Florian Steger Vorwort Klinische Ethikberatung hat Konjunktur. Sie wird immer mehr nachgefragt und an bettenführenden Einrichtungen zunehmend implementiert. Auch für die ambulante Versorgung entwickeln sich Angebote der Klinischen Ethikberatung. Blickt man in ihrer Implementierungsgeschichte zurück, so waren es in den 1920er Jahren in den USA zuerst die katholischen Krankenhäuser, die sich um die Entwicklung ethischer Strukturen verdient gemacht haben. In den 1990er Jahren waren es in Deutschland einzelne Krankenhäuser, die in ähnlicher Intention aktiv wurden, so dass dies zu einer Empfehlung der konfessionellen Krankenhausverbände für klinisch-ethische Strukturen führte. Knapp 10 Jahre später hat dann die Zentrale Ethikkommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer am 24. Januar 2006 zur Ethikberatung in der klinischen Medizin Stellung genommen. 1 Daran anschließend hat die Akademie für Ethik in der Medizin e. V. Standards für Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens formuliert. 2 Seit 2011 sieht das Hessische Krankenhausgesetz vor (§ 6 Abs. 6), dass jedes Krankenhaus einen Ethikbeauftragen 3 bestellen muss, der bei ethischen Fragestellungen Entscheidungsvorschläge unterbreitet. 1 2 3 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer zur Ethikberatung in der klinischen Medizin, in: Deutsches Ärzteblatt 103, 2006, S. A1703–1707. Vorstand der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM): Standards für Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens, in: Ethik in der Medizin 22(2), 2010, S. 149–153. Wo im Folgenden die maskuline Endung verwendet wird, sind Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Die Wahl der männlichen Schreibweise geschieht nur, um einen leserfreundlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen. Dies bezieht sich auf alle Beiträge im Sammelband. Aus der reichen Literatur zur Klinischen Ethikberatung seien zumindest einige wenige hervorgehoben: Ashcroft, R. et al.: Case Analysis in Clinical Ethics. Cambridge 2005. Dörries, A., Neitzke, G., Simon, A., Vollmann, J. (Hg.): Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch für Krankenhäuser und Einrichtungen der Altenpflege. 2. Auflage. Stuttgart 2010. Hick, C. (Hg.): Klinische Ethik. Heidelberg 2007. Steinkamp, N., Gordijn, B.: Ethik in Klinik und Pfle- 8 Florian Steger Klinische Ethikberatung verfolgt neben der Sensibilisierung für ethische Fragestellungen das Ziel der besten Patientenversorgung. Somit ist sie ein Instrument der Qualitätssicherung. Dafür kommen verschiedene Formate der konkreten Durchführung in Betracht wie Einzelfallberatungen, Ethikvisiten, Ethik-Arbeitskreise oder Klinische Ethikkomitees. Wie das Format auch immer ausfallen mag, stets wird durch Klinische Ethikberatung einerseits ethisches Wissen vermittelt und andererseits die Kompetenz im Umgang mit ethischen Problemen und Konflikten erhöht. Mit Unterstützung der Klinischen Ethikberatung erhalten alle, die an der Versorgung von Patienten beteiligt sind, Orientierung und Beratung. Zentrale Themenfelder der Beratung sind u. a. Fragen bei Entscheidungen am Lebensende, so vor allem im Rahmen von Therapiezieländerungen; dann Fragen, die sich im Rahmen der stellvertretenden Gesundheitsvorsorge etwa bei Patientenverfügungen stellen; und schließlich Fragen im Kontext der schwierigen Diskussion um eine gerechte Verteilung knapper Ressourcen, sei es bei der Organzuteilung oder generell bei der Verteilung von solidargemeinschaftlich erbrachten Mitteln. Mit Hilfe Klinischer Ethikberatung können bei Entscheidungsprozessen ethische Anteile herausgearbeitet und an moralisch akzeptablen Kriterien ausgerichtet werden, damit bei komplexen Entscheidungsprozessen gute Entscheidungen getroffen werden können. So kann unmittelbar die ethische Kompetenz am Ort gestärkt werden. Ethische Kompetenz meint die begründete Entscheidung in schwierigen ethischen Entscheidungskonflikten unter Voraussetzung der Kenntnis eigener Werte und Vorstellungen gegenüber solchen Dilemmata, um überhaupt die Werte anderer erkennen und respektieren zu können; solche Selbst- und Fremdwahrnehmung sind Voraussetzungen, um Argumente abwägen und sich letztlich entscheiden zu können. In der Klinischen Ethikberatung stehen also ethische Fragen aus dem Alltag der Behandlung und Pflege von Patienten im Vordergrund. Ethikberatung informiert, bietet Orientierung und Beratung an. Entsprechend den Standards der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. 