzip die Führungsrolle. Evolution der Welt hat eine Richtung: zunehmende Komplexität Der kürzlich verstorbene Biologe Rupert Riedl schrieb vor Jahrzehnten in seiner „Strategie der Genesis“, dass die Darwinsche Evolutionstheorie zwar richtig, aber nicht die ganze Erklärung sei. Das Mutations- und Selektionsprinzip ist für die Verästelung der Arten verantwortlich, aber es reicht nicht aus, um die Entstehung von Komplexität, Leben und Gesellschaft zu erklären. 5 siehe dazu den Beitrag von Kurt W. Zeidler in diesem Buch –7– Die Evolution hat offenbar zwei Gesichter: - Die darwinistische Welt zeigt uns die Anpassung an die Umwelt durch Variation und Selektion, sie erklärt vor allem die große Vielfalt auf der Mikroebene. - Die Evolution hat aber auch ein zweites Gesicht: die stufenweise Entfaltung von komplexen Strukturen und Organisationsformen. Die Mikroevolution wird eher durch Variation und Selektion vorangetrieben, die Makroentwicklung zu höherer Komplexität durch Koordination, Symbiose und Selbstorganisation. Während die darwinistische Weltsicht keinen Fortschritt kennt, ist in der Entfaltung von Komplexität eine Richtung zu erkennen. Kardinal Schönborn spricht vom Design und der Finalität der Evolution, agnostische Wissenschafter sprechen von Selbstorganisation der Materie und vom Entstehen spontaner Ordnung. Viele Naturwissenschafter 6 halten Selbstorganisation - durch Zusammenschluss und Symbiose - für einen entscheidenden Zug der Evolution. Der Genetiker Carsten Bresch sah in der stufenweisen Integration von vorher unabhängigen Einheiten zu Gebilden höherer Komplexität das eigentliche Prinzip der Evolution. Konrad Lorenz sprach von „Fulgurationen“, d.h. von völlig neuen Systemeigenschaften, die bei Zusammenschluss entstehen können. Selbstorganisation zeigt sich offenkundig im 6 z.B. Erich Jantsch, Ilya Prigogine, Hermann Haken, Humberto Maturana, Stuart Kauffman und viele andere –8– physikalischen und chemischen Bereich. Selektionsprozesse spielen dort kaum eine Rolle, sie konzentrieren sich auf den biologischen Bereich. In meinem Buch „Der Weg in die Informationsgesellschaft“ 7, habe ich versucht, die soziale Evolution auf die Ontogenese und diese wiederum auf die biologische Evolution zurückzuführen. Ich stellte ein Evolutionsmuster dar, das häufig in Natur und Gesellschaft vorkommt: Die Makroentwicklung schreitet stufenweise von kleineren Einheiten zu größeren und immer komplexeren Organisationsformen voran. Auf allen Ebenen beginnt die Evolution mit isolierten Einheiten und setzt sich dann über eine Symbiose- und eine Aggregationsphase zu Informationsnetzwerken fort. Jede neue Organisationsstufe ermöglicht die Koordination größerer bzw. komplexerer Einheiten und ist damit evolutionär erfolgreich. Höhere Komplexität entsteht also durch Bindungs-, Aggregations- und Informationsprozesse. Die Koordination größerer Einheiten ist entscheidend, nicht der Zufall. Ich möchte dieses häufige Entwicklungsmuster, das von Abgrenzung/Isolation zu Bindung/Symbiose und dann weiter zu Aggregation/Strukturaufbau und Informationsnetzwerken führt, hier nur kurz an einigen Beispielen demonstrieren: - Die Entstehung des Lebens setzt die Existenz und Kooperation der vier Arten von Makromolekülen voraus: Die Lipide ermöglichen die Abgrenzung der Zelle von der Umwelt (Membran). Die Kohlehydrate stellen über den Stoffwechsel eine Verbindung zur Umwelt her. Für den Aufbau von Strukturen sind vor allem die Proteine entscheidend. DNA und RNA sind schließlich auf Informationsprozesse spezialisiert. Die