Die Entstehung von Geschlechternormen als sozialwissenschaftliches Erklärungsproblem Prof. Dr. Kurt Mühler Institut für Soziologie Gliederung 1. Erläuterung des Problems 2. Humansoziobiologische Grundannahmen zum Verhalten 3. Philosophisch-sozialwissenschaftliche Grundannahmen zum Verhalten 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen 5. Kriterien der empirischen Prüfbarkeit normativer Wirkungen auf das Sozialverhalten 6. Empirische Prüfung Mühler / Geschlechternormen 1. Erläuterung des Problems Das Problem Warum bestehen zwischen Männern und Frauen Unterschiede im Sozialverhalten? Zwei grundsätzliche Herangehensweisen konkurrieren um eine Erklärung: biologische Evolution (genetische Bedingtheit) soziale Normen (kulturelle Bedingtheit) Über sehr lange Zeit (bis in die Gegenwart) stützten/stützten sich die sozialen Erwartungen an das Verhalten auf die Überzeugung eines naturgegebenen Wesensunterschieds zwischen den Geschlechtern. Die Forderungen sozialer Normen und die Annahmen zu natürlichen Eigenschaften des Menschen sind deshalb in den grundlegenden Verhaltensweisen nahezu identisch. Das erschwert die empirische Überprüfbarkeit der Ursache für Verhaltensdifferenzen. Ein Beispiel ist das Inzesttabu. Wilsons (Begründer der (Human)Soziobiologie) Hypothese: Menschen meiden intuitiv Inzest! Individuen mit einer genetischen Disposition zur Bindungsausschließung und Inzestvermeidung bringen mehr Gene in die nächste Generation ein. Diese Hypothese ignoriert, dass in nahezu allen Gesellschaften eine (strafrechtliche) Verbotsnorm existiert. Wenn ein (evolutionär ausgebildeter) Instinkt vorhanden wäre, müßte es nach Jahrtausenden seiner selektiven Ausbreitung keine Norm geben, weil sich das Verhalten selbst regulieren würde. Wilson, Edward O., Biologie als Schicksal, Frankfurt a.M., 1980 Mühler / Geschlechternormen 2. Humansoziobiologische Grundannahmen zum Verhalten Die soziobiologischen Grundannahmen zur Erklärung des Sozialverhaltens 1. Kein Organismus lebt um seiner selbst willen: der Zweck aller Organismen besteht in der Fortpflanzung. Organismen sind kurzlebige Vehikel, die den evolutiv einzigen Zweck verfolgen, ein optimales Medium für Genreplikation zu liefern. (Voland) Dawkins spricht von genge-steuerten Körpermaschinen. Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Reinbeck b. Hamburg 1996. 2. Das Verhalten eines Organismus ist auf eine maximale Anpassung an die jeweilige Umwelt gerichtet, um sich so effizient wie möglich fortzupflanzen zu können. 3. Erfolgreiche Verhaltensweisen setzen sich über Nachkommen besser durch als weniger erfolgreiche. Daraus generieren sich über einen langen Zeitraum Verhaltensprogramme. 4. Evolutionär entstandene Verhaltensprogramme sind Teil des biologischen Erbguts. Nur wenn der ökologische Kontext (Gesellschaft) über Jahrtausende stabil ist, kann ein darin bewährtes Verhalten biologisch vererbbar werden. 5. Diese biologischen Verhaltensprogramme sind letztlich gegenüber jeder anderen Verhaltensursache dominant. Soziobiologie räumt kräftig mit der vermeintlichen Sonderstellung des Menschen im Reich der Organismen, und es erscheint überaus angebracht, wenn sich die von der Soziobiologie betriebene Demontage einer eitlen “Homozentrik” in der Organisation dieses Buches niederschlägt und menschliche Verhältnisse neben denen von Schimpansen, Vögeln und gar Insekten behandelt werden. (Voland) Voland, Eckart: Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg, Berlin 2009. Mühler / Geschlechternormen 2. Humansoziobiologische Grundannahmen zum Verhalten Beispiel eines Verhaltensprogramms Ausgangspostulat weibliche Organismen tragen die Hauptlast der Reproduktion, deshalb müssen sie wählen männliche Organismen dagegen müssen konkurrieren, um gewählt zu werden Position in der Sozialstruktur Sozialverhalten Hypergamie Aufzucht Familie geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Ressourcenbeschaffung sozialer Status Kulturell anerkannte Symbole geben Auskunft über Ressourcen und Status. Empirische Forschungsobjekte: Pkw-Marken, Machtsymbole (Kleidung), Gefolgschaft. Suche nach Männern mit umfangreichen Ressourcen und hohem Status Suche nach gesunden kräftigen Frauen mit hoher Fruchtbarkeit Schöne Frau sucht reichen Mann. Spermien sind billiger als Eier Position in der Reproduktionsstruktur Aggressivität Gesicht und Körper geben Auskunft über Fruchtbarkeit. Empirische Forschungsobjekte: Symmetrie, breite Hüfte, schmale Taille, kleine Nase, schmale Wangen, betonte Backenknochen. Mühler / Geschlechternormen 3. Philosophisch-sozialwissenschaftliche Grundannahmen zum Verhalten Die philosophisch-sozialwissenschaftlichen Grundannahmen Arnold Gehlen gilt als ein Vordenker der Idee der Offenheit des menschlichen Verhaltens: Der Mensch ist ein nicht spezialisiertes Tier (Mängelwesen). Nietzsche: Der Mensch ist ein nicht festgestelltes Tier. Herder: Der Mensch ist der erste Freigelassene aus der Schöpfung. Der Mensch ist anthropologisch gesehen primitiv, d.h. er ist mit Geburt nicht auf ein bestimmtes Verhalten oder ein Verhaltensspektrum festgelegt bzw. spezialisiert. Die Gattung Mensch ist anthropologisch gesehen eine Frühgeburt (Fötalisierungsannahme). Der Mensch ist stammesgeschichtlich zurückgeblieben (unspezialisiertes Gebiß, Haarlosigkeit, fünfgliedrige Hand), das individuelle Entwicklungstempo ist verlangsamt. Weil sein Verhalten von Natur aus labil und offen ist und daraus ein enormes existentielles Risiko resultiert (”Dilettant unter Spezialisten”), muss er sich selbst festlegen/spezialisieren. Aus der Notwendigkeit zur Selbstfestlegung entstehen Institutionen (Normen). Der Mensch kann sich durch Institutionen eine eigene Umwelt schaffen, die ihn vom permanenten Entscheidungsdruck bezüglich seines Handelns entlastet, sein Handeln aber auch deutlich begrenzt. Gehlen, Arnold.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied 1963 Mühler / Geschlechternormen 3. Philosophisch-sozialwissenschaftliche Grundannahmen zum Verhalten Zur Definition von Institution Zum einen wird der Institutionenbegriff als Bezeichnung für organisierte soziale Zusammenschlüsse, für "korporative Gebilde" benutzt. Zum anderen beschreibt er normative Regeln, Verhaltensmuster jeder Art. Die erste Bedeutungsvariante umfaßt z.B. Unternehmen, Verbände, Parteien, den Staat und dergleichen, während im zweiten Fall Recht, Eigentum oder Geld als Institutionen bezeichnet werden. V.Vanberg Institutionen sind sozial sanktionierbare Handlungs- und Verhaltenserwartungen. H. Dietl Dietl, Helmut: Institutionen und Zeit. Tübingen, 1993 Eine Institution ... ist ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen einschließlich deren Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern. Institutionen strukturieren unser tägliches Leben und verringern auf diese Weise dessen Unsicherheiten. R.Richter Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Wie kann die Entstehung von (geschlechtsspezifischen) Normen erklärt werden? Eine sozialwissenschaftliche Basisidee zur Erklärung der Entstehung von Normen orientiert sich am Auftreten von Externalitäten: Die Entstehung einer Norm ist wahrscheinlich, wenn Externalitäten auftreten. H. Demsetz: Toward a Theory of Property Rights. In: American Economic Review 57 (1967, S.347-359 Externalitäten sind Folgen individuellen Handelns, die für andere Akteure (positiv oder negativ) spürbar sind. Handlungen können sowohl gegenständlich als auch kognitiv (Überzeugungen) sein. Aus dem Auftreten von Externalitäten entsteht für die betroffenen Akteure ein Interesse diese Handlung zu fördern oder zu vermindern. Wenn Überzeugungen sich ausbreiten, werden sie zur Selbstverständlichkeit (öffentlichen Präferenz) deren Geltung durch die Allgemeinheit und deren Sanktionspotential gesichert wird (z.B. Normen der politischen Korrektheit). Dies kann mit Normen erreicht werden. Die Bereitschaft sich an Normen zu halten (Geltung einer Norm) basiert auf Kongruenz mit den eigenen Interessen (Nutznießer und Normadressat sind identisch) oder auf Furcht vor Sanktionen (Adressat). Als Vermittlung tritt die Internalisierung einer Norm auf. Ist eine Norm von den Normadressaten internalisiert, dann wird sie Teil von deren individuellen Dispositionen. Normen können geplant (bewusste, organisierte Durchsetzung einer Norm) oder spontan (eine Vielzahl von Akteuren hat ein gleiches individuelles Interesse an einer bestimmten Norm und führt deshalb bestimmte Handlungen aus) entstehen. Weil gleichzeitig sehr unterschiedliche und gegensätzliche Interessen bestehen können, treten Prozesse der Verstärkung, Verringerung einer existierenden Norm ebenso wie Prozesse der Entstehung neuer Normen auf. Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Die Entstehung und Stabilisierung von Normen als Verteilung von Kontrollrechten Colemans Annahmen zur Entstehung von Normen basieren ebenfalls auf der Idee der Externalitäten. Zusätzlich nimmt er an, dass das soziale Handeln von Menschen zwei Voraussetzungen hat: die Absicht einer Handlung (Sinn bei Max Weber) das Kontrollrecht über die Ausführung dieser Handlung Ob ein Kontrollrecht beim individuellen Akteur ist oder nicht, liegt nicht in dessen Entscheidung. Die Verteilung von Kontrollrechten wird zwischen korporativen Akteuren (Vereinigungen individueller Akteure) ausgehandelt. Zwei Voraussetzungen führen zur Beteiligung an dieser Aushandlung über ein bestimmtes Kontrollrecht: das Interesse, eine Handlung zu kontrollieren die Ressourcen, dieses Interesse durchsetzen zu können Solche Aushandlungsprozesse können über sehr lange Zeiträume geführt werden. Im historischen Regelfall streben alle Beteiligten einen Konsens an, auch wenn sie ihre Interessen nicht durchsetzen können. Im Ausnahmefall wird die Gesamtheit einer sozialen Ordnung in Frage gestellt (Revolution). Coleman, James: Grundlagen der Sozialtheorie. Bd. 1, Kapitel 10, 11, München 1992. Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Die Aushandlung des Kontrollrechts über die Handlung Schwangerschaftsabbruch Begründungen für das staatliche Kontrollrecht als § 218 im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 angedrohte Strafen (religiös, gesundheitlich, demografisch, Fötus sei beseelt) Bis 5 Jahre Zuchthaus verschiedene Strafmilderungen in den 20er Jahren Staat Verbrechen gegen die Volkssubstanz (Schwangerschaftsabbruch ist nun Angriff auf Rasse und Erbgut) Zuchthaus ab 1943 Todesstrafe Kontrollrecht Bestand und Lebenskraft 1974 Fristenlösung des Volkes zu erhalten Bundestag, gestoppt vom Bundesverfassungsgericht 1976 neues Gesetz: Indikationenregelung (medizinisch, ethisch, sozial) Gefängnis/ Geldstrafe individueller Akteur 1933-1945: Strafverschärfung in der NS-Justiz Gefängnis DDR: seit Mitte 70er Jahre gilt die Fristenlösung 1992 bundeseinheitlich: Fristenlösung mit Beratungspflicht (vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt) 1995: Fristenregelung mit Beratungspflicht unbefristete medizinische Indikation Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Die Entstehung von Geschlechternormen Männer und Frauen sind relativ simpel identifizierbare Gruppen. Darauf weist die binäre Kodierung in den meisten Kulturen hin. Aus diesem Grund eignen sich diese Gruppen als Identifikationsobjekte. Auch die Macht, eine solche Kodierung aufrecht zu erhalten, unterliegt einem sozialen Aushandlungsprozess. Die Geschlechtszugehörigkeit ist Teil der sozialen Identität der meisten Menschen. Theorie der sozialen Identität (Tajfel/Turner) Dies wiederum führt dazu, dass sich Gruppeninteressen herausbilden können und eine Ressourcenallokation möglich wird. Geschlechternormen sind historisch sehr alt, weshalb ihre jahrtausendelange Stabilität zu einer Art “natürlicher” Marx, Karl u. Friedrich Engels: Ursprung der Selbstverständlichkeit führen konnte. Familie des Privateigentums und des Staats. Berlin 1973. Z.B. Aristoteles: das Männliche regiert das Weibliche, weil das eine besser und das andere geringer ist. Politik und Staat der Athener, 1254b Der hohe Grad ihrer Tradierung entzieht Geschlechternormen weitestgehend der Reflektierbarkeit. Es ergeben sich folgende Fragen für die Rekonstruktion der Entstehung einer Geschlechterordnung und ihrer normativen Struktur: Worin bestehen die Externalitäten des Handelns von Frauen? In Bezug auf welche Handlungen entsteht ein Interesse der Fremdkontrolle? Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Die Voraussetzungen für die Entstehung von Geschlechternormen Die entscheidende Externalität besteht im Gebären (Gebärfähigkeit). Kollektives Interesse: Sicherung des Fortbestands der eigenen Gruppe (Gens, Stamm, Region, Nation) Aufzucht und Sozialisierung von Kindern (Grundsozialisation) Familiales Interesse: Schutz und Altersversorgung durch nächste Generation Männliches Interesse: Das Interesse an Kindern als Objekten elterlicher Liebe ist eine historisch neue Erscheinung. Über Jahrtausende hinweg wurden Kinder als Poduktionsfaktoren behandelt. Vererbung von erworbenen Ressourcen (Eigentum, Status) Sicherung des Fortbestands eigener Merkmale Sicherung von familialer Ehre und sozialer Geltung Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Ein Beispiel für die kulturelle Verbreitung von Sexualnormen Sexualität erscheint heute als etwas sehr Privates. In der Geschichte aller Kulturen zeigt sich jedoch, dass Sexualität ein massives kollektives Kontrollinteresse wegen seiner Zeugungsrelevanz erweckt. Dieser interkulturelle Vergleich von Julia Brown zeigt die große Verbreitung von Normen, um das Sexualverhalten zu kontrollieren. Sexualnormen und Normen zur Sicherung der Reproduktionseinheit Familie sollen eine effiziente demographische Reproduktion im Rahmen einer definierten sozialen Ordnung gewährleisten. Sanktionsbewährung (externe Kontrolle) und Sozialisation (interne Kontrolle) bezeichnen die Bedingungen der Durchsetzung dieser Normen. Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Einige Bausteine für tradierte Geschlechternormen Die Kontrolle des Sexualverhaltens erweist sich als ordnungsrelevanter Faktor. z.B. Freud (Das Unbehagen in der Kultur):Gütererzeugung und Warenverkehr müssen gegen die in den antisozialen, in der Arbeitsunlust enthaltenen Triebkräfte (libidinöse Energien) abgesichert werden Sexualverhalten den sozialen Erfordernissen unterordnen Aus den asymmetrischen biologischen Reproduktionslasten wird eine asymmetrische Selbstkontrollierbarkeit sexuellen Verlangens zwischen den Geschlechtern abgeleitet. sexuelle Anreize im Alltagsleben unterdrücken Aus der Asymmetrie der Sicherheit eigene Kinder aufzuziehen, entsteht das Bedürfnis von Männern, diese Unsicherheit durch Normen (der Kontrolle) zu reduzieren. Sicherung des Sexualund Zeugungsmonopols in der Familie Männer verfügen seit der neolithischen Revolution über einen deutlichen Vorteil in der Aneignung und Akkumulation von lebenswichtigen und machtgenerierenden Ressourcen. Sicherung der Verfügung über die familialen Ressourcen Damit verfügen Männer über die beiden Voraussetzungen der Normentstehung und -durchsetzung: ein Interesse, das Verhalten von Frauen zu kontrollieren die Ressourcen, um dieses Interesse durchzusetzen Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Familie Kern geschlechtsspezifischer Normen ist die Regulation familialer Arbeitsteilung nach dem Geschlecht. Diese Normen legen Positionen, Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen der Partner fest. Die normativ abgesicherte Arbeitsteilung hat den abstrakten Status eines Geschlechtervertrags. Ihre Selbstverständlichkeit erhielt sie aus ihrer Geltung über Jahrtausende. Auch wenn diese Arbeitsteilung an Geltung verliert, ist davon auszugehen, dass es schichtspezifisch variierende Anreize gibt, diese Struktur zu erhalten. Desweiteren muss beachtet werden, dass die öffentliche Präferenz und die normative Korrektheit des Sprechens über diesen Gegenstand zu einem verzerrten Eindruck in Bezug auf die tatsächliche Geltung tradierter Geschlechternormen in der Gegenwart führen kann. Denn: wenngleich die rechtlichen Grundlagen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in den westlichen Ländern nahezu vollständig abgeschafft wurden, in Gestalt von Sittennormen haben diese Erwartungen nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Rollenattribute familiale Welt universalistische Wertbindung leistungsorientiert selbständig wettbewerbsorientiert fachlich/ technisches Ausführen instrumentelle Rolle des Vaters fachlicher/ technischer Experte instrumenteller Führer Identifikation des Sohnes kooperieren Treue, Loyalität expressive Rolle der Mutter kultureller Experte Rollenattribute ausserfamiliale Welt Familien- und Geschlechterrollenmodell nach Parsons und Bales partikularistische Wertbindung abhängig/ unselbständig, affektiv expressiver Führer Identifikation der Tochter Anpassungsfähigkeit Parsons, Talcott; Robert Bales: Family, Socialization and Interaction Process, New York, 1955. Mühler / Geschlechternormen 4. Externe Effekte als Erklärung der Entstehung von (Geschlechter)Normen Ein Standardinstrument zur Messung der Akzeptanz von Normen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung Mühler / Geschlechternormen 5. Kriterien der empirischen Prüfbarkeit normativer Wirkungen auf das Sozialverhalten Eine Grobstruktur des empirischen Nachweises der sozialen Bedingtheit des Verhaltens Faktisch ergibt sich eine Parallelität zwischen der soziobiologischen Annahme der Zweck des Menschen sei die Reproduktion und der sozialen Praxis, ein kollektives Reproduktionsinteresse normativ durchzusetzen. Diese Parallelität erschwert einen empirischen Nachweis, ob ein evolutionäres Programm oder die Wirkung sozialer Normen das soziale Reproduktionsverhalten, dem das menschliche Verhaltensspektrum mehr oder weniger vollständig untergeordnet sein könnte, bewirken. Eine empirische Prüfung aber ist notwendig, denn auf evolutionär entstandene Verhaltensprogramme hätten Menschen letztlich keinen Zugriff, auf Normen aber durchaus, wenngleich Normen nicht willkürlich änderbar sind. Stimmt es, dass biologische Verhaltensprogramme wirksamer sind als soziale Normen? Mühler / Geschlechternormen 5. Kriterien der empirischen Prüfbarkeit normativer Wirkungen auf das Sozialverhalten Der generelle Zusammenhang von Normveränderung und Verhalten Ändert sich das Sozialverhalten, wenn sich Normen ändern? z.B. Anstieg des Wohlstands und der Säkularisierung (Biologische Verhaltensprogramme werden als stabil angenommen) Veränderung der wirtschaftlichen Grundlagen einer Gesellschaft Entstehung und Stabilisierung sozialer Gruppeninteressen Aushandlung von Normen im Rahmen eines sozialen Konsens Veränderungen des Verhaltens von Menschen Geltungsgrad einer Norm Daraus leiten sich die Elemente einer empirischen Prüfung ab: Wenn sich Normen ändern, ändern sich dann: I. persönliche Überzeugungen Einstellungen II. III. Sozialverhalten Reproduktionsverhalten ? Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung I. Der Geltungsverlust von Sexual- und Geschlechternormen im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert fand in historisch kurzer Zeit eine gewaltiger Transformation sozialer Normen statt. Ihren Ausdruck findet sie vor allem in der Entkriminalisierung von Lebensstilen und sexuellen Orientierungen sowie der normativen Durchsetzung von Rechten der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen. Rechtsnormen bilden den Kern einer sozialen Ordnung. Sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht westlicher Gesellschaften ereigneten sich tiefgreifende Veränderungen. Familie Ehescheidung (schuldig) eheliche Pflicht ,Mitgiftregelungen Zwangsverheiratung Frauen Recht auf Selbstbestimmung (z.B. Erwerbstätigkeit) Rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder Recht zu studieren (Recht auf Bildung) Wahlrecht Einige Folgen der Egalisierung von Kontrollrechten zwischen Männern und Frauen: zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen zunehmende politische Aktivität (Verbände, Vereine, Funktionen) zunehmende Scheidungsrate zunehmende Kinderlosigkeit Veränderung öffentlicher Präferenzen in der sozialen Definition von Frauen Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung I. Veränderungen normativer Überzeugungen zu Geschlechterstereotypen Rechtsnormen zur Stützung der tradierten Arbeitsteilung der Geschlechter in der Familie sind nahezu verschwunden. Dennoch existieren Sittennormen über das “richtige” Familienleben und das “richtige” Verhalten von Männern und Frauen. Das Sanktionspotential für Sittennormen entsteht hier aus der öffentlichen Meinung und der Verbreitung dieser Überzeugungen in der Bevölkerung (öffentliche Präferenzen). Ein Vergleich geschlechterbezogener Überzeugungen zwischen Ost- und Westdeutschen eignet sich, um auch mittels Querschnittsdaten eine hypothetische Entwicklungsaussage zu treffen. Bedingungen der Erwerbstätigkeit von Frauen, der Familienorganisation und Kindererziehung waren in der DDR andere als in der BRD. In der DDR existierten 40 Jahre Verhaltensweisen, die von den vermuteten evolutionären Verhaltensweisen abwichen. Wenn dies nur auf nacktem Zwang basierte, dann müßte die ostdeutsche Bevölkerung wieder zum Evolutionsprogramm (so, wie Westdeutschen, die diesen Zwängen nicht unterlagen) zurückkehren. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung I. Wie steht es um die normativen Überzeugungen (Sittennormen) in der Bevölkerung? Es ist für alle Beteiligten besser, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert abhängige Variable: in östlichen Bundesländern sozialisiert Geschlecht (weiblich) -,211** -,127** Mann Beruf/ Frau zu Hause -,265** R2 = ,164** Schulabschluß -,083* Berufsprestige ,114** Religionsausübung Der Ost-West-Effekt ist erkennbar. Frauen lehnen diese Norm eher ab. Bildung hat einen weiteren Einfluss. Praktizierte Religiosität stützt die Norm. Lineares Regressionsmodell Datensatz ALLBUS (Allgemeiner Bevölkerungsumfragesurvey) 2008 Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung I. Wie steht es um die normativen Überzeugungen (Sittennormen) in der Bevölkerung? Eine verheiratete Frau sollte auf eine Berufstätigkeit abhängige Variable: verzichten, wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gibt, und wenn ihr Mann in der Lage ist, für den Unterhalt der Familie zu sorgen in östlichen Bundesländern sozialisiert Geschlecht (weiblich) -,158** -,245** Schulabschluß Mann ist Versorger 2 R = ,142** -,120* Berufsprestige ,076* Religionsausübung Der Ost-West-Unterschied ist verschwunden. Die anderen Effekte bleiben erhalten. Lineares Regressionsmodell Datensatz ALLBUS 2008 Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung II. Veränderungen des Sozialverhaltens Normative Überzeugungen, subjektive Dispositionen gelten als weiche Verhaltensprädiktoren. Gibt es auch Differenzen im Verhalten? Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist das entscheidende Verhalten, über das die Wirksamkeit von Normen oder evolutionärem Verhaltensprogramm geprüft werden kann. Erwerbstätigkeit führt in hohem Maße zu wirtschaftlicher Selbständigkeit und damit zu sozialer Selbstbestimmung. Durch Erwerbstätigkeit können sich Frauen vom “Ernährer” und einer hierarchischen Familienstruktur emanzipieren. Der eigenständige Erwerb von Ressourcen und deren Verfügbarkeit ist die Voraussetzung für eine Überwindung der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Beispiele für eine empirische Prüfung: Haushalttätigkeiten Wäsche waschen Erwerbsquote Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung II. Aufteilung von Tätigkeiten im Haushalt Wer wäscht die Wäsche? 5 - immer die Frau .... 1 immer der Mann in östlichen Bundesländern sozialisiert Lebensalter ,165** -,104* Schulabschluß Wäsche waschen R2 = ,058** Berufsprestige ,087* Religionsausübung Lineares Regressionsmodell Datensatz ALLBUS 2008, berichtetes Verhalten, nur in Partnerschaft lebende Befragte. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung II. Erwerbstätigkeit von Frauen Renate Köcher: Strukturwandel und Mentalitätsveränderungen in Deutschland, Allensbach, 2007. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Der Zweck menschlichen Daseins und das Reproduktionsverhalten Der soziobiologischen Grundannahme zufolge hat der Mensch auf seinen Daseinszweck keinen Einfluß. Wie alle biologischen Organismen besteht sein Daseinszweck in der Reproduktion seiner Art. Der Sinn seines Lebens besteht in der Zeugung und Aufzucht von Nachkommen. Selbstverständlich kann der Mensch, wenn Ressourcen übrig bleiben, auch noch andere Dinge tun. Diese “Nebenzwecke” aber sind grundsätzlich nachrangig. Wenn sich also Frauen und Männer für Kinderlosigkeit entscheiden, dann widerspricht dies der angenommenen Alternativlosigkeit des Lebenszwecks. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Welche Bedingungen können zu einer solchen Entscheidung führen? Eine psychologische Theorie zur Sinnbestimmung (Bedürfnishierarchie) stammt von Abraham Maslow. Die Grundidee ist, dass menschliche Bedürfnisse sich im Lebenszyklus systematisch als Stufenfolge entfalten. Welche der Stufen erreicht wird, hängt von den tatsächlichen Lebensbedingungen ab, d.h., des Umfangs und der Art der erworbenen Ressourcen. Je komfortabler, umfassender und sicherer die Lebensbedingungen sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, die höchste Stufe zu erreichen: ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (später eine weitere Stufe: Neugier und die. Welt verstehen). Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit. Reinbeck b. Hamburg, 1981. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Welche sozialen Prozesse sind an einer Wählbarkeit des Lebenszwecks beteiligt? In westlichen Ländern sinkt seit geraumer Zeit die Fertilität. Ein beobachtbarer Zusammenhang: Je höher der Wohlstand, desto geringer die Fertilität. Was steckt hinter Wohlstand? Säkularisierung (biologische Reproduktion ist das Kernstück von religiösen Überzeugungen) Entkriminalisierung alternativer Lebensstile (das Strafrecht verteidigt nur noch eine Minimalmoral) das Bildungsniveau der Bevölkerung (vor allem von Frauen) steigt Staat stellt soziale Sicherungssysteme zur Verfügung (nicht mehr allein familiale (weibliche) Aufgabe) Frauenerwerbsarbeit steigt Das hat zur Folge, dass grundlegende Zwänge für Frauen verschwinden materielle Existenzwänge rechtliche Zwänge religiöse innere und äußere Zwänge der Daseinbestimmung und die individuelle Gestaltungsfreiheit zunimmt. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Wahlfreiheit auch im Daseinszweck? Sinkende Fertilität Aus: Mikrozensus 2008, Neue Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland, Bundesamt für Statistik, 2009. Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Wahlfreiheit auch im Daseinszweck? Gesellschaftliche Grundprozesse: Urbanisierung Aus: Mikrozensus 2008, Bundesamt für Statistik Mühler / Geschlechternormen 6. Empirische Prüfung III. Wahlfreiheit auch im Daseinszweck? Gesellschaftliche Grundprozesse: Bildungsanstieg bei Frauen Aus: Mikrozensus 2008, Bundesamt für Statistik Mühler / Geschlechternormen Zusammenfassung Theoretische Grundannahme: Mit dem Sinken des Geltungsgrades geschlechtsspezifischer Normen, gleicht sich das Sozialverhalten von Männern und Frauen zunehmend an. Wenn sich die Belastungen durch familiale Grundtätigkeiten nicht in bezug auf das Geschlecht egalisieren, dann wird die Zahl kinderloser Frauen weiter steigen. Biologische Verhaltensprogramme können diese Tendenz nicht verhindern. Rechtsnormen (rechtliche Gleichstellung, Scheidungsrecht) Rechtsnormen (z.B. Arbeitserlaubnis) Erwerbstätigkeit wirtschaftliche Selbständigkeit mit Kindern Selbstbestimmung der Frauen Bildung Sittennormen (soziale Bewertung des Hausfrauendaseins, der Erwerbstätigkeit von Frauen) Selbstverwirklichung ohne Kinder alternative Lebensziele Sittennormen (soziale Bewertung alleinlebender Frauen) Sittennormen (soziale Bewertung kinderloser Frauen) Mühler / Geschlechternormen