4 sind allgemeine Ziele von Ethik in Einrichtungen des Gesundheitswesens die Sensibilisierung für ethische Fragestellungen, die Vermittlung von medizin- und pflegeethischem Wissen sowie die Erhöhung der Kompetenz im Umgang mit ethischen Problemen und Konflikten. Entscheidungsprozesse werden mit Hilfe Klinischer Ethikberatung auf ihren ethischen Gehalt hin befragt und darauf aufbauend gute Entscheidungen in schwierigen Konfliktsituationen herbeigeführt. Ethikberatung ist dabei nicht Beschwerdemanagement, Mediation, Supervision, Rechtsberatung und auch keine allgemeine Lebensberatung. Entsprechend 4 geeinrichtung: Ein Arbeitsbuch. 3. Auflage. München 2009. Siehe auch das informative und weiterführende Internetportal: www.ethikkomitee.de (abgerufen am 20. 8. 2013). Vgl. Anm. 2. Vorwort 9 dieser Standards verbindet sich bei einer Ethikberatung Moderationskompetenz mit ethischer Expertise. Dabei sind die Moderatoren für die Struktur bzw. den Ablauf, den Diskurs selbst, den Inhalt und schließlich das Ergebnis verantwortlich. So zahlreich die Entscheidungsfindungsmodelle in der Medizinethik sind, so verschieden sind auch die Strukturinstrumente der Ethikberatung. Seit den 1980er Jahren sind zahlreiche Strukturinstrumente für die ethische Entscheidungsfindung im klinischen Alltag entwickelt worden, zu denken ist neben vielen anderen mehr an den Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis (1986) oder die Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechungen. Klinische Ethik ist ein spezielles Subgebiet der allgemeinen angewandten Ethik, der sich wiederum die Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, heute Nationale Akademie der Wissenschaften, widmet. Die Arbeitsgruppe fokussiert hierbei auf konkret-praktische Fragestellungen vor dem Hintergrund von spezifisch-theoretischem Wissen, das ethische Probleme als solche erst identifizieren und handhaben lässt. Dies geschieht in der Überzeugung, dass moralisch korrektes Verhalten mehr als kodifizierter Normen und allgemeiner Handlungsanweisungen bedarf. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, in welchem Umfang Momente von Affektivität und Emotionalität in Beratungsprozesse eingebunden werden können. Dies einmal mehr bei Klinischer Ethikberatung, da bei der Beratung Emotionen und Affektivität nicht ausgespart werden können. Ein Berater sollte über Klugheit im aristotelischen Sinn der Phronesis verfügen, um ethisch relevante Fragen überhaupt erst identifizieren zu können. So kann ein Zusammenwirken von allgemeinen Regeln und spezifischen Handlungssituationen erfolgen. Insofern ist noch einmal mehr bedeutsam, ob diese spezifische Form der Klugheit erlernbar ist. Von der Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« werden in loser Folge Bände herausgegeben mit dem Signet »EuP«, das für Ethik und Praxis steht. In Band 1 Praxisfelder angewandter Ethik stehen Fragen nach der Vermittlung von Ethik in der Praxis, einerseits in der akademischen Lehre und andererseits in der Praxis bzw. Beratung im Mittelpunkt. Hier hat sich gezeigt, dass Affektivität wie Emotionalität größerer Raum zugestanden werden sollte. Die Beiträge in Band 2 Medizin und Technik zielen auf unterschiedliche Vorgehen der Ethiken und darauf, wie diese näher an die Praxis herangeführt werden können. Dabei wird das Konzept der Phronesis als Grundlage für ein gemeinsames moralisches und kognitives Modell erprobt und somit hinterfragt, inwiefern die Phronesis als Tugend erlernbar ist. Aus der Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« kann nun Band 3 Klinische Ethikberatung vorgelegt werden. Die Aufsätze dieses Sammelbandes gehen zum großen Teil auf einen Workshop zurück, der am 10. und 11. Januar 2012 10 Florian Steger in Halle (Saale) stattgefunden hat und in dessen Zentrum die Frage nach der Notwendigkeit und Praktikabilität einheitlicher Standards bei der Klinischen Ethikberatung stand. Es wurden Instrumente der Beratung vorgestellt, Erfahrungsberichte gegeben und Möglichkeiten der Implementierung diskutiert. Die Beiträge in diesem Band gliedern sich in einen ersten Teil, in dem unter der Überschrift Grundlagen und Herausforderungen in vier Aufsätzen grundlegende Fragen der Klinischen Ethikberatung erörtert werden. Hieran schließt sich ein zweiter Teil, überschrieben mit Erfahrungen an, in dem in vier weiteren Beiträgen Erfahrungen mit Ethikberatung an verschiedenen Standorten vorgestellt werden. Den Auftakt des ersten Teils macht Arnd May, der in seinem Aufsatz Strukturinstrumente zur Klinischen Ethikberatung – Entwicklung und Perspektiven auf Modelle von Ethikberatung eingeht, die zum Einsatz kommen, wenn Meinungsverschiedenheiten im Team bei Entscheidungen zur Behandlung von Patienten bestehen. May referiert die Geschichte seit Mitte der 1980er Jahre, als unterschiedliche Fragelisten für den klinisch-ethischen Unterricht und für die patientenorientierte Entscheidungsfindung entworfen wurden. Ohne eine gute Analyse moralischer Konflikte