Kombination der Ewald Walterskirchen, Der Weg in die Informationsgesellschaft. Die Evolution von Natur, Technik und Wirtschaft. Passagen Verlag 2005 7 –9– Fähigkeiten dieser Makromoleküle hebt die Evolution auf einen neue Stufe: die Zellebene. - Die Entwicklung des Lebens beginnt mit der Abgrenzung kleiner, einfacher Zellen. Sie setzt sich fort mit der Entstehung von Eukaryoten durch Endosymbiose. Dann kommt es zum Zusammenschluss von Vielzellern mit differenzierten arbeitsteiligen Strukturen. Schließlich tauchen miteinander kommunizierende Organismen mit komplexem Nervensystem und Gehirn auf. - Die frühkindliche psychische Entwicklung des Menschen, die auf das spätere Verhalten entscheidenden Einfluss hat, rekapituliert in großen Zügen die Embryonalentwicklung 8. Es besteht eine Beziehung zwischen Ontogenese und Phylogenese. - Die Geschichte der Menschheit beginnt mit isolierten Horden der Jäger und Sammler. Darauf folgen die dörflichen Bindungen der Ackerbauer, später die städtischen Agglomerationen in Nationalstaaten und schließlich die weltumspannenden Netzwerke der Informationsgesellschaft. Die aktuelle Entwicklung von der nationalen zur Weltwirtschaft belegt diese Tendenz zur Koordination größerer Einheiten. Evolution und Geschichte machen also Sinn, wenn man sie in großen Zeiträumen betrachtet. Sie beruhen nicht bloß auf einer Serie von Zufällen und Selektionsprozessen, sondern auf der Entwicklung neuer Organisationsformen: z.B. vom Verwandtschaftsprinzip zur hierarchischen staatlichen Organisation und schließlich zu weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerken. 8 siehe dazu Ewald Walterskirchen, a.a.O., S.108f – 10 – Im Evolutionsprozess spielen Selektion und Selbstorganisation - Konkurrenz und Kooperation - zusammen. Der Selektionsmechanismus, der am Überleben orientiert ist, bewirkt eine ständige Steigerung der Zahl von Einheiten bzw. Individuen. Er schaufelt damit dem jeweils vorherrschenden Organisationsprinzip das eigene Grab. Denn größere Einheiten brauchen ab einem gewissen Schwellenwert neue Organisationsprinzipien - z.B. den Übergang vom Verwandtschaftssystem zum Staat - sonst kommt es zur Stagnation oder Regression. Drei Potenzen in der Geschichte Der Historiker Jakob Burckhardt beschrieb in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ drei Potenzen, welche die Weltgeschichte zu allen Zeiten prägen: Religion, Staat und Kultur bzw. Wirtschaft. Die Religion drückt das metaphysisch-ethische und der Staat das politische Bedürfnis der Menschen aus. Kultur und Wirtschaft sind dagegen der Inbegriff des Freien und Bewegten. Jacob Burckhardt interessierte sich für das Konstante und sich Wiederholende. Dennoch können wir den drei großen gesellschaftlichen Potenzen historische Schwerpunkte zuordnen: - Die Religion spielt in den ländlichen Ackerbaugesellschaften eine tragende Rolle, Heilserwartungen sind hier besonders ausgeprägt. - Der Staat ist die beherrschende Potenz in den urbanen Zivilisationen und bürokratischen Reichen. Macht durch Größe und straffe hierarchische Organisation ist hier das Ziel. - In der Industrie- und Informationsgesellschaft erlangt schließlich die Wirtschaft die Oberhand. Das ökonomische Zeitalter ist durch die – 11 – Vorherrschaft materieller Werte, durch hektisches Gewinn- und Erfolgsstreben charakterisiert. Die Religion ist eng mit Mythen verbunden, die Staatsgründung mit Recht Philosophie. Die Vorherrschaft der Wirtschaft in der Industrie- und Informationsgesellschaft wird vom Aufschwung der Wissenschaft und