Nebenwirkungen der Psychotherapie – eine schulenübergreifende Stellungnahme In der letzten Spalte des Artikels „Wenn die Seele Hilfe braucht“ (S. 12, DOCTOR, November 2016, Nr. 5, In: DIE ZEIT NR. 46) wird das wichtige, jedoch häufig brisant erscheinende Thema ‚Nebenwirkungen der Psychotherapie’ aufgegriffen. Die Darstellung ist insofern missverständlich, als dort der Eindruck entstehen kann, dass gravierende negative Effekte, wie „Labilisierung“ oder „Suizidgedanken“, gehäuft bei bestimmten Therapiemethoden- oder verfahren auftreten. Dies entspricht nicht dem Stand der Forschung und wurde bislang noch nicht systematisch untersucht. Wir, Professorinnen und Professoren aus den Fachgebieten Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin sowie Psychosoziale Prävention, jeweils ausgebildet in Verhaltenstherapie oder psychoanalytisch begründeter Psychotherapie, möchten daher im Folgenden eine gemeinsame Stellungnahme und Ergänzung zu den Ausführungen abgeben. Trotz der vielen positiven Wirksamkeitsnachweise für Psychotherapien können natürlich auch bei psychotherapeutischen Behandlungen – wie im Übrigen bei jeglichen medizinischen Eingriffen oder wirksamen Heilmitteln – ungünstige bzw. unerwünschte Effekte auftreten. In den letzten 20 Jahren wurde dem lange Zeit eher unbeachteten Thema der Negativeffekte von Psychotherapieforschung vermehrt Beachtung geschenkt. Insbesondere werden – wie im ZEIT DOCTOR Artikel durch Winfried Rief beschrieben – unterschiedliche Formen (z.B. Verschlechterung der Stimmung, sich abhängig fühlen vom Therapeuten oder sich verletzt fühlen durch Aussagen des Therapeuten, Auftauchen von suizidalen Gedanken) und deren Häufigkeiten in ersten Studien untersucht. Die Ursachen für derartige Negativeffekte sind wissenschaftlich jedoch noch unklar. Eine naheliegende Vermutung besteht darin, dass emotional stark belastende Behandlungsphasen mit einem erhöhten Risiko für negative Effekte einhergehen können. Gleichzeitig weisen jedoch etliche Studien darauf hin, dass die Aktivierung von bisher als belastend erlebten Emotionen sowie deren Bearbeitung in der Therapie als zentrale Wirkfaktoren in den unterschiedlichsten Behandlungsformen angesehen werden können. Die verschiedenen Psychotherapieverfahren haben jeweils sowohl emotionsaktivierende Techniken als auch Techniken zur veränderungswirksamen Bearbeitung belastender Emotionen entwickelt. Die Aufgabe des Psychotherapeuten besteht folglich darin, sich dieser besonderen Verantwortung bewusst zu sein und einen ausgewogenen Balanceakt zwischen Emotionsaktivierung und Bearbeitung zu kreieren. Hierbei sollte neben den kurzfristigen Resultaten immer auch die langfristige Perspektive berücksichtigt werden: Denn eine vorübergehende Phase der emotionalen Belastung (sei es ausgelöst durch Methoden wie Exposition in der Verhaltenstherapie oder Konfrontation mit schmerzhaften Erlebnissen aus der Kindheit wie in psychodynamischen Verfahren oder der im DOCTOR Artikel erwähnten CBASP) führt bei vielen Patienten langfristig dazu, dass sie auf die Psychotherapien ansprechen. Es kommt also auch auf den langfristigen Nutzen an, welcher mit den kurzfristigen Kosten und Risiken abgewogen werden sollte. Es werden noch weitere mögliche Ursachen für negative Effekte von Psychotherapien diskutiert. In der Forschung finden sich bisher allerdings keine systematischen Untersuchungen, ob spezifische Psychotherapiemethoden oder -verfahren ein höheres Risiko für negative Effekte bergen als andere Verfahren. Die Unterzeichner wünschen sich eine vermehrte Sensibilisierung und somit neue Kultur im Umgang mit Negativeffekten von Psychotherapie. Eine Sensibilisierung von Therapeuten für das Auftreten von negativen Effekten ist erstrebenswert, damit Therapeuten diese erkennen und dem Patienten helfen, sie zu bearbeiten, was mit einem verbesserten Patientenschutz einhergeht. Wenn negative Effekte vermehrt zum Gegenstand der Forschung gemacht werden, dient dies der weiteren Verbesserung von Psychotherapie und einer verbesserten Aus-/Weiterbildung von Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Prof. Winfried Rief (Marburg), Prof. Cord Benecke (Kassel), Prof. Eva-Lotta Brakemeier (Marburg/Berlin), Prof. Peter Henningsen (München), Prof. Svenja Taubner (Heidelberg)