und ethischer Entscheidungen könnten, so May, selbst die besten Intentionen und Instrumente scheitern. Deshalb haben sich solche Fragenkataloge in der Ausbildung und im Training klinischer Experten und klinischer Teams als hilfreich erwiesen. Es schließt sich der Beitrag von Uwe Fahr Die diskursethische Grundlage der Ethikberatung im Gesundheitswesen an. Fahr fragt, wofür der Ausdruck Ethik im Begriff der Ethikberatung steht. Im ersten Schritt bestimmt er näher, was unter Beratung zu verstehen ist. Dabei werden einige wichtige Unterscheidungen der Beratungswissenschaft genutzt (reflexive und transitive Beratung, direktive und nichtdirektive Beratung, Fach- und Prozessberatung). Daran anschließend diskutiert Fahr den Begriff Ethik, welcher der Ethikberatung zugrunde gelegt werden kann. Fahr weist die Annahme zurück, dass die Grundlage in bestimmten normativen ethischen Theorien zu suchen sei. Durch den Rückgriff auf einige in der »Diskursethik« erarbeiteten Differenzierungen zeigt Fahr stattdessen, dass es der fallible moralisch-praktische Selbstverständigungsdiskurs moderner Gesellschaften ist, in dem das ethische Fundament für die Ethikberatung gefunden werden kann. Florian Bruns folgt mit seinem Beitrag Zuerst das Gefühl, dann die Moral? Emotionalität als Herausforderung in der Ethikberatung. Zur guten Praxis Klinischer Ethikberatung gehöre, so Bruns, ein adäquater Umgang mit Emotionen, die fast regelhaft bei den an einer Beratung Beteiligten auftreten. Anhand grundsätzlicher Überlegungen sowie einer Kasuistik aus der pädiatrischen Onkologie versucht Bruns, das Verhältnis von Ethikberatung, Emotionen und moralischer Urteilsbildung näher zu bestimmen. Neben den Schwierigkeiten, die emotionalisierte Beratungssituationen mit sich bringen Vorwort 11 können, stellt Bruns auch die Möglichkeiten dar, Emotionen konstruktiv für den Ablauf und die Ziele einer Ethikberatung zu nutzen. Die angemessene Integration von positiven wie negativen Gefühlen wirft darüber hinaus manches ungelöste Strukturproblem von Ethikberatung auf – zum Beispiel die Frage nach dem primären Adressaten von Ethikberatung sowie nach der Beteiligung von Angehörigen. Unter Beachtung gewisser Prämissen, wozu etwa die Vermeidung eines Wettbewerbs von Patienten bzw. Angehörigen um die (positiven) Gefühle des Behandlungsteams gehört, sollten, so Bruns, Emotionen in den Ethikberatungsprozess integriert, gleichzeitig aber in ihren Auswirkungen auf das diskursive Moralprinzip auch kritisch reflektiert werden. Den vierten Beitrag Vom moralischen Unbehagen zur ethischen Fragestellung – extern definierte Anforderungen und praxisorientierte unterstützende Instrumente für die professionell Pflegenden hat Annette Riedel beigesteuert. Professionell Pflegende sind gefordert, ethische Reflexion im Pflegealltag zu verwirklichen und sich im Rahmen entsprechender Verfahren ethischer Entscheidungsfindung einzubringen. In diesem Beitrag steht – Bezug nehmend auf einen Expertenstandard für die Pflege – die Analyse dahingehend im Fokus, was realistische, praxistaugliche und angemessene Forderungen an die Profession Pflege sind, die ethische Reflexion im Kontext ethischer Entscheidungsprozesse zu initiieren und vor dem Hintergrund des pflegeberuflichen Auftrags letztendlich auch zu realisieren. Leitend ist hierbei die Fragestellung, ob der begründet ausgewählte Expertenstandard einen angemessenen, das heißt seitens der professionell Pflegenden realisierbaren Qualitätsstandard bezogen auf pflegeethische Reflexion und ethische Entscheidungsfindung formuliert, der Individuumsorientierung und Werteorientierung impliziert. Damit einher gehe die Frage, so Riedel, inwieweit die definierten Standardanforderungen mit den pflegeprofessionellen Kompetenzen – insbesondere den ethisch-moralischen Teilkompetenzen professionellen Handelns – kompatibel sind. Ziel des Beitrages ist es, den pflegeprofessionellen Auftrag im Kontext ethischer Reflexion und Entscheidungsfindung kompetenzorientiert und praxisbezogen zu analysieren. Die in dem Beitrag ausgeführten Instrumente dienen den Pflegenden zur Orientierung und sichern einen systematischen handlungsleitenden Vollzug für die postulierten Schritte der ethischen Reflexion. An diese vier Beiträge schließt sich der zweite Teil des Bandes Erfahrungen an. Hier steht zu Beginn der Beitrag von Klaus Kobert und Tanja Löbbing Erfahrungsbericht zu Ethikvisiten und ethischen Liaisondiensten als Elemente der Ethikberatung. Neben ethischen Fallgesprächen, die bei Bedarf auf Anforderung durchgeführt werden, biete die Klinische Ethik des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld auch ethische Visiten und Liaisondienste an, so Kobert und Löbbing. Diese Gesprächsrunden finden in regelmäßigen