Technik begleitet. Die Gefahr liegt jeweils in der Einseitigkeit, der Übertreibung der vorherrschenden Potenz einer gesellschaftlichen Epoche. Sie erfordert die Kontrolle durch die anderen Potenzen: - In den Agrargesellschaften kann die Religion als Weltbild und in Form kirchlicher Institutionen alles dominieren und unterdrücken. In den Zeiten der Kreuzzüge und der Inquisition hätte man sich zweifellos mehr Kontrolle der Kirche gewünscht. - In den urbanen Klassengesellschaften tendiert der Staat dazu, unerträglichen Zwang auf die Menschen auszuüben. Im Nationalsozialismus und im Stalinismus hat dieses System seinen erschreckenden Höhepunkt erreicht. Die anderen gesellschaftlichen Potenzen haben hier als Korrektiv weitgehend versagt. - In der Industrie- und Informationsgesellschaft besteht die Gefahr, dass die Wirtschaft als dominante gesellschaftliche Macht den Menschen und seine Lebensbedürfnisse aus dem Auge verliert. Man spricht heute z.B. von „Freisetzungspotential“, als hätte man es nicht mit Menschen zu tun. Der Weg in die Informationsgesellschaft – 12 – Die Entstehung der Informationsgesellschaft folgt nicht dem Zufall, sondern ist das zwangsläufige Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Die weltweite Vernetzung durch Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Zuliefersysteme ermöglicht die Koordination größerer ökonomischer Einheiten, als dies Nationalstaaten und Imperien je zustande brachten. Die alten Technologien des Handwerks und der Industrie beruhten vorwiegend auf der Gravitation, die alles zum Zentrum hinzieht. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bedienen sich dagegen der elektromagnetischen Kraft, die Signale und Informationen übermittelt. Das Elektronik-Zeitalter löst damit die Dominanz von Mechanik und Maschinenbau ab. Im Zentrum der menschlichen Arbeit steht heute nicht mehr die Produktion von Waren, sondern die Informationsübertragung. Die neuen Informationstechnologien beeinflussen auch die soziale Organisation der Arbeit. Die typische Organisationsform der Informationsgesellschaft ist das Netzwerk, nicht mehr die Hierarchie. Computer und Internet weisen einen demokratischen Zug auf, sie stehen allen Menschen der entwickelten Staaten zur Verfügung. Junge Menschen haben hier einen Startvorteil. Die gewählte Variante der Informationsgesellschaft ist nicht determiniert, sondern unsere freie Entscheidung. Die USA haben das Modell der Risikogesellschaft („Kasino-Kapitalismus“) auf die Spitze getrieben. An Europa wird es liegen, seine kulturellen Traditionen einzubringen, um der Informationsgesellschaft eine humane und soziale Form zu geben. Es geht vor allem darum, den Stellenwert des Menschen gegenüber den Wirtschaftsinteressen zu behaupten. Die großen Potenzen Staat und Religion habe hier Korrektivfunktion. Die Vertreter der christlichen Soziallehre und des Wohlfahrtstaats sitzen in einem Boot. – 13 – In den letzten Jahrzehnten wurde Europa schrittweise amerikanisiert: Der Kapitalmarkt wurde liberalisiert, der Arbeitsmarkt flexibilisiert und der Sozialstaat teilweise abgebaut. Das Ergebnis für Europa war alles andere als erfreulich. Ob Europa sein Sozialmodell erhalten will, ist keine ökonomische, sondern eine politische Frage. Es geht hier einzig und allein um die Entscheidung der Bevölkerung – wie etwa das skandinavische Beispiel zeigt. Das europäische Sozialmodell muss nicht dem Selektionsmechanismus zum Opfer fallen. Die europäische Gesellschaft kann das biologische Recht des Stärkeren überwinden - wenn sie